Legende und Geschichte – die römische Königszeit, Teil 4

Von Stefan Sasse
Dies ist der dritte Teil der Artikelserie. Im ersten Teil besprachen wir die ersten beiden mythischen Könige Roms, Romulus und Numa. Im zweiten Teil besprachen wir die folgenden beiden Könige, Hostilius und Marcius. Im dritten Teil widmeten wir uns den zwei nächsten Königen, Tullius und Priscus. In diesem abschließenden Teil betrachten wir den letzten König von Rom, Tarquinius Superbus. 

Tarquinius Superbus
Die Geschichte des Aufstiegs von Tarquinius Superbus ist bereits der eines Bösewichts würdig. Er war der Sohn oder Enkel (es gibt widerstreitende Überlieferungen) des fünften Königs von Rom, Lucius Tarquinius Priscus, und mit einer Frau namens Tullia verheiratet, die in bester römischer Tradition, die nur zwei weibliche Extremfiguren kennt - entweder die tugendhafte, vorbildliche Ehefrau oder die intrigante, ambitionierte und böse Schwiegermutter -, ihren Ehemann zum Putsch gegen König Nummer sechs, Servius, anstachelte. Tarquinius, von Haus aus eitel und leicht von solchen Schandtaten zu überzeugen (daher auch sein Name "Superbus", was sich als arrogant oder eitel übersetzen lässt), machte sich auch gleich daran und marschierte mit einer Bande bewaffneter Unterstützer in den Senat, wo er sich breitbeinig auf den Königsthron setzte (ein Hauch von Machismo gibt der Geschichte hier die notwendige Würze) und die Senatoren aufforderte, ihm zu huldigen, weil Servius ohnehin ein schlechter König sei.
Die Begründung, die Tarquinius Superbus hierfür gibt, ist, abgesehen von den obligatorischen ad-hominem-Attacken (Servius ist ein Sklave, der von einer Frau auf den Thron gesetzt wurde) von geradezu lächerlicher Ironie: Servius habe die unteren Klassen Roms den oberen vorgezogen und deren Reichtum öffentlich sichtbar gemacht, so dass die unteren Klassen unzufrieden wurden. Wenn man bedenkt, dass gerade diese Probleme die Republik zu Fall bringen würden ist das schon eine interessante Vorwegnahnme. Tarquinius etablierte sich danach als Bösewicht, indem er den heraneilenden Servius (der die exakt gleichen Vorwürfe in Richtung Tarquinius schleudert) die Treppen des Senatsgebäudes hinunterwerfen und den Verletzten danach niederstechen lässt. Seine Frau, ebenfalls im Public-Relations-Sektor tätig, trieb danach ihren eigenen Streitwagen über die Leiche, so dass die komplett bespritzt mit dem Blut des Königs zuhause ankam. Tarquinius weigerte sich später, den toten König beerdigen zu lassen.

Tarquinius Thronergreifung, Comic aus den 1850er Jahren
Diese Geschichte der Thronergreifung alleine ist schon viel zu gut, um wahr zu sein. Sie enthält alle Elemente, die die Römer in ihren Geschichten liebten: intrigante Frauen, Gewalt und den Konflikt vom virtus gegen die niederen Instinkte. Tarquinius und seine Frau Tullia werden als geradezu karikaturhaft böse dargestellt, was die Bühne für eine passende Regierungszeit ebnet. Diese beginnt auch gleich mit einigen Schauprozessen gegen feindlich gesinnte Senatoren. Deren Plätze füllte er danach nicht wieder auf, was den Senat effektiv verkrüppelte und zu einem reinen Akklamationsorgan machte. Dieser Zug bewies erneut seine Tyrannei: wären die Senatoren schuldig gewesen, spräche schließlich nichts gegen Nachernennungen. 

Tarquinius wandte seine Aufmerksamkeit dann nach außen, nach Latium, das er vollständig unter römische Kontrolle bringen wollte. Mit einer Reihe von geschickten Bündnissen und Verrat fiel Stadt um Stadt unter seine Kontrolle und vereinte ihre Truppen mit Rom. Seine Taktiken waren alles andere als fein: er versteckte etwa bei einer Konferenz mit latinischen Anführern Waffen in deren Hütten, die danach gefunden wurden - und die Latiner wegen Verrats getötet. Die Überlebenden und Nachfolger verstanden den Hinweis und folgten ihm. Eine andere renitente Stadt fiel, als sein Sohn, einen Bruch mit dem Vater vortäuschend, die Kontrolle übernahm und die örtliche Nobilität hinrichtete. Die Erfolge des Tarquinius waren daher auch von einer Aura des Ruchlosen und Ehrlosen umgeben. Ein ordentlicher Römer gewann schließlich in der männlichen, offenen Feldschlacht. Tarquinius konnte jedoch auch auf  eine Reihe genuiner Erfolge zurückblicken. Einige Ausbauten Roms, so etwa der Bau des großen Jupiter-Tempels und der Bau der Cloaka Maxima gehen auf sein Konto.

Michaelangelos Darstellung der Sibyll
Tarquinius gehört außerdem zum Rahmenprogramm einer der merkwürdigeren Sagen der römischen Frühzeit, der Legende der sibyllenischen Bücher. Sibyll war eine Art Orakel, die Tarquinius neun Bücher mit Prophezeiungen zu einem gewaltigen Preis anbot. Tarquinius lehnte ab, woraufhin Sibyll drei der Bücher verbrannte  und die restlichen sechs zum gleichen Preis erneut anbot. Tarquinius war schon unsicher, lehnte aber erneut ab, woraufhin Sibyll drei weitere verbrannte. Die restlichen drei kaufte Tarquinius nun. Die Römer konsultierten diese Bücher, die von speziellen Aristokraten bewacht wurden, bis zum Brand des Jupitertempels 85 v. Chr., woraufhin sie eine neue Sammlung sibyllischer Prophezeiungen aus dem ganzen Mittelmeerraum zusammenkauften, die sie bis zum Aufstieg des Christentums vor wichtigen Entscheidungen konsultierten. Hätte Tarquinius nur alle neun Bücher gekauft! 

Der Fall des Tarquinius kam, wie auch sein Aufstieg, durch eine Frau. Bei der Belagerung einer reichen Stadt namens Rutuli, die Tarquinius nur der Beute wegen belagerte, langweilten sich die adeligen Jungspunde mit Offiziersrang so sehr, dass sie begannen, gegenseitig die Treue ihrer Ehefrauen zu prüfen. Die einzige Frau, die der Prüfung standhielt, war Collatia - erneut sehen wir die typisch römische Figur der tugendhaften Ehefrau -, was die Leidenschaft von Tarquinius' Sohn Sextus erregte, der sie erpresste und zum Sex zwang. Collatia aber machte die Affäre danach öffentlich und beging dann Selbstmord. Als Reaktion auf diese Ehrverletzung der Nobilität schwor Collatius zusammen mit seinen Freunden Lucius Junius Brutus und Publius Valerius, die Tarquinier aus Rom zu vertreiben. Die ruinöse Baupolitik des Königs, der die Kassen Roms geleert hatte und angesichts des Misserfolgs der Belagerung von Rutini auch keine Aussicht auf Besserung hatte, tat sein Übriges. 

Lucius Junius Brutus
Da Brutus zur Leibgarde Tarquinius' gehörte, besaß er das Recht, die Ständeversammlung (comitia) einzuberufen, was er tat - und als Bühne für eine vernichtende Anklagerede gegen den König nutzte. Tarquinius, seine Frau Tullia und sein Sohn (der kurz darauf ermordet wurde) flüchteten aus der Stadt, und Brutus und Collatius wurden zu den ersten beiden Konsuln Roms gewählt. Natürlich wäre dies keine römische Geschichte ohne einen ordentlichen Verrat, und so zwang Brutus kurz darauf Collatius zum Rücktritt, um einen genehmeren Kollegen zu bekommen. Tarquinius indessen verbündete sich mit Roms altem Feind Veji und marschierte auf Rom, wurde aber von Brutus' Armee zurückgeschlagen. In der blutigen Schlacht fand Brutus den Tod; er hatte zuvor jedoch auch eine innenpolitische Verschwörung entdeckt und die Loyalisten Tarquinius' ohne viel Federlesens exekutieren lassen, darunter auch zwei eigene Söhne. Ohne Verbündete in der Stadt, die nun fest in den Händen der Republikaner war, wandte sich Tarquinius an den König von Clusium, Porsena. Der marschierte mit einer großen Armee auf Rom, das eine blutige Verteidigungsschlacht schlug, die ebenfalls in die römische Legende einging: angeblich gelang es Porsena fast, eine Brücke über den Tiber unter Kontrolle zu bekommen, bevor die Römer sie zerstören konnten. Ein tapferer Aristokrat namens Horatius hielt die feindliche Armee im Alleingang lange genug auf, dass die Brücke hinter ihm zerstört werden konnte und schwamm danach in Sicherheit. 

Solche angeblichen Heldentaten hin oder her, Rom wurde danach von Porsenas Armee belagert. Es ist unklar, ob Porsena Rom eroberte und kurzzeitig besetzte oder ob die Römer die Belagerung überstanden; so oder so zog Porsena aber bald ab und überließ Tarquinius dessen letztem Versuch, Rom zurückzuerobern. Dieses Mal stellte sich der Armee Tarquinius (im Bündnis mit der latinischen Stadt Tusculum) der erste Diktator Roms entgegen, Albus Postumius Albus, der in der Schlacht ebenfalls den Tod fand. Die Römer siegten knapp, und Tarquinius verschwand endgültig im Exil. Rom war eine Republik. 

Tyrannenmord
Zu den Gründungskernen der Republik gehörte die ungeheure Feindseligkeit gegenüber allem, was nach Tyrannei und Königtum roch. Zahlreiche Politiker der Republik fanden den Tod (oder ein abruptes Karriereende), weil man ihnen Aspirationen nach dem Königstitel unterstellte. Das letzte Opfer dieser Königs-Paranoia war Julius Cäsar, der allerdings in der Angelegenheit kaum als unschuldig gelten darf. Die ungeheure Bosheit des Tarquinius (die vermutlich deutlich übertrieben ist) diente den Römern dabei immer als bequeme Rechtfertigung dieser Ablehnung des Königstitels. Jeder, der die Alleinherrschaft anstrebte, musste sich mit Tarquinius vergleichen lassen - ein PR Albtraum. Letztlich aber diente auch die Geschichte von Tarquinius vor allem als ein pädagogisches Werk: wie die Könige vor ihm war Tarquinius immer dazu gut, bestimmte Lektionen über das, was die Römer als ihr Selbstverständnis betrachteten - virtus - zu erläutern. 

Die Könige waren keine historischen Figuren, sondern mystische Verzerrungen realer, historischer Persönlichkeiten. Vermutlich gab es auch mehr als sieben von ihnen. Ihre Geschichte aber wurde erst zu einer Zeit aufgeschrieben, als die ältesten Einwohner der Stadt allenfalls Großeltern hatten, die bei Tarquinius' Vertreibung dabeigewesen waren. Es verwundert daher nicht, dass die Geschichten zwar hervorragend die Lektionen hergeben, die die Römer gerne weitergeben wollten, aber vermutlich wenig auf historische Genauigkeit geben. Für uns sind sie daher eher ein Fenster ins Innenleben der römischen Seele als in das ihrer Vorgeschichte. 

Bildnachweise: 
Tarquinius Münze - Guillaume Rouille (Public Domain)
Comic - John Leech (Public Domain)
Sibyll - Michelangelo (Public Domain)
Brutus Büste  - Jastrow (Public Domain)
Tyrannenmord - Karl von Piloty (Public Domain)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/11/legende-und-geschichte-die-romische.html

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Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Eine ausführliche Rezension von Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit"

- Eine Gegenrede von Heinrich August Winkler zu Clarks "Schlafwandler". Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, als ob er deutlich mehr in das Buch reinliest, als drinsteht - ganz so wie seine Gegner, im Übrigen.

- Interview mit Götz Aly über Euthanasie im Dritten Reich.  

- 40 Karten, die das Römische Reich erklären (Englisch). Ich bin nicht überzeugt dass die irgendwas "erklären", aber es ist eine nette Kartensammlung. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/09/fundstucke.html

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Legende und Geschichte – die römische Königszeit, Teil 3

Von Stefan Sasse

Dies ist der dritte Teil der Artikelserie. Im ersten Teil besprachen wir die ersten beiden mythischen Könige Roms, Romulus und Numa. Im zweiten Teil besprachen wir die folgenden beiden Könige, Hostilius und Marcius. In dieser Folge widmen wir uns den zwei nächsten Königen, Tullius und Priscus.

Lucius Tarquinius Priscus
Der vierte König Roms, Ancus Marcius, hatte zwei Söhne. Da sich in der römischen Gesellschaft jener Tage das Erbschaftsprinzip noch nicht durchgesetzt hatte, leitete sich daraus auch kein Herrschaftsanspruch ab. Da beide Söhne bei Marcius' Tod nicht in der Stadt waren, hatte es der fünfte König, der etruskische Adelige Lucius Tarquinius Priscus, leicht, den Senat von der Eignung seiner eigenen Wahl zu überzeugen. Tarquinius Priscus war aus Etruria gekommen, wo er wegen seiner griechischen Wurzeln von einer politischen Laufbahn ausgeschlossen war. Bei seiner Ankunft in Rom hatte ein Adler ihm die Mütze weggenommen und wieder auf den Kopf gesetzt, ein Zeichen künftiger Größe, das Ancus Marcius dazu gebracht hatte, ihn zum Vormund seiner Kinder zu ernennen. Tarquinius vergrößerte den Senat (unter anderem um die Familie der Octavii, aus denen Augustus hervorgehen würde), führte Krieg gegen die Latiner und Sabiner, in deren Rahmen er die Zahl der equites verdoppelte, und brachte die Kriege mit Landgewinn für Rom zum Abschluss. In Rom selbst baute er den Circus Maximus, begann den Bau des Jupitertempels auf dem Kapitol und errichtete die Cloaka Maxima, um das Problem der Abwässer und Versumpfung in den Griff zu bekommen. Auf seine Herrschaft gehen außerdem viele römische Symbole zurück, etwa das Purpur als Königsfarbe oder der herrschaftliche, von vier Pferden gezogene Streitwagen. 


Es scheint, als ob wir mit Lucius Tarquinius Priscus langsam das Gelände der Mythen und Sagen verlassen und in belastbareres Territorium vorstoßen. Rom war in seiner Gründerzeit immer noch politisch von den Etruskern abhängig, so dass ein etruskischer Adeliger als römischer König durchaus Sinn macht. Tarquinius Priscus erwirbt auch gleich die notwendigen legitimatorischen Zeichen, die römische Herrscher sich später noch oft zusprechen würden: eine Prophezeiung (der Adler mit der Mütze), die den Herrscher als göttergewollt betrachtet, und militärischer Erfolg. Tarquinius Priscus besiegte Sabiner und Latiner und eroberte diverse Städte, was den Griff Roms auf das Umland festigte, und kehrte im Triumphzug nach Rom zurück, eine Praxis, die auch später die höchste Ehrung der Stadt sein und in der Kaiserzeit ausschließlich den Kaisern vorbehalten sein würde. Auf diese Art und Weise hatte er die Referenzen beisammen, die einen großen Römer in den Augen der Zeitgenossen ausmachten. Es fällt auf, die mundän diese Tätigkeiten sind. Die Sabiner und Latiner werden nicht entscheidend geschlagen, und einige Städte werden erobert - ein Erfolg, gewiss, aber nicht mehr legendär wie frühere Könige.

Cirus Maximus in einem Modell
Interessanter sind da seine politischen Reformen. Die Vergrößerung des Senats brachte eine Welle neuer, ihm getreuer Gefolgsleute in Roms Legislative, eine Taktik, die auch spätere Generationen gerne anwenden werden. Er verdoppelte außerdem die Ränge der equites, was eine deutliche Vergrößerung der Armee mit sich brachte, deren Ränge sich in jener Zeit noch aus den Besitzenden rekrutierten. Gleichzeitig verschaffte es Roms Mittelschicht eine breitere Basis, was für das spätere Wachstum der Stadt bedeutsam sein dürfte. Interessant sind auch seine baulichen Maßnahmen: der Circus Maximus, eines der Wahrzeichen der Stadt, wird auf ihn zurückgeführt und erlaubt das aristrokratische Vergnügen der Wagenrennen. Livius vermerkt in seinen Darstellungen, dass Patrizier und Senatoren sich im Circus eigene, erhöhte Logen bauten, was den legitimatorischen Charakter des Bauwerks unterstreicht, indem es Besuchern deutlich die Rangunterschiede zeigt. Gleiches gilt für den Bau des Jupitertempels, mit dem sich Tarquinius Priscus als legitimer König zeigt, der den Göttern huldigt. 

Der Bau der Cloaka Maxima schließlich ist für Rom von kaum zu überschätzender Bedeutung, da er das Problem von Seuchen reduziert und große Gebiete für den Bau von Gebäuden befreit, so dass auch das Gebiet zwischen den sieben Hügeln Roms bewohnbar wurde. Die Bedeutung des Königs liegt daher in einer Konsolidierung Roms, weniger in seiner Erweiterung. In Tarquinius Priscus' angeblicher Herrschaft wurden die Grundlagen gelegt, die es später zu einer Metropole und zur Herrscherin des Mittelmeers machten. Wie immer ist die tatsächliche Existenz sehr fraglich: Priscus regierte angeblich 38 Jahre lang, bevor er in einer Revolte ermordet wurde, und die vielen Bauvorhaben sind für einen Mann trotz dieser Länge beachtlich. Nichtsdestotrotz erreichen wir ein Stadium der römischen Geschichte, das glaubhafter erscheint als das vorhergehende. 

Servius Tullius
Die angesprochene Revolte war laut Livius eine Intrige der Söhne Ancus Marcius', um Tarquinius Priscus zu ermorden und selbst die Herrschaft zu übernehmen. Tarquinius Frau Tanaquil aber behauptete, der König sei nur verwundet und nutzte die Zeit, um Servius Tullius als Regenten zu proklamieren. Danach wurde der Tod Priscus' bestätigt und Tullius als neuer König ausgerufen. Weder Marcius' Söhne noch die Priscus' wurden so neue Könige - das Erbschaftsprinzip wurde ein letztes Mal abgewendet. Es bleibt unklar, ob Roms letzter König - Tarquinius Superbus - ein Sohn oder Enkel Tarquinius Priscus' war. So oder so würde zuerst Servius Tullius für, wir ahnen es, eine Periode von rund 40 Jahren herrschen.

Bereits sein Herrschaftsantritt ist von Unklarheiten überschattet: war er der erste König, der direkt vom Volk ausgerufen und vom Senat nicht bestätigt wurde, oder wurde er vom Senat gewählt, ohne dass das Volk gefragt wurde? So oder so war seine Wahl die erste ihrer Art. Wie so häufig umgibt auch ihn eine Prophezeiung: laut Livius erschien ein Feuerring um Tullius' Kopf, der zu seiner Königswahl führte. Niemand anderes als Kaiser Claudius erklärte dies später für Unsinn und erklärte ihn zu einem etruskischen Söldner. Servius' Herrschaft beginnt, wie könnte es anders sein, mit Krieg gegen Veiji und die Etrusker, was zu diesem Zeitpunkt als eine Art Mannbarkeitsprobe für römische Herrscher angesehen werden kann. Wie bereits bei Tarquinius Priscus ist das Resultat dieser Konflikte wenig relevant; bedeutsam ist, dass die militärischen Siege Tullius die notwendige Legitimität in den Augen der Römer verschafften. 

SPQR-Standarte
Bedeutsam aber sind die so genannten Servianischen Reformen, die Roms Entwicklung zu einer Republik zementierten. Unter Tullius erhielten wesentlich größere Teile der Bevölkerung das Wahlrecht, als dies bisher der Fall gewesen war. Das Wahlrecht wurde außerdem formalisiert (indem die Bevölkerung entsprechend ihres Vermögens und ihrer Steuerleistung in Klassen eingeteilt wurde, deren Stimmen unterschiedlich viel Gewicht besaßen, die so genannten Zenturien) und gleichzeitig das Gerichtswesen auf eine deutlich rechtsstaatlichere Grundlage gestellt, als dies bisher der Fall gewesen war - Grundlage des späteren Siegeszugs römischen Rechts. Unter Tullius wurden zudem die verbliebenen, bisher unerschlossenen drei der sieben römischen Hügel (besiedelt und die Stadt damit deutlich vergrößert (was gleichzeitig auch die Gruppe der Wahlberechtigten, die durch die Reformen bereits vergrößert worden war, noch einmal explodieren ließ). Für das einfache Volk und die Armen, die er mit einigen Sozialprogrammen bedachte, wurde Servius Tullius damit zu einem großen Helden und zum wohl beliebtesten Politiker seiner Zeit. Tullius machte sich damit allerdings viele Feinde. Tarquinius Superbus hatte eine seiner Töchter geheiratet, mit der konspirierte und Tullius auf den Stufen des Senats ermorderte, um selbst die Herrschaft anzutreten.

Auch die Herrschaft des Servius Tullius passt etwas zu gut in den römischen Gründungsmythos, um wahr zu sein, aber die Details seiner Herrschaft selbst lassen den Schluss zu, dass sie vergleichsweise akkurat sind. Die weitere Besiedlung Roms auf einen speziellen Herrscher festzuschreiben macht wenig Sinn, dürfte aber erst mit der städtischen Infrastruktur Tarquinius Priscus' wirklich möglich geworden sein. Gleichzeitig sind die Servianischen Reformen geradezu das Anlegen einer Straße zur Republik, auf die die späteren Gründer um Brutus nur zurückgreifen mussten. Die Republik konnte sich somit effektiv mit dem Willen des letzten "guten" König Roms legitimieren, was einfach zu günstig ist, um blanker Zufall zu sein. Die Aufteilung des römischen Elektorats durch Tullius würde für eine sehr lange Zeit die konstitutionelle Grundlage Roms bilden, ebenso das von ihm eingeführte Zensuswahlrecht und die "rule of law", die auf ihn zurückgeht. Letztere ist von gewaltiger Bedeutung und ohne die durch die Legende des Numa von der Schwurtreue der Römer auch nicht vorstellbar; die Königslegenden greifen hier also direkt ineinander über. Ohne dass die Römer die Gesetze kodifizieren und einhalten ist das Funktionieren einer Republik nicht vorstellbar, würde sie unter dem Ansturm skrupelloser, ambitionierter Männer zerbrechen - wie es denn auch im 1. Jahrhundert vor Christus geschah.

Neuzeitliche Darstellung einer Senatssitzung (Cicero vs. Catalina)
Es ist auch interessant, dass nun bereits zwei römische Könige ermordet wurden. Die Umstände verweisen dabei jedes Mal auf ambitionierte Männer, die selbst an die Macht kommen wollen, und dabei auch noch Verwandte oder enge Berater des jeweils letzten Königs. Die Machtmechanismen der späteren Republik aber waren so gestaltet, dass gerade solche Szenarien verhindert werden: der Cursus Honorum, also die Ämterabfolge (Ädile, Prästoren, Tribune, Konsuln und so weiter), die mit ihren Mindestabständen (meist zehn Jahre) und Mindestaltern kometenhafte Aufstiege verhinderte, die Wahlen, die Nepotismus erschwerten, weil die direkte Abstammung weniger zählte als der Ruf des jeweiligen Aristokraten, die kurze Amtsdauer und das Kollegialitätsprinzip - alle diese Mechanismen scheinen geradezu mit der Blaupause der römischen Könige im Kopf gestaltet worden zu sein. Oder aber natürlich, die römischen Königslegenden wurden genauso geschrieben, dass sie ein abschreckendes Beispiel darstellten, um Kritiker an der etwas schwerfälligen republikanischen Regierungswechselei schnell abfertigen zu können. Hier zeigt sich die legitimatorische Wirkmacht der historischen Legenden.

So oder so dienen die ersten sechs römischen Könige allesamt als Sagen, anhand derer zum einen die Entwicklung Roms als auch die klassischen römischen Tugenden - Treue, Tapferkeit, (politische) Ambition, Führungsstärke, Entschlossenheit - illustriert werden konnten. Die Könige sind überlebensgroße Figuren, oftmals durch göttliche Fügung limitiert und mit langen Regierungszeiten gesegnet, die aber gleichzeitig stets durch andere ambitionierte Männer unter Druck geraten. Was also passiert, wenn diese Männer kein Ventil für ihre Ambitionen finden, und wenn der König selbst nicht ein weiser, fähiger Mann, sondern stattdessen ein hochmütiger Tyrann ist? Nun, dann wird es wohl Zeit, eine Republik zu gründen, nicht wahr?

Bildhinweise: 
Tarquinius Priscus - Guillaume Rouille (Public Domain)
Modell Roms - Pradigue (CC-BY-SA 3.0)
Servius Tullius - Guillaume Rouille (Public Domain)
SPQR-Standarte - Bascavia10 (CC-BY-SA 3.0)
Senatssitzung - Cesare Maccari (Public Domain)

Buchhinweise:

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/09/legende-und-geschichte-die-romische.html

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Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Die fünf tödlichsten Waffen des Ersten Weltkriegs (Englisch). Ein bisschen lächerlich, die Pariskanone aufzunehmen, aber effektvoll war das Ding natürlich.

- Ein Bericht über die russischen Schmierereien am Reichstag aus dem Zweiten Weltkrieg und ihre Restauration (Englisch)

- Multimediale Aufbereitung des Ersten Weltkriegs in der SZ. 

- Phantomfotos von Kaiser Augustus

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/08/fundstucke_11.html

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Widerstand – aber wofür?

Von Stefan Sasse

Stauffenberg
Wenn jemand Widerstand leistet, dann muss er sich zwei Fragen stellen: wogegen und wofür. Es liegt in der Sache, dass man sich beim "wogegen" häufig schneller einig ist als beim "wofür". Widerstandsbewegungen finden sich meist zusammen, weil sich viele Menschen in dem einig sind, was sie ablehnen. Nach ihrem Sieg zerfallen sie dann häufig sehr rasch, weil sie sich nicht einig sind, wofür sie das eigentlich tun. Man sieht dies an der Koalition gegen die Taliban (der "Nordallianz" von 2001), an der gegen Ghaddafi (2011), man sieht es an den Gegnern Francos im spanischen Bürgerkrieg (1936-39) und man sieht es an Hitlers Gegnern während dessen Regentschaft (1933-1945). Deren Versuch, den Diktator zu ermorden, jährt sich 2014 zum 70. Mal. Bekanntlich scheiterten sie. Das Nachkriegsdeutschland verdrängte ihre Erinnerung und behielt ihre Verurteilung als Staatsfeinde und Verräter bei, ein Schandfleck, der erst ab den 1960er Jahren langsam beseitigt wurde. Heute werden die Attentäter des 20. Juli gerne geehrt und es wird ihrer gerne gedacht, schon allein, weil man damit vermeidet, dubiose Einzeltäter oder, Gott bewahre, Kommunisten an ihre Stelle zu setzen. Aber was wollten Stauffenberg und seine Mitverschwörer eigentlich erreichen?

Ihr eigentlicher Plan ist schnell erzählt: Stauffenberg, nach einer Verwundung Stabsoffizier in Hitlers Hauptquartier, sollte eine Bombe platzieren und den Diktator so töten, während Mitverschwörer die Kommunikation lahmlegen und so die Kommandostruktur der Nazis unterbrechen sollten. In Berlin würde man sich Kontrolle über das in Deutschland stationierte Ersatzheer verschaffen, die ranghohen Nazis verhaften, die Kontrolle übernehmen und den (West-)Alliierten ein Friedensangebot machen. Bekanntlich scheiterte der Plan, an Pech sowie an Planungsfehlern und grundsätzlichen Pannen. Was selten gefragt wird (besonders nicht in Bryan Singers Verfilumg "Walküre") ist, wie diese neue deutsche Regierung hätte aussehen sollen, und was sie mit dem Krieg mit der Sowjetunion zu tun gedachte. 

Gedenkstätte (Phaeton, CC-BY-SA 3.0)
Hierzu muss man etwas mehr ausholen. Stauffenberg und seine Mitverschwörer bestanden vor allem aus zwei sozialen Gruppen: dem alt-liberalen, konservativen Bürgertum Weimars und noch mehr des Kaiserreichs (etwa Goerdeler) sowie dem ostelbischen Junkertum, der Trägerschicht des alten, konservativ-adeligen Preußen. Beide Schichten hatten sicherlich nicht zu den Gegnern Hitlers gehört, als dieser Weimar den Garaus gemacht hatte, und waren bereits eifrige Unterstützer jener autoritären Regime gewesen, die vor ihm kamen: Brünin, von Papen, von Schleicher. Ihre Gegnerschaft zu Hitler erwuchs aus den steigenden Exzessen des Regimes und dem Gang des Krieges, der sich nach Lage der Dinge nicht mehr gewinnen ließ. Diesen Realitätssinn für das Militärische hatten sie Hitler voraus. Auf politischem Gebiet waren sie mindestens ebenso naiv wie dieser. Ihre Vorstellung war ein Friede, vielleicht sogar Bündnis nach Westen, um den Krieg gegen die Sowjetunion zu einem Abschluss bringen zu können, und den Erhalt eines Deutschland in den Grenzen von 1937, vielleicht sogar mit einem Teil der Gewinne der Jahre 1938 und 1939. Das allerdings war 1944 pure Fantasterei. 

Innenpolitisch wollten die Verschwörer ein autoritäres Deutschland, das ihrer Meinung nach eine "natürlichere" Regierungsform war als die republikanische Demokratie oder Hitlers populistische Diktatur. Eine Volksbeteiligung sollte es allenfalls stark gefiltert geben. Doch das wichtigste Ziel überhaupt war Stauffenberg und seinen Mitverschwörern, das alte Deutschland am Leben zu erhalten, nicht so sehr die genaue Organisationsform im Politischen. Dieses "alte Deutschland" hatte bereits die Weimarer Republik dominiert und damit einen verlorenen Weltkrieg überstanden. Den Männern des 20. Juli war klar, dass sie einen weiteren nicht überstehen würden, denn dieses "alte Deutschland" verkörperten sie. Sollten Hitler und die Alliierten ihren Willen bekommen und das Reich bis zur totalen Niederlage weiterkämpfen, bedingungslos kapitulieren, dann wäre dies auch das Ende der Schicht, die ihn an die Macht gebracht hatte. 

Stauffenberg 1926
Die einzige Möglichkeit, die Existenz der eigenen Klasse zu retten - und den gesamten kulturellen Ballast des "alten Deutschland" - bestand darin, in den Worten von Treschkows, "vor der Weltöffentlichkeit den entscheidenden Wurf gewagt zu haben" und so die moralische Lage zu verbessern und dem unvermeidlichen Strafgericht der Alliierten zu entkommen. Vermutlich hätte diese Strategie sogar halbwegs Erfolg haben können, wenn sie nicht durch die Ereignisse ohnehin redundant geworden wäre: das Land, in dem das "alte Deutschland" kulturell verwurzelt war (Ostelbien) wurde durch den Angriff der Sowjets und die Nachkriegspläne der Alliierten - Stichwort Westverschiebung Polens - deutschem Zugriff (wie sich zeigen sollte: dauerhaft) entzogen. Und die Junkerklasse selbst wurde im letzten halben Jahr faktisch ausgerottet, einerseits durch Hitler selbst, andererseits im Kampf gegen die anstürmende Rote Armee. Der Selbstmord einer Bismarck im heimischen ostpreußischen Gut nur Stunden vor dem Eintreffen der Roten Armee steht exemplarisch für diesen Untergang. 

Gegenüber der Gesamttragödie des Krieges und den Folgen für die Deutschen und ihre Nachbarn geriet der Tod dieser Klasse schnell ins Hintertreffen und wurde kaum beachtet. Die Politik der entstehenden Bundesrepublik bestimmte sie nicht mehr, und ihre Überreste in dem, was früher Mitteldeutschland gewesen war und nun "Sowjetische Besatzungszone" hieß, bevor sich die "Deutsche Demokratische Republik" gründete, wurden von den sowjetischen Besatzungsbehörden mit Eifer ausgerottet. Stauffenberg und seine Mitverschwörer taugen daher wenig als demokratische Symbole. Sie taugen wesentlich mehr als Symbole moralischer Größe. Sie waren fähig, ihren Irrtum einzusehen und die ultimative persönliche Verantwortung dafür zu übernehmen. Ihre Ziele haben sie damit zwar nicht erreicht. Hätten jedoch mehr Menschen gedacht wie sie, so wäre die vernichtende Hitler-Diktatur früher zu Fall gekommen. Ob das langfristig besser gewesen wäre, ist eine ganz andere, düsterere Frage.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/07/widerstand-aber-wofur.html

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Legende und Geschichte – die römische Königszeit, Teil 2

Von Stefan Sasse

Dies ist der zweite Teil der Artikelserie. Im ersten Teil besprachen wir die ersten beiden mythischen Könige Roms, Romulus und Numa.

Münze mit dem Abbild Tullus Hostilius
Der dritte König Roms war ein Mann names Tullus Hostilius. Er war ein Enkel des Romulus (mütterlicherseits) und von Natur aus wie Numa ein friedlicher Mann, der jedoch diese Natur nicht ausleben konnte. Stattdessen wurde er zu einem der kriegerischsten Anführer Roms. In mehreren Kriegen stellte er sich Roms Erzfeinden: Alba Longa und Veji. Im Krieg gegen Alba Longa schloss er einen Pakt mit dessen Feldherrn, einem Mann namens Mettius Fufetius, anstatt einer gewaltigen Schlacht ein Duell den Krieg entscheiden zu lassen. Jede Seite sollte Drillinge antreten lassen. Auf römischer Seite kämpften die Horatier, auf albanischer Seite die Curatier. Diese töteten recht schnell zwei ihrer römischen Gegner, ehe der dritte Horatier durch eine angetäuschte Flucht die Curatier einen nach dem anderen stellen und erschlagen konnte. Der Krieg gegen Veji und dessen Nachbarn Fidenae involvierte Alba Longa erneut: Mettius, so die Sage, habe die beiden Städte aufgestachelt, gegen Rom zu Felde zu ziehen, mit dem er zu diesem Zeitpunkt wegen der Niederlage der Curatier verbündet war. In der Schlacht hielt er sich zurück und ließ die Römer im Stich, die nichts desto trotz siegten, Mettius gefangennahmen und hinrichteten, Alba Longa einebneten und seine Einwohner mitsamt römischem Bürgerrecht in Rom ansiedelten. Tullius führte noch weitere Kriege, doch seine letzte bleibende Tat war die Errichtung der Curia Hostilia, dem späteren Senatssitz. 

Wie auch bei den anderen Königen steht Tullus Hostilius eher für Teile des römischen Gründungsmythos, als dass man ihn als eine reale Person sehen könnte. Nachdem die Geschichte um Numa die Römer als friedliche Bauern etabliert hatte, deren Weisheit weithin gerühmt war, musste nun die in der Zeit der Republik, als die Legenden um die Könige entstanden, unzweifelhaft vorhandene Kriegslust der Römer vorkommen. Da die Römer sich stets als die Angegriffenen in Szene zu setzen wussten, liegt es nahe, den kriegerischen Sündenfall auch hier äußeren Kräften zuzuschreiben. So ist es dem eigentlich friedlichen Tullus Hostilius nicht vergönnt, Numas Erbe zu verwalten. Er muss in einer feindlichen Umwelt zu den Waffen greifen und sein geliebtes Rom verteidigen - ein Narrativ, von dem die Römer auch nicht lassen konnten als sie in Mesopotamien, Schottland, an der Elbe oder in Nordafrika ihr Imperium verteidigten. 

Kampf gegen Veji und Fidernae
Da man nun bereits am Kämpfen und Krieg führen war (aufgezwungen von außen), brauchte es auch einen anständigen Gegner. Dieser musste einerseits böse genug sein, um die Römer auf den Kriegspfad zu zwingen, und mächtig genug, um den Sieg bedeutsam erscheinen zu lassen. andererseits aber auch später zum Guten bekehrt werden können, denn die damaligen Nachbarn Roms bildeten zur Zeit der späteren Legendenbildung ja bereits den Kern der römischen Bürgerschaft. Es lag daher nahe, Alba Longa und Veji zu Feinden zu erklären. Alba Longa war ohnehin die erste Stadt, gegründet vom mythischen Urvater Äneas, die zu übertrumpfen den Römern ein Herzensanliegen gewesen sein muss, die jedoch gleichzeitig nicht einfach ausgelöscht werden konnte. Ein "böser Berater" in Form des Feldherrn Mettius Fufetius von dem man die Albaner befreien konnte kam da gerade Recht. Veji, auf der anderen Seite, sollte Rom noch viele weitere Male als Erzfeind beschäftigen. Seine Etablierung zur Königszeit kann als Möglichkeit nachträglicher Legitimation gesehen werden. 

Im Kampf der Horatier gegen die Curatier sehen wir eine weitere römische Tugend, die man sich gerne zuschrieb: die unbedingte Tapferkeit im Kampf. Man beachte die mystische Grundkonstellation: jede Seite hatte als beste Kämpfer jeweils Drillinge zur Verfügung, die man in einer Art Götterurteil aufeinander hetzen konnte. Interessant ist, dass sich trotz allen römischen Heldenmuts die Entscheidung effektiv nur durch eine Kriegslist herbeiführen lässt: der Horatier täuscht eine eigentlich wenig ehrenhafte Flucht an, ehe er die verletzten Curatier einzeln niedermacht. Das Ergebnis heiligte den Römern schon immer die Mittel. 

Schwur der Horatier
Daher ist natürlich auch ihr schmerzliches Gefühl des Verrats gegenüber Mettius heuchlerisch. Wäre Mettius ein Römer gewesen, so wäre seine Geschichte eine Heldengeschichte: clever gewinnt er Bundesgenossen, die einen Krieg gegen den verhassten Erzfeind schlagen, ohne dass man die eigenen Eide brechen muss, die einem aufgezwungen wurden - denn nichts anderes taten die Römer nach dem Sieg des Horatiers gegen Alba Longa. Nur, das Ergebnis passte nicht, und so wurde Mettius zwischen zwei Streitwagen gespannt und für seine Niederlage in Stücke gerissen. Der Verrat selbst spielte hier keine so große Rolle - die Römer würden ihren unterlegenen Gegnern später auch ohne vorherige Intrigen ein ähnliches Schicksal zudenken. Verrat hin oder her, die tapferen und ruhmreichen Römer schlagen Veji und Fidenae natürlich auch ohne Unterstützung. Eine zweifache Übermacht schreckt einen Enkel Romulus nicht. Im Gegensatz zu Alba Longa bleiben beide Städte unberührt - man braucht sie ja später noch als Herausforderung, auf dass eine neue Generation an Römern sich an ihnen bewähren kann. 

Zuletzt ist Tullus Hostilius auch für den Bau des Senatsgebäudes verantwortlich. Es ist interessant, dass die Römer es ihm und nicht dem ihre politischen Bräuche gründenden Numa zuschrieben. Auf diese Art und Weise wurde die Republik in die kriegerische Tradition der frühen Römer gestellt. 

Münze mit Abbild Ancus Marcius
Tullus Hostilius' Nachfolger im Amt war Ancus Marcius, ein Sohn eines engen Freundes des zweiten Königs Numa. Seine erste Amtshandlung als Pontifex Maximus war, die Einhaltung der von Numa institutionalisierten Sitten und Riten sicherzustellen. Wie auch sein Vorgänger führte er zahlreiche Kriege, vor allem gegen die Latiner, deren ursprüngliche Siedlungsgebiete er praktisch vollständig vernichtete. Die geschlagenen Latiner selbst wurden in Rom auf dem Aventin angesiedelt. In die von den Römern entvölkerten Landstriche nachziehende Latiner wurden ihrerseits wieder bekämpft. Er besiegte außerdem die reiche latinische Stadt Medullia und kehrte mit reicher Beute heim. Auch als Städtebauer tat er sich hervor: er baute neue Befestigungen, das erste große Gefängnis und, vor allem, den Hafen von Ostia.

Ancus Marcius repräsentiert mehr oder weniger die Konsolidierungsphase Roms. Die Kriege gegen die Latiner dienten wie zu Romulus Zeiten der Vergrößerung der Bevölkerung, die einfach im eigenen Territorium angesiedelt wurde (und das Bürgerrecht erhielt). Das römische Bürgerrecht dient hier bereits als eine Art Zuckerbrot, das begleitend zum Gebrauch der militärischen Peitsche benutzt wird.

Gleichzeitig aber sind die anderen in Ancus Marcius fallenden Vorgänge interessant. Seine weiteren Stadtbefestigungen vergrößerten und konsolidierten das römische Siedlungs- und Wirtschaftsgebiet. So schloss er den Hügel Janiculum an Rom an, der westlich des Tibers lag und trotz seiner Größe nicht zu den ursprünglichen "Sieben Hügeln" von Rom zählt. Hierzu wurde eine Brücke gebaut, die die römische Dominanz beider Tiber-Ufer besiegelte. Neue Stadtbefestigungen und ein öffentliches Gefängnis zementierten diesen Status Quo auch gegen Feinde der öffentlichen Ordnung.

Marktplatz in Ostia (GNU 1.2 FoekeNoppert)
Auch erschloss sich Rom in dieser Zeit eine Quelle zu neuem Wohlstand. Während es immer noch stets willkommen war, den Reichtum anderer Städte zu plündern, sorgte der Anschluss an die italienischen Handelsrouten über die neue Tiberbrücke sowie der Bau des Hafens von Ostia an der Mittelmeerküste dafür, dass Rom aktiver am Handel der antiken Welt teilnehmen konnte - eine unabdingbare Bedingung für weiteres Wachstum und das Entwickeln einer ernsthaften Zivilisation, die über einen reinen plündernden rogue state in der Region hinausgehen sollte. Moralisch wird das Ganze für die Römer durch die Rückbesinnung auf den weisen Numa und seine religiösen Bräuche legitimiert. 
In der Tradition römischer Geschichtsschreibung waren die römischen Könige bis zu diesem Zeitpunkt ware Übermenschen. Von praktisch untadeliger Lebensführung herrschten sie über ein kleines Reich, das sie ohne Rückschläge größer und größer machten. Gleichzeitig gingen sämtliche Charakteristika des republikanischen Rom von ihnen aus und wurden von ihnen erfunden. Insgesamt ist diese Abfolge von narrativ so passend aufeinander aufbauenden Ereignissen eher unglaubwürdig. Es fällt auch auf, wie viele spätere römische Kontrahenten hier bereits ihre Aufwartung machen: Veji, der Erzfeind späterer Tage, dem die Römer ihren eigenen trojanischen Kriegsmythos aufzupropfen versuchten (inklusive einer zehnjährigen Belagerung der Stadt), die Latiner und Sabiner, mit denen zahlreiche Kriege um ihre Rolle im römischen Staatswesen führen würde, und viele andere. 

George Washington
Auch entspricht der Fortschritt viel zu sehr einer linearen Entwicklung, als dass er realistisch wäre. Von einem Haufen mordernder Schläger unter ihrem Erobererkönig zum weisen, pazifistischen Bauernvolk und dann zum (aus römischer Sicht) perfekten Amalgam zwischen beiden, ehe unter dem vierten König dann wie als Belohnung die wahre Zivilisation losgeht und Wohlstand unter die Römer kommt - das alles ist in höchstem Maße allegorisch zu verstehen und nicht als eine reale Geschichte. Dasselbe gilt für die verwendeten Zahlen und Symbole. Drillinge, die gegeneinander antreten, mächtige Zeichen, Gegner, die die Größe Roms anerkennen und von seiner Vernichtung Abstand nehmen - all das entspricht nicht der Realität, ganz gleich, welch große Männer diese Könige auch gewesen sein wollen.

Es ist allerdings interessant zu sehen, dass die Römer offensichtlich Bedarf an Erklärungen und Legitimation ihrer Herkunftsgeschichte zu entwickeln begannen, Jahrhunderte, nachdem diese mythischen Ereignisse angeblich stattgefunden haben sollen. Die Personalisierung erlaubte es außerdem, eine Heldenvehrung in der römischen Zivilreligion zu erlauben, die durchaus mit der Mythologisierung der amerikanischen Gründerväter vergleichbar ist. Spätere Politiker griffen immer wieder auf das in diesen Geschichten etablierte Symbolsammelsurium zurück, von der römischen Tapferkeit über die verwendeten Prophezeiungen hin zu der Bedeutung des Schwurs für den politischen Alltag. Der gemeinsame Herkunftsmythos in der Königszeit wob den Stoff, der die römische Gesellschaft zusammenhielt, mystifizierte und überhöhte ihn.

Buchhinweise:

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/07/legende-und-geschichte-die-romische.html

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Hans-Ulrich Wehler ist tot

Von Stefan Sasse

Hans-Ulrich Wehler ist heute im Alter von 82 Jahren gestorben. Wehler gehört zu den profiliertesten deutschen Historikern des 20. Jahrhunderts. Seit den 1970er Jahren pionierte er die Sozialgeschichte als neues, ja dominantes Feld der deutschen Geschichtsforschung und kann damit das Verdienst für sich an Anspruch nehmen, von den ewigen Geschichten großer Männer, politischer Konferenzen und Kriege als Haupterklärmuster der Geschichtswissenschaft abgekommen zu sein, unter dem gerade die angelsächsische Geschichtsforschung sehr häufig noch leidet. 

Gleichzeitig ist meine eigene Beziehung zu Wehler sehr zwiespältig. Als ich seinerzeit 2005 mein Geschichtsstudium begann, setzte sich mein allererster Proseminar ausgerechnet mit seiner Sonderwegsthese auseinander. Sie gehört immer noch zu den Standarderklärmustern der neueren deutschen Geschichte, auch wenn sie gerade durch das Weltkriegsjubiläum dieses Jahr stärker unter Beschuss gerät als je zuvor. Die Idee, dass Deutschland gewissermaßen unnatürlich sei und daher der Weg in den Nationalsozialismus erklärbar, ging immer davon aus, dass Frankreich und Großbritannien irgendwie ein Normalfall wären - was sie leider nicht sind. Wehler beging damit ironischerweise denselben Fehler wie Fritz Fischer, dessen Alleinschuld-Narrativ er mit zu verdrängen half. 

Doch bleiben wird Wehlers Leistung auf anderem Gebiet: der Sozialforschung. Er entwarf in fünf dicken Bänden ein detailliertes Bild der deutschen Gesellschaft zwischen 1800 und der Wiedervereinigung, auf der man heute noch aufbaut. Dazu inspirierte er zahllose weitere Historiker, von liebgewonnen Klischees und Betrachtungsweisen abzukommen und öffnete die Tür für eine Reihe emanzipatorischer Geschichtsbilder, die eine ungeheuer vielschichtere Lesart der Geschichte ermöglichen als ehedem. Mit Wehler geht eine Menge Sicherheit über die deutsche Geschichte verloren, wird alles diffuser und komplexer. Er hat den Zugang zur Geschichte sicher nicht vereinfacht, wie so mancher Schüler sicher bestätigen kann. Aber er hat sie präziser gemacht und der Politisierung entrückt. Das ist eine Leistung, die wir ihm nie vergessen werden.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/07/hans-ulrich-wehler-ist-tot.html

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