Die Kopräsenz des Erlebens, Erinnerns, Erzählens

Die Kopräsenz des Erlebens, Erinnerns, Erzählens. Zur Ausstellung „9/11: Vom Ereignis zum Gedächtnis“ and der Universität des Saarlandes

Die Terroranschläge des 11. September 2001 stellen die wohl radikalste Zeitenwende der jüngeren Globalgeschichte dar – eine Epochenschwelle, die (in Anlehnung an das in den Geschichtswissenschaften von 1789 bis 1914 reichende „lange 19. Jahrhundert“) das zweite Jahrtausend gewissermaßen erst 620 Tage später eröffnet.

Damit schien sich allerdings auch Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“[1] nicht zu erfüllen und vielmehr Samuel Huntingtons ausgerufener „Clash“ der Kulturen[2] anzudeuten: Wohl kaum ein anderes Ereignis der Moderne hat den „Westen“ so sehr selbst konstruiert und vom „Rest“ abgegrenzt, wie die Dichotomisierung von Freiheit gegen Fundamentalismus, Zivilisation gegen Barbarei. Denn nahezu unmittelbar als „eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“[3] verstanden, war auch die Antwort darauf, 60 Jahre nach Pearl Harbor, schnell klar: „When America responded to these attacks, it would be deliberate, forceful, and effective.“[4]

Doch die Reaktionen auf diese Terroranschläge gehen weit über die politischen und militärischen Machtzentralen des Westens hinaus und umfassen neben philosophischen Deutungen (von Jean Baudrillard bis Slavoj Žižek) unzählige künstlerische Interventionen, die sich in Lyrik und Roman, Film und Comic, Kunst und Performance mit jenem Dienstag im September 2001 auseinandersetzen, mit dem kaum vorstellbaren Schrecken des Ereignisses und den drastischen Bildern, die daraus hervorgingen.

 



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Quelle: https://visual-history.de/2021/09/10/die-kopraesenz-des-erlebens-erinnerns-erzaehlens-zur-ausstellung-9-11-vom-ereignis-zum-gedaechtnis-and-der-universitaet-des-saarlandes/

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#durchsichten Tagber.: Towards a Transnational History of Right-Wing Terrorism. New Perspectives on Political Violence and Assassinations by the Far Right in Eastern and Western Europe since 1900

durchsichten-online.de/d8ur5

In the present, we are witnessing a new global surge of right-wing extremism and violence. This new wave has also reanimated interest in the history of right-wing terrorism.

The international conference at Erlangen aims to offer a venue for an exchange of scholarly perspectives on the history of right-wing extremism and violence in Europe, East and West. We hope to encourage a comparative and transnational debate on topics including the links between the emergence of right-wing extremist ideologies and politically motivated acts of violence, about the role of supportive environments among the security organs and the political elites, and about the reactions of politicians and the broader public to the assassinations.

Textnachweis: Veranstaltungsankündigung 

Quelle: https://eindruecke.achmnt.eu/2020/06/13941/

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„… und wenn Typen dabei kaputtgehen“

„… und wenn Typen dabei kaputtgehen“

Die Ankündigung von Andreas Baader im Zuge des dritten Hungerstreiks der RAF-Häftlinge ab September 1974 sollte sich bewahrheiten:[1] Am 9. November 1974 starb Holger Meins im Alter von 33 Jahren, 1,83 Meter groß und 40 Kilo schwer, nach zwei Monaten Hungerstreik und fast zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Wittlich in der Eifel.[2] Am 21. November 1974 druckte der „Stern“ das Foto von Holger Meins auf dem Totenbett.[3] Es sollte Eingang in das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik finden. Obwohl es viele Bilder von Holger Meins gibt, war es dieses Foto, welches bis heute das Bild von Meins und auch der RAF prägt. In vielen Publikationen und Filmproduktionen wird es entweder gezeigt oder darauf rekurriert, und auch die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Foto und Meins‘ Rolle als „Ikone“ der RAF-Geschichte bricht seitdem nicht ab.[4]

Im Folgenden soll es jedoch weniger um die Wirkungsgeschichte des Fotos gehen als vielmehr um die Frage, wie es eine derartige Wirkmächtigkeit entwickeln konnte.[5] Das Foto von Meins kann dabei exemplarisch für die Rolle von Bildern in der Beziehung von Mediengesellschaft und Terrorismus gesehen werden.

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Quelle: https://www.visual-history.de/2017/01/09/und-wenn-typen-dabei-kaputtgehen/

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(Un)Sichtbarer Terror – von Andrea Popelka

Was bedeutet es, in einem constant state of emergency zu leben? Wie hängt der verinnerlichte Terror einzelner Subjekte mit dem von Nationen geführten Terrorkampf zusammen? Der Philosoph Brian Massumi (vgl. 2010; 2015) versucht Antworten auf diese Fragen zu finden. Den Schlüssel sucht er unter anderem in der…

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/9463

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Wir sollten die Suppe nicht so heiß essen, wie sie gekocht wird. 
Über das Geschäft mit der Angst und die Allianz von Politik und Terrorismus – von Wibke Henriette Liebhart

Terror ist lateinisch und bedeutet Schrecken. Terrorismus ist damit im doppelten Sinne wörtlich zu verstehen: Zum einen bedeutet Terrorismus eine systematische Androhung und/oder Ausübung von Gewalt – mit der Intention, Schrecken zu verbreiten, um politische, wirtschaftliche oder religiöse Forderungen durchzusetzen. Terrorismus ist meist eine Praktik kollektiver Akteure: Die Rote Armee Fraktion (RAF), Al Qaida oder der Islamische Staat (IS) sind Beispiele für sogenannte Terrorgruppen.

Zum anderen, und darum soll es in diesem Kommentar gehen, werden im Diskurs um Terrorismus Politiker_innen und Terrorist_innen zu Geschäftspartner_innen – die Angst vor terroristischen Anschlägen und Attentaten ist die Währung ihrer Transaktion. Die Art von Schrecken, die durch den Terrorismus hervorgerufen wird, evoziert ein Gefühl des Ausgeliefert-Seins und der Ohnmacht. Es ist die diffuse, omnipräsente und doch surreal erscheinende Angst vor dem nächsten Terroranschlag, der – so scheint es – jederzeit, an jedem Ort, von jeder Frau, jedem Mann oder jedem scheinbar verwaisten Gegenstand verübt werden kann. Eine solche hypothetische Angst erfordert präventive Maßnahmen zur Steigerung der individuellen und kollektiven Sicherheit. Und hier ist die Angst ein Perpetuum mobile: Anstatt nun zu verschwinden (wie es schließlich Sinn und Zweck der getroffenen Maßnahmen ist), produziert sie ihre eigene Lebensenergie, weil sie durch ebendiese Allgegenwart präventiver Sicherheitsvorkehrungen wächst und gedeiht: „Angst veranlasst uns dazu, Maßnahmen zu unserer Verteidigung zu ergreifen. Durch diese wiederum wird die Angst unmittelbar greifbar.

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Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/9460

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Geteilte Derealisierung oder antagonistische Teilung? Sexualpolitiken im Zeichen des Terrors – von Folke Bodersen

Blogreihe #3 – Zur Einführung

Aktuell wird in den Medien sehr viel über Terror und Terrorismus diskutiert, informiert und debattiert. Dem, was dort als Terror bezeichnet wird, wird eine große Öffentlichkeit und Sichtbarkeit eingeräumt, von Radio- und Fernseh-Interviews mit sogenannten Experten bis hin zur Vermittlung von öffentlichen Stellungnahmen von Politiker_innen, „schockierenden“ Bildern und Videos, Zeitungsartikeln, Kommentaren und Posts in sozialen Medien. Doch wie wird Bezug darauf genommen? Was ist überhaupt Terror? Ist er sichtbar? Wenn ja, auf welche Weise geschieht das? Oder ist es gar unmöglich, da wir ihn nicht sehen und erkennen können? Interessant ist auch, welche spezielle Rolle Medien einnehmen, welche paradoxerweise gerade zur größeren Unverständlichkeit und Unsichtbarkeit dieses Phänomens beitragen?

In dieser Blogreihe wollen wir einige soziologische Beiträge zu diesen Fragen veröffentlichen, die vielleicht helfen, ein besseres und kritisches Verständnis von Terror zu schaffen.

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Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/9457

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Die Europäische Kultur und der Terrorismus

Zweifellos muss der aktuelle Terrorismus als Angriff auf die europäische Kultur verstanden werden. Das heißt noch nicht, dass er diese tatsächlich bedroht. Das wird der Fall dann sein, wenn an die Stelle der Selbstkultivierung als essentiellem kulturellem Agens die Abschottung tritt. Abschottung und Kultur schließen sich gegenseitig aus.

Der Beitrag Die Europäische Kultur und der Terrorismus erschien zuerst auf Wolfgang Schmale.

Quelle: http://wolfgangschmale.eu/kultur-und-terrorismus/

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Interview mit Prof. Thomas Kron auf dem Soziologiekongress in Trier 2014

Vom 6. bis zum 10. Oktober 2014 fand in Trier der 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) statt. Das Kongressthema war „Routinen der Krise – Krise der Routinen“. Auch das Soziologiemagazin versuchte, sich in der Krise zu routinisieren. … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/8211

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Neue Erkenntnisse zur Vorratsdatenspeicherung

Wie in den österreichischen Medien jetzt auch krone.at (“Vorratsdaten nicht zur Prävention von Terror geeignet”) und zuvor derstandard.at (“Vorratsdatenspeicherung kein Mittel gegen Terrorismus”) berichten, veröffentlichte die Technische Universität Darmstadt pünktlich zum 11. Jahrestag von 9/11 in einer Presseaussendung Ergebnisse einer Untersuchung zur umstrittenen Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten. Die Kernaussage darin ist, dass die Vorratsdatenspeicherung womöglich kein geeignetes präventives Mittel ist, um terroristische Anschläge zu verhindern. In der Aussendung heißt es:

„Das hierzulande vorgebrachte Hauptargument, dass Terroristen schon vor einer Straftat identifiziert werden könnten – also rein präventiv –, ist nach unserer Studie fraglich“, bringt es der Bioinformatiker Prof. Kay Hamacher vom Fachgebiet Computational Biology and Simulation, auf den Punkt. „Entgegen bisheriger Vermutungen haben unsere Simulationen gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, Terroristen ausfindig zu machen, praktisch nicht steigt“, konkretisiert Hamacher, der die Studie gemeinsam mit Prof. Stefan Katzenbeisser, Security Engineering Group der TU Darmstadt, leitete.

Es ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen

Um terroristisches Verhalten erkennen zu können, müssen Telekommunikationsmuster erkannt werden, die von “normalen” Mustern abweichen. Die Forscher erklären es für problematisch,  “dass auch unverdächtige und gesellschaftlich gewollte Organisations- und Kommunikationsstrukturen auf diese Weise funktionieren” und führen die Organisation einer Hochzeit als Beispiel an.  Es ist also nicht möglich, als terroristisches Verhalten definierte Muster von “normalen”, nicht terroristischen Mustern zu unterscheiden. Außerdem sei es für Terrorgruppen ohne weiteres möglich, die “Ermittler auf falsche Spuren zu locken”, etwa durch die Bildung einer Art “Zwillings-Gruppe”, die durch ihr Verhalten die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Auch potentielle Bankräuber verhalten sich “normal”

Sehr ähnliche Ergebnisse präsentiere ich in meinem Paper “The thinking eye is only half the story: High level semantic video surveillance”: Um Vorbereitungshandlungen von möglichen Banküberfällen (z.B. Ausspionieren der Örtlichkeit) präventiv verhindern zu können, gibt es die Möglichkeit, mit Hilfe von Kameras und Bildverarbeitungsalgorithmen Bewegungsmuster von Personen automatisiert zu analysieren.

Bei den Beobachtungen in Bankfilialen hat sich aber ergeben, dass das Verhalten von “normalen” Bankkunden so unterschiedlich und divers ist, dass das Erkennen und Herausfiltern von ungewöhnlichen oder sogar verdächtigen Bewegungsmustern nicht mehr möglich ist. Wenn man also nur diejenigen herausfiltern würde, die vom Durchschnittsverhalten abweichen (z.B. eine Person, die in aller Ruhe ein Überweisungsformular ausfüllt und anschließend in einer Schlange vor dem Schalter wartet), würde es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit immer die Falschen, nicht aber potentielle Bankräuber treffen. Auch hier habe ich den Vergleich mit der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gebracht: Denn z.B. im Verhältnis zu geschätzten 70 Milionen Personen, die pro Jahr die 512 Bankfilialen in Wien pro Jahr betreten und verlassen, ereigneten sich etwa im Jahr 2008 in Wien “nur” 63 Banküberfälle  (Musik 2011: 348f.).

Quelle: http://www.univie.ac.at/identifizierung/php/?p=3966

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Das Breivik-Urteil: Was bleibt?


Blumen und Kerzen auf Utøya, 28.7.2011
Flickr, CC-BY-NC-SA NRK P3

Ein Gastbeitrag von Bernd Henningsen

Bernd Henningsen (* 1945) war bis 2010 Professor für Skandinavistik/ Kulturwissenschaft sowie Kultur und Politik Nordeuropas und der Ostseeregion am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat u.A. zur skandinavischen Ideengeschichte, politischen Kultur Nordeuropas sowie den deutsch-nordischen Geistesbeziehungen geforscht.

Am Freitag, den 24. August 2012 pünktlich um 10 Uhr begann die Richterin des Osloer Gerichts, Wenche Elizabeth Arntzen mit der Verlesung des Urteils gegen Anders Behring Breivik, sie dauerte bis in den späten Nachmittag und wurde in voller Länge vom nationalen Fernsehen übertragen. Sich selbst zum „Tempelritter“ ernannt, hatte Breivik nach jahrelanger Vorbereitung am 22. Juli 2011 im Osloer Regierungsviertel eine Autobombe gezündet, bei der acht Menschen starben, neun wurden zum Teil schwer verletzt; anschließend hat er auf der Insel Utøya, dem traditionellen Feriencamp der sozialdemokratischen Arbeiterpartei 69 (fast ausschließlich) Jugendliche erschossen, die meisten von ihnen durch Kopfschuss, einige starben an den Folgen des Massakers, erlagen ihren Verletzungen, ertranken auf der Flucht; 33 Personen erlitten Verletzungen, auch diese in vielen Fällen schwere. Die Zahl der psychisch verletzten und traumatisierten Personen ist außerordentlich. Das von ihm angerichtete Leid ist unermesslich. Auf der Todesliste des Attentäters standen auch der norwegische Premierminister, Jens Stoltenberg und eine seiner Vorgängerinnen, Gro Harlem Brundtland – beide waren mehr oder weniger zufällig zum Zeitpunkt nicht auf der Insel. Der Name Anders Behring Breivik wird im nationalen Gedächtnis Norwegens eingeätzt bleiben – das war auch seine Intention. Hätte das Gericht ihn für nicht zurechnungsfähig erklärt, und wäre er einer psychologischen Behandlung unterworfen worden, wie dies von Gutachtern befürwortet worden war, dann wäre dies in seinen Augen die größte Kränkung seines an Kränkungen reichen Lebens geworden. Nach der norwegischen Rechtsordnung hätte er dann im Falle einer erfolgreichen Behandlung, das heißt also der psychischen Wiederherstellung, aus der Verwahrung entlassen werden müssen – seine Taten waren die eines Kranken, den man nicht für sein Tun verantwortlich machen und bestrafen kann …

Das Gericht ist dieser Interpretation nicht gefolgt, es hat Breivik für zurechnungsfähig erklärt und ihn mit einer Höchststrafe für 21 Jahre in Haft geschickt, nach norwegischem Rechtsbrauch bedeutet dies, dass er nie mehr freikommen wird. Ein solches Urteil hat er gewollt, auf eine Revision hat er verzichtet. Jedem, der seine Reaktion bei der Urteilsverkündung erlebt oder der sie auf dem Bildschirm gesehen hat, wird das Grinsen erinnerlich bleiben, mit dem er die richterliche Zurechnungsfähigkeitserklärung quittierte. Das Urteil war für ihn eine Genugtuung.

Der Breivik-Prozess hatte nicht primär zur Aufgabe, den Angeklagten zu überführen – er war ja in allen Punkten geständig. Insofern ist auch mit einer gewissen Berechtigung gefragt worden, warum das Gericht diesen Aufwand betrieben hat. Der Prozess war allerdings der Versuch, hat zumindest diese Funktion gehabt, den gesellschaftlichen Frieden wieder herzustellen, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, den Beteiligten und Hinterbliebenen die Anerkennung ihres Leids zu demonstrieren und ihnen bei der Trauma-Bearbeitung – soweit ein Gericht das kann – zu helfen. Indem das Gericht den Attentäter für zurechnungsfähig erklärt hat, hat es außerordentlich klug und vorausschauend geurteilt. Indem die Staatsanwälte, die auf das Gegenteil plädiert hatten, auf eine Revision verzichteten, sind sie dieser richterlichen Klugheit gefolgt – sie haben bedacht unterschieden zwischen Recht haben und Recht bekommen: Man mag sich nicht ausmalen, was den Opfern im Besonderen und der Gesellschaft im Allgemeinen zugemutet worden wäre, wenn es  eine Fortsetzung des Prozesses und/oder eine Neuauflage gegeben hätte, geben sollte. Dem Rechtsfrieden ist eine Chance gegeben worden.

Das Gericht hat in einer gesellschaftlichen Krisensituation in vorbildlicher Weise die Funktion angenommen, die es in einer demokratischen Gesellschaft haben soll: Repräsentant eben dieser Gesellschaft zu sein, Recht zu sprechen, aber auch symbolisch auszudrücken, was diese Gesellschaft zusammenhält. Nach allem was man erfährt, haben die Hinterbliebenen, hat die Mehrheit der Gesellschaft sowohl den Prozess als auch das Urteil akzeptiert und als symbolischen Akt der Krisenbewältigung verstanden. Das auch anzutreffende und durchaus weit verbreitete Gefühl, endlich eine bedrängende Situation überstanden zu haben, ist dazu kein Widerspruch, diese (verständliche) Erleichterung stützt eher die These. Mit Fug und Recht wird man festhalten können, dass die norwegische Gesellschaft ungemein kreativ die materielle und symbolische Krisenbewältigung angenommen hatte und noch annimmt. Die Fähigkeit zu trauern war eine ungemein weit verbreitete.

Breivik hat während des ganzen Prozesses kein Mitleid für die Opfer und Hinterbliebenen gezeigt, er war nur gerührt über eine von ihm selbst verfertigte und im Gerichtssaal gezeigte Präsentation seines Programms, über das in seinen Augen korrekte Urteil – und er zeigte Gefühle darüber, dass er nicht mehr Menschen erschossen hat, sein Ziel war gewesen, alle 564 Teilnehmer des Camps hinzurichten. Er wird in den kommenden Jahren bei der Lektüre des Urteils sicherlich noch berührt werden von der Klarsicht des Gerichts, das ihm attestiert hat, dass sein Tun und Handeln nicht nur verantwortungslos war, sondern dass das politische Gerüst, das er gezimmert hat, auf Hirngespinsten beruhte: Es gibt keinen Tempelritterorden, es sei denn in seiner Phantasie. Das Gericht hat festgehalten, dass er in einer Fantasy-Welt gelebt hat, in der es kein Recht auf Leben für andere, nicht-weiße Norweger gibt.

Und eine weitere Kränkung wird Breivik verarbeiten müssen: Sein Fall hat länger als ein Jahr Schlagzeilen in den internationalen Medien provoziert, ihm war weltweit Aufmerksamkeit sicher. Der Tag nach der Urteilsverkündung war sein letzter Tag des narzisstischen Triumpfes: Er bestimmte am Samstag, den 25. August 2012 die Schlagzeilen der Weltpresse – schon am Sonntag war der Fall Breivik der Presse keine Nachricht mehr wert, es gibt ihn nicht mehr. In Norwegen selbst wird es allerdings eine lang andauernde Debatte geben, ja geben müssen über die politische, die polizeiliche Verantwortung, über den Strafvollzug, über den Umgang mit den traumatisierten Opfern – vor allem aber wohl über die Meinungsfreiheit und den Umgang mit Fremden. Die von Jens Stoltenberg reklamierte offene und tolerante norwegische Gesellschaft, die man sein und bleiben will, muss die Herausforderung aufnehmen. Sie tut es bereits, anderswo könnte man sich daran ein Beispiel nehmen.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/624

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