Bürger – Adlige – Iwein: zum literarischen Horizont der Freiburger Familie Malterer im Spannungsfeld von Rittertum, Minne und höfischer Kultur

Gastbeitrag von Dr. Marcus Schröter

Eine Bürgerfamilie und ein Held – historische Befunde zu der Familie Malterer

Seit seiner Wiederentdeckung vor über hundert Jahren regt der berühmte Malterer-Teppich aus dem Besitz spätmittelalterlicher weiblicher Klostergemeinschaften Freiburgs immer wieder neue Diskussionen an und man darf konstatieren, dass keineswegs alle Fragen gelöst sind – im Gegenteil. Ein Grund dafür, dass sich dieses kostbare textile Kunstwerk immer wieder konsequent einer schlüssigen Gesamtinterpretation entzieht, liegt sicherlich auch in der Vielstimmigkeit des für seine Deutung zwingend notwendigen, interdisziplinären Diskurses von Historikern, Kunsthistorikern, Theologen und Germanisten.1

Mittelalter am Oberrhein“, das neue Blog der Freiburger Landesgeschichte, wählt den um 1320 datierten Malterer-Teppich als geeignetes Symbol für die Gegenstände ihrer Forschung, die „enge Verknüpfung von bürgerlicher und adliger Welt zu den Klöstern.“2Johannes Waldschütz skizzierte aus diesem Anlass aus historischer Perspektive die Geschichte der Freiburger Familie Malterer: Johannes Malterer (um 1312-1360) gelang durch den Erwerb großen Reichtums der Aufstieg seiner aus einfachen Verhältnissen stammenden Familie in die städtische Oberschicht seiner Heimatstadt. Um diesen neuen Status nicht nur dauerhaft zu festigen, sondern darüber hinaus eine weitere Standeserhöhung zu ermöglichen, arrangierte der bürgerliche homo novus geschickt die in den 1350er Jahren geschlossenen Eheverbindungen seiner drei Töchter Elisabeth, Gisela und Margarethe mit dem regionalen Adel.3 Das Interessante dabei ist, dass Johannes Malterer sein Vermögen gezielt investierte und pfandweise Burgen erwarb, die er seinen Töchtern mit in die Ehe geben konnte, ein im Spätmittelalter durchaus verbreitetes Phänomen.4 Und solche Burgen waren – darauf kam es offenbar an – weithin sichtbare Symbole der höfischen Kultur des hohen Mittelalters, die auch für bürgerliche Vorstellungswelten von Minne und Rittertum im Spätmittelalter ihre Attraktivität keineswegs verloren hatten.5

Diese Vorstellungswelten scheinen für den einzigen Sohn des Johannes, Martin Malterer (um 1335/36-1386), geradezu identitätsstiftend gewesen zu sein: Wie seine Schwestern erhielt er von seinem Vater mit der Herrschaft Kastelburg 1354 eine Burg, die er später gemäß seinem adligen Lebensstil als österreichischer Landvogt im Elsass und im Breisgau individuell ausbaute. Im Jahr 1367 zuerst als Ritter belegt, spielte Martin Malterer später eine maßgebliche Rolle in der Rittergesellschaft zum Löwen. Seine Heirat mit der Grafentochter Anna von Tierstein 1373 verband ihn direkt mit dem Adelsstand. Da Martin Malterer ohne Söhne 1386 in der Schlacht von Sempach fiel, erlosch die männliche Linie der Familie jäh.6 Um den gemeinsamen Tod Martin Malterers mit seinem Herzog Leopold III. von Habsburg rankte sich seitdem der Heldenmythos, dem die Stadt Freiburg noch 1899 an der Schwabentorbrücke ein Denkmal setzte.

Stürzende Helden und ein Held im Triumph – literaturwissenschaftliche Perspektiven auf den Malterer-Teppich

Konnten historische Forschungsbeiträge zur Geschichte der Familie Malterer plausible Argumente dafür herausarbeiten, dass es Johannes strategisch und unter Einsatz erheblicher finanzieller Ressourcen nicht nur gelang, innerhalb der sozialen Ordnung der Stadt an die Spitze des Bürgertums aufzusteigen, sondern darüber hinaus die Stadt einzutauschen gegen Lebensentwürfe des regionalen Adels, so möchte ich – über Waldschütz‘ summarische Beschreibung des Malterer-Teppichs als „Zeugnis für deren Repräsentationsbemühungen“ hinaus – fragen, welche inhaltlichen und ikonographischen Signale diesen sozialen und kulturellen Anspruch der Malterer konkret symbolisieren.

© Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

© Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser 

 

Germanistische und kunsthistorische Forschungsbeiträge7 haben gezeigt, dass in der um 1320 im Auftrag der Familie Malterer8 verfertigten Textilie konventionelle und unkonventionelle Bildkonzepte vieldeutig und rätselhaft aufeinander treffen. Sind die in den acht Medaillons vorgeführten Paare Samson und Dalila, Aristoteles und Phyllis sowie Vergil und die Tochter des Augustus auch in anderen bildlichen Darstellungen von Minne- oder Frauensklaven durchaus verbreitet, so trifft dies auf Iwein und Laudine keineswegs zu.9 Und genau hierin liegt die Einzigartigkeit des ikonographischen Arrangements. Der Hauptunterschied zwischen den ersten drei und dem vierten Bilderpaar besteht darin, dass in den ersten drei die jeweils erste Szene den männlichen Protagonisten in einer Situation des Triumphes zeigt, in der zweiten hingegen in einer Situation der Demütigung.

Samson und Dalila, Aristoteles und Phyllis sowie Vergil und die Tochter des Augustus, © Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Samson und Dalila, Aristoteles und Phyllis sowie Vergil und die Tochter des Augustus, © Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Im Falle der Iwein-Szenen ist dieser Sturz des Helden keineswegs so klar, hängt doch die Gesamtinterpretation davon ab, wie man die (vieldeutige) Ringszene deutet. Meiner Einsicht überzeugt Volker Schupps These10, dass man mit philologischem Blick nicht zwanghaft versuchen sollte, das Bild einer der drei Ringszenen im Text Hartmanns von Aue zuzuweisen: weder der Übergabe des unsichtbar machenden Rings an Iwein durch Lunete (Verse 1135-1211)11, bei der Laudine nicht anwesend ist, noch der Übergabe des Treuerings durch Laudine, bei der Lunete nicht anwesend ist (Verse 2940-2955), noch der Rückforderung des Treuerings durch Lunete, bei der Laudine nicht anwesend ist (Verse 3192-2199). Von letzterer Ringszene müsste man ausgehen, wollte man im zweiten Bild den Sturz des Helden sehen – denn Iwein verliert durch den Verlust des Treuerings im Wahnsinn seine Identität, die er erst im zweiten Aventiurezyklus wieder schrittweise zurück gewinnt.

Iwein-Szenen des Maltererteppichs, © Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Iwein-Szenen des Maltererteppichs, © Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Löst man sich dagegen von einer strikt textbezogenen Lesart der Ringszene und abstrahiert zugleich von der Textstruktur des „ganzen ‚Iwein‘“, wie es übrigens auch in den Wandmalereien auf Schloss Rodeneck mit Fokussierung auf den ersten Handlungszyklus der Fall ist, bietet sich nach Schupp die Szene der von Lunete angebahnten Versöhnung zwischen Iwein und Laudine an (Verse 2248-2360), die im Entschluss zur Hochzeit mündet – und diese Hochzeit werde durch den Ring symbolisiert. Ikonographische Parallelen sieht Schupp in der Darstellung des Hochzeitsbanketts von Marke und Isolde im Tristanteppich III aus Wienhausen sowie in Illustrationen des ‚Sachsenspiegels‘. Christoph Mackert12 schließt sich Schupps Deutung ebenfalls an und hält eine Funktion des Malterer-Teppichs im Kontext einer Hochzeit durchaus für möglich, wenn das Bildprogramm auf diese Weise nicht mehr nur auf eine Warnung vor irdischer Liebe reduziert werde und das verbreitete Weiberlisten-Motiv eine bewusst positive Wendung erhalte: Lunetes List, selbst wenn sie von Autoren wie Wolfram von Eschenbach durchaus verurteilt wurde,13 führt nach dieser Interpretation gerade nicht zum Ehrverlust des männlichen Helden, sondern zu seinem Ehrgewinn durch den Gewinn irdischer Liebe und die Hochzeit mit Laudine. Ich halte diesen Ansatz für überzeugend – nicht zuletzt mit Blick auf die historisch belegbare offensive Heiratspolitik der Familie Malterer.

Entscheidender Prüfstein für eine solche Interpretation bleibt schließlich die Frage, wie sich das neunte Medaillon mit der Jungfrau mit dem Einhorn in die Gesamtdeutung des Malterer-Teppichs fügt: Ist dieses auf sämtliche Doppelszenen zu beziehen, nur auf die ersten drei oder nur auf die letzte? Formuliert es gleichsam als Fazit der Exempel-Geschichten die Warnung vor der irdischen Liebe und den Aufruf zur geistlichen Liebe? Die geistliche Interpretation der Jungfrau-Einhorn-Szene kann dabei in unterschiedliche Richtungen gehen: Im zwölften Buch der ‚Etymologiae‘ Isidors von Sevilla wird das Einhorn als ferox und fortis charakterisiert, das nicht von Jägern überwunden werden könne, wohl aber von einer Jungfrau, in deren Schoß es sein Horn freiwillig hineinlege. Ebenso überliefert es auch der ‚Physiologus‘ und legt eine Deutung der Menschwerdung Christi durch die Jungfrau Maria nahe. Eine weitere geistliche Interpretation geht dahin, dass das Einhorn mit seinem Horn das von der Schlange vergiftete Wasser reinigt und somit als Christus verstanden wird, der die Welt von den Sünden befreit.14

Einhornszene des Malterteppichs, © Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Einhornszene des Malterteppichs.

Oder aber wird im Einhornmedaillon eine eigene Episode erzählt – allerdings in nur einer einzigen Szene? Dann dürfte – wie auch in den anderen Medaillons – die Jungfrau im Zentrum stehen. Aber wie genau wäre dann das Einhorn zu deuten? Ebenfalls als Symbol weiblicher List, die aber hier allein in der Reinheit und Keuschheit der Jungfrau begründet liegt? Oder als Symbol für die ferocitas oder fortitudo im Sinne Isidors, allerdings übertragen auf die – durch eine Frau gebrochene – männliche Stärke, die die vorangegangenen Doppelszenen vorführen?15 In dieser Lesart würde sich das letzte Medaillon unmittelbar in die vorangegangenen einreihen und die Themen „Stärke der Männer“ und „List der Frauen“ um eine interpretatio christiana erweitern. Ob hiermit zugleich eine geistliche Gesamtdeutung des Malterer-Teppichs intendiert wird, scheint mir aber keineswegs eindeutig – die Iwein-Medaillons öffnen hierfür eine zu weltlich-positive Interpretation von Minne und Rittertum. Möglicherweise ist diese ikonographische Ambivalenz, die durch das Einhorn-Medaillon provoziert wird, auch konstitutiv für die Gesamtkonzeption des Kunstwerks, in das eine Offenheit und Multiperspektivität von vorne herein eingeschrieben sein sollte.

Inwiefern aber passt ein solch bemerkenswertes Konzept zu dem eingangs resümierten spezifischen Hintergrund der Malterer als Stifter? Ich meine: sehr gut. Der durch ihren Reichtum mögliche soziale Aufstieg der Familie an die Spitze des Freiburger Bürgertums einerseits, ihr Herausdrängen aus der Stadt durch Heiratsverbindungen mit dem regionalen Adel unter Verwendung tradierter aristokratischer Symbole und Funktionen wie Burgen und als Mitglied der Ritterschaft andererseits – all dies zeigt ihre enge Vertrautheit mit und Orientierung an der Vorstellungswelt höfischer Kultur.

Zentrale Ideale dieser höfischen Kultur sind Rittertum und Minne, die ihre außerordentliche Wirkmacht bis in die Neuzeit hinein insbesondere in der volkssprachigen Literatur reich entfalteten. Der alemannische Südwesten und seine benachbarten Regionen waren Zentren dieser literarischen Avantgarde, sodass durchaus vorstellbar ist, dass die Familie Malterer mit höfischer Epik und Lyrik vertraut war. Und vielleicht sogar noch mehr: Sie mochten den weithin berühmten ‚Iwein‘ Hartmanns von Aue genau gekannt und gezielt eingesetzt haben, als sie den Auftrag für die kostbare Textilie gaben. Und vor diesem literarischen Horizont der Malterer fand Hartmanns ‚Iwein‘ eine individuelle „Gebrauchssituation“,16 die für den Artusstoff bis dahin singulär war und die uns bis heute Rätsel aufgibt.

Wenn Bigott in seiner Untersuchung der Handlungsspielräume der Damen Malterer mit Blick auf die Szenen des Malterer-Teppichs „nicht ohne ein gewisses Schmunzeln“ fragt, „wie weit die realen Maltererdamen ihre Männer dominierten“,17 stellt er meines Erachtens eine sehr wichtige Frage, verlässt aber seine historische Perspektive nicht, weil er die Ikonographie des Kunstwerks zu wenig in seine Interpretation mit einbezieht. Greift man seine Interpretation der massiven Heiratspolitik des Johannes Malterer für seine drei Töchter auf und versucht den Malterer-Teppich – als Hochzeitsteppich – in diesen konkreten Kontext zu stellen, müsste die bisherige Datierung später als um das Jahr 1320 angesetzt werden, da diejenigen Damen Malterer, an denen nach Bigott die kluge Verwirklichung der gesellschaftlichen und politischen Zielsetzungen besonders deutlich fassbar sind, zur Generation der Töchter und Enkelinnen Johann Malters gehörten. Wenn Elisabeth, Margarethe und Gisela in den 1350er Jahren heirateten und es sich bei der neben Johannes als Stifterin genannten Anna um die archivalisch nachweisbare, 1354 verstorbene Ordensangehörige handelt, so wäre aus kunsthistorischer Sicht zu prüfen, ob der Malterer-Teppich dreißig Jahre später datiert werden könnte.

Nach meiner Auffassung ist schließlich der ikonographische Befund grundsätzlicher zu betrachten: Der Malterer-Teppich könnte einen konkreten Einblick in den literarischen Horizont seiner Auftraggeber geben und die virtuose Kreativität zeigen, mit der sie diesen in ihrer Selbstinszenierung als Identifikations- und Legitimationsmuster nutzten. In dieser Interpretation hätte die Familie durch die bewusst kalkulierte Wahl der ‚Iwein‘-Szenen für den Teppich diesem ihren eigenen kulturellen und literarischen Horizont, der dominiert ist von hochhöfischen Vorstellungen von Minne und Rittertum, in die traditionelle Szenenauswahl der „Weiberlisten“ aus dem Alten Testament, der griechischen und der römischen Antike öffentlich sichtbar eingeschrieben. Möglicherweise – hier möchte ich die historische Argumentation Bigotts unter germanistischer Perspektive weiterführen18 – ist gerade der ‚Iwein‘, in dem nicht nur die Dienerin Lunete als listige Frau klug kalkulierend die vorteilhafte Eheverbindung Laudines und Iweins arrangiert, sondern auch die mächtige Herrscherin Laudine für die von der Familie Malterer verfolgte Heiratspolitik besonders attraktiv gewesen. In seiner neuen Gebrauchssituation kann der ‚Iwein‘ seine besondere Sprengkraft entfalten. Ob die Familie Malterer selbst das gesamte ikonographische Konzept entwarf oder ob ihr ein erfahrener Concepteur zur Seite stand, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.

In der „modernen“ (spät-)mittelalterlichen höfischen Welt, zu der sich die Malterer selbstbewusst zählen, kann Frauenlist auch zu glücklicher Liebe führen, wie nicht nur an Iweins Schicksal, sondern auch an den Heiratsverbindungen der Töchter des Johannes mit dem südwestdeutschen Adel deutlich wurde. Die geistliche Liebe, wofür die Szene mit dem Einhorn stehen kann, bleibt davon möglicherweise ganz unberührt: Vielleicht sollten hier gerade nicht unterschiedliche Konzepte der Liebe gegeneinander ausgespielt, sondern einfach nur nebeneinander gestellt werden. Sollte es sich bei Anna Malterer um die Ordensdame handeln, so würde jede der beiden Stifterpersönlichkeiten ihre eigene Deutung des Themas Liebe in das Bildprogramm eingebracht haben: Johannes die weltliche Sicht aus der Perspektive seines literarischen Horizontes, der durch die höfisch-aristokratische Welt des Hochmittelalters geprägt war, Anna dagegen die geistliche Sicht der Ordensfrau. Wenn auch die Einhornszene der Gesamtkomposition eine bestimmte Gewichtung verleiht, so muss dadurch doch keine abschließende Bewertung der Liebe vorgenommen sein. Beide Konzepte von Rittertum und Minne, das geistliche und das weltliche, wurden von der Stifterfamilie Malterer gelebt. Insofern muss der Teppich auch nicht zwingend auf den möglichen Anlass einer Hochzeit, wofür es in der Familie Malterer in den 1350er Jahren mehrere gegeben hat, bezogen werden, sondern kann ebenso gut für sich stehen.

Literatur und Leben – vom Umgang mit literarischen Mustern

Mit einem solchen identifikatorischen Umgang mit Literatur standen die Freiburger Malterer aber keineswegs allein: Ein besonders prominentes Beispiel ist die Bozener Familie Vintler19, die ebenfalls im 14. Jahrhundert eindrucksvoll zeigte, wie präzise höfische Literatur instrumentalisiert werden konnte, um gesellschaftlichen Aufstieg repräsentativ zu inszenieren und sie in neuen Gebrauchssituationen visuell zum Sprechen zu bringen. Dem städtischen Patriziat entstammend und zu Reichtum gekommen, erwarben Niklaus und Franz Vintler 1385 Burg Runkelstein und ließen sie durch aufwändige Wandmalereien nach höfischer Literatur, darunter ‚Wigalois‘, ‚Garel von dem blühenden Tal‘ oder ‚Tristan‘, ausmalen. Auch ‚Iwein‘ gehört zu den Identifikationsmustern der Bozener homines novi, denn er ist mit Parzival und Gawein als einer der drei besten Artusritter an die Außenwand des sogenannten Sommerhauses gemalt, so dass man ihn vom Burghof aus weithin sehen konnte.20 Die Vintler waren ferner Sammler und Auftraggeber von Handschriften und traten mit Hans Vintler sogar mit eigener literarischer Produktion an die Öffentlichkeit. 1393 erreichten die Vintler exakt das, was auch die Malterer erstrebten: die Verleihung des Adelsprädikates. Burg Runkelstein gelangte später in den Besitz Kaiser Maximilians I., des „letzten Ritters“, in dessen gedechtnus–Konzept Strategien der Malterer und Vintler eine noch ganz neue Komplexität erreichten.

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Abbildung von Gawein und Iwein auf Burg Runkelstein (Parzival links abgeschnitten),

 

Mit diesen Bemerkungen sollte der historische Beitrag zum Maltererteppich von Waldschütz durch eine germanistische Perspektive auf die kostbare Textilie und auf ein konkretes paralleles Beispiel, die Bozener Familie Vintler, ergänzt werden: Diese erlangten nicht nur als Burgbesitzer, sondern gleichermaßen als Mäzene von Literatur Ruhm – in der Diskussion um die vielen ungelösten Fragen des Malterer-Teppichs ist dieser Aspekt m. E. so noch nicht diskutiert worden.

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Marcus Schröter ist Fachreferent an der Universitätsbibliothek Freiburg für Geschichte, Alte Geschichte, Musik, Klassische Archäologie, Ur- und Frühgeschichte, Provinzialrömische Archäologie sowie Klassische Philologie, hat zum Wiener ‘Eneas-Roman’ (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2861) Heinrichs von Veldeke in Text und Bild promoviert (als eBook publiziert auf dem Freiburger Hochschulschriftenserver Freidok).

  1. Die historische Literatur zum Thema siehe bei Waldschütz, Johannes: Das Blog und der Malterer-Teppich. In: Mittelalter am Oberrhein [Weblog], 30. Januar 2014: http://oberrhein.hypotheses.org/125
  2. Waldschütz, s. o., Anm. 1.
  3. Bigott, Boris: Die Damen Malterer. Zur Einheirat Freiburger Patriziertöchter in den Breisgauer Adel im 14. und 15. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins “Schau-ins-Land” 126 (2007), S. 19-37, hier: S. 23-30. – Ders.: Städisches Patriziat als Machtfaktor auf dem Burgenmarkt am Beispiel des Breisgaus. In: Burgen im Breisgau: Aspekte von Burg und Herrschaft im überregionalen Vergleich. Hrsg. von Erik Beck, Eva-Maria Butz, Martin Strotz, Alfons Zettler und Thomas Zotz. Ostfildern: Thorbecke, 2012, S. 241-254.
  4. Vgl. Bigott: Städtisches Patriziat, s. o., Anm. 3, S. 241.
  5. Vgl. Zeune, Joachim: Burgen – Symbole der Macht. Ein neues Bild der mittelalterlichen Burg. Regensburg: Pustet, 1996.
  6. Vgl. Bigott: Städtisches Patriziat, s. o., Anm. 3, S. 255.
  7. Schupp, Volker: Der Maltererteppich im Freiburger Augustinermuseum – eine Führung. In: Badische Heimat 3 (2008), S. 336-347. – Ders.: Nachträge zu den Iwein-Bildern des Maltererteppichs. In: Badische Heimat 4 (2009), S. 709-710. – Ders.: „Skriptoralisches“ zum Maltererteppich. In: Vielfalt des Deutschen. FS Werner Besch. Frankfurt: Lang, 1993, S. 149-158. – Wegner, Wolfgang: Die ‚Iwein’-Darstellungen des Maltererteppichs in Freiburg i. Br.: Überlegungen zu ihrer Deutung. In: Mediävistik 5 (1992), S. 187-196. – Bock, Sebastian; Lothar A. Böhler (Hrsg.): Bestandskataloge der weltlichen Ortsstiftungen der Stadt Freiburg i. Br. Bd. 5: Die Textilien. Rostock: Hinstorff, 2001, Nr. 17, S. 87-94. Maurer, Friedrich: Der Topos von den „Minnesklaven“. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen Bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter. In: Ders.: Dichtung und Sprache des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze. Bern, München: Francke, 1963, S. 182-206. – Becherer, Wolfram: Johann Malterer – ein Millionär des Mittelalter. In: Der neunzehnte Riegeler Almanach 2009, S. 19-23. – Schweitzer, Hermann: Die Bilderteppiche und Stickereien in der städtischen Altertümersammlung in Freiburg i. Br. In: Schauinsland 431 (1904), S. 50. – Eißengarthen, Jutta: Mittelalterliche Textilien aus Kloster Adelhausen im Augustinermuseum Freiburg, Freiburg, 1985.
  8. Hinsichtlich der beiden Namen „Johannes“ und „Anna“, die die neun Bildmedaillons umschließen, herrscht lediglich für Johannes eindeutige Klarheit. Da beiden Namen das Familienwappen der Malterer beigefügt ist, hält Waldschütz die Vermutung für unwahrscheinlich, dass es sich bei Anna um die Frau des Johannes handeln könnte, da in diesem Fall das Wappen ihrer eigenen Familie verwendet worden wäre. Ich danke Herrn Waldschütz für seine mündliche Auskunft. Seit Heinrich Maurer: Ein Freiburger Millionär des 14. Jahrhunderts und seine Nachkommen, in: Schau-ins-Land. Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland 34 (1907), S. 3-20, wird das Verwandtschaftsverhältnis Schwester-Bruder angenommen.
  9. Schupp, s. o., Anm. 7, S. 341.
  10. Ebd., S. 342 ff.
  11. http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/12Jh/Hartmann/har_iwe0.html
  12. Schupp (2009), s. o. Anm. 7.
  13. Wolfram von Eschenbach, Parzival, Verse 436, 4-10.
  14. Vizkelety, A.: Artikel „Einhorn“. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Band 1, Sp. 590-593; hier: Sp. 590.
  15. In diesem Sinne argumentiert Konrad Benedikt Vollmann in einer schriftlichen Mitteilung an Volker Schupp. Ich danke Herrn Schupp, der mir dieses gewichtige Argument mitgeteilt hat.
  16. Die Begrifflichkeit wurde von Norbert H. Ott in die literaturwissenschaftliche Diskussion eingeführt. Ott, Norbert H.: Epische Stoffe in mittelalterlichen Bildzeugnissen. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Stuttgart: Kröner, 1984, S. 449-474. – Ders. und Walliczek, Wolfgang: Bildprogramm und Textstruktur. Anmerkungen zu den ‚Iwein’-Zyklen auf Rodeneck und in Schmalkalden. In: Cormeau, Christoph (Hrsg.): Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Stuttgart: Metzler, 1979, S. 473-500.
  17. Bigott: Die Damen Malterer, s. o. Anm. 3, S. 19.
  18. Bemerkenswerterweise hat Bigott den Inhalt der Szenen lediglich ganz allgemein auf „dominante Frauen“ reduziert, ohne die tatsächliche literarische Sprengkraft des ’Iwein‘ zu bemerken.Bemerkenswerterweise hat Bigott den Inhalt der Szenen lediglich ganz allgemein auf „dominante Frauen“ reduziert, ohne die tatsächliche literarische Sprengkraft des ’Iwein‘ zu bemerken.
  19. Norbert H. Ott: Höfische Literatur in Text und Bild: der literarische Horizont der Vintler. In: Schloss Runkelstein. Die Bilderburg. Bozen: Athesia, 2000, S. 311-330.
  20. http://www.runkelstein.info/images_big/triade_4x_en.html.

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/462

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Chinabilder 2014: “Manche mögen Reis”

Chinabilder in der Belletristik (im weitesten Sinne) sind ein sehr weites Feld zwischen  Karl Mays Kong-Kheou, das Ehrenwort,  Sax Rohmers Dr. Fu Manchu,  Hergés Le lotus bleu, Romanen von Pearl S. Buck und Han Suyin, Robert van Guliks Richter Di-Reihe, Pixi-Büchern wie Petzi fährt nach China, Krimis von Christopher West und Peter May, Petra Häring-Kuans Chinesisch für Anfänger, Richard Masons Suzie Wong und Gene Luen Yangs Boxers & Saints – eine zufällige und willkürliche Auswahl, die die Bandbreite nur andeuten kann: Unterhaltungsliteratur, Kriminalromane und Thriller, ‘Chick-Lit’, Kinderbücher, Comics und Graphic Novels etc. etc. Eine (nicht mehr ganz) neue Facette eröffnet das “erzählende Sachbuch”[1] aus der ‘So sah ich China’-Perspektive: Ausländer berichten über ihre Zeit in China. Da sind zwar auch Journalisten, die sich nur für kurze Zeit in China aufhalten, in der Mehrzahl sind diese Berichte von Expats, die Jahre ihres Lebens in China zubringen.

Klassische Beispiele für Erfahrungsberichte aus China sind unter anderem Max Scipio von Brandt: 33 Jahre in Ostasien – Erinnerungen eines deutschen Diplomaten (1901), Egon Erwin Kisch: China geheim (1933), Hugo Portisch: So sah ich China (1965) und Augenzeuge in Rotchina (1965), Klaus Mehnert: China nach dem Sturm. Bericht und Kommentar (1971), Harrison Salisbury: To Peking and Beyond: A Report on the New Asia (1973), Lois Fischer-Ruge Alltag in Peking. Eine Frau aus dem Westen erlebt das heutige China (1981), Harrison Salisbury: Tiananmen Diary: Thirteen Days in June (1989) und Peter Scholl-Latour: Der Wahn vom Himmlischen Frieden. Chinas langes Erwachen (1990).

Jüngere Beispiele sind unter anderem: Tim Glissold:  Mr. China: A Memoir (2006), Peter Hessler: River Town: Two Years on the Yangtze (2006), Matthew Polly: American Shaolin (2007), Michael Levy: Kosher Chinese: Living, Teaching, and Eating with China’s Other Billion (2011), Dominic Stevenson: Monkey House Blues. A Shanghai Prison Memoir (2010), Peter Hessler: Country driving : a Chinese road trip (2010, dt. Über Land: Begegnungen im neuen China (2009)) Alan Paul, Big in China. My Unlikely Adventures Raising a Family, Playing the Blues, and Becoming a Star in Beijing (2011), Leanna Adams: Pretty Woman Spitting. An American’s Travels in China (2012).
Diese Berichte zeichnen naturgemäß höchst unterschiedliche Bilder von China zwischen Faszination und Frustration, zwischen Abscheu und Begeisterung. Allen gemeinsam ist das Sich-Einlassen auf China.

Ganz anders ist Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte. ((Susanne Vehlow: Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte (Berlin: Ullstein 2014).)) Fassungslosigkeit ist eine unzulängliche Beschreibung meiner Reaktion auf “eine umwerfende Erfahrung, mitten unter Chinesen zu leben!”[2] Die Autorin ist Sport- und Englischlehreren und lebte mit Mann und Kindern von 2009 bis 2014 in Shanghai, wo sie und ihr Mann an der Deutschen Schule unterrichteten.[3]

Vehlow: Manche mögen Reis

Vehlow: Manche mögen Reis (Quelle: Ullstein Verlag)

Das Cover zeigt drei ‘Chinesen’ in pyjamaartigen Gewändern, mit langem Zopf und Kegelhut. Sie bedienen sich aus einer überdimensionalen (und perspektivisch ziemlich eigenartig wirkenden) Schale mit weißem Reis. Die Figur im roten Gewand führt einen kleinen grünen Drachen an einer Leine – und im Hintergrund lehnt in der Ecke ein Kontrabass – wohl in Anlehnung an das Kinderlied “Drei Chinesen mit dem Kontrabass”[4]

Eigentlich sollte das eine ausreichende Warnung sein. Tatsächlich wird auf 330 Seiten  in 52 Kapiteln kein Klischee ausgelassen: Menschenmassen, Küche, Wohnverhältnisse, Klima/Wetter in Shanghai, Verkehr, Küche, hygienische Verhältnisse und Charakter ‘der Chinesen’ schlechthin.

Zum – zugegeben gewöhnungsbedürftigen – Straßenverkehr in Shanghai heißt es: “Mit den Verkehrsregeln nehmen sie es hier nicht so genau” (S. 42). ‘Man’ hat kein Auto, weil man nur einen Block von der Schule entfernt wohnt und den Weg mit dem Rad zurücklegt. Für alles andere gibt es Taxis – Taxifahren ist ein Abenteuer, dasimmer wieder thematisiert wird, speziell im Kapitel 17 “Taxifahren” (S. 112-116). Damit ‘man’ dieses Abenteuer überlebt, muss ‘man’ sowohl die Startadresse als auch die Zieladresse entweder auf Visitenkarten dabeihaben oder aber von speziellen Webseiten ausdrucken. Aber selbst dann ist es nicht sicher, dass man ohne Probleme von A nach B kommt. Denn die Fahrer sprechen nur Chinesisch.

Die chinesische Sprache aber bleibt für die Expats in den fünf Jahren in Shanghai ein Buch mit sieben Siegeln – zu schwer zu lernen, schließlich “bedeutete ein Wort etwas gänzlich anderes, wenn man es mit der falschen Betonung aussprach” (S. 113). Umso skurriler mutet die “kleine[n] Einführung ins chinesische  Verkehrseinmaleins”  (S. 116). an, denn “um Verwirrungen zu vermeiden” (S. 115) wird auf Tonzeichen verzichtet – von Schriftzeichen gar nicht zu reden.

Die “Lauweis” (S. 48 und passim)[5], wie die Autorin sich selbst und ihre Familie nennt, stolpern durch Shanghai, sie leben in einem Compound, zwar weit weg von ‘allem’, aber in einem großen Haus – und sie hat eine ‘Ayi’[6], die sich um den Haushalt kümmert (für umgerechnet  200 Euro im Monat fünfmal pro Woche acht Stunden (S. 55)). Leider hatte sich in “Expat-Kreisen [...] herumgesprochen, dass Ayis zwar oft wirklich gute Seelen waren, es jedoch nicht wenige unter ihnen gab, die das eine oder andere einsteckten, die ein Nickerchen hielten, wenn die Dame des Hauses nicht daheim war [...] oder Partys [feierten].” (S. 67) Doch die Familie hatte zum Glück wirklich Glück mit ihrer Ayi.
Der Alltag außerhalb von Compound und Schule gestaltet sich schwierig, jeder Einkauf (z.B.  bei “Tschallefu”[7] und “Idscha”[8] ) wird zum Abenteuer- oder zum Horrortrip. Das Shanghai außerhalb des Compounds wird nur am Wochenende erfahren/erlebt, wobei ‘man’ sich auf Touristenpfaden bewegt: Bund, Oriental Pearl Radio & TV Tower, Pudong, das Shanghai World Financial Center (der “Flaschenöffner”) etc.

Eher zwiespältig scheint das Verhältnis zur chinesischen Küche zu sein. ‘Man’ geht zwar oft und häufig essen, denn das “ist hier tatsächlich supergünstig[, i]nsbesondere wenn du chinesisch essen gehst.” (130) Die Sache hat mehrere Haken: das miese, ungemütliche, wenig einladende Ambiente, die Tischsitten ‘der Chinesen – und

Es schmeckt nicht so wie beim Chinesen in Berlin. Ganz anders. Kann ich kaum beschreiben. Sie verwenden ganz andere Gewürze. Und wirklich jedes Gericht schmeckt eigen. (S. 131)

Zum Glück gibt es Abhilfe – in der Hongmei Lu 虹梅路 gibt es eine kleine Fußgängerzone mit nicht-chinesischen Lokalen.

Da findet man auf jeden Fall etwas, wenn man mal wieder Lust auf ‘normales’ Essen hat (S. 132)

Bei “Tschallefu” gibt es die aus der Heimat vertraute Nussnougatcreme – leider ziemlich teuer, aber das muss sein; Müsliriegel werden überlebenswichtig, falls ‘nichts Normales’ aufzutreiben ist. Und aus der Heimat kommen Fresspakete mit Lebkuchen und den Zutaten für Schokoladekuchen.

Immer wieder sind die “Lauweis” erstaunt über ‘die Chinesen’:

Überall waren sie. Auf den Gehwegen, auf den Rolltreppen, in den Läden, im Aquarium, auf dem Klo – überall kleine schwarzhaarige Menschen in den schrillsten Klamotten. (89 f.)

‘Die Chinesen’ sind nicht nur eigenartig gekleidet, sie verhalten sich  mitunter eigenartig. Und natürlich können ‘die Chinesen’ nicht  oder nicht sehr gut Englisch und können kein “r” aussprechen: “Plies hold sis spoon inflont of yo left eye.” (S. 50). Doch es gibt auch Ausnahmen, die beides können, wie der Makler, der der Familie das Haus vermittelt hat (S. 54): “Was für eine Wohltat. Es gab anscheinend auch Leute, die uns ohne Pantomime-Einlage verstanden.” (S. 55)

Die Autorin scheint – im Gegensatz zu ihrem Mann – das Leben in Shanghai als kaum erträglich und unendlich schwierig zu empfinden. Lichtblicke scheinen rar: die Wochen und Monate, wo ‘man’ aus Shanghai wegkommt (Ferienreisen nach Australien, auf die Philippinen, nach Kambodscha, Myanmar und Malaysia), Heimatbesuche und Besuche von Familie und Freunden in China, mit denen auch Nanjing, Xi’an, Beijing und Guilin in Wochenendtrips  abgegrast werden.
Im Rahmen dieser Kurztrips werden Informationen zur Kultur und zur Geschichte eingeworfen, so unter anderem zu  Kalender, Tierkreis und Neujahrsfest (S. 172-177), zu einem chinesischen Badehaus (183-187), zur Terrakotta-Armee in Xian, zur Stadtmauer und zum Sun-Yat-sen-Mausoleum in Nanjing (und bei Nanjing darf John Rabe nicht fehlen.)

Die kursorischen Informations-Fragmente reichen dem Ullstein Verlag, um den  Titel mit dem Etikett “Erzählendes Sachbuch”  zu versehen. Dazu kommen die Etiketten”Humor” und “Politik/Internationale Politik”. Wie es zu der Einordnung kommt, erschließt sich mir nicht. Die politischen Verhältnisse werden mit keiner Silbe erwähnt und das Humoristische beschränkt sich allenfalls auf unfreiwillige Komik (die so wohl nicht intendiert war).

Die Lektüre macht fassungslos: Holzschnittartig und schablonenhaft werden Episoden und Typen aneinandergereiht.  Das in China Erlebte wird am aus Deutschland vertrauten ‘Normalzustand’ gemessen und bewertet.  Die Klischees vom ausländerfeindlichen, unberechenbaren Orientalen wird einmal mehr fortgeschrieben. Traurig nur, dass diese Ansammlung von Stereotypen auch 2014 noch unter “China-Erfahrung” und “China-Erfahrungsbericht” läuft.

Sollte Manche mögen Reis ins Chinesische übersetzt werden, empfiehlt sich der erste Satz aus dem kleinem Sprachkurs “Praktisches Chinesisch – die wichtigsten Sätze” in Christan Y. Schmidts Bliefe von dlüben. Der China-Crashkurs [9]:

In jeder Situation:
Bù,  wǒ bù shì dé guó rén. /Wǒ shì liè zhī dūn shì dēng rén.[10]
Nein, ich bin kein Deutscher. / Ich komme aus Liechtenstein. (S. 208)

Österreicher und Österreicherinnen brauchen nicht zu schummeln, die ersetzen Lièzhīdūnshìdēngrén einfach durch Àodìlì rén 奧地利人.

  1. Der Dreh mit dem ‘erzählenden Sachbuch’ ist nicht neu,  s. Rainer Traub: “Die Luftnummern der Lizenzstrategen” In: Der Spiegel 10/2000 (06.03.2000).
  2. Susanne Vehlow: Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte (Berlin: Ullstein 2014), Umschlagrückseite.
  3. Vehlow (2014), Frontispizseite.
  4. Zum Reinhören “Drei Chinesen mit dem Kontrabass“.
  5. laowai 老外 – wörtlich “Alter Fremder” ist eine generische Bezeichnung für Ausländer, wird im Buch aber immerwieder mit “Langnasen” übersetzt.
  6. āyí 阿姨  – wörtlich “Tante”, eine Hausangestellte.
  7. Jiālèfú  家乐福  / 家樂福   = Carrefour.
  8. Yíjiā  宜家  = IKEA
  9. Christian Y. Schmidt: Bliefe von dlüben. Der China-Crashkurs (Berlin: Rowohlt 2009). Schmidt beschreibt zwar das Leben in Beijing, ist aber ungleich unterhaltsamer (z.B. das Kapitel “Meine chinesische Tante” (S. 125-129) über die Ayi.
  10. Korrekt wäre: Bù,  wǒ bù shì déguórén. 不,我不是德國人。 / Wǒ shì lièzhīdūnshìdēngrén. 我是列支敦士登人。

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1571

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Fünf Fragen an…Julie Claustre (Paris I)

Sie beschäftigen sich in erster Linie mit der Schuldhaft des späten Mittelalters. Haben Sie, ihre Arbeit an der Universität in Paris betreffend, einen bestimmten, unveränderlichen Tätigkeitsbereich? Gibt es in Frankreich die Möglichkeit, sein Forschungsgebiet zu erweitern oder gar komplett zu … Continue reading

Quelle: http://jeunegen.hypotheses.org/1280

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Eine Blase ist geplatzt: Der Aufruhr von 2011 (Teil 2) von Carlos Resmerk

Im ersten Teil dieses Beitrags wurde versucht, die sozialen Verwerfungen nachzuzeichnen, die der länderübergreifenden Protestdynamik von 2011 zugrunde liegen; mit besonderem Fokus auf jene „Jugend“, die mit den enttäuschten Verheißungen der „Wissensgesellschaft“ konfrontiert ist. Der zweite Teil betrachtet gegenwärtige Bewegungsformen … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/6810

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Ausstellung 50 Jahre Wagenbach, Berlin

Wer das Nichtstun ebenso wie die Arbeit scheut, findet leicht zum Buch - Ich dachte ja, dieses Zitat von Peter Brücker ist dauerhaft im Eingangsbereich der Berliner Stabi (Potsdamer Platz) zu sehen, dabei ist es Teil der feinen Ausstellung 50 Jahre Verlag Klaus Wagenbach. Der unabhängige Verlag für wilde Leser, zu sehen nur mehr bis 12.7.2014.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/909744602/

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Aldine und die Pappe

manutius.nazianz.1516.titel

Der Einband eines Oktavs hat sich gänzlich vom Buchblock gelöst; die Lederstreifen der Bünde, mit deren Verlängerung der Block in den Deckel eingehängt war, sind im Lauf jahrhundertelanger Benutzung gebrochen. Klebereste im Vorderdeckel lassen Vorsätze vorne und hinten vermuten, die indes verloren gegangen sind. Das Werk enthält die Orationes des Kirchenvaters Gregor von Nazianz (um 329-390), gedruckt 1516 in Venedig in griechischen Lettern und in kleinem Format. Der Titel zeigt ein Emblem aus Anker und Delphin, flankiert von den Lettern AL und DVS: die Druckermarke des Aldus Manutius aus Venedig. Im Druckervermerk zeichnete Andrea Torresano (auch Andrea da Asola, 1451-1528), seit 1495 in der Druckerei tätig, „[...] et Andreae Soceri“.manutius.nazianz.1516.einband.rück

Der aus Bassiano nordwestlich von Rom stammende Aldus Manutius (1449 – 1515) hatte um 1490 mit der Einrichtung einer Werkstatt in Venedig eine Drucker- und Verlegerdynastie begründet, die im 16. Jahrhundert europaweit bekannt wurde. Aldus druckte als erster auf der Welt ab 1498 in griechischen Lettern. Seine Ausgaben der Klassiker, Aldinen genannt, waren bei den Humanisten in ganz Europa begehrt. Das große Interesse an seinen Aldinen bewog Aldus dazu, den Drucken aus seiner Werkstatt die oftmals lange Reise zu erleichtern: er widmete sich dem kleinen Format und ließ diesem entsprechende Typographien entwickeln. Der vorliegende Druck zeigt winzige griechische Lettern, ist gleichwohl hervorragend lesbar und von bemerkenswerter Eleganz im Satz.

Die kleinformatigen, für die Reise vorgesehenen Aldinen waren auch nicht mehr in die im 15. Jahrhundert bevorzugten gewichtigen Holzdeckel eingebunden, sondern in solche aus Pappe; das machte sie nicht nur handlicher, sondern war auch neu. Unser aus den Lederbändern gefallenes Exemplar zeigt, wie diese Pappe aussah. Sie bestand in fest verleimten und gepressten Lagen aus Makulatur, Fragmenten aus den Resten verschiedener Druckproduktionen. Pappe wird heute noch genauso hergestellt: aus Papier- und Zellulosemakulatur werden Vliese gewonnen, die feucht zusammengepresst zur Pappe werden; die Aldinen des 16. Jahrhunderts sind jahrhundertealte Wegweiser ins Recycling.

Wohin die Reise unseres Drucks führte, lassen die Besitzereinträge auf dem Titel vermuten: nach England. Matth[ew] Hutton (1529–1606), Erzbischof von York von 1595 bis 1606, war vielleicht ein erster Besitzer, der seinen Namen über Aldus’ Anker schrieb. Der Erzbischof hatte, anders als sein gleichnamiger und erheblich jüngerer Kollege in Canterbury (1693-1758), einen ältesten Sohn namens Timothy (1569-1629), und der dürfte sich unten auf dem Titel in in der erkennbar jüngeren Hand als „Timo Hutton“ verewigt haben. Der weitere Weg unserer Aldine ist unbekannt; womöglich enthielten die verloren gegangenen Vorsätze Hinweise auf die Stationen ihrer Wanderung in die Bibliothek des Christianeums (Sign. M 192/16). Der kleine Vermerk oben am Rand des Titels, datiert 1592, könnte einen ersten Schritt weisen.

Druck

Gregori Nazanzeni Theologi Orationes Lectissimae XVI. Venetiis: Aldus; Andreas Socer, 1516

Links und Literatur

Universitätsbibliothek Basel: Divi Gregorii Theologi, Episcopi Nazianzeni Opera […]

Staatsbibliothek zu Berlin: Die Aldinen

Im Zeichen von Anker und Delphin. Die Aldinen-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin, Leipzig 2005

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/408

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Gavros Nummer

Hier wohnte Gavrilo Princip zur Zeit des Attentats auf den 274.511fachen Tiermörder Franz Ferdinand: Sarajevo, Oprkanj 3.

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Princip, dessen Haftbedingungen in der Militärfestung Theresienstadt so brutal waren, dass er noch vor Ende des 1. Weltkriegs starb, sollte auf eine Wand in seiner Zelle dann noch die schönen wie zutreffenden Zeilen niederschreiben:

Unsere Geister werden durch Wien wandern / Am Hofe umherirren, die sogenannten Herrschaften erschrecken

Kleines PS: Es ist gar nicht so trivial, der Geschichte dieser zutreffenden Zeilen nachzuspüren; gemäß Nikola Đ. Trišić (Sarajevski Atentat u svjetlu Bibliografskih Podatka. Sarajevo: Veselin Masleša, 1960, S. 89) wurden diese erstmals in der Zeitung Zvono, II/8.3.1919, S.1 veröffentlicht.

Ebenfalls noch recht wenige Informationen habe ich über diese recht unscheinbare Platte mit zwei Fußabdrücken, die letztes Jahr unkommentiert im Vorraum des Museums bei der früher nach Princip benannten Lateinerbrücke zu sehen war: Zur Zeit Jugoslawiens waren diese Fußabdrücke am Ort des Attentats eingelassen, dann aber sollen sie während des letzten Kriegs entfernt und zerstört (?) worden sein.

Princip_Spuren

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/909744385/

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Lesezeichen

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Das aus einem hektographierten Blatt herausgerissene Lesezeichen hat bei Papier des frühen 19. Jahrhunderts einen Schaden verursacht: Säurefraß. Der Schaden erstreckt sich auf beide anliegenden Seiten sowie auf ein in einem größeren Format dahinter eingebundenes weiteres Manuskript, am oberen Bildrand erkennbar.

Die Abbildung der Schäden zeigt Seiten aus einem der zahlreichen Bände handschriftlicher Vorträge des “Altonaer Wissenschaftlichen Primanervereins Klio”, gegründet 1828. Primanervereine waren en vogue, die Schüler der Selecta des Altonaer Gymnasiums Christianeum (gegründet 1738) folgten dem Vorbild der studentischen Burschenschaften. “Klio” existierte bis 1935; dann löste sich der Verein angesichts der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten auf. Die gesamte Hinterlassenschaft des Vereins, neben den handschriftlichen Abhandlungen auch Satzung, Kassenbücher, Mitgliederlisten etc sowie die kleine Vereinsbibliothek, wurde dem Gymnasium übereignet und befindet sich noch heute dort im Archiv.

Die Abhandlung, mit dem Titel beginnend auf der rechten Seite, stammt von der Hand J[ohannes]. Mommsens, besser bekannt unter seinem weiteren Vornamen Tycho. Tycho (1819-1900) und sein älterer Bruder Theodor (1817-1903) waren Schüler des Chistianeums und Mitglieder des Primanervereins; sie haben in den späten 1830er Jahren zahlreiche Aufsätze in den Klio-Bänden hinterlassen. Tychos Abhandlung aus dem Jahr 1836 hat im Titel die Frage: “In welchem Verhältniße stehen unter einander politische Verbindungen, in welchem religöse?”

Der Schaden wird datierbar durch ein weiteres Lesezeichen, das an einer anderen Stelle weiter hinten im selben Band einen nahezu identischen Säurefleck verursachte, wiederum eine Abhandlung Tycho Mommsens, diesmal vom 4. November 1837, betitelt: “Unser Verein ein Staat”.

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Ich vernachlässige nun allerdings die Inhalte der beiden Aufsätze; dass die jugendlichen Ideen durchaus politische Bewegung zeigen, mag aus den Titeln bereits deutlich werden. Mich interessiert vorerst das weitere Lesezeichen. Es passt in seinem Abriss genau in das erste, und es enthält ein Datum: 1963. Jemand hat sich nach 1963 ein mit dem Spiritusdrucker vervielfältigtes Blatt mit Hinweisen auf eine Publikation im “Neuen Deutschland” zur Jugend in der DDR, das er nicht mehr benötigte, zerschnitten und die Teile nochmals durchgerissen, um die Makulatur als Findehilfe zu verwenden.

Der Schaden wird 2014 entdeckt: die beiden Lesezeichen lagen exakt und unberührt in den durch die Säuerung stark gebräunten Umrissen. Die Lesezeichen werden entfernt, gesondert gesichert und nur fürs Foto nochmal hingelegt. Wann kamen sie dahin und wer hat sie hineingetan?

1967 feierte das Christianeum den 150. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen. Der Festakt im Christianeum am 30. November wurde in einem Heft publiziert: “Theodor Mommsen. 1817-1967″, besorgt von Hans Haupt, Bibliothekar und Archivar des Christianeums von 1947 bis 1976. Im Anhang abgedruckt eine “Rede Theodor Mommsens am Stiftungsfeste des a. w. V. d. 15. Nov. 1837″, betitelt: “Der Altonaer Wissenschaftliche Verein – ein Staat?” Brüder arbeiten zusammen; Archivare haben herauszusuchen.

Im Jahr 2003 fand im Christianeum erneut eine Gedenkveranstaltung statt:  “Theodor Mommsen 1817-1903″,  diesmal zum100. Todestag des berühmten Eleven von einst. Wäre der Band mit den Lesezeichen vor oder in diesem Jahr konsultiert worden, hätten wir 2014 verrutsche oder gar keine Blättchen mehr darin vorgefunden; als ebenso unwahrscheinlich anzunehmen ist die Verwendung von 40 Jahre alten Zetteln als Lesezeichen Anfang der 2000er Jahre.

Wir können damit zumindest die Arbeitshypothese aufstellen, dass die Lesezeichen zwischen 1963 und 1967 in den Handschriftenband eingelegt wurden und im Lauf des folgenden halben Jahrhunderts die alten, noch geschöpften Papiere des frühen 19. Jahrhunderts durch ihren Säuregehalt angefressen haben. Die Frage nach Brüderlichkeiten im Verein, ihrem Staat, bleibt davon indes unberührt und kann in den Quellen erforscht werden, die sich nach wie vor im Archiv des Christianeums befinden.

Literatur

Niels Hansen, 100 Jahre Altonaer Wissenschaftlicher Primaner-Verein Klio. Hammerich & Lesser, Altona 1928

ders., Die Schülervereine des Christianeums. In: Heinz Schröder (Hrsg.), 200 Jahre Christianeum zu Altona 1738-1938. Hamburg 1938; S. 109-121

Gudrun Wolfschmidt (Hrsg.), Hamburgs Geschichte einmal anders. Nuncius Hamburgensis. Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften. Hamburg 2009; S. 47

Theodor Mommsen. 1817-1967. Der Festakt am 30. November 1967 im Christianeum. Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer. 24. Jahrgang, Heft 1, Hamburg Februar 1968

Ulf Andersen, Zum 100. Todestag Theodor Mommsens. In: Christianeum, Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums in Verbindung mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer. 58. Jahrgang, Heft 2, Hamburg Dezember 2003; S. 3-9

Fotos: Archiv des Christianeums

 

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/373

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Schlechtes Abschneiden der Lehrer-Bildung

Der Hochschulbildungsreport2020, die zentrale Publikation der Bildungsinitiative “Zukunft machen”) in der Verantwortung des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft (http://www.hochschulbildungsreport2020.de/),  hält fest: “Der Hochschul-Bildungs-Index erreicht nur 10 statt 20 Punkten. Besonders schlecht abgeschnitten hat die Lehrer-Bildung.” Was ist da los?

Grundsätzlich reiht sich der Befund wohl in die politische Tendenz ein, das Lehramt wieder stärker in die Universität hineinzunehmen. Ausdruck dieses Willens war schon die “Lehrer-Initiative” des Stifterverbands und der Heinz Nixdorf Stiftung (http://www.stifterverband.org/wissenschaft_und_hochschule/lehre/lehrer-initiative/index.html). Nun folgt die daten-/indikatorengestützte Feststellung eines Defizites. Aber wie zuverlässig sind diese Befunde, und was bedeuten sie? Zunächst ist der Index interessant: Der Hochschul-Bildungs-Index, mit dem Stifterverband und McKinsey arbeiten, “misst auf sechs Handlungsfeldern, ob sich bis zum Jahr 2020 ein durchlässiges, nachfrage- und bedarfsorientiertes Hochschulsystem entwickelt”. Zu diesen Handlungsfeldern gehört die Lehrerbildung, die dieses Jahr besonders schlecht abschneidet und daher im Report detailliert gewürdigt wird.

Probleme sieht der Report vor allem bei den fehlenden Karrierewegen im Lehramt, die das Lehramt für ehrgeizige junge Menschen eher unattraktiv mache, und dem fehlenden Selbstbewusstsein: “Nur 16 Prozent [der Lehramtsstudierenden] schätzen Selbstvertrauen und nur 13 Prozent Durchsetzungsfähigkeit als ihre persönliche Stärke ein.” Man kann nun aus der eigenen Erfahrung mit Studierendenerhebungen einwenden, dass gerade der zweite Parameter schon durch den wohl überdurchschnittlich hohen Anteil weiblicher Studierender im Lehramtsstudium beeinflusst wird; jedenfalls würde ich aus Umfragen an der JGU eine solche Verzerrung vermuten. Das scheint mir aber vernachlässigenswert. Wichtiger ist, und zwar auch wiederaus den eigenen Erfahrungen: Nicht immer sind die 13% “Durchsetzungsfähigen” und 16% “Selbstbewussten” diejenigen, die man später im Lehramt sehen möchte. Selbstverstädnlich wollen wir selbstbewusste und durchsetzungsfähige Lehrer/innen, aber das ist nicht der springende Punkt; die Mengen der sich selbst schon im Studium für selbstbewusst und durchsetzungsfähig haltenden Studierenden und der tatsächlich selbstbewussten und durchsetzungsfähigen Lehrer sind allenfalls teilidentisch, wobei diese Teilidentität zufällig ist.

Problematisch isnd für mich auch die Handlungsempfehlungen, die allenfalls “lose” mit der Diagnose verbunden sind. Gefordert werden Unterrichtsassistenten und andere neue Kategorien an den Schulen, universitätseigene Experimentierschulen (analog zu Universitätskliniken) und stärkere Bemühungen in der Lehrerfortbildung. Den letzten Punkt teile ich. Die Analogie von Universitätsschulen zu Universitätskliniken verstehe ich jedoch nicht recht. Sie scheint mir – zumindest angesichts der Zahl von Lehramtsstudierenden an der JGU Mainz, die ich überblicke – unrealistisch, da das Land RLP schon jetzt mit der Versorgung der Studierenden mit Schulpraktika, VD und Referendariat an seine Grenzen zu kommen scheint.

Interessant ist der Punkt “Diversität”: Gefordert werden mehr Männer im Lehramtsstudium und mehr Studierende mit Migrationshintergrund. Dagegen kann eigentlich niemand etwas haben. Man kann sich höchstens fragen, wie man Männer dazu bewegen möchte, häufiger Lehramt zu studieren. Sie müssen diese Entscheidung am Ende ja freiwillig treffen. Aber vielleicht gibt es dazu ja schon gute Ideen. Propblematisch finde ich die statistische Bypass-Lösung, Studierende mit Migrationshintergrund über jene zu erfassen, die man heutzutage “Bildungsinländer” nennt. Diese Gruppe ist systematisch kleiner als die Gruppe derer “mit Migrationshintergrund” (legaldefiniert), was sinnvolle Aussagen nicht mehr zulässt.

Man könnte nun weitere Probleme der Auswertung anführen. Ärgerlich ist etwa der offenbar medien- oder hochschulpolitikgerechte Verzicht auf anspruchsvollere Statistik zugunsten klassischer “Erbsenzählerei”, also reiner Prozentangaben auf Gruppen und ähnliches. Noch ärgerlicher aber ist, dass das Thema eigentlich wichtig genug für eine ernsthafte Auseinandersetzung wäre. Es bleibt zu hoffen, dass die oben angesprochene Exzellenzinitiative Lehramt produktivere Impulse setzt.

Quelle: http://geschichtsadmin.hypotheses.org/240

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IOS-Informationen, Nr. 2 /2014

Editorial: Die Russlandkrise

Seit der ersten Ausgabe des IOS Newsletters vom März 2014 hat sich die Lage im östlichen Europa mit der Annexion der Krim durch Russland dramatisch verändert. Aufgrund der Bedeutung Russlands im gesamteuropäischen und geopolitischen Kontext hat diese Entwicklung jedoch auch weit über Osteuropa hinausreichende Konsequenzen. Der aus unserer Sicht entscheidende Aspekt der aktuellen Ereignisse in der Ukraine ist weniger der Wandel in dem Land selbst, als vielmehr die Gefährdung der weltweiten politischen Ordnung auf der Basis des existierenden Völkerrechts. Diese Gefährdung ergibt sich dabei nicht primär aus den konkreten Ergebnissen, sondern aus der Wahl der für deren Erreichung benutzten Mittel. Genau in diesem Punkt sind der Regierung Russlands eindeutige Grenzverletzungen anzulasten, die weder durch rechtliche Winkelzüge wegzudiskutieren noch durch schwammige Verweise auf „die Geschichte“ zu bemänteln sind, wie dies auch in der hierzulande geführten Debatte bisweilen geschieht.

>>>> zum ganzen Editorial geht es hier.

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/188

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