Renaissance der Sommerkurse
Wenn sich der Sommer und die Vorlesungszeit ihrem Ende entgegen neigen, beginnt für den akademischen Nachwuchs die Zeit der Sommerkurse. Gerade im Bereich der mediävistischen Hilfswissenschaften scheint sich diese Form der Fortbildung zunehmender Beliebtheit zu erfreuen, wie zwei unlängst auf diesem Portal erschienene (und sehr positive) Erfahrungsberichte vermuten lassen.
Auch die Universitätsbibliothek Leipzig bietet seit drei Jahren Sommerkurse für Handschriftenkultur an, deren Realisierung sich der großzügigen Förderung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung (kurz: Krupp-Stiftung) verdankt. Ein Kurs zur mittelalterlich-abendländischen Handschriftenkunde konnte vom Handschriftenzentrum der UB Leipzig im September diesen Jahres in Zusammenarbeit mit dem Mediävisten-Verband zum zweiten Mal stattfinden .
Diese zunehmende Häufung solcher Kursangebote hat dabei nicht etwa zu einem redundanten Überangebot geführt, im Gegenteil: Das Panorama der handschriftenzentrierten Sommerkurse in Deutschland erscheint durch eine jeweils eigene Schwerpunktsetzung erfreulich bunt.
Von eher inhaltlich orientierten Kursangeboten, etwa dem Sommerkurs in Wolfenbüttel, reicht die Palette über im klassischen Sinne hilfswissenschaftliche Fortbildungsangebote, wie den kürzlich rezensierten Münchner Sommerkurs, bis zum umfangreichen Lehrgang SCRIPTO (und diese Liste ließe sich sicherlich beliebig fortsetzen). Sommerkurse bieten damit damit zunehmend eine notwendige und sinnvolle Ergänzung zum Curriculum an den Universitäten, an der die historischen Grundwissenschaften ja bekanntermaßen im Schwinden begriffen sind.
Handschriftenkultur im Fokus
Auch der Leipziger Sommerkurs unter der Leitung von Dr. Christoph Mackert hat einen ganz eigenen Zugang und Schwerpunkt gewählt und damit mit den Worten des Kursleiters „ein Experiment gewagt“, das meiner Ansicht nach durchaus geglückt ist. Ein weiterer – nunmehr dritter – Erfahrungsbericht auf diesem Blog scheint daher durchaus gerechtfertigt.
Die „Leipziger Schule“ zeichnet sich dabei durch einen fast schon holistischen Ansatz aus, der nicht nur einzelne Aspekte der Handschriftenkunde in den Blick nimmt, sondern sich im Grunde der Handschriftenkultur des Mittelalters als Ganzes widmet. Neben einer inhaltlichen Erschließung dieses breiten Feldes liegt eine Besonderheit des Kurses in der umfangreichen und (angeleitet) selbstständigen Arbeit der Teilnehmer mit dem Originalmaterial, den Handschriften. Thematischer Schwerpunkt des diesjährigen Kurses war vor allem der Bereich der Musikpaläographie und Liturgie. Trotz der fundamentalen Rolle dieser Bereiche für die mittelalterliche Kultur betrat der überwiegende Großteil der Teilnehmer mit dieser Themensetzung #Neuland, ein Umstand, der sicherlich als Verdienst des Kurses zu gelten hat.
Kursprogramm
Während der erste Leipziger Sommerkurs 2011 sich als Einführung in die Bearbeitung historischer Buchbestände und das Erkenntnispotential materialbasierten Forschens verstand, richtete sich der diesjährige Kurs an fortgeschrittenere Teilnehmer, die sich im Rahmen einer Abschlussarbeit oder Dissertation bereits mit den Grundlagen der Handschriftenarbeit vertraut gemacht haben. Die Einheiten des Kurses konzentrierten sich daher weniger auf das grundsätzliche Arbeiten mit Handschriften, sondern mehr auf die inhaltliche Vertiefung verschiedener Bereiche der Handschriftenkultur des Mittelalters.
Trotzdem begann der Kurs mit einer knappen und sinnvollen paläographischen Einheit durch Prof. Gerlinde Huber-Rebenich (Universität Bern). Hier wurden die Kenntnisse der Teilnehmer aufgefrischt und gute Tipps aus der paläographischen Praxis vermittelt.
Dieser handwerklichen Einführung folgte am Dienstag ein sehr dichter inhaltlicher Einführungsteil unter dem Schlagwort „Textüberlieferung des Mittelalters“. In jeweils etwa einer halben Stunde stellten ausgewiesene Experten einen(/ihren), für die Handschriftenkultur des Mittelalters relevanten Bereich vor: zunächst Dr. Chris Wojtulewicz (King’s College London) den Bereich der Theologie; dann Prof. Susanne Lepsius (Universität München) Recht; Prof. Iolanda Ventura (Université d’Orléans) führte in das Gebiet der mittelalterlichen Medizin ein; Dr. Mackert endete mit einer Übersicht über die Artes liberales. Neben einer systematischen Einführung wurde hier vor allem die handschriftliche Praxis des jeweiligen Gebietes vermittelt.
Das Konzept einer halbstündigen Einführung mag vielleicht dem jeweiligen Kenner der Disziplinen als nicht ausreichend erscheinen. Für die wirklich interdisziplinäre Gruppe stellte es sich aber als hervorragend geeignet heraus, um die Teilnehmer für bislang (in unterschiedlichem Maße) fremde Disziplinen zu sensibilisieren. Dieser ganze Block war inhaltlich und zeitlich ziemlich dicht, die kurzweiligen und vor allem praxisnahen Vorträge aber noch im Bereich des Aufnehmbaren.
Während die inhaltliche Sitzung am Dienstag Bereiche behandelte, die den meisten Teilnehmern wohl irgendwie geläufig waren, so führten die Einheiten von Mittwoch und Donnerstag den Großteil von ihnen auf unbekanntes Terrain. In zwei größeren Blöcken stellten Prof. Jeremy Llewellyn (Schola Cantorum Basiliensis) und Prof. Felix Heinzer (Universität Freiburg) die mittelalterliche Musik und Liturgie bzw. die musikalische und liturgische Handschriftenkultur vor. Dieses Feld, das wohl einen der wichtigsten Bereiche der mittelalterlichen Kultur und ihrer handschriftlichen Überlieferung darstellt, wird außerhalb der jeweiligen Spezialdisziplin häufig leider nicht ausreichend vermittelt. Schnell wurde deutlich, dass dieser Umstand wohl auch in der hohen Komplexität des Materials begründet liegt.
Trotzdem gelang es beiden Dozenten eine Basis zu vermitteln und vor allem Interesse zu wecken, auf das sich aufbauen lässt: Zunächst führte Jeremy Llewellyn anhand des Leipziger Thomas-Graduale in das weite Feld der mittelalterlichen Musik, vor allem aber in die Musikpaläographie ein. Dass es ihm dabei gelang, Historikern, Skandinavisten, Germanisten, Anglisten, Buchwissenschaftlern und Kunsthistorikern (und natürlich -innen) in ca. anderthalb kurzweiligen Stunden (unter vielem anderen) den Unterschied von adiastematischen und diastematischen Neumen zu verdeutlichen, spricht auch hier für die Qualität der Lehreinheiten.
Am nächsten Tag vermittelte Felix Heinzer die Grundlagen zur Erschließung liturgischer Handschriften und deren historischen Kontexts in Messe und Offizium in ähnlicher Weise. Musik- und Liturgiewissenschaftler wurden die Teilnehmer dadurch natürlich nicht, sicherlich konnte aber die Scheu vieler Teilnehmer vor diesen Handschriften und den mittelalterlichen Notationen genommen werden.
Als besonderes Highlight wurden diese theoretischen Einführungen am Mittwochabend durch einen Einblick in die Praxis des liturgischen Gesangs im Leipziger Thomanerkloster um 1300 ergänzt.
Auf der Grundlage des Thomas-Graduale interpretierte das Ensemble Amarcord den Gesangsteil einer Liturgiefeier (Kirchweih) in ihrem Ablauf. Jeremy Llewellyn und Felix Heinzer erklärten und kommentierten einem größeren Publikum die Hintergründe der liturgischen Feier und boten ergänzende Hinweise auf die priesterlichen Gebete, Lesungen und kultischen Handlungen zwischen den Messgesängen. Schon allein von der musikalischen Darbietung war der Abend ein Genuss. Übrigens schloss die Bibliotheca Albertina extra für diese Aufführung einige Stunden früher, wofür hier nochmals gedankt sein soll.
Abgeschlossen wurde der inhaltliche Aspekt des Kurses durch eine freitägliche Exkursion nach Naumburg, wo Archivleiter Matthias Ludwig von den Vereinigten Domstiftern durch den Dom, das Archiv und die Bibliothek führte und dabei einen Einblick in eines der acht riesigen Naumburger Chorbücher gewährte.
Arbeit mit den Handschriften
Soviel zum gelungenen inhaltlichen Programm des Kurses. Meiner Ansicht nach lag die Stärke des Kurses aber vor allem in der Arbeit mit den Handschriften. Zunächst möchte ich vorausschicken, dass das Handschriftenzentrum Leipzig hierfür ideale Bedingungen geschaffen hatte. So war etwa der Lesesaal extra für uns reserviert worden und Christoph Mackert und sein Team sowie die Dozenten waren jederzeit mit Rat, Tat und dem richtigen Hilfsmittel zur Stelle. Ich persönlich glaube, dass ich durch diese vielen Tipps und Tricks aus der Praxis am meisten gelernt habe.
Schon im Vorfeld des Kurses bekamen alle Teilnehmer eine Objektliste der Handschriften aus den im Kurs relevanten Themengebieten. Darunter 30 liturgische Fragmente aus der Zeit vom 9./10. bis ins 15. Jahrhundert, daneben ca. 20 unterschiedlichste Codices, darunter vor allem Objekte, die bislang noch nicht tiefer erschlossen worden sind. Jeweils der halbe Tag war zur Bearbeitung der Handschriften reserviert.
Die Ergebnisse dieser Bearbeitung wurden am Ende des Kurses präsentiert. Hier konnte eigentlich jede Gruppe bislang unbekannte und überraschende Erkenntnisse für eine ihrer Handschriften oder Fragmente vorweisen, so dass die Teilnehmer nicht nur klüger, sondern vor allem um ein kleines Erfolgserlebnis reicher nach Hause gehen durften. Gerade bei der Arbeit mit dem handschriftlichen Original ist das ja nicht unbedingt selbstverständlich.
Teilnehmer und Organisation
Ein paar Worte noch zur Organisation des Kurses: Sehr positiv aufgefallen ist mir die aufwändige und gelungene Organisation des Kurses durch das Team des Handschriftenzentrums, die den Aufenthalt für die Teilnehmer so angenehm und produktiv wie möglich gestaltet haben. Auch die Nachbereitung der Kurseinheiten war durch das Bereitstellen von Materialien, Fotos und Digitalisaten hervorragend und nachhaltig.
Am wichtigsten und augenscheinlichsten war aber die wirklich angenehme Atmosphäre: zum einen durch die Mitarbeiter und Dozenten, die über das übliche Maß hilfsbereit, hilfreich und offen für Fragen und Gespräche aller Art waren.
Zum anderen ist aber auch das Auswahlkonzept der Kursteilnehmer aufgegangen, bei dem großer Wert darauf gelegt wurde, möglichst viele Leute aus unterschiedlichen Fächern und Universitäten zusammenzubringen. Diese interdisziplinäre Heterogenität der Gruppe mit den jeweils sehr unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmer war aus meiner Sicht ein großer Gewinn für den Kurs.
Zusammenfassend hat das Team des Handschriftenzentrums mit dem diesjährigen Sommerkurs unter großem Einsatz ein beeindruckendes Programm auf die Beine gestellt und dabei für eine so freundliche Atmosphäre gesorgt, die nicht nur das Arbeiten und Lernen gefördert, sondern auch den persönlichen Austausch der Teilnehmer über Fachgrenzen hinweg ermöglicht hat (sowohl während als auch nach dem täglichen Kursprogramm).
Und zu allerletzt noch eine Anmerkung zur Förderung des Kurses durch die Alfried-Krupp-Stiftung. Gerade beim wissenschaftlichen Nachwuchs ist die finanzielle Situation ja durchaus sehr unterschiedlich, ebenso die Reise-, Unterkunfts- und Teilnahmekosten eines solchen Kurses. Der Alfried-Krupp-Stiftung ist es zu verdanken, dass durch die Übernahme all dieser Kosten die Teilnahme am Sommerkurs keine Frage des eigenen Geldbeutels oder Projektbudgets war, was eine Besonderheit des Leipziger Kursangebots darstellt. Ich bin mir nicht sicher, ob Handschriftenkurse bei Stiftungen grundsätzlich oberste Förderpriorität besitzen, ich hatte aber auf jeden Fall den Eindruck, dass das Geld, zumindest am Ertrag des Kurses gemessen, gut angelegt war.
Ich persönlich konnte für mein Dissertations-Projekt viel mitnehmen und fühle mich nun relativ gut auf die Arbeit mit den Handschriften vorbereitet. Dass darüber hinaus auch sehr nette persönliche und „berufliche“ Kontakte entstanden sind, rundet das Bild des Leipziger Sommerkurses nur ab, den ich nachdrücklich jedem Mediävisten empfehlen kann.
Fotos: Handschriftenzentrum der UB Leipzig