Digitalia fundamentalis II – Relevanz und Methode

diskkonturHatte ich mich im ersten Teil vor allem damit beschäftigt, wie digitale Informationen überhaupt dauerhaft und verwertbar gespeichert und weitergegeben werden können, hier nun einige grundlegende Gedanken zur Relevanz genuin digitaler Quellen für die Geschichtswissenschaft und zu damit einhergehenden methodischen Aspekten. [1]

Relevanz und Authentizität

In Hinblick auf die schier unüberschaubare Menge an digitalen Daten, die sekündlich produziert wird und deren Ausmaß in Zukunft höchstwahrscheinlich noch gewaltig zunehmen wird, stellt sich als zentrale Frage die nach einer möglichen Auswahl der langfristig zu speichernden Informationen. Dies unterscheidet sich grundsätzlich zunächst nicht von der herkömmlichen Archivpraxis, bei der sich bereits ausgeklügelte Verfahren zur Bewertung der Relevanz von Archivalien herausgebildet haben. Trotzdem stellt man aber auch dabei immer wieder fest, dass die zur Beantwortung spezifischer Fragestellungen nötigen Dokumente schon lange der Kassation zum Opfer gefallen sind und keinerlei Abschriften oder Kopien mehr existieren. In der klassischen Archivstruktur ist eine Vorauswahl der aufzubewahrenden Materialien meist Kapazitätsgründen geschuldet, ein Problem, dass sich in Hinblick auf digitale Daten – wenn man die rapide technische Entwicklung von Speicherkapazität betrachtet – so vermutlich nicht mehr stellen wird. Dabei fallen jedoch andere Faktoren ins Gewicht: Wie lassen sich bei einer Unzahl sich vielleicht sogar widersprechender Daten die relevanten Informationen extrahieren, wenn wirklich alles gespeichert wird und mehr oder minder gleichberechtigt nebeneinander steht? Wäre in diesem Zusammenhang eine wissenschaftliche Vorbewertung sinnvoll und nach welchen Kriterien und durch wen könnte dies geschehen?



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Quelle: https://digitalia.hypotheses.org/27

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Digitalia fundamentalis – Speicher und Zugriff

In Übungen zur Arbeit mit historischen Quellen beginnen wir gerne einmal mit folgender kleinen Denkaufgabe:

Stellen Sie sich vor, im Jahre 2070 möchte eine Historikerin Ihre heutigen Alltagsumstände nachzeichnen. Welche Quellen würden ihr zur Verfügung stehen und was für Probleme könnten dabei auftreten?

Dieses Szenario dient in erster Linie natürlich dazu, eine gewisse Sensibilität für historische Quellen und deren Charakteristika (Authentizität, Plausibilität, Tradierung, Relevanz) aus einer individuellen Perspektive zu wecken, führt aber zwangsläufig auch immer zu einer Diskussion über „neue“ Quellenarten, die durch die Etablierung der vernetzten digitalen Welt überhaupt erst entstanden sind. Das wären zum Beispiel E-Mails, SMS, Chats, Facebook-Einträge, Tweets, Instant Messenger Nachrichten etc., und diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen und wäre zudem fast täglich durch vermeintlich neue Varianten zu ergänzen.

Deshalb zunächst einmal einige grundlegende Gedanken zur Wertigkeit und auch Verwertbarkeit solcher genuin digitaler Quellen für die heutige und künftige Geschichtswissenschaft. [1] Die historische Zunft beschäftigt sich seit einiger Zeit und vermehrt in den letzten Jahren mit den Möglichkeiten von geschichtlicher Forschung und Darstellung in der digitalen Welt (eine simple Netzsuche nach dem Stichwort digital history offenbart über eine halbe Milliarde Treffer), konzentriert sich dabei aber fast ausschließlich auf die Digitalisierung vorhandener manifester Quellen, computerisierter Auswertung derselben oder auf das weite Feld der Geschichtsvermittlung mittels der so genannten neuen Medien (beispielsweise über Blogs, Online-Archive oder via Twitter).

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Quelle: http://digitalia.hypotheses.org/21

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Tagung „Daten und Geschichtswissenschaften“

von Enrico Natale

infoclio.ch lädt am 16. Oktober 2015 nach Bern ins Kornhausforum zur Tagung „Daten und Geschichtswissenschaften“ ein. Die Tagung ist die 7. Veranstaltung der Reihe „Digitale Medien und Geschichtswissenschaften“.

Historikerinnen und Historiker sowie Fachpersonen aus den Informationswissenschaften werden über die Rolle von Daten in den Geschichtswissenschaften diskutieren.

Das vollständige Programm ist online verfügbar unter: https://infoclio.

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Quelle: http://dhd-blog.org/?p=5622

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Angewandte Geschichte und Public History: Chancen und Herausforderungen für die Geschichtswissenschaft


„Geschichte hat Konjunktur.“

Diese mittlerweile von Medien über Tourismusbehörden bis hin zur Unterhaltungsbranche vernehmbare Einschätzung klingt nach einer guten Nachricht für die Geschichtswissenschaft. Sie ist es auch, doch sie verheißt zugleich eine substantielle Herausforderung für die etablierten Strukturen und Institutionen, in denen historische Arbeit stattfindet. Die professionelle Beschäftigung mit Geschichte ist keine exklusive Angelegenheit oder gar ein Monopol der hochschulgebundenen oder -nahen Wissenschaft. Die Deutungshoheit der Geschichtswissenschaft wird durch Medien, Museen, Geschichtsvereine und andere öffentliche Bildungsakteure – nicht zuletzt den heute viel Gehör findenden Zeitzeugen – zunehmend relativiert. Die Fragen, Perspektiven, Erkenntnisse sowie Präsentationsweisen der Geschichtswissenschaft werden durch andere historisch interessierte Akteure grundlegend erweitert.

Die akademisch verfasste Geschichte verliert nicht zuletzt deshalb rapide an Aufmerksamkeit, weil der Nutzenrahmen nicht mehr so klar ist wie er zu Zeiten von nationalen Meisternarrativen erschien.

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Quelle: https://erinnerung.hypotheses.org/371

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 9

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Neuntes Kapitel

Über den Magister Johannes von Nivelles und andere Prediger

Nachdem der genannte Kämpfer Christi1also gestorben war, der es auf sich genommen hatte, in heiligem Streit die Welt zu bewachen, und der die teilweise dunklen Gegenden durch das Licht der Wahrheit erleuchtet hatte, begannen viele, durch den Eifer der Liebe entzündet und durch sein Beispiel angetrieben, zu predigen und zu lehren. Sie erzogen viele zur Gerechtigkeit und entrissen durch heilige Aufmunterungen die Seelen der Sünder aus dem Rachen des Leviathans. Die wichtigsten der Namen unter diesen waren, Sternen am Himmel gleich: der verehrungswürdige Pater und Magister Stephanus, Erzbischof von Canterbury,2der Magister Galterus von London,3 der Magister Robertus von Chorcon, der später Kardinal wurde,4 (Adam,) der Zisterzienserabt von Perseigne,5 der Magister Albericus von Laon,6 der später Erzbischof von Reims wurde und sich von einem Fluss in ein Bächlein verwandelte.7 Weiterhin der Magister Johannes von Liro und sein Gefährte, der Magister Johannes von Nivelles, ein demütiger und ehrfurchtsvoller Mann und geschmückt mit den Perlen aller Tugenden.8Dazu noch viele weitere, deren Namen eingeschrieben sind ins Buch des Lebens,9und die, indem sie auf dem Acker des Herrn treu und besonnen arbeiteten, die Bestien aus den Felshöhlen und Bergen jagten, und die Fische aus dem See des Schmutzes und den Stricken und Netzen des Elends herauszogen.

D O W N L O A D

(PDF/A-Version)

Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 9, übers. von Christina Franke, mit Anmerkungen von Björn Gebert, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 27. April 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5735 (ISSN 2197-6120).

  1. Gemeint ist Fulko von Neuilly (†1202), vgl. Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 6, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120) sowie Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 8, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 16. November 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4687 (ISSN 2197-6120).
  2. Stephen Langton (†1228): Studium in Paris in den 1180er Jahren, Schüler von Petrus Cantor, später Lehrer in Paris; bedeutender Theologe, Verfasser zahlreicher Werke; päpstlicher delegierter Richter 1205/6, Kardinalpresbyter von S. Crisogono 1206; Wahl zum Erzbischof von Canterbury auf Betreiben von Papst Innocenz III. 1206 in Rom, Konsekration 1207 gegen den Widerstand des englischen Königs, daraufhin Exil bis 1213 in Frankreich, v.a. in der Zisterzienserabtei Pontigny; Mitwirkung bei der Entstehung der Magna Carta Libertatum 1215; Suspendierung durch den Papst 1215; Zwangsaufenthalt an der Kurie 1215-1218; Translation von Reliquien Thomas Beckets nach Canterbury 1220. Lit.: Folkestone Williams: Lives of the English Cardinals. Including historical notices of the papal court, from Nicholas Breakspear (Pope Adrian IV.) to Thomas Wolsey, Cardinal Legate, 1, London 1868, S. 205-48; Klaus Ganzer: Die Entwicklung des auswärtigen Kardinalats im hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kardinalkollegiums vom 11. bis 13. Jahrhundert, Tübingen 1963 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 26), S. 153-9; John W. Baldwin: Masters, Princes and Merchants. The social views of Peter the Chanter and his circle, Bd. 1: Text, Princeton, NJ 1970, S. 25-31; Werner Maleczek: Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216, Wien 1984 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, Abhandlungen 6), S. 164-6; Daniel Baumann: Stephen Langton. Erzbischof von Canterbury im England der Magna Carta (1207-1228), Leiden [u.a.] 2009 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 144).
  3. Walter, Archidiakon von London: als solcher nachweisbar 1212-1214; von Papst Innocenz III. 1213 zur Kreuzzugspredigt in England beauftragt. Quellen und Lit.: August Potthast: Regesta Pontificum Romanorum. Inde ab a. post Christum natum MCXCVIII ad a. MCCCIV, Bd. 1, Berlin 1874, Nr. 4727 (S. 410f.); Early Charters of the Cathedral Church of Saint Paul, London, ed. Marion Gibbs, London 1939 (Camden Series 3,58), Nr. 255, 263, 307; Alfred John Andrea: Walter, archdeacon of London, and the Historia occidentalis of Jacques de Vitry, in: Church History 50 (1981), S. 141-51.
  4. Robert de Corson († 1219): Studium in Paris in den 1190er Jahren, Schüler von Petrus Cantor, ab 1200 Lehrer in Paris; verfasste einige theologische Werke; häufig päpstlicher delegierter Richter bis 1212; Kardinalpresbyter von S. Stefano in Monte Celio ab 1212; Legat in Frankreich 1213-1215; Prediger beim Albigenserkreuzzug und beim 5. Kreuzzug; Tod vor Damiette. Lit.: Marcel Dickson et Christiane Dickson: Le cardinal Robert de Courson. Sa vie, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge Bd. 9 (1934), S. 53-142; Baldwin: Masters (wie Anm. 2), S. 19-25; Maleczek: Papst und Kardinalskolleg (wie Anm. 2), S. 175-9; Jörg Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie. Bd. 1: Städtische Eliten in der Kirche des hohen Mittelalters, Köln [u.a.] 2003 (Norm und Struktur 17), S. 193-7.
  5. Adam von Perseigne (†1221): erst Regularkanoniker, dann Benediktiner, schließlich Zisterzienser und Abt von Perseigne (1188-1221); 1195 Disputation mit Joachim von Fiore in Rom; 1198 Beichtvater des engl. Königs Richard Löwenherz; predigte den 4. Kreuzzug; wurde besonders von Papst Innocenz III. mit wichtigen Aufträgen betraut, etwa 1208 mit der Vermittlung zwischen den Königen von England und Frankreich; verfasste Predigten, Briefe und einen Liber de mutuo amore ad sacras virgines. Quellen und Lit.: Radulphi de Coggeshall chronicon Anglicanum, in: Radulphi de Coggeshall chronicon Anglicanum, de expugnatione Terrae Sanctae libellus. Thomas Agnellus de morte et sepultura Henrici regis Angliae junioris. Gesta Fulconis filii Warini. Excerpta ex otiis imperialibus Gervasii Tileburiensis, ed. Joseph Stevenson, Joseph, New York, NY [u.a.] 1875 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 66), S. 1-208, hier 130; Statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis. Ab anno 1116 ad annum 1786, ed. Joseph Maria Canivez, Bd. 1: Ab anno 1116 ad annum 1220, Louvain 1934 (Bibliothèque de la Revue Ecclésiastique 10), 1201.37 (S. 270); Louis Calendini: Art. “Adam de Perseigne”, in: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques (künftig: DHGE), 1, Paris 1912, Sp. 488-90; Adam de Perseigne: Lettres, Texte latin, introd., trad. et notes par Jean Bouvet, Bd. 1, Paris 1960 (Sources chrétiennes 66 / Sources chrétiennes. Série des textes monastiques d’Occident 4), S. 7-29; The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A critical edition, ed. John Frederick Hinnebusch, Fribourg 1972 (Spicilegium Friburgense 17), Appendix C, S. 254f. mit weiterer Literatur; Laurent Maillet: Les missions d’Adam de Perseigne, émissaire de Rome et de Cîteaux (1190-1221), in: Annales de Bretagne 120,3 (2013), S. 99-116; Klaus Graf: Der Zisterzienser Adam von Perseigne und das Speculum virginum, in: Ordensgeschichte. Ein interdisziplinäres Gemeinschaftsblog, 8. September 2013, http://ordensgeschichte.hypotheses.org/5570 (ISSN 2198-8315).
  6. Alberich von Laon bzw. von Humbert bzw. von Hautvilliers (†1218): Archidiakon von Paris; Erzbischof von Reims ab 1206/07; initiierte den gotischen Neubau der Kathedrale von Reims; nahm 1212 am Albigenserkreuzzug teil; brach auch zum 5. Kreuzzug auf; Tod in Pavia auf dem Rückweg vom Heiligen Land. Quellen und Lit.: Albrici monachi Triumfontium Chronicon, ed. P. Scheffer-Boichorst, in: MGH SS 23, 631-950, hier S. 887 (Ernennung zum Erzbischof von Reims), 889 (Teilnahme am Albigenserkreuzzug), 905 (Aufbruch ins Heilige Land), 907 (Tod in Pavia); Gallia Christiana, in provincias ecclesiasticas distributa, qua series et historiae archiepiscoporum, episcoporum et abbatum… / opera et studio Dionysii Sammarthani,… [deinde] monachorum Congregationis S. Mauri Ordinis S. Benedicti [deinde] condidit, 9: De provincia Remensi, ejusque metropoli ac suffraganeis Suessionensi, Laudunensi, Bellovacensi, Catalaunensi ac Noviomensi ecclesiis, Paris 1751, Sp. 104-107; Pierre-François Fournier: Art. “Albéric de Humbert”, in: DHGE 1, Paris 1912, Sp. 1409; The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 257.
  7. Diese Formulierung Jakobs von Vitry spielt laut César Egasse du Boulay: Historia Universitatis Parisiensis, 2: Ab An. 1110 Ad Ann. 1200, Paris 1665, S. 724 und The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 257 darauf an, dass er zuvor Armut gepredigt, nun aber kirchliche Würden angenommen hatte.
  8. Johannes von Liro († nicht vor 1220) und Johannes von Nivelles (†1233): Kanoniker im Bistum Lüttich (Liège) im engeren Umfeld (letzterer war zeitweise Dekan) des Lütticher Bischofs Hugues de Pierrepont (1200-1229); unterstützten gemeinsam mit Jakob von Vitry das frühe Beginentum im Bistum Lüttich sowie Regularkanonissen- und Zisterzienserinnenkonvente. J. von Nivelles wurde 1215/19 Regularkanoniker in Oignies; Papst Innocenz III. beauftragte ihn mit der Kreuzzugspredigt (1216), Honorius III. mit der Kreuzzugskollekte (1219). Quellen und Lit.: Thomae Cantipratani Bonum Vniversale De Apibus, ed. Georges Colvener, Douai 1627, S. 362, 529; Acta Sanctorum, quotquot toto orbe coluntur vel a catholicis scriptoribus celebrantur, quae ex Latinis et Graecis aliarumque gentium antiquis monumentis coll., digessit, notis illustr. Joannes Bollandus servata primigenia scriptorum phrasi, ed. Godefridus Henschenius et al. Junii, Bd. 4: Sanctos a die XVI ad XX colendos complexus, Editio novissima, curante Joanne Carnandet, Paris [u.a.] 1867, S. 195-7; Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, ed. . von Leonard Ennen und Gottfried Eckertz, Bd. 2, Köln 1863, Nr. 50 (S. 60); Lettres de Jacques de Vitry (1160/1170-1240). Évêque de Saint-Jean-d’Acre, ed. Robert Burchard Constantijn Huygens, Leiden 1960, Nr. VI und VII, S. 123-53; Regesta Honorii Papae III, ex Vaticanis archetypis aliusque fontibus, ed. Petrus Pressutti, Bd. 1, Nr. 1972 (S. 326); Christine Renardy: Les Maîtres universitaires dans le diocèse de Liège. Répertoire biographique. 1140-1350, Paris 1981 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 232), S. 355-7, 361-3; William McDonnell: The Beguines and Beghards in Medieval Culture with Special Emphasis on the Belgian Scene, New York, NY 1954, S. 40-7; The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 285f.; Jacques de Vitry: Histoire Occidentale / Historia Occidentalis (tableau de l’Occident au XIIIe siècle), trad. par Gaston Duchet-Suchaux; introd. et notes par Jean Longère, Paris 1997, S. 100, Anm. 1f.; Jörg Voigt: Beginen im Spätmittelalter. Frauenfrömmigkeit in Thüringen und im Reich, Köln [u.a.] 2012 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission in Thüringen. Kleine Reihe 32), S. 34-40.
  9. Ausführlich zum himmlischen liber vitae sowie den irdischen libri, ihren Schreibern und den eingeschriebenen Namen vgl. jetzt “Eure Namen sind im Buch des Lebens eingeschrieben”. Antike und mittelalterliche Quellen als Grundlage moderner prosopographischer Forschung, hrsg. von Rainer Berndt, Münster i.W. 2014 (Erudiri Sapientia 11).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5735

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Vulkanisches Zwielicht. Ein Vorschlag zur Datierung des Kuwae-Ausbruchs auf 1464

Krater des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa, Indonesien. Quelle: Wikimedia Commons

Krater des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa, Indonesien. Quelle: Wikimedia Commons

Vor zweihundert Jahren brach Anfang April 1815 der indonesische Vulkan Tambora aus. Dieses Ereignis, und vor allem das darauf folgende Jahr ohne Sommer 1816 stoßen derzeit auf breites Interesse in den Medien: Unwiderstehlich scheint die Mischung von Vulkanasche, ‚Klimakatastrophe‘, Hunger, Missernten, blutroten Sonnenuntergängen und der Entstehung von Mary Shelleys „Frankenstein“. Vulkane ‚gehen‘ immer. Man darf gespannt sein, ob die jubiiäumsbedingten Treffen der klimatologischen Fachwelt und die damit verbundenen Publikationen das düstere Narrativ bestätigen oder relativieren werden.

In der Suche nach Superlativen für das breite Publikum geht oft unter, dass die Eruption des Tambora in ihrem klimatischen Impact mutmaßlich von zwei Vulkanausbrüchen in mittelalterlicher Zeit in beträchtlichem Umfang übertroffen worden sein dürfte: dem seit kurzem geographisch lokalisierten Ausbruch des Samalas auf der Insel Lombok (Indonesien) vermutlich im Jahr 1257, der größten Eruption des vergangenen Jahrtausends, und dem zweitgrößten Vulkanausbruch der letzten 1000 Jahre. Dieser wurde bisher häufig mit einer unterseeischen Caldera in Vanuatu in Verbindung gebracht, nach einem im Rahmen einer lange schon auf 1452 oder 1453 datierten Eruption verschwundenen Inselstück als Kuwae bezeichnet.[1] Obwohl die Lokalisierung umstritten ist (s.u.) soll im Folgenden weiter von der Kuwae-Eruption gesprochen werden, da sich nicht wie im Fall anderer ungeklärter Eruptionen einfach von einem 1452- bzw. 1458-event sprechen lässt, da auch die bisherige Datierung zunehmend fragwürdig scheint.

„unmistakable marks in world climate records“? Kuwae und der Fall von Konstantinopel

Indikator für den klimatischen Impact eines Vulkanausbruchs ist die Menge an Schwefeldioxid, die die Eruption bis in die Stratosphäre schleudert. Dort wandelt sichdas SO2 relativ rasch zu Sulfat-Aerosolen. Diese Schwebeteilchen reduzieren mutmaßlich die Sonneneinstrahlung und können einige Jahre lang um den Globus zirkulieren, für eine Abkühlung sorgen und so auch die meteorologischen Verhältnisse beeinflussen.[2] Rückschlüsse auf die in der Atmosphäre wirksame Menge an Sulfat-Aerosolen, die wiederum zur Klassifizierung des Ausbruchs dienen, ziehen Geowissenschaftler aus polaren Eisbohrkernen. Die dort nachweisbaren Sulfatschichten können allerdings mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht jahrgenau datiert werden: Vielmehr wurden bisher zur Feindatierung häufig historische Fakten – also aus in der Regel schriftlichen Quellen eindeutig belegte und datierbare Eruptionen – als sog. stratigraphische Marker herangezogen.[3] Ein Ereignis wie der Ausbruch des Tambora 1815 und die Wetterkapriolen im Folgejahr sind in der schriftlichen Überlieferung sehr dicht dokumentiert. Viel problematischer ist die Lage für den sehr großen Kuwae-Ausbruch Mitte des 15. Jahrhunderts.

Die historischen Fakten, die 1993 von dem US-Astronomen Kevin D. Pang in einem kurzen Abstract zur Datierung der Kuwae-Eruption angeführt wurden[4], sind – vorab gesagt – alles andere als die „unmistakable marks in world climate records“, die er präsentieren möchte. Zur globalen Verankerung der Datierung dienen ihm sehr pauschale Verweise auf besondere Kälte in Südchina im Jahr 1453/54, auf schlechte Weinernten in Deutschland sowie Ausfälle der Getreideernte in Schweden Mitte der 1450er und auf dendrochronologische Befunde aus Nordamerika, Europa und China. Dass die fraglichen Jahre tatsächlich als kühl und feucht gelten müssen, steht außer Frage. Dies gilt aber sowohl für Europa wie für China (s.u.) in den gesamten 1450er/60er Jahren. Es ist problemlos möglich, eine Handvoll Belege für Kälte und Feuchte sowie Ernteausfälle zu beinahe jedem beliebigen Jahr anzuführen.[5] Damit verlieren diese pauschal zugeordneten Belege ihre argumentative Kraft. Dasselbe gilt übrigens für dendrochronologische Befunde.[6] Entscheidend sind vielmehr spezifische Aussagen in Schriftquellen, die plausibel allein durch eine Aerosolwolke vulkanischen Ursprungs erklärt werden können. Diese meinte Pang in der älteren Literatur zum Fall Konstantinopels im Mai 1453 gefunden zu haben: „But the gardens in the city produced little at that season […] On the night of the full moon there was an eclipse and three hours of darkness […] the whole city [of Constantinople] was blotted out by a thick fog, a phenomenon unknown in those lands in May […] That night, when the fog had lifted, a strange light played about the Dome of the Hagia Sophia […] Lights, too, could be seen from the walls, glimmering in the distant countryside far behind the Turkish camp.“[7] Diese Belege, die Pang anführt und einer für ein breites Publikum gedachten Darstellung von Steven Runciman von 1965 entnimmt, halten keiner näheren Überprüfung stand. Der implizit als Argument für reduzierte Sonnenstrahlung angeführte agrarische Produktionsausfall konnte in keiner Form in den zeitgenössischen Quellen wiedergefunden werden.[8] Das unnatürliche Licht über der Kuppel der Hagia Sophia ist nach ausdrücklicher Erklärung der einzigen davon berichtenden Chronik der göttliche Schutz, der die Stadt verlässt.[9] Die Stürme und Starkniederschläge, per se schon alles andere als überzeugende Indikatoren für eine Aerosolwolke, finden sich im Kontext der Prozession

Staubschicht in der Atmosphäre nach Ausbruch des Pinatubo 1991. Quelle: Wikimedia Commons

Staubschicht in der Atmosphäre nach Ausbruch des Pinatubo 1991. Quelle: Wikimedia Commons

mit einer bisher die Stadt schützenden Marienikone, die im Mai 1453 hoch symbolisch ‚versagte‘.[10] Der beschriebene Nebel über Konstantinopel geht auf eine Passage bei dem mit deutlichem zeitlichen Abstand schreibenden Kritobulos von Imbros zurück, die keineswegs klar einen langanhaltenden, vulkanischen Trockennebel in großer Höhe erkennen lässt, ihre metaphysischen Bezüge aber deutlich macht.[11] Die für den 20. Mai 1453 berichtete,[12] tatsächlich aber für den 22. Mai anzusetzende, in Konstantinopel sichtbare partielle Mondfinsternis[13] zeichnete sich dadurch aus, dass der zunehmende Mond – Vollmond war für den 24. Mai zu erwarten – für vier Stunden nur in stark verminderter Form zu sehen war, einem dreitägigen Sichelmond gleich. Dabei war die Luft völlig klar und ungetrübt. Von einer außergewöhnlichen, dreistündigen Verdunkelung oder Verfärbung – die tatsächlich der Effekt einer durchziehenden Aerosolwolke sein kann[14] – ist im Bericht des Niccolò Barbaro keine Rede.[15] Die Lichter am Horizont hinter dem türkischen Lager, die die Verteidiger angeblich sahen und von denen sie hofften, es handele sich um ein ungarisches Entsatzheer[16], müssen keineswegs mit den Lichterscheinungen gleichzusetzen sein, die in Nordamerika nach dem Krakatauausbruch für falsche Feueralarme sorgten.

Der Quellenbefund wird von Pang also allerorten überdehnt: Nichts was als Beleg in historischen Quellen für den Durchzug einer Aerosolwolke herangezogen wird, ist dafür ein zwingender, oft noch nicht einmal ein plausibler Beleg. Steven Runciman ordnete die berichteten Naturerscheinungen eindeutig als Omen im Kontext des Untergangs der Stadt ein und betonte ihren metaphysischen Charakter, wie dies auch die jüngere Forschung getan hat.[17] Keines der angeführten Phänomene mit Ausnahme der partiellen Mondfinsternis lässt sich in mehreren, unabhängigen Quellen nachweisen. Die Datierung des Ausbruchs auf das Jahr 1452 – nach dem vom Tambora bekannten Muster, nach dem die Kältewelle und Feuchtigkeit mit gehörigem, viele Monate langem Abstand dem Eruptionsereignis folgte – sowie die Postulierung eines ‚Jahrs ohne Sommer‘ für 1453 ist damit hinfällig, soweit sie sich auf Pangs Ergebnisse bezieht. Trotzdem ist festzuhalten, dass viele Jahre alle geowissenschaftlichen, paläovulkanologischen und klimatologischen Untersuchungen auf Pangs Abstract als unhinterfragten Lieferanten ‚historischer Fakten‘ Bezug genommen haben – erkennbar ohne den kurzen Text je gelesen zu haben.[18] Die vollen Konsequenzen der hier plausibel gemachten Fehldatierung der Kuwae-Eruption auf 1452/53 für die Kalibrierung von Eisbohrkernen und anderen naturwissenschaftlichen Daten kann der Autor dieses Textes nicht kompetent einschätzen; völlig unbedeutend dürften sie aber nicht sein. Allerdings fällt auf, dass neuere geowissenschaftliche Publikationen die Rolle stratigraphischer Marker, die aus der schriftlichen Überlieferung gewonnen werden, für die Datierung von Eisbohrkernbefunden nicht klar benennen: Für Vulkaneruptionen in abgelegenen Weltgegenden wie Vanuatu sei die Gewinnung einer präzisen Chronologie durch die Befragung der zeitgenössischen Überlieferung wohl nicht möglich.[19] Entsprechend haben Eisbohrkernforscher in jüngster Zeit Neudatierungsversuche allein durch das Zählen der jährlichen Ablagerungsschichten in Eisbohrkernen unternommen (wobei sich nur ein kleiner Teil der Bohrungen für dieses independent layer counting eignet) und ordnen nun die Kuwae-Eruption ins Jahr 1458 ein.[20] Auch bei dieser präziseren Methode bleibt eine gewisse Unsicherheit in der Datierung von ca. 2 Jahren (Sigl et al.) oder im Extremfall bis zu 7 Jahren (Plummer et al.). Zur Bestimmung der Unsicherheit wird immer wieder auf durch historische Fakten klar belegte, jüngere Eruptionen zurückgegriffen, weil etwa Jahresschichten an den Übergängen zwischen einzelnen Eisbohrkernteilen fehlen könnten. Im Übrigen wird auch in diesen Publikationen auf die Ergebnisse von Pang Bezug genommen, die erklärt werden müssten.[21] Dass also ‚historische Fakten‘ durch diese verfeinerten Methoden völlig irrelevant geworden wären und die Datierung von Eisbohrkernen durch geowissenschaftliche Methoden wirkliche Jahrgenauigkeit herstellen könnten, ist nicht ersichtlich.

Kleiner Ausbruch eines Rinjani-Nebenkraters 1994. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Mount_Rinjani?uselang=de#/media/File:Rinjani_1994_cropped.PNG

Kleiner Ausbruch eines Rinjani-Nebenkraters 1994. Quelle: Wikimedia Commons

Dass „time marker“ aus narrativen Quellen nach wie vor eine fundamentale Rolle spielen[22], legenauch die jüngsten Befunde außerhalb der Eisbohrkernforschung nahe, die eine Identifizierung des für den sog. 1258-event verantwortlichen Vulkans erlaubt haben. Die genaue Datierung der Eruption des Samalas auf Mai 1257 beruht nach allem, was erkennbar ist, auf drei chronikalischen Belegstellen aus dem mittelalterlichen Europa. Mindestens eine dieser Datierungen ist falsch, berichtet die Chronik doch den zur Einordnung herangezogenen warmen Winter[23] für den Januar 1256 und nicht für den Jahresanfang 1258, wie behauptet.[24] Die zweite nordfranzösische Chronik ist in ihren Zeitangaben uneindeutig.[25] Nur ein Zitat aus der Chronik des Matthew Paris stützt den Datierungsversuch, der allerdings trotz der benannten Fehler – und damit eher zufällig – korrekt sein könnte.[26]

Alternativjahr 1464: „das die sun(n)e ir glaentz nit als claerlich hett, als sy dan(n) haben solt“

Das am Beispiel der Kuwae-Datierung durch Pang aufgezeigte Problem ist also virulent und kein Einzelfall. Es illustriert sehr deutlich die Bedeutung von Kooperationen zwischen Geschichts- und Geowissenschaftlern für gewisse Forschungen bzw. unterstreicht die fatalen Konsequenzen, wenn solche Zusammenarbeit unterbleibt. Doch kann man in narrativen Quellen des späten Mittelalters überhaupt spezifische Belege finden, die auf den Durchzug einer Aerosolwolke und wirklich nur darauf schließen lassen? Bei einer umfangreichen Recherche zu ungewöhnlichen Himmelsphänomenen in den 1460er Jahren[27] stieß der Autor auf einige sehr spezielle Befunde, die in diesem Kontext überaus relevant erscheinen und daher kurz vorgestellt werden sollen:

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 646 f. 211v: Chronik von Konstanz des Gebhard Dacher, ad. ann. 1465.

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 646 f. 211v: Chronik von Konstanz des Gebhard Dacher, ad. ann. 1465.

Ausgangspunkt war eine bemerkenswerte Charakterisierung des Jahres 1465 durch den Konstanzer Chronisten Gebhard Dacher, über das er schrieb, das die sun(n)e ir glaentz nit als claerlich hett, als sy dan(n) haben solt. […] Nun was sy vor das jar jn her zü mengem mal mit ir varb entstelt gewesen, yetz vast geluar, dan(n) rotuar, mit zirkeln, gestalt ain regenbogen, umgeben, ye das sy ir wùrkùng der frùchten halb das jar nit hett als andre jar.[28] Die hier sehr genau beschriebene, übers Jahr hin verminderte Sonnenstrahlung und der damit in Verbindung gebrachte, reduzierte Wuchs der Feldfrüchte ist ein sehr präzises Indiz für eine vulkanische Aerosolwolke. Allerdings ist mit einem Einzelbeleg nichts zu beweisen, besteht doch immer die Gefahr von Fehldatierung in der Überlieferung oder doch fiktionaler Berichte. Die weitere Suche brachte aber drei voneinander und vom Konstanzer Zitat erkennbar unabhängige Befunde aus dem nördlichen Mitteleuropa, die alle von (meist blauen) Verfärbungen und geringer Strahlkraft der Sonne sowie gelblicher Luft um ein ganz spezifisches Datum (13. September 1465) herum berichten.[29] Noch bemerkenswerter ist, dass auch südalpin zum ungefähr selben Datum aus vier verschiedenen Regionen Italiens Berichte vorliegen:[30] Eine Bologneser Chronik schildert einen besonders dunstigen September, in dem die milchweiße, manchmal blaue Sonne ohne Strahlkraft blieb wie der nächtliche Mond und den Wein nicht zum Reifen brachte.[31] Der römische Senatsschreiber Stefano Infessura erwähnt Veränderungen der Sonne am 14. September, die mal grün, mal blau, mal gelb erschien.[32] Ein Chronist aus dem umbrischen Gubbio berichtet ebenfalls, dass die Sonne zur Mittagszeit des 13. September blau wurde und so bis zum nächsten Tag blieb.[33] Doch das Potential zum Kronzeugen einer durchziehenden Aerosolwolke hat eindeutig der neapolitanische Notar Angelo de Tummulillis. Er berichtet, dass vom 8. September an die oberen Luftschichten so dunstig waren, dass die Sonne nach ihrem Aufgang wie der Mond wirkte und selbst um die Mittagszeit keine Schatten warf. Am 13. September wurde sie noch dunkler, am Morgen des 14. September erschien sie ganz gelblich wie hinter Nebeln, am Mittag von blauer Farbe. Mehr als zehn Tage konnte sie die hohen Nebel kaum durchdringen, dazu herrschte völlige Windstille und statt Wolken gab es nur den Dunst in der Höhe. Als nach über einer Woche ein leichter Wind aufkam, konnte dieser den Höhennebel nicht vertreiben.[34]

Die Schilderung durch Angelo de Tummulillis lässt an Präzision nichts zu wünschen übrig und deckt sich mit dem, was zu vulkanischen Trockennebeln nach der Tambora-Eruption bekannt ist.[35] Wie alle anderen genannten Autoren enthält er sich bei der Beschreibung der ihm unerklärlichen Himmelsphänomene bemerkenswerterweise metaphysischer Erklärungsversuche. Wie aber können die Berichte über eine blaue und grüne Sonne plausibel als Effekt einer Aerosolwolke erklärt werden? Im Kontext des Tambora-Ausbruchs wird nichts dergleichen berichtet. Eine Sammlung weltweiter Beobachtungen nach dem Ausbruch des Krakatau 1883 verweist hingegen durchaus auf Berichte aus Äquatornähe, dass dort eine Blau- und Grünfärbung der Sonne nach dem Ausbruch des Vulkans bemerkt wurde.[36] Auch alternative Erklärungen für die blaue Sonne müssen in Betracht gezogen werden: Im September 1950 war über Nordeuropa, v.a. in Schottland und Skandinavien, eine Blaufärbung der Sonne zu beobachten, die hypothetisch auf massive Waldbrände in Kanada zurückgeführt wurde.[37] Allerdings könnte auch bei diesem Ereignis ein in Japan lokalisierter Vulkanausbruch im Spiel gewesen sein, weil völlig unklar ist, ob die Rußpartikel eines Waldbrands die für einen Transport bis nach Europa notwendigen Höhen in der Atmosphäre erreichen können.[38]

An dieser Stelle ist zu betonen, von welchen Zufällen eine solche kohärente Beobachtungskette von Neapel bis Braunschweig abhängt: Voraussetzung ist ein wolkenloser Himmel an denselben Tagen in Regionen, die eigentlich von grundverschiedenen meteorologischen Mustern geprägt sind. Dies mag auch den Negativbefund für West- und Osteuropa erklären. Hinzu kommt die Anwesenheit eines Beobachters, der sich für Himmelsphänomene interessiert und diese brauchbar datiert und beschreibt.[39] Insofern sind sieben voneinander unabhängige, spezifische Quellenbelege schon ein zufriedenstellendes Ergebnis. Offen bleiben muss, ob im September 1465 nur ein Ausläufer einer Aerosolwolke in einem langen Streifen von Norddeutschland bis Süditalien sichtbar war. Nur eine Quelle, Gebhard Dacher, berichtet von dauerhaft eingeschränkter Strahlkraft der Sonne im Jahr 1465. Ein Bericht des uns bereits aus dem Kontext von 1453 bekannten Chronisten Kritobulos von Imbros schildert möglicherweise einen bereits früher erfolgten Durchzug eines ersten Teils der Kuwae-Aerosolwolke: In eben diesen Tagen aber wurde auch eine außergewöhnliche Himmelserscheinung beobachtet. Zur hohen Mittagszeit nämlich verfinsterte sich die Sonne, die ungetrübt und wolkenlos schien, in einem plötzlichen Wechsel und wurde dunkel, und ihr Aussehen veränderte sich, und sie nahm die Farbe von dunklem Kupfer an und wurde ganz und gar finster und schwarz, nicht in der gewohnten Weise wie bei Sonnenfinsternissen (denn es war keine Sonnenfinsternis damals), sondern auf eine andere noch nie dagewesene Art, gleichsam wie wenn ein Nebel oder eine dichte, dunkle Wolke sie überziehe und überschatte, und sie blieb so insgesamt drei Tage und ebenso viele Nächte lang, und es haben sie auch alle so gesehen.[40] Leider ist diese Beobachtung, die vermutlich in der nördlichen Ägais anzusiedeln ist, nicht sicher datierbar. Der Editor schlägt aus dem Kontext der Chronik heraus den Zeitraum Herbst/Winter 1464 vor; eine Sonnenfinsternis kann nachweislich nicht Ursache der Erscheinung sein.[41]

Der Befund aus der Ägais weist aber erstmals über die Grenzen des mittelalterlichen Europa hinaus: Denn bei einem globalen Ereignis wie der Kuwae-Eruption kann man auch weltweite Beobachtungen der Aerosolwolke und ihrer Effekte zumindest erhoffen. Allerdings stößt der Autor spätestens hier an die Grenzen seiner Fähigkeiten, zum einen wegen Sprachbarrieren, zum anderen in den Kenntnissen, wie mit schriftlicher Überlieferung aus dem muslimischen, indischen oder mittelamerikanischen Raum umgegangen werden muss. Nur ein instruktives Beispiel aus China mag zeigen, welche Potentiale in einer fächerübergreifenden Zusammenarbeit von Mediävisten, Arabisten, Indologen, usw. schlummern dürften: Chinesische Klimahistoriker haben seit den 1980er Jahren die immense schriftliche Überlieferung ihres Landes nach meteorologisch relevanten Informationen von der frühesten Zeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts durchsucht und diese Ergebnisse publiziert.[42] Die Datensammlung für die 1460er Jahre zu interpretieren ist schwierig, werden die Befunde doch in einem sehr annalistischen Stil präsentiert.[43] Da so eine qualitative Einschätzung schwierig bis unmöglich wird, wurde ein simpler quantitativer Ansatz versucht, der Kategorien von Extremereignissen wie Fluten und Dürren in ein prozentuales Verhältnis setzt. Dadurch wurde klar, dass im großen geographischen Raum des mittelalterlichen China z.B. auch Trockenjahre eine für sich genommen beträchtliche Zahl an Fluten in manchen Landesteilen aufweisen können. Dasselbe gilt für extreme Temperaturen. Umso weniger ist es sinnvoll, hier Einzelereignisse wie kalte Winter, zufrierende Flüsse, etc. als Indikatoren herauszugreifen, wie Pang es für die 1450er Jahre getan hat. Erkennbar ist, dass nach einem feuchten Jahr 1460 die Jahre 1461 bis 1463 tendenziell trockener wurden.[44] Einen drastischen Wechsel verzeichnen dann die äußerst niederschlagsreichen Jahre 1464/65.[45] Im Februar 1464 wird ein – allerdings unspezifischer – Nebel für Bejing erwähnt.[46] Sehr viel aussagekräftiger sind Berichte über den Niederschlag von “schwarzer Hirse” in Zentralchina und “schwarzem Reis“ in Südchina im Juli 1464.[47] Innerhalb der vorliegenden chinesischen narrativen Quellen der 1460er Jahre gibt es keine vergleichbaren Berichte. Es ist sehr verlockend, diese beiden wiederum unabhängigen Textstellen als Umschreibungen für den Niederschlag von Vulkanasche des über 7000 km entfernten Kuwae zu verstehen. Allerdings wurde bei der (mutmaßlich kleineren) Tambora-Eruption Vulkanasche nur in einer Entfernung von bis zu 1300 km nachgewiesen.[48] Die Beantwortung der Frage, ob ein Niedergang feiner Vulkanasche auch in so großer Entfernung vom – geographisch ja umstrittenen[49] – Eruptionsort denkbar ist, kann kein Historiker leisten.

Fazit

Mindestens drei Schlussfolgerungen bieten sich abschließend an:

Erstens soll vor dem Rückgriff auf die Ergebnisse Pangs für die Diskussion um die Kuwae-Eruption Mitte des 15. Jahrhunderts nachdrücklich gewarnt werden. Sie sind nicht valide. Selbst wenn sie nicht mehr die zentrale Rolle für die Datierung als stratigraphische Marker spielen, wird auf sie doch immer wieder Bezug genommen, etwa in der Frage, ob es sich um zwei Eruptionen handelte: Arktische Eiskerne weisen gelegentlich zwei Eruptionssignale jeweils Mitte der 1450er und Anfang der 1460er auf; andere zeigen nur ein Signal.[50] Wenn weiterhin aufgrund der invaliden Beobachtungen von Pang ein Zwang zur Erklärung meteorologischer und optischer Phänomene im Jahr 1453 gesehen wird[51], gehen solche Interpretationen des Datenmaterials vermutlich von falschen Voraussetzungen aus.

Zweitens sollen die hier vorgestellten Belege diskutiert werden, und zwar nicht nur von Mediävisten und bewusst im eher informalen Rahmen eines Blogbeitrags: Ermöglichen die dargebotenen Befunde aus den Schriftquellen – vorausgesetzt ihre Interpretation als Effekte einer vulkanischen Aerosolwolke trifft zu – nicht eine ähnlich präzise, ja letztlich präzisere Datierung als das Schichtenzählen bei Eisbohrkernen? Anders als bei Frostringen in dendrochronologischen Befunden, die lokale Phänomene spiegeln und keineswegs zwingend mit Vulkaneruptionen erklärt werden müssen, können die vorlegten Auszüge aus narrativen Quellen so einfach nicht ohne Aerosolwolke erklärt werden. Schließen die naturwissenschaftlichen Datierungen eine Eruption im Jahr 1464 vollständig aus, wenn wir das Jahr 1453 schlicht vergessen und eine Grobeinordnung der Eruption(en) in die Mitte des 15. Jahrhunderts vornehmen, um dann die Diskussion neu zu führen?

Zweifellos hängt die Validität der hypothetischen Datierung auf 1464 von der Qualität der beigebrachten Schriftquellen ab. Der Autor hat hier nur einen kleinen Ausschnitt der erhobene Belege präsentiert, dafür aber ausschließlich solche, die seiner Ansicht nach kaum anders als mit Durchzug einer Aerosolwolke vulkanischen Ursprungs erklärt werden können. Um den hier formulierten Vorschlag einer Datierung der Kuwae-Eruption – oder unter welchem Namen dieser Ausbruch auch immer künftig firmieren wird – auf 1464 argumentativ zu erhärten, bräuchte es vergleichbar präzise und einschlägige Beobachtungen für die Jahre 1452/53 oder auch 1458-60. Eine ähnlich intensive Recherche wie für die 1460er Jahre steht für die 1450er noch aus. Außerdem wäre es fundamental, Alternativerklärungen für die blaue und grüne Sonne, die beschriebenen Höhennebel sowie die reduzierte Sonneneinstrahlung ausschließen zu können. Im Fall der hier vorgestellten Phänomene sind also auch Quellenbefunde aus der Nordhemisphäre relevant für Eruptionsereignisse der Südhemisphäre.[52] Allerdings muss die Überlieferung der außereuropäischen Gesellschaften noch gründlich von Fachleuten durchsucht werden. Dies kann ein Einzelner nicht leisten.

Drittens fokussiert der Beitrag ausdrücklich auf Aspekte, bei denen Geowissenschaftler von historischer Expertise profitieren können. Ausgespart blieb daher das, was Historiker für gewöhnlich eher interessieren würde: die zahlreichen Aussagen der narrativen Quellen zu meteorologischen Extremereignissen zwischen 1460 und 1470 sowie deren mutmaßlicher sozialer und ökonomischer Impact. Für Datierungsfragen sollten diese Beobachtungen, da nicht zwingend durch eine vulkanische Ursache erklärbar, ohne Beachtung bleiben. Der Autor hat sich ihnen an anderer Stelle gewidmet, mit dem substantiierten Eindruck, dass die meteorologischen Konsequenzen der Kuwae-Eruption viel weniger eindeutig dem Tambora-Modell folgen als bisher angenommen und generell die sozio-ökonomischen Folgen weniger harsch und apokalyptisch sind als vielfach angenommen.[53] Vielleicht liegt darin auch eine Erklärung, warum die Wachstumsringe von Bäumen nicht ‚adäquat‘ (d.h. stark) auf vulkanische Eruptionen reagieren:[54] Die vulkanische Abkühlung – so eine abschließende Hypothese im Gegensatz nicht nur zu Mann et al. 2012 – wird nicht unterschätzt, sie wird überschätzt. Aber das bedarf weiterer Forschung, von geowissenschaftlicher wie von geschichtswissenschaftlicher Seite.

Ausdrücklich erbittet der Autor Rückmeldung und Kritik zu seinen hier geäußerten Überlegungen, die genau zu diesem Zweck online gestellt wird. Bei der Recherche geriet er vielfach an die Grenze der eigenen Kompetenzen. Die geäußerte Kritik auch an Kollegen aus anderen Disziplinen erfolgt im Bewusstsein, wie schnell auch der Autor selbst bei diesem Thema zwar noch am wenigsten mit seinem Latein, aber doch mit seinem Verständnis komplexer Prozesse, die andere Fächer beschreiben, am Ende war. Ich erhoffe mir eine fruchtbare Diskussion, die ein wenig mehr Klarheit in das vulkanische Zwielicht bringt.

An English version of this article is upcoming.

Zitiervorschlag:

Martin Bauch: Vulkanisches Zwielicht. Ein Vorschlag zur Datierung des Kuwae-Ausbruchs auf 1464, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 10. April 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5697 (ISSN 2197-6120)

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Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt Jeffrey B. Witter; Steven Self, The Kuwae (Vanuatu) eruption of AD 1452: potential magnitude and volatile release, in: Bulletin of Vulcanology 69 (2007), S. 301-318 mit weiterer Literatur.

[2] Jüngste Überblicke über den komplexen Mechanismus z.B. bei Anja Schmidt; Alan Robock, Volcanism, the atmosphere, and climate through time, Chap. 13, in: Volcanism and Global Environmental Change, ed. by Anja Schmidt, Кirsten E. Fristad, Linda T. Elkins-Tanton, (Cambridge University Press, Cambridge, 2015, S. 195-207, hier S. 198f.; Jihong Cole-Dai, Volcanoes and climate, in: Wiley Interdisciplinary Reviews: Climatic Change 1/6 2010, S. 824–839.

[3] Auf neuere, höhere Genauigkeit beanspruchende Datierungsmethoden der Eisbohrkernforscher wird weiter unten eingegangen.

[4] Kevin D. Pang, ‘Climatic impact of the mid-fifteenth century Kuwae caldera formation, as reconstructed from historical and proxy data’, in: Fall Meeting. American Geophysical Union, 1993, S. 106. Zur gewöhnlich falsch wiedergegebenen bibliographischen Angabe dieses Abstracts vgl. Anm. 18.

[5] Für die 1450er Jahre wird auf die klimageschichtliche Online-Datenbank tambora.org verwiesen. Obwohl ein Großteil der darin aufgenommen Daten sich als aus quellenkritischer Sicht gerade für das Mittelalter als problematisch erweist – v.a. die Aufnahme nicht zeitgenössischer Quellen ist zu nennen –, ist das Projekt perspektivisch doch sehr nützlich für die Sammlung meteorologisch relevanter Daten aus narrativen Quellen. Für die 1460er Jahre liegt eine Kompilation quellenkritisch zuverlässiger Belege durch den Autor vor, vgl. Martin Bauch, The day the sun turned blue. The redated Kuwae eruption in 1465 and its putative climatic impact – a globally perceived volcanic disaster in the Late Middle Ages?, in: Schenk, Gerrit J.  (Hg.), Historical Disaster Experiences. A Comparative and Transcultural Survey between Asia and Europe, Heidelberg 2015 (im Druck).

[6] Siehe Anm. 54.

[7] Steven Runciman, The Fall of Constantinople, Cambridge/Mass. 1965, S. 112, 121f.

[8] Die drei von Runciman angeführten Chronisten Niccolò Barbaro, Leonard von Chios und Giorgios Sphrantzes berichten im April und Mai 1453 nichts, was über normalen Nahrungsmittelmangel im Zug einer Belagerung hinausgeht (Vgl. La caduta di Costantinopoli. Le testimonianze dei contemporanei, a cura di Agostino Pertusi, S. 19-29, 129-153) Misswuchs oder Verweise auf reduzierte Sonneneinstrahlung finden sich nirgends. Dass landwirtschaftliche Flächen innerhalb der Stadtmauern im April/Mai wenig Essbares produzierten – und vielleicht meint Runciman nur das –, ist jahreszeitbedingt alles andere als ungewöhnlich.

[9] Il 21 maggio ci fu, a causa di nostri peccati, un tremendo presagio in città: la notte del venerdì tutta la città si illuminò, e le sentinelle, avendo visto ciò, corsero a vedere che cosa stava succedendo: pensavano che i turchi avessero incendiato la città e gridavano a gran voce. Radunatasi una gran folla, si vide che in cima, dalle finestre della Grande Chiesa di Santa Sofia, usciva un gran fuoco che circondò la base della cupola della chiesa per molto tempo e le fiamme riunitesi si trasformarono in un‘ unica gran fiamma, e ci fu come una luce indescrivibile e subito essa salì verso il cielo. Coloro che guardavano incominciarono a piangere amaramente rivolgendo l’invocazione: ‚Signore, abbi pieta!’. Quando quella luce raggiunse il cielo, si aprirono le porte del cielo e, accolta la luca, di nuovo si richiusero. […] [Am nächsten Tag erläutert der Patriarch dem byzantinischen Kaiser das Vorgefallene]: ‘Tu sai, imperatore, tutte le predizioni su questa città, e anche ora c’è stato un presagio tremendo: la luce indescrivibile, che operava già nella Grande Chiesa di Santa Sofia assieme ai più grandi sapienti e ai sommi sacerdoti ecumenici, così come anche l’angelo divino, che Dio aveva reso più forte durante il regno dell‘ imperatore Giustiniano per la conservazione della santa e grande chiesa e di questa città, questa notte se ne sono andati in cielo; e ciò significa che la grazia di Dio e la sua generosità ci hanno abbandonato [S. 283] e che Dio vuole consegnare la città nelle mani di nostri nemici‘. E così gli presentò quelle persone che avevano visto il prodigio; e come l’imperatore ebbe ascoltato quanto essi dicevano, cadde a terra come morto e senza parola per lungo tempo (Nestor Iskander, Racconto di Costantinopoli, in: La caduta di Costantinopoli. Le testimonianze dei contemporanei, a cura di Agostino Perusi, S. 261-298, hier S. 282f.)

[10] Bereits zu Beginn der Prozession war die Ikone von übernatürlichen Kräften zu Boden geworfen worden, so dass sie kaum wieder aufgehoben werden konnte. Doch damit nicht genug: Dann aber […] brach gleich darauf genau um die Mittagsstunde ein starkes Gewitter herein mit dunklem Gewölk, und es goß in Strömen und hagelte heftig, so daß die Priester und Träger der Ikone und die nachfolgende Menge es nicht aushalten und ihren Weg nicht weiter fortsetzen konnten, bedrängt und behindert durch die herabstürzenden Regenmassen und die Gewalt des Hagels. Auch wären viele der mitziehenden Kinder in Gefahr geraten, mitgerissen zu werden und zu ertrinken, fortgeschwemmt von dem starken und reißenden Wasserschwall, wenn nicht Männer sie sogleich ergriffen und mit Mühe der Gewalt des Wassers entrissen hätten. So unerhört und ungewöhnlich war die gewaltige Masse des Regens und jenes Hagels. Fraglos zeigte dies den unmittelbar bevorstehenden, totalen Untergang der Stadt an (Mehmet II. erobert Konstantinopel. Die ersten Regierungsjahre des Sultans Mehmet Fatih, des Eroberers von Konstantinopel 1453. Das Geschichtswerk des Kritobulos von Imbros, Übersetzt, eingeleitet und erklärt v. Diether Roderich Reinsch [Byzantinische Geschichtsschreiber, 17], Graz; Wien; Köln 1986, S. 103).

[11] Tags darauf aber hüllte morgens eine tiefhängende Wolke die ganze Stadt vom Morgengrauen bis zum Abend ein. Dies zeigte zweifellos den Aus- und Rückzug der Gottheit aus der Stadt an und dass sie diese endgültig verließ und sich von ihr abwandte. Denn in eine Wolke gehüllt naht die Gottheit und entschwindet wieder (Ebd., S. 104)

[12] Pur ancora in questo zorno de vintido de mazo [20. Mai 1453], a una hora de note el parse uno mirabel segnal in zielo, el qual segno fo quel che dè ad intender a Costantin degno imperadore de Costantinopoli, che el suo degno imperio sì se aprossimava al finimento suo, come con efeto è stato. Questo segnal si fo de questa condition e forma: questa sera a un hora de notte levò la luna et havea hozi el suo tondo, levando questa luna la dovea levar tuta tonda, ma questa luna si levò come quela avesse abudo tre zorni, la qual puoco parea, e iera l’aiere sereno come un cristalo neto e mundo; questa luna si durò a questo muodo zerca hore quattro, e poi a puoco a puoco quela si se andò fazando el suo tondo, e a ore sie de note, tuta si fo compida de far el suo tondo. (Niccolò Barbaro, Giornale dell’assedio di Costantinopolo, in: Pertusi, La caduta di Costantinopoli [wie Anm. 9], S. 8-38, hier S. 26)

[13] http://eclipse.gsfc.nasa.gov/LEhistory/LEplot/LE1453May22P.pdf

[14] Richard A. Keen, Volcanic Aerosols and Lunar Eclipses, in: Science 222 (1983), S. 1011-1013.

[15] Hier scheint das Versäumnis bei Runciman zu liegen, der die venezianische Quelle irreführend paraphrasiert.

[16] Die wenig präzise Belegpraxis Runcimans macht es unmöglich, die dieser Behauptung zugrunde liegende Quellenstelle zu finden. Da aber die Beobachtung so oder so keine argumentative Kraft hat, wurde darauf verzichtet, umfänglich Editionen durchzugehen.

[17] Runciman, The Fall (wie Anm. 7), S. 121f.; Marios Philippides; Walter K. Hanak, The Siege and the Fall of Constantinople in 1453. Historiography, Topography and Military Studies, Farnham, 2011, S. 214-231.

[18] Die ausnahmlos anzutreffende bibliographische Angabe des in Anm. 4 genannten Abstracts von Pang verweist auf den Publikationsort „Eos. Transactions of the AGU 74 (1993), S. 106“. Die genannte Seitenzahl existiert in keinem der beiden Teilbände 74/9 und 74/10; natürlich findet sich auch Pangs Abstract nicht hier. Dies lässt nur den Schluss zu, dass die Angabe von Publikation zu Publikation übernommen, aber nie überprüft wurde.

[19] Michael Sigl et al., A new bipolar ice core record of volcanism from WAIS Divide and NEEM and implications for climate forcing of the last 2000 years, in: Journal of Geophysical Research, 118/3 (2013), S. 1151–1169, here S. 1152: “While many of the Icelandic eruptions back into the middle ages are associated with reliable eruption dates reported by historic witnesses, this is not true for the majority of eruptions that took place in remote areas of the tropics and the Southern Hemisphere […]. Nevertheless, two additional time markers from large stratospheric eruptions in the tropics are used as tie-points for development of ice core chronologies: an unknown eruption in 1258 […], the largest volcanic event of the last millennium, and the signal in 1452/1453 associated with the eruption of Kuwae in Vanuatu […], the largest volcanic event of the last millennium for most of the Antarctic ice core records. Various volcanic timescales in Antarctica were tied to this 15th century time marker.”

[20] Ebd., S. 1160f.; C.T. Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record from LawDome, East Antarctica, including a new perspective on the dating of the 1450s CE eruption of Kuwae, Vanuatu, in: Climate of the Past 8 (2012) S. 1929-1940, hier S. 1936f.

[21] Vgl. Sigl et al., A new bipolar ice core record, S. 1163; Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record, S. 1936f.

[22] “only volcanic signals from historically documented eruptions have been used to tie the absolute ages” (Sigl et al., A new bipolar ice core record, S. 1153.

[23] Vgl. zum Auftreten warmer Winter in (Nord-)Europa unmittelbar nach großen Vulkaneruptionen Schmidt/Robock, Volcanisms (wie Anm. 1), S. 200 mit weiterer Literatur.

[24] Franck Lavigne et al., Source of the great A.D. 1257 mystery eruption

unveiled, Samalas volcano, Rinjani Volcanic

Complex, Indonesia, in: PNAS 110/42 (2013), pp. 16742-16747, here p. 1674. Viele inexakte Angaben fallen ins Auge: vom Titel der zitierten Chronik (recte: 1308) bis hin zur fehlenden Seitenzahl in der Edition (S. 131). Vom grundsätzlichen Problem, aus einer mit mindestens 60 Jahren Abstand zum Ereignis niedergeschriebenen Chronik exakte Angaben für das Jahr 1258 zu erwarten, ganz zu schweigen.

[25] Die Chronologie im von Lavigne et al. zitierten Text (S. 2) ist nicht so klar wie behauptet: Der Kontext der Textstelle in der Edition mit seinen Erwähnungen der Wahl Richards von Cornwall (13. Januar 1257) verweist eindeutig auf das Jahr 1257, wenn auch der isolierte Absatz zum warmen Winter tatsächlich, wenn auch keineswegs zwingend, auf das Folgejahr deuten könnte.

[26] Zu verweisen ist auf in Vorbereitung befindliche Artikel zu den Konsequenzen des Samalas-Ausbruchs für das mittelalterliche Europa einerseits durch Bruce Campbell (Belfast), andererseits durch den Autor. Darin werden weitere Belege für einen warmen Winter 1257/58 angeführt.

[27] Vgl. Bauch, The day the sun turned blue (wie Anm. 5). Zur Quellenbasis der Studie, deren datierungsrelevanter Teil hier präsentiert wird: Ein Großteil der wichtigsten edierten Chroniken, Tagebücher und anderer narrativer Quellen in Europa und dem Mittelmeergebiet wurden vom Autor für die Jahre 1460-1470 überprüft. Sie wurden durch Rückgriff auf das unverzichtbare Hilfsmittel der Encyclopedia of the Medieval Chronicle, ed. Graeme Dunphy, 2 Bde., Leiden 2010 ermittelt. Quellen in ungarischer, rumänischer, russischer, griechischer und arabischer Sprache wurden nicht ausgewertet, soweit keine Übersetzung ins Englische, Französische oder Deutsche vorlag. Von einer Gesamtzahl von 280 im Druck vorliegenden narrativen Quellen für die genannte Periode enthielten 181 keine relevanten Informationen zu Wetter, Hunger, Epidemien oder Himmelsphänomenen, 69 erbrachten Resultate. 31 Quellen konnten weder über Fernleihe noch online eingesehen werden.

[28] Die “Konstanzer Chronik” Gebhart Dachers: “By des Byschoffs zyten volgiengen disz nachgeschriben ding vnd sachen …”; Codex Sangallensis 646, Edition und Kommentar, hg. v. Sandra Wolff, Ostfildern 2008, S. 696.

[29] Sog. „Sächsische Bilderchronik“ aus Braunschweig: Darna upp ein fridage vor des hiligen Crützes dage in dem rechten midden dage, do vvas de sunne so blauwe umme getzirkelt alse ein blauw korne blome, unde gaff nenye schyn van sick (Chronicon Brunsvicensium Picturatum dialecto saxonica conscriptum, in: Scriptores rerum Brunsvicensium illustrantium, Bd. 3, hg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz, Hannover 1711, S. 277-425, hier S. 411); Soester Stadtbücher: Anno domini 1465. Up des hilgen Cruces avende Exaltacionis do was dey sunne an dem hemele so bla ind dey lucht so gelbleck, dat nummant en wuste, wo dat sin mochte, und dat dey rynck van der sunnen und dey schyn was alle blaewyt und was ok eyne wijle tydes roit und wyt (Die Chroniken der westfälischen und niederrheinischen Städte. Dritter Band: Soest und Duisburg, Leipzig 1895 [Die Chroniken der deutschen Städte, 24], S. 51); Bericht einer Chronik aus der Gegend um Maastricht: Terstont doer noe op synte Cornelis avent off op der Heyligen Cruyts avent due scheyn die sonne also jemerlich inde also blodich, gelick doen hedde sy myt blode besmert off bestreken gewest. Inde dit waes al te jemerlick inde bedroft aen te syen. Inde dit duerde omtrent II dach (J. Habets [Hg.], Chronijck der Landen van Overmaas en der anngrenzende gewesten door eenen inwoner van Beek bij Maastricht, in: Publications de la Société Historique et Archéologique dans le Limbourg 7 (1870), S. 11-218, hier S. 22).

[30] Auf sie verweist erstmals Dario Camuffo, Silvia Enzi, Impact of the Clouds of Volcanic Aerosols in Italy During the Last 7 Centuries, in: Natural Hazards 11 (1995), S. 135-161, hier S. 140. Doch wird das Ereignis hier nicht direkt mit einem global wirksamen Ausbruch in Zusammenhang gebracht.

[31] El mese de settenbre [1465] fu chalinzoso, ché ‘l sole mostrava pocho spiandore, era de colore como è la notte la luna, cum colore azuro e smorto, l’ochio del sole biancho como latta; le uve non se possenno madurare bene, li vini bruschi. Questo durò infino adì 26 de settembre (Corpus Chronicorum Bononiensium. Bd. 4, hg. v. Albano Sorbelli, Città di Castello 1924, [RIS² 18/1-4], S. 341, Cronaca A, Cronaca B quasi identischer Bericht).

[32] Eodem anno [1465] a dì 14 di settembre, in die santae crucis, lo sole fece molte mutationi; quanno pareva verde e quanno azzurro et alcuna volta giallo, tutto lo dì (Diario della città di Roma di Stefano Infessura scribasenato, a cura di Oreste Tommassini, Roma 1890 [Fonti per la Storia d’Italia, 5], S. 69).

[33] A dí 13 de setembre [1465], che fo vènere, circa el mezo dí, el sole deventò celestro, et stecte cosí tucto el sabato, che fo a dí 14; e cosí ando sotto la sera.

[34] Sed in ipso mense septembris .XIIII. indictione infra octavam nativitatis beate virginis Marie totum aer sursum factum nubilosus et caliginosus per plures dies et noctes in tantum quod sol in ortu suo videbatur velut luna non radians, et in meridie non naturaliter set paulisper effundebat radios suos ita quod in oppositis vero faceret umbram, qui cum declinaret ad occasum aspicientibus latebat in totum. Sed eadem ebdomada die veneris .XIII. eiusdem magis oscuratus est et in sequenti die sabati .XIIII. in mane apparuit quasi inter nebulas intrusus crocei coloris usque ad sextam, ita quod vultus etiam hominum sese adspicientium viderentur eiusdem crocey coloris seu zallany; et circa meridiem usque ad vesperos dictus sol apparuit coloris azuri seu brevis parum radians inter nebulas vel caligines interpositas, et omni die in vesperis latebat quasi in totum, et hoc duravit quasi per decem dies cum silentio et tranquilitate aeris sine flatu alicuius venti, nec aliqua nubes apparebat super terram vel in montaneis nisi in aere, quasi caligines sine motu. Set postea ceperunt flare modicum venti super terram non expellentes tamen caligines in aere (Notabilia temporum di Angelo de Tummulillis da Sant’Elia, a cura di Costantino Corvisieri, Livorno 1890 [Fonti per la Storia d’Italia, 7], S. 134)

[35] Vgl. Richard B. Stothers, The Great Tambora Eruption in 1815 and Its Aftermath, in: Science 224/4654 (1984), S. 1191–1198, hier S. 1194f.

[36] Tom Simkin; Richard S. Fiske, Krakatau 1883. The Volcanic Eruption and its Effects, Washington, D.C.: Smithsonian Institute Press, 1983, pp. 154–159.

[37] Rudolf Penndorf, On the phenomenon of the colored sun, especially the “blue” sun of september 1950, Cambridge, MA: Air Force Cambridge Research Center, 1953; Anders Angström, The Blue Sun of September 1950, in: Tellus 3/3 (1951), S. 135-140 mit weiterer Literatur zum Phänomen der blauen Sonne.

[38] Ebd., S. 140.

[39] Der Befund kann sich auch ganz anders darstellen: In der „Chronik Friedrichs I. des Siegreichen“ (Berichtzeitraum 1452-1475) schreibt Matthias Kemnat zum Thema Von den cometen, hauven vnd irem vbel. Leider ist der Bericht nicht genau zu datieren. Die Kometen werden auf die Jahre 1456, 1469 und 1477 datiert; eine Einordnung der beschriebenen Sonnenverfärbung in die zweite Hälfte der 1460er Jahre wäre also auf jeden Fall denkbar: Auch soltu hie wissen vnd eben mercken, das zu der zeit, do keiser Friederich der dritt hoit regiert, haben zum dickern male erschienen vnd sint gesehen worden die cometen. Das sein stern mit langen schwentzen. Die sone ist vil tag blahe gesehen worden vnd ein creutz ist gesehen worden inn dem mone vnd vil anders wunders an dem himmel (Matthias von Kemnat, Chronik Friedrichs I. des Siegreichen, in: Quellen zur Geschichte Friedrich’s des Siegreichen. Erster Band: Matthias von Kemnat und Eikhart Artzt, hg. v. C. Hofmann, München 1862 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, 2), S. 1-141, hier: S. 87).

[40] Das Geschichtswerk des Kritobulos von Imbros (wie Anm. 10), S. 277.

[41] Ebd., S. 327. Tatsächlich gibt es im ganzen Jahr 1464 bis 20. September 1465 keine Sonnenfinsternis, die im Gebiet des heutigen Griechenland und der Türkei hätte sichtbar sein können, vgl. http://eclipse.gsfc.nasa.gov/SEcat5/SE1401-1500.html

[42] De’er Zhang (ed), A compendium of Chinese Meteorological Records of the last 3,000 years, 4 vols., Nanjing 2004. Relevant ist hier Bd. 2 mit Quellen für die Ming-Dynastie (1368-1643).

[43] Meteorologische Ereignisse werden knapp beschrieben: „severe flood“, „long drought“, continuous rainfall”. Ob dies der kompilatorischen Arbeit der Herausgeber zu verdanken ist oder den Wortlaut der Originalquellen spiegelt, entzieht sich bereits der Kenntnis des Autors.

[44] 1460: 55% Hochwasser, 14% Dürre, 18% Dauerregen. – 1461: 38% Hochwasser, 29% Dauerregen, 22% Dürre. – 1462: 35% Hochwasser, 6% Dauerregen, 32% Dürre, 16% kein Schnee im Winter. – 1463: 33% Hochwasser, 29% Dauerregen, 33% Dürre. Die Prozentangaben beziehen sich auf die Gesamtzahl aller berichteten meteorologischen Extremereignisse, ohne dass diese gewichtet werden könnten.

[45] 1464: 42% Hochwasser, 17% Dauerregen, 6% Dürre. – 1465: 47% Hochwasser, 15% Dauerregen, 14% Dürre.

[46] February 17th, there was great fog, vgl. De’er (ed): A compendium of Chinese Meteorological Records, Bd. 2, S. 705. Für die Übersetzung ins Englische danke ich sehr herzlich Xiangyu Kong (Hangzhou) und Prof. Dr. Mao Zheng Wei (Hangzhou) für die Vermittlung.

[47] Xiangfan (seit 2010: Xiangyang), Provinz Hubei: Black balls like millets fell in Xiangyang; Shunde, heute Teil der Stadt Foshan, Provinz Guangdong (bei Hongkong): In the 6th month summer [5. Juli – 2. August 1464], black rice fell in Shunde, vgl De’er (ed): A compendium of Chinese Meteorological Records, vol. 2, 710.

[48] Richard B. Stothers, The Great Tambora Eruption in 1815 and Its Aftermath, in: Science. 224/4654 (1984), S. 1191–1198, hier S. 1193f.

[49] Károly Németh, Shane J. Cronin, James D.L. White, Kuwae Caldera and Climate Confusion, in: The Open Geology Journal 1/2007, S. 7-11.

[50] Sigl et al., A new bipolar ice core record, S. 1162.

[51] „historical accounts in Europe and China [Pang, 1993] suggest a volcanic eruption in late 1452/early 1453“ (Ebd., S. 1163); Historical evidence of unusual weather phenomena during 1453 also suggests an eruption took place at this time (Pang, 1993), but this historical evidence is primarily from the N[orthern] H[emisphere]” (Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record, S. 1936).

[52] „Often it is difficult to obtain reliable dates for reference horizons beyond recent history, especially in the Southern Hemisphere (SH), as historical documentation of eruptions is poor“ (Plummer et al., An independently dated 2000-yr volcanic record, S. 1930).

[53] Vgl. Bauch, The day the sun turned blue (wie Anm. 5), passim. Ähnliche Beobachtungen formulierte bisher mündlich Bruce M. Campbell, der wie der Autor dieses Beitrags eine Publikation zu den Konsequenzen des Samalas-Ausbruchs von 1257 vorbereitet.

[54] Michael Mann; Jose D. Fuentes; Scott Rutherford, Underestimation of volcanic cooling in tree-ring-based reconstructions of hemispheric temperatures, in: Nature Geoscience 5 (2012), S. 202-205.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5697

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Ausstellungsbesprechung: „Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514)“ (Bayerische Staatsbibliothek, München)

Portrait Hartmann Schedels aus BSB, Clm 30

Portrait Hartmann Schedels (Quelle: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30, f. 2v, Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, bearbeitet)

Im jubiläenreichen Jahr 2014 gesellte sich ein weiterer für die deutschen Humanismusforscher zwar prominenter, von der breiteren Öffentlichkeit jedoch eher wenig gefeierter Jubilar dazu: der Arzt und Sammler Hartmann Schedel (1440–1514). Anlässlich seines 500. Todestags organisierte die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) die Ausstellung „Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514)“ in ihrer Schatzkammer in München. Dass die BSB überhaupt in den Besitz dieser außerordentlichen Sammlung, die eine der seltenen geschlossenen deutschen Privatbibliotheken des Spätmittelalters darstellt, gekommen ist, hat sie Melchior Schedel (1516–1571), Hartmanns Enkel und letztem überlebenden Nachfahren, zu verdanken. Wenig an den Büchern seines Großvaters interessiert, überging er dessen ausdrücklichen Willen, dass seine Bücher alle in der Liberey […] beieinander bleiben und den namen der Schedel und [s]einen Kinden und iren nachkommen zu nutz behalten werden sollen1 und verkaufte 1552 die Bibliothek für 500 Gulden an den Augsburger Kaufmann Johann Jakob Fugger (1516–1575). Dieser, in Geldnöte geraten, trat sie wiederum zwei Jahrzehnte später an den bayerischen Herzog Albrecht V. ab, womit Schedels Sammlung trotz einiger Verluste als geschlossener Bestand in die Münchner Hofbibliothek, die Vorgängerinstitution der Bayerischen Staatsbibliothek, integriert werden konnte. Wer Hartmann Schedel heute dort sucht, wird ihn schnell finden, hat er doch in zahlreichen handschriftlichen und gedruckten Codices sein Monogramm HA. S. D.  – Hartmann Schedel doctor – hinterlassen. Von den über 370 Handschriften und 460 Drucken zeigt die Ausstellung eine repräsentative Auswahl von 40 Bänden, darunter fünf Ausgaben der Weltchronik aus dem 15. Jahrhundert und einige Leihgaben, die wichtige Stationen in Schedels Leben und sein ungewöhnlich vielschichtiges Sammelinteresse dokumentieren.

Die Ausstellung ist auf zwei Räume verteilt. In der Schatzkammer stehen Hartmann Schedels Biographie und seine Sammlung im Vordergrund. Schedel steht auch physisch prominent im Zentrum des kleinen Raumes, denn dort ist das Arzneibuch des süditalienischen Arztes Mattheus Silvaticus aus Salerno ausgestellt; weniger wegen des Inhalts als seiner Bedeutung für Schedels Biographie ist es bemerkenswert: Es enthält das bekannte, zeitgenössische Portrait Schedels aus der Zeit seiner ersten Heirat 1475, das nachträglich aus dem Familienbuch Schedels herausgelöst und in den Codex inseriert worden ist. Es zeigt ihn im langen roten Mantel des gelehrten Arztes und mit roter Kopfbedeckung. Wie ein Gravitationszentrum scheint er so die rundherum angeordneten Schaukästen zusammenzuhalten.

Die Ausstellung beginnt mit zwei wichtigen Handschriften aus Schedels Besitz, seinem persönlichen Exemplar der lateinischen Weltchronik, das nicht nur auf Grund seiner prächtigen Ausstattung, sondern auch wegen der zahlreichen Beigaben und handschriftlichen Zusätze des Autors wertvoll ist, und der Abschrift des Familienbuchs für seinen Enkel Melchior (um 1552). Dieser Liber genealogiae et rerum familiarium ist im Original bis auf das bereits genannte Portrait verloren und nur durch zwei frühneuzeitliche Abschriften, die Johann Jakob Fugger nach dem Ankauf der Bibliothek anfertigen ließ, zu rekonstruieren. Beide sind als Leihgaben der Staatsbibliothek zu Berlin –Preußischer Kulturbesitz und aus Privatbesitz im ersten Ausstellungsraum zu sehen. Bereits hier ist die konzeptionelle Klammer zum letzten Exponat der Ausstellung aufgemacht, der Familienchronik und der Autobiographie des Melchior Schedel (um 1570), für die Hartmanns Enkel das Familienbuch als Quelle benutzte. Sie ist als Leihgabe der Landesbibliothek Coburg im zweiten Ausstellungsraum in einem eigenen Schaukasten zu besichtigen.

Im Uhrzeigersinn führen die weiteren Schaukästen durch Schedels Studienzeiten in Leipzig (1456–1463) und Padua (1463–1466). Dazwischen verklammern Wandtafeln mit Basisinformationen die Schaukästen. Ausgewählte Studien- und Fachliteratur zeigen Schedel als vielseitigen Studenten, der bald ein ausgeprägtes Interesse am Humanismus entwickelte und seine Büchersammlung dahingehend auch systematisch erweiterte. Neben medizinischer Fachliteratur ist zum Beispiel auch seine älteste Studienhandschrift (1456–1459) zu sehen, die Einblick in das Grundstudium gibt, das er in Leipzig absolvierte; ein Liederbuch dokumentiert wiederum nicht nur sein Interesse an Musik, sondern stellt auch eine selten überlieferte Quelle des 15. Jahrhunderts dar; mit dem Wechsel nach Padua für das Medizinstudium konnte Schedel auch seinen humanistischen Neigungen besser nachgehen. So erwarb er zahlreiche „Klassiker“ des italienischen Humanismus, zum Beispiel den ausgestellten Druck der Commedia Dantes. Ein kleines Elementarlehrbuch der griechischen Sprache zeigt außerdem, dass er nicht nur Latein beherrschte, sondern sich in Padua auch an einer weiteren, in dieser Zeit kaum mehr verbreiteten Fremdsprache versuchte. Dass er sie mit recht beachtlichem Erfolg gemeistert hat, wird im Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus deutlich. Darin hatte Schedel zahlreiche Inschriften, darunter auch viele griechische gesammelt. Dieses epigraphische Großwerk ist monumentaler Ausdruck von Schedels lebenslanger, antiquarischer Sammelleidenschaft.

Schön gelungen ist, dass neben Schedel auch andere Familienmitglieder und sogar seine akademischen Lehrer durch die ausgestellten Bücher immer wieder in Erscheinung treten. So geben ein Rechenbuch und ein venezianisch-nürnbergisches Sprachbuch Einblick in die kaufmännische Ausbildung des jüngeren Bruders Johannes, eine Bibelhandschrift führt zu den Grabners, der Familie von Schedels Mutter, schließlich wird Hermann Schedel, Hartmanns Vetter, durch eine vererbte Handschrift des Petrus de Abano sichtbar und etwas später findet man auch seine Söhne in einer astronomisch-astrologischen Handschrift, in die Schedel die Horoskope anlässlich ihrer Geburt eingetragen hat. Seine Professoren und Vorlesungen in Padua hielt Schedel in einer Liste am Ende des repräsentativen Codex Clm 13 fest. Zweien widmete er darin jeweils eine Seite mit Epigramm und den Portraits der Mediziner; über seinen hochverehrten Doktorvater Matteolo Mattioli verfasste er zudem eine sehr persönliche Biographie in der Weltchronik, die nicht nur dessen Fachexpertise, sondern auch seine Gelehrsamkeit in den Sieben Freien Künsten und in der Theologie rühmte. Diese ist allerdings nicht eigens ausgestellt.

Von der medizinischen Praxis Schedels zeugen das ausgestellte Rezeptarium, das ebenso als eine Art Kartei seiner Nördlinger und Amberger Patienten gelesen werden könnte. Für seine Nürnberger Zeit existiert ebenfalls ein Rezeptbuch, in das Schedel außer den ärztlichen Aufzeichnungen ein in mehrere Gruppen geordnetes Inventar seiner Bücher eingetragen hat. Es steht am Ende der Ausstellung und erinnert den Besucher daran, dass es hier um weit mehr als die 40 ausgestellten Bücher geht, nämlich um eine so immense Sammlung, die einen systematischen Katalog erforderlich gemacht hatte, um die benötigte Fachliteratur schnell zu finden.

Während seiner praktischen Tätigkeiten versorgte sich Schedel natürlich weiterhin mit aktueller medizinischer Fachliteratur, beschaffte sich zum Beispiel das erste deutsche Lehrbuch der Chirurgie oder Ausgaben von Hans Folz’ medizinischen Reimpaargedichten. Nebenbei hielt er sich über allerlei Neuerscheinungen in Italien und Deutschland auf dem Laufenden, wie die gedruckten Bücheranzeigen und manche „Bestellliste“ aus seinem Besitz dokumentieren. In diesem Teil der Ausstellung deutet sich schon der Übergang vom handschriftlichen Codex zum gedruckten Buch an, der sich auch in Schedels Bibliothek niedergeschlagen hat und der nun zum zweiten Teil der Ausstellung, der Weltchronik, überleitet.

Nach dem Durchgang durch Schedels Leben ist der Raum vor der Schatzkammer der Weltchronik gewidmet. Thematisiert werden ihre Hauptquellen, aber auch die Nachdrucke und erste Initiativen zur Überarbeitung und Ergänzung der Informationen. Hervorzuhaben sind darunter vielleicht Schedels Hauskalender für die Jahre 1502–1510, in denen er Familiennachrichten und wichtige Ereignisse wie seine eigene Erkrankung oder den Tod des langjährigen Freundes Hieronymus Münzer (1437–1508) eintrug, und ein eigenhändiger Brief des Johannes Trithemius (1462–1516) von 1502, mit dem er eine ausgeliehene Handschrift an Schedel zurücksandte. Dem, dass Schedel nur auf Grund seiner umfangreichen Büchersammlung in so kurzer Zeit die monumentale Weltchronik hat zusammenstellen können, wird man leicht zustimmen, nachdem im Raum vorher diese gelehrte Fachbibliothek vor dem geistigen Auge des Betrachters wiedererstanden ist. Wer weitere visuelle Hilfe braucht, dem bietet sich eine PC-Station, an der man die virtuelle Bibliothek Schedels durchstöbern kann.

Zusammenfassend kann man die Ausstellung durchaus als gelungen bezeichnen. Schon der geringe Platz macht eine Auswahl an Exponaten nötig. Dazu ist eine Ausstellung in einer Bibliothek über Bücher mit dem naheliegenden Problem konfrontiert, dass, nun ja, eben viele Bücher in den Schaukästen liegen. Doch ist der Platz gut genutzt, die Auswahl der Exponate sehr treffend und auch der Medieneinsatz sorgt in dem kleinen Rahmen für eine sinnvolle Informationsfülle. In den wenigen, aber sorgfältig ausgewählten und präsentierten Büchern werden pointiert Lebensstationen Schedels gezeigt. Die großen Aufsteller zur Weltchronik geben über das bloße Buch hinaus Einblick in den Produktionsprozess eines spätmittelalterlichen Bestsellers. Beeindruckend für den aufmerksamen Betrachter ist hier sicher die Information, dass die Financiers mit einem Kapital von 1000 Gulden einstanden, während vorher bereits Schedels jährlicher Grundverdienst als Stadtarzt in Nördlingen mit 40 Gulden beziffert wurde. Für den Fachwissenschaftler gibt es außerdem Highlights wie die Familienbücher, die Rezeptbücher, das Handexemplar der Weltchronik, den Liber antiquitatum und natürlich auch die Leihgaben. Wer der Faszination des Originals weiterhin erliegt, den stört es auch nicht, dass, nun ja, eben viele Bücher in den Schaukästen liegen.

Zur Ausstellung ist ein sehr schöner Katalog erschienen. Die Konzeption folgt dem Aufbau der Weltchronik. Das erst alter verfolgt den Aufstieg und Niedergang der Nürnberger Familie Schedel, anschließend werden Schedels Studienzeit in Leipzig und Padua, seine Tätigkeit als Stadtarzt in Nördlingen, Amberg und Nürnberg, seine Sammelinteressen und die Bibliothek, die Weltchronik und schließlich, im sibend alter, seine Bücher und ihr Schicksal behandelt. Jeweils ein einführender Aufsatz umreißt knapp und präzise die Lebensstation bzw. den Ausstellungsbereich. Es ist absolut empfehlenswert direkt mit dem Katalog durch die Ausstellung zu gehen. Denn die Wandtafeln und Schilder geben zwar einige Basisinformationen zu den jeweiligen Exponaten, doch sind diese im ersten Fall sehr knapp, im zweiten bibliographischer Natur, d.h. sie geben Titel, Material, Entstehungsort und –datum, Signatur, Folioangaben etc. an. Schön ist dabei, dass jeweils zusätzlich über die aufgeschlagenen Seiten informiert wird. Über den historischen Kontext und konkreten Entstehungszusammenhang, die Überlieferungsgeschichte und andere Besonderheiten, kurz: „den Sitz im Leben“ der jeweiligen Handschrift, geben nur die Artikel im Katalog fachkundig Auskunft. Durch ein eigenes PC-Symbol wird auch auf bereits digitalisierte Bände hingewiesen.

Dass Schedel nicht ohne sein Monumentalwerk der Weltchronik gezeigt werden kann, ist verständlich, umso schöner ist es, dass eine Woche nach der Eröffnung der Ausstellung in München am 28. und 29. November im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg die Jahrestagung der Willibald-Pirckheimer-Gesellschaft zur Erforschung von Renaissance und Humanismus e.V. zum Thema „Hartmann Schedel (1440–1514). Leben und Werk“ stattfand, wobei die Biographie und das Umfeld Schedels im Vordergrund standen. Wie eng die Kooperation und Abstimmung zwischen der Bayerischen Staatsbibliothek und der Pirckheimer-Gesellschaft war, zeigt nicht nur der Umstand, dass die Kuratorin Dr. Bettina Wagner als Referentin eingeladen war, sondern auch, dass die Vorträge die in der Ausstellung behandelten Themen aufgriffen, vertieften und auch sinnvoll erweiterten. Schedels Bücher bildeten bei vielen Vorträgen selbstredend die Basis der Ausführungen, doch kam hier wieder verstärkt der Mensch hinter den Büchern hervor. Erst wenn also das zugehörige Jahrbuch der Gesellschaft erscheinen wird, wird der Interessierte rundum informiert sein über die bekannteste Büchersammlung an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 1. März. Es sind zwei Youtube-Videos und eine Bildergalerie verfügbar.

Zitationsempfehlung/Suggested citation: Karoline Döring: Ausstellungsbesprechung: „Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514)“ (Bayerische Staatsbibliothek, München), in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 19. Februar 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5303 (ISSN 2197-6120).

  1. Vgl. den Ausstellungskatalog: Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514), hrsg. von der Bayerischen Staatsbibliothek, München 2014, S. 155

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5303

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Ausstellungsbesprechung: „Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514)“ (Bayerische Staatsbibliothek, München)

Portrait Hartmann Schedels aus BSB, Clm 30

Portrait Hartmann Schedels (Quelle: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 30, f. 2v, Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0, bearbeitet)

Im jubiläenreichen Jahr 2014 gesellte sich ein weiterer für die deutschen Humanismusforscher zwar prominenter, von der breiteren Öffentlichkeit jedoch eher wenig gefeierter Jubilar dazu: der Arzt und Sammler Hartmann Schedel (1440–1514). Anlässlich seines 500. Todestags organisierte die Bayerische Staatsbibliothek (BSB) die Ausstellung „Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514)“ in ihrer Schatzkammer in München. Dass die BSB überhaupt in den Besitz dieser außerordentlichen Sammlung, die eine der seltenen geschlossenen deutschen Privatbibliotheken des Spätmittelalters darstellt, gekommen ist, hat sie Melchior Schedel (1516–1571), Hartmanns Enkel und letztem überlebenden Nachfahren, zu verdanken. Wenig an den Büchern seines Großvaters interessiert, überging er dessen ausdrücklichen Willen, dass seine Bücher alle in der Liberey […] beieinander bleiben und den namen der Schedel und [s]einen Kinden und iren nachkommen zu nutz behalten werden sollen1 und verkaufte 1552 die Bibliothek für 500 Gulden an den Augsburger Kaufmann Johann Jakob Fugger (1516–1575). Dieser, in Geldnöte geraten, trat sie wiederum zwei Jahrzehnte später an den bayerischen Herzog Albrecht V. ab, womit Schedels Sammlung trotz einiger Verluste als geschlossener Bestand in die Münchner Hofbibliothek, die Vorgängerinstitution der Bayerischen Staatsbibliothek, integriert werden konnte. Wer Hartmann Schedel heute dort sucht, wird ihn schnell finden, hat er doch in zahlreichen handschriftlichen und gedruckten Codices sein Monogramm HA. S. D.  – Hartmann Schedel doctor – hinterlassen. Von den über 370 Handschriften und 460 Drucken zeigt die Ausstellung eine repräsentative Auswahl von 40 Bänden, darunter fünf Ausgaben der Weltchronik aus dem 15. Jahrhundert und einige Leihgaben, die wichtige Stationen in Schedels Leben und sein ungewöhnlich vielschichtiges Sammelinteresse dokumentieren.

Die Ausstellung ist auf zwei Räume verteilt. In der Schatzkammer stehen Hartmann Schedels Biographie und seine Sammlung im Vordergrund. Schedel steht auch physisch prominent im Zentrum des kleinen Raumes, denn dort ist das Arzneibuch des süditalienischen Arztes Mattheus Silvaticus aus Salerno ausgestellt; weniger wegen des Inhalts als seiner Bedeutung für Schedels Biographie ist es bemerkenswert: Es enthält das bekannte, zeitgenössische Portrait Schedels aus der Zeit seiner ersten Heirat 1475, das nachträglich aus dem Familienbuch Schedels herausgelöst und in den Codex inseriert worden ist. Es zeigt ihn im langen roten Mantel des gelehrten Arztes und mit roter Kopfbedeckung. Wie ein Gravitationszentrum scheint er so die rundherum angeordneten Schaukästen zusammenzuhalten.

Die Ausstellung beginnt mit zwei wichtigen Handschriften aus Schedels Besitz, seinem persönlichen Exemplar der lateinischen Weltchronik, das nicht nur auf Grund seiner prächtigen Ausstattung, sondern auch wegen der zahlreichen Beigaben und handschriftlichen Zusätze des Autors wertvoll ist, und der Abschrift des Familienbuchs für seinen Enkel Melchior (um 1552). Dieser Liber genealogiae et rerum familiarium ist im Original bis auf das bereits genannte Portrait verloren und nur durch zwei frühneuzeitliche Abschriften, die Johann Jakob Fugger nach dem Ankauf der Bibliothek anfertigen ließ, zu rekonstruieren. Beide sind als Leihgaben der Staatsbibliothek zu Berlin –Preußischer Kulturbesitz und aus Privatbesitz im ersten Ausstellungsraum zu sehen. Bereits hier ist die konzeptionelle Klammer zum letzten Exponat der Ausstellung aufgemacht, der Familienchronik und der Autobiographie des Melchior Schedel (um 1570), für die Hartmanns Enkel das Familienbuch als Quelle benutzte. Sie ist als Leihgabe der Landesbibliothek Coburg im zweiten Ausstellungsraum in einem eigenen Schaukasten zu besichtigen.

Im Uhrzeigersinn führen die weiteren Schaukästen durch Schedels Studienzeiten in Leipzig (1456–1463) und Padua (1463–1466). Dazwischen verklammern Wandtafeln mit Basisinformationen die Schaukästen. Ausgewählte Studien- und Fachliteratur zeigen Schedel als vielseitigen Studenten, der bald ein ausgeprägtes Interesse am Humanismus entwickelte und seine Büchersammlung dahingehend auch systematisch erweiterte. Neben medizinischer Fachliteratur ist zum Beispiel auch seine älteste Studienhandschrift (1456–1459) zu sehen, die Einblick in das Grundstudium gibt, das er in Leipzig absolvierte; ein Liederbuch dokumentiert wiederum nicht nur sein Interesse an Musik, sondern stellt auch eine selten überlieferte Quelle des 15. Jahrhunderts dar; mit dem Wechsel nach Padua für das Medizinstudium konnte Schedel auch seinen humanistischen Neigungen besser nachgehen. So erwarb er zahlreiche „Klassiker“ des italienischen Humanismus, zum Beispiel den ausgestellten Druck der Commedia Dantes. Ein kleines Elementarlehrbuch der griechischen Sprache zeigt außerdem, dass er nicht nur Latein beherrschte, sondern sich in Padua auch an einer weiteren, in dieser Zeit kaum mehr verbreiteten Fremdsprache versuchte. Dass er sie mit recht beachtlichem Erfolg gemeistert hat, wird im Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus deutlich. Darin hatte Schedel zahlreiche Inschriften, darunter auch viele griechische gesammelt. Dieses epigraphische Großwerk ist monumentaler Ausdruck von Schedels lebenslanger, antiquarischer Sammelleidenschaft.

Schön gelungen ist, dass neben Schedel auch andere Familienmitglieder und sogar seine akademischen Lehrer durch die ausgestellten Bücher immer wieder in Erscheinung treten. So geben ein Rechenbuch und ein venezianisch-nürnbergisches Sprachbuch Einblick in die kaufmännische Ausbildung des jüngeren Bruders Johannes, eine Bibelhandschrift führt zu den Grabners, der Familie von Schedels Mutter, schließlich wird Hermann Schedel, Hartmanns Vetter, durch eine vererbte Handschrift des Petrus de Abano sichtbar und etwas später findet man auch seine Söhne in einer astronomisch-astrologischen Handschrift, in die Schedel die Horoskope anlässlich ihrer Geburt eingetragen hat. Seine Professoren und Vorlesungen in Padua hielt Schedel in einer Liste am Ende des repräsentativen Codex Clm 13 fest. Zweien widmete er darin jeweils eine Seite mit Epigramm und den Portraits der Mediziner; über seinen hochverehrten Doktorvater Matteolo Mattioli verfasste er zudem eine sehr persönliche Biographie in der Weltchronik, die nicht nur dessen Fachexpertise, sondern auch seine Gelehrsamkeit in den Sieben Freien Künsten und in der Theologie rühmte. Diese ist allerdings nicht eigens ausgestellt.

Von der medizinischen Praxis Schedels zeugen das ausgestellte Rezeptarium, das ebenso als eine Art Kartei seiner Nördlinger und Amberger Patienten gelesen werden könnte. Für seine Nürnberger Zeit existiert ebenfalls ein Rezeptbuch, in das Schedel außer den ärztlichen Aufzeichnungen ein in mehrere Gruppen geordnetes Inventar seiner Bücher eingetragen hat. Es steht am Ende der Ausstellung und erinnert den Besucher daran, dass es hier um weit mehr als die 40 ausgestellten Bücher geht, nämlich um eine so immense Sammlung, die einen systematischen Katalog erforderlich gemacht hatte, um die benötigte Fachliteratur schnell zu finden.

Während seiner praktischen Tätigkeiten versorgte sich Schedel natürlich weiterhin mit aktueller medizinischer Fachliteratur, beschaffte sich zum Beispiel das erste deutsche Lehrbuch der Chirurgie oder Ausgaben von Hans Folz’ medizinischen Reimpaargedichten. Nebenbei hielt er sich über allerlei Neuerscheinungen in Italien und Deutschland auf dem Laufenden, wie die gedruckten Bücheranzeigen und manche „Bestellliste“ aus seinem Besitz dokumentieren. In diesem Teil der Ausstellung deutet sich schon der Übergang vom handschriftlichen Codex zum gedruckten Buch an, der sich auch in Schedels Bibliothek niedergeschlagen hat und der nun zum zweiten Teil der Ausstellung, der Weltchronik, überleitet.

Nach dem Durchgang durch Schedels Leben ist der Raum vor der Schatzkammer der Weltchronik gewidmet. Thematisiert werden ihre Hauptquellen, aber auch die Nachdrucke und erste Initiativen zur Überarbeitung und Ergänzung der Informationen. Hervorzuhaben sind darunter vielleicht Schedels Hauskalender für die Jahre 1502–1510, in denen er Familiennachrichten und wichtige Ereignisse wie seine eigene Erkrankung oder den Tod des langjährigen Freundes Hieronymus Münzer (1437–1508) eintrug, und ein eigenhändiger Brief des Johannes Trithemius (1462–1516) von 1502, mit dem er eine ausgeliehene Handschrift an Schedel zurücksandte. Dem, dass Schedel nur auf Grund seiner umfangreichen Büchersammlung in so kurzer Zeit die monumentale Weltchronik hat zusammenstellen können, wird man leicht zustimmen, nachdem im Raum vorher diese gelehrte Fachbibliothek vor dem geistigen Auge des Betrachters wiedererstanden ist. Wer weitere visuelle Hilfe braucht, dem bietet sich eine PC-Station, an der man die virtuelle Bibliothek Schedels durchstöbern kann.

Zusammenfassend kann man die Ausstellung durchaus als gelungen bezeichnen. Schon der geringe Platz macht eine Auswahl an Exponaten nötig. Dazu ist eine Ausstellung in einer Bibliothek über Bücher mit dem naheliegenden Problem konfrontiert, dass, nun ja, eben viele Bücher in den Schaukästen liegen. Doch ist der Platz gut genutzt, die Auswahl der Exponate sehr treffend und auch der Medieneinsatz sorgt in dem kleinen Rahmen für eine sinnvolle Informationsfülle. In den wenigen, aber sorgfältig ausgewählten und präsentierten Büchern werden pointiert Lebensstationen Schedels gezeigt. Die großen Aufsteller zur Weltchronik geben über das bloße Buch hinaus Einblick in den Produktionsprozess eines spätmittelalterlichen Bestsellers. Beeindruckend für den aufmerksamen Betrachter ist hier sicher die Information, dass die Financiers mit einem Kapital von 1000 Gulden einstanden, während vorher bereits Schedels jährlicher Grundverdienst als Stadtarzt in Nördlingen mit 40 Gulden beziffert wurde. Für den Fachwissenschaftler gibt es außerdem Highlights wie die Familienbücher, die Rezeptbücher, das Handexemplar der Weltchronik, den Liber antiquitatum und natürlich auch die Leihgaben. Wer der Faszination des Originals weiterhin erliegt, den stört es auch nicht, dass, nun ja, eben viele Bücher in den Schaukästen liegen.

Zur Ausstellung ist ein sehr schöner Katalog erschienen. Die Konzeption folgt dem Aufbau der Weltchronik. Das erst alter verfolgt den Aufstieg und Niedergang der Nürnberger Familie Schedel, anschließend werden Schedels Studienzeit in Leipzig und Padua, seine Tätigkeit als Stadtarzt in Nördlingen, Amberg und Nürnberg, seine Sammelinteressen und die Bibliothek, die Weltchronik und schließlich, im sibend alter, seine Bücher und ihr Schicksal behandelt. Jeweils ein einführender Aufsatz umreißt knapp und präzise die Lebensstation bzw. den Ausstellungsbereich. Es ist absolut empfehlenswert direkt mit dem Katalog durch die Ausstellung zu gehen. Denn die Wandtafeln und Schilder geben zwar einige Basisinformationen zu den jeweiligen Exponaten, doch sind diese im ersten Fall sehr knapp, im zweiten bibliographischer Natur, d.h. sie geben Titel, Material, Entstehungsort und –datum, Signatur, Folioangaben etc. an. Schön ist dabei, dass jeweils zusätzlich über die aufgeschlagenen Seiten informiert wird. Über den historischen Kontext und konkreten Entstehungszusammenhang, die Überlieferungsgeschichte und andere Besonderheiten, kurz: „den Sitz im Leben“ der jeweiligen Handschrift, geben nur die Artikel im Katalog fachkundig Auskunft. Durch ein eigenes PC-Symbol wird auch auf bereits digitalisierte Bände hingewiesen.

Dass Schedel nicht ohne sein Monumentalwerk der Weltchronik gezeigt werden kann, ist verständlich, umso schöner ist es, dass eine Woche nach der Eröffnung der Ausstellung in München am 28. und 29. November im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg die Jahrestagung der Willibald-Pirckheimer-Gesellschaft zur Erforschung von Renaissance und Humanismus e.V. zum Thema „Hartmann Schedel (1440–1514). Leben und Werk“ stattfand, wobei die Biographie und das Umfeld Schedels im Vordergrund standen. Wie eng die Kooperation und Abstimmung zwischen der Bayerischen Staatsbibliothek und der Pirckheimer-Gesellschaft war, zeigt nicht nur der Umstand, dass die Kuratorin Dr. Bettina Wagner als Referentin eingeladen war, sondern auch, dass die Vorträge die in der Ausstellung behandelten Themen aufgriffen, vertieften und auch sinnvoll erweiterten. Schedels Bücher bildeten bei vielen Vorträgen selbstredend die Basis der Ausführungen, doch kam hier wieder verstärkt der Mensch hinter den Büchern hervor. Erst wenn also das zugehörige Jahrbuch der Gesellschaft erscheinen wird, wird der Interessierte rundum informiert sein über die bekannteste Büchersammlung an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 1. März. Es sind zwei Youtube-Videos und eine Bildergalerie verfügbar.

Zitationsempfehlung/Suggested citation: Karoline Döring: Ausstellungsbesprechung: „Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514)“ (Bayerische Staatsbibliothek, München), in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 19. Februar 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5303 (ISSN 2197-6120).

  1. Vgl. den Ausstellungskatalog: Welten des Wissens. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514), hrsg. von der Bayerischen Staatsbibliothek, München 2014, S. 155

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5303

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Das DX7R1 Friedrich Barbarossas

Ich weiß nicht, was Friedrich Barbarossa am 26. März 1162 auf dem Weg nach Mailand tat. Wenn er sich zugleich bibelfest und christophanisch-anmaßend betätigt hätte, dann wohl Folgendes:

„Und als er sich näherte und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: 'Wenn auch du erkannt hättest, und selbst an diesem deinem Tage, was zu deinem Frieden dient! […] Denn Tage werden über dich kommen, da werden deine Feinde einen Wall um dich aufschütten und dich umzingeln und dich von allen Seiten einengen; und sie werden dich und deine Kinder in dir zu Boden werfen und werden in dir nicht einen Stein auf dem anderen lassen, darum daß du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.'“1

Vielleicht hatte Mailand die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt. Vielleicht hatte die stolze Po-Metropole die Entschlossenheit ihres Gegners unterschätzt. Denn der bärtige Staufer aus dem Norden hatte ein Heer bei sich und Krieger, die für ihn kämpften.

Und später gab es Menschen, die wussten, warum die Kämpfer kämpften. Natürlich! Keine Frage! Die Soldaten zogen gegen Papisten und Partikularisten in die Schlacht und riefen „Für die Einheit des Deutschen Reiches! Gegen den Stachel der Stadtherrschaft im Fleisch des Stauferreichs!“ Und die Historiker grinsten zufrieden, denn Barbarossa siegte.

Dann kam Knut Görich und gab den Kämpfern einen neuen Schlachtruf. Heute schreien dieselben Krieger vor Mailand „Für die Ehre des Kaisers!“ Wiederum grinsten die Historiker_innen zufrieden, denn sie hatten abermals einen Sieg über ihre Vorgänger des 19. Jahrhunderts errungen.

Aber während wir den „Ehre, Ehre!“-Rufen lauschen, sollten wir unser Grinsen gegen einen skeptischen Gesichtsausdruck eintauschen und uns fragen, ob Mitbrüllen hier ratsam ist. Oder anders gefragt: Wenn wir „Ehre“ sagen – wie nahe sind wir dann an den „Ehre! Ehre“ schreienden Rittern des Rotbarts? Und: Wollten wir da eigentlich hin? Sollten wir so nah überhaupt sein?

Vor einigen Wochen fand in Tübingen ein Workshop zu „Ehre und Hof“ statt. Arrivierte und Nachwachsende diskutierten unterschiedliche Quellen aus unterschiedlichen Zeiten, in denen es um „Ehre“ gehen sollte. Auch der Verfasser war zugegen und verspürte bald das berühmte diffuse Unbehagen. Natürlich verhandelte man – und zuweilen heftig – Kleinfragen wie die nach der Zusammensetzung des Straßburger Aufgebots für den Italienzug 1401. Davor, danach und darüber jedoch schwebte etwas Diffuses über den Geistern. Und das Diffuse blieb namenlos.

Die „Ehre“ war allgegenwärtig und in jedem Satz. Weil man mit einem Wort allein keine Wissenschaft betreiben kann, bemühten sich alle, die Sache durch weitere Abstrakta konkreter zu machen. Die Vokabeln, die immer wieder zu hören waren -- in alphabetischer Reihenfolge:
Ansehen
Autorität
Gesichtswahrung
Prestige
Rang, Ranganspruch
Ruf
soziales Kapital
Status
Stellung
Stolz
Würde

Je mehr Ausdrücke fielen, desto weniger wusste ich, worüber eigentlich geredet wurde. Heute meine ich: All diese Ausdrücke zielen auf einen Kern.

Beginnen wir mit einer Kopfreise. Wenn wir uns aufmachen und Köpfe sezieren, bei Fackelschein und Neonlicht nachschauen, was in so einem mittelalterlichen Kopf eigentlich drin war – was würden wir finden? Bei Lateinkundigen fänden wir in der Vokabelschatztruhe sicherlich den honor. Kämen wir in einen mittelalterlichen Adelskopf, sähen wir sicherlich ein wohlgehegtes und gut gegärtnertes Pflänzchen namens „Ehre“. Ich bin sicher, dass es an zentraler Stelle wäre. Das „Ehre“-Pflänzchen aber wäre errichtet auf einem großen Haufen. Einem Sammelbecken mit Zuflüssen aus Bewusstem und Unbewusstem. Mit großen Brocken aus antrainierten Verhaltensweisen und Gruppendynamiken. Das alles in steter Umwälzung. Manchmal blitzten darin Dinge auf, denen wir Namen geben könnten: „Beleidigte Leberwurst!“, „Gerne-im-Mittelpunkt-Stehen“, „Wichtig-sein-Wollen“, „Anerkennung-haben-Wollen“. Aber das große Ganze betrachten wir ratlos. Im mittelalterlichen Kopf hat dieser Haufen kein Schild und wir haben kein Wort dafür. Beenden wir die Kopfreise an dieser Stelle, indem wir zugeben, dass sie zum einen nicht möglich ist und uns zum anderen in jedem Kopf mit anderen Dingen konfrontieren würde.

Tatsache aber ist – und darum geht es hier –, dass wir in Quellen etwas sehen, was uns zur Annahme berechtigt, dass das, was ich versucht habe, mit „Haufen“ zu beschreiben, in mehreren (und wichtigen) Köpfen vorhanden gewesen sein könnte. Es ist das Verdienst Knut Görichs, auf diesen Haufen im Mittelalterkopf aufmerksam gemacht zu haben. Viel zu lange haben Forschergenerationen den Haufen übersehen oder beiseite geräumt und nach Dingen wie „dem politischen Konzept“, den „verfassungsmäßigen Überzeugungen“ gesucht. Der Haufen ist wichtig und wir sollten ihn im Blick behalten. Aber es war wenig sinnvoll, diesen Haufen „Ehre“ zu nennen.

„Ehre“ heißt nämlich schon das Pflänzchen. Über Ehre stritten schon die Zeitgenossen. Man darf sich vorstellen, dass die Erzieher junger Adliger zugleich Ehrzieher waren und den kleinen Blaublütigen einbläuten, dass sie auf ihre Ehre zu achten hätten wie auf stets blitzende Waffen. Man sprach im 12. Jahrhundert von êre. (Natürlich, liebe Pedant_innen, nicht in dieser normalisierten Form, sondern in der jeweiligen Aussprache und Schreibweise des jeweiligen Dialekts des Mittelhochdeutschen.) Der Begriff „Ehre“ war da. Aber gemeint war damit nicht der ganze Haufen, nicht all das Diffuse, Unbewusste, das Chaos ohne Schild. Gemeint war das Pflänzchen. Der Haufen hatte keinen Namen. Und das ist ein Problem für uns.

Denn wir wissen viel zu selten, worüber wir eigentlich reden: Sprechen wir vom Pflänzchen, vom damaligen Ehr-Konzept, von der Ehr-Idee, von dessen Etikett, dem honor? Oder reden wir von dem diffusen Haufen aus Bewusstem und Unbewusstem, aus Gedanken, Vorstellungen, Debatten und antrainiertem Sozialverhalten, den wir in mittelalterlichen Köpfen sehen und dessen Kenntnis uns hilft, besser zu verstehen, was damals eigentlich vor sich ging?

Die Lösung des Problems ist einfach: Ein Ausdruck für den Haufen muss her, ein völlig unschuldiger. Kein Wort, das in irgendeiner Weise belastet wäre. Am besten international.

Und warum sich die Mühe machen, selbst etwas zu finden, wenn wir doch Elektroknechte haben, die das für uns tun können? Flugs einen String-Generator zur Hand, so lange, auf „generate“ gedrückt, bis etwas Schönes, Unvergebenes herauskam. Und geboren war das „DX7R1“.

Heißt das etwa, ich fordere Sätze wie „DX7R1 spielte im Elitengefüge und der sozialen Interaktion des 12. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle.“? Ja, genau das heißt das.

Vermieden ist damit zunächst das Waffen-SS-Problem. „Meine Ehre heißt Treue“ trugen sie auf dem Koppelschloss und das wirkte nach. 2004 schloss Herbert Maeger, ein ehemaliger Leibstandarten-Rottenführer, seine Kriegserinnerungen mit den Worten: „Am Ende verloren sie [die Angehörigen der Waffen-SS], die Überlebenden wie die Toten, ihre Ehre; ihre Treue war schon Jahre vorher von einer gewissenlosen Führung schamlos verraten worden.“2 Die „Ehre“ steckt mithin mittendrin im Vergangenheitsbewältigungsschlamassel. Ich weiß nicht, ob sie schon Versöhnungstreffen organisiert und Museen eröffnet hat, aber vollständig entnazifiziert ist sie nicht.

Für DX7R1 ist noch niemand in den Krieg gezogen, kein Blut vergossen worden und auch keins in Wallung geraten.

Ich weiß nicht, ob andere Ähnliches bereits machen oder vorgeschlagen haben.3 Durchgesetzt hat es sich – zumindest in der Mediävistik – bislang nicht. (Und was die Soziologen tun, ist mir zumeist herzlich egal.) Auch wenn dieser kleine Beitrag sicherlich nicht das Läuten aller Paradigmenwechsel-Glocken bewirkt, meine ich doch, dass Anregungen zu einer besseren methodischen Welt nötig sind.

Von der These, man dürfte Geschichte nicht mit modernen Begriffen schreiben, habe selbst ich schon gehört. Sie ist aber – zumindest in dieser meiner Zuspitzung – falsch und ein Denkfehler. Nicht in Quellenbegriffen zu sprechen ist ein Vorteil, kein Nachteil. Quellenbegriffe sind wie klammernde Mütter: Man fühlt sich bei ihnen zu Hause, geborgen, man hat es schön warm bei ihnen, sie hegen und pflegen uns. Aber sie lassen uns nicht gehen und nicht frei die Welt mit unseren Augen sehen. Man muss oft den berühmten Schritt hinaus in die Kälte machen, um Übersicht und Vogelperspektive zu gewinnen. Wir müssen uns dann und wann vom Quellenwortlaut lösen. Tun wir das, ziehen wir uns selbst aus dem Modemorast.

Das häufigste Substantiv in Regierungserklärungen Angela Merkels ist „Europa“. – Käme jemand auf die Idee, aus diesem Befund ihre Regierungspolitik zu verstehen? Ist jemals von einem seriösen Analysten dieser Satz zu erwarten: „Je öfter die Kanzlerin Europa sagt, desto mehr Kompetenzen will sie von Berlin nach Brüssel verlagern“? Politische Modewörter sind am Ende nur eines: Modewörter. Sie sagen zwar Einiges, aber nicht alles. Das war vor 1000 Jahren nicht anders. Manchmal sollten wir unseren Quellen – gerade den Urkunden – getrost zurufen: „Ihr redet in einem fort von honor? Ok, haben wir zur Kenntnis genommen und durchschaut. Das war eben euer 'Europa' und euer Modewort.“

Jedoch: Mit DX7R1 entkommen wir nicht nur, wir kommen auch weiter.

Noch einmal: Wenn wir von „Ehre“ reden, behaupten wir damit, dem zeitgenössischen Begriff davon zumindest nahezukommen. Wenn wir von DX7R1 reden, meinen wir den diffusen Haufen, der den zeitgenössischen Ehrbegriff umschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Diese Unterscheidung hilft uns, weiter zu fragen, genauere Fragen zu stellen.

Dass für Friedrich Barbarossa „Ehre“ wichtig war, wissen wir spätestens seit Görichs Habilitationsschrift von 2000. Die Frage aber, was das DX7R1 Barbarossas ausmachte, ist – bei allem Respekt vor der Leistung Görichs und anderer – noch ungeklärt. Von „Ehre“ redeten alle -- wo jedoch ist das speziell Königliche, das individuelle Friedrich'sche? Wie viel „Ich bin der König, ihr alle nicht und das muss ich euch allen ständig beweisen“, wie viel „Ich mach hier nur das, was alle Adligen machen“ und wie viel „beleidigte Leberwurst“ machte Barbarossas DX7R1-Mischung aus? Was machte sie aus handverlesenen Zutaten einzigartig im Geschmack? Antworten kommen wir nicht näher, wenn wir weiter nur über „Ehre“ sprechen.

Spannend wird es – das ist schon lange erkannt worden – im Angriffsfall. Wenn man einen anderen beleidigt, seine Position infrage stellt oder schmäht – dann kommt der Spannungsfall, dann kommt der Konflikt. Worin aber fühlten sich die Eliten des 12. Jahrhunderts dann und wann gekränkt? In ihrer „Ehre“ oder ihrem DX7R1? Natürlich kann man sich in etwas getroffen fühlen, für das man gar keinen Begriff hat. Ein vierjähriges Kind, das sich von seinen Eltern missachtet fühlt, kann sehr wohl in seinem DX7R1 beleidigt sein, in seiner „Ehre“ wohl kaum. Diese Unterscheidung hilft uns weiter. Fühlte man sich im 12. Jahrhundert im Konfliktfall hinsichtlich einer klar artikulierten Idee, eines klar umrissenen und anerzogenen Konzepts „Ehre“ getroffen – oder in einem diffusen Etwas, für das man keinen Begriff hatte? Antworten werden schwer zu finden sein, aber Fragen müssen gestellt werden.

Eng damit verbunden ist ein ätiologisches Problem: Warum fing man überhaupt an, von „Ehre“ zu sprechen? Auch hier hilft klare Begriffsscheidung: Vielleicht war der namenlose Haufen schuld. Vielleicht bekam man Angst vor ihm und seinen Abgründen. Man mag den diffusen Haufen, das DX7R1, gefühlt haben, man mag gesehen haben, zu welchen Reaktionen dieses wabernde Ding die Menschen trieb – und vielleicht begann man, sich zu fürchten und den Haufen einzuhegen. Man mag begonnen haben, den Abgrund mit einem Begriff zu begrünen, man erfand Regeln für den Haufen, man sperrte den Haufen in einen Diskurs und stülpte dem Abgrund ein Sicherungsnetz über, das man „Ehre“ nannte. Das ist gewiss Fiktion. Aber: Selbst wenn es diese Prozesse gegeben haben sollte und selbst wenn sie sich in Quellen niedergeschlagen haben sollten – solange wir DX7R1 nicht vom zeitgenössischen „Ehrbegriff“ trennen, bleiben wir blind für diese Fragen.

Schließlich können wir die leidige Frage – so sie denn überhaupt eine ist – ob „Ehre“ etwas „typisch Mittelalterliches“ sei, getrost im Recycling-Hof der Geschichte abgeben. Sie müsste jetzt nämlich lauten „Sagt es etwas über das Mittelalter, charakterisiert es gar diese Epoche, dass heutige Forscher das DX7R1 der Menschen zwischen 500 und 1500 gerne als 'Ehre' bezeichnen?“ – und führte damit ins Nichts. Aber: Was unterscheidet unser DX7R1 von dem Barbarossas? Darüber sollten wir reden!

In der politischen Berichterstattung der BRD des frühen 21. Jahrhunderts ist recht wenig von „Ehre“ die Rede, dafür aber viel von „Beschädigten“: „Nach Rücktritt Schavans: Merkel beschädigt“4 – Was genau an Merkel ist hier „beschädigt“? Wohl kaum ihr honor, aber mit Sicherheit ihr DX7R1! Nach den feinen Unterschieden und den grundsätzlichen Gemeinsamkeiten können wir jetzt endlich fragen.

Vielleicht kommen wir mit DX7R1 von einem allgemeinen Alteritätsgefühl zu speziellen Alteritätserkenntnissen.

[1] Lukas 19,41-44, Übersetzung: Elberfelder 1905

[2] Herbert Maeger, Verlorene Ehre - Verratene Treue. Zeitzeugenbericht eines Soldaten (Rosenheim 2005) S. 399

[3] Damit soll keineswegs gesagt werden, dass das Problem von Begriffsbildung und -nutzung noch nie thematisiert wurde. Das Gegenteil ist der Fall. Etwa Peter von Moos, Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus, in: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, hg. von Gert Melville und dems. ( Köln 1998) S. 3-83, hier bes. S. 10-11

[4] Frankfurter Rundschau vom 10. Februar 2013 http://www.fr-online.de/der-fall-schavan/nach-ruecktritt-schavans-merkel-beschaedigt-,21666736,21710698.html

Ein Hinweis in eigener Sache: Man mag mir vorwerfen, ich predige etwas Anderes, als ich tue. Ich habe an dieser Stelle vor wenigen Monaten eine neue Darstellungsart vorgeschlagen (die sich bislang nicht flächendeckend durchgesetzt hat). Ich habe seither für knochentrocken Quellenkritisches nichts Besseres entdeckt. Aber ein Essay wie das vorliegende will Leser_innen eher unterhalten und irritieren als kleinteilig argumentativ überzeugen. Es ist in diesem Sinne eher Kriminalroman als wissenschaftlicher Aufsatz.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5172

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Wissenschaftstheoretischer Ansatz der Festungsforschung

Bei einer Arbeit zur Geschichtswissenschaft in der Wissenschaftstheorie habe ich mich unter anderem mit der Frage auseinander gesetzt wie Geschichte als Wissenschaft funktioniert und ob durch die Perspektivität objektive Erkenntnisgewinne möglich sind. Für die Festungsforschung habe ich später etwas weiter … Weiterlesen

Quelle: http://fortifica.hypotheses.org/41

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