Erinnerungskultur und Erster Weltkrieg

Von Stefan Sasse

Der Beginn des Ersten Weltkriegs jährt sich dieses Jahr zum hundertsten Mal. Wenig überraschend ist daher, dass er in der öffentlichen Diskussion eine Rolle spielt wie seit der Fischer-Debatte nicht mehr. Ebenso wenig überraschend ist, dass die öffentliche Debatte andere Formen annimmt als die der historischen Zunft. Einige davon kann man belächeln, andere dagegen sind eher Besorgnis erregend. So fällt auf, dass besonders zwischen der deutschen und der britischen konservativ orientierten Presse (Blätter wie die Daily Mail auf der einen und die Welt auf der anderen Seite) geradezu ein neuer Streit über die Schuldfrage ausgetragen wird. Während im konservativen Teil Großbritanniens, wo die Erinnerungskultur ohnehin von den Tories massiv politisch vereinnahmt wird, die Ursache des Krieges als klare Notwehr gegen ein aggressiv-imperialistisches Deutschland gesehen wird, versucht die Welt, den deutschen Teil der Kriegsschuld in den größeren Kontext einer allgemein unvorteilhaften Atmosphäre zu stellen. Es ist im Kleinen ein Wiederaufflammen der Kriegsschulddebatte, die so unnötig wie ein Kropf und ähnlich gesund ist. 

Der Krieg ist mittlerweile 100 Jahre alt. Bereits vor diesem Jahr hat er als Vergleichsmaßstab ebenso wie die Endphase der Weimarer Republik im Kontext der Euro-Krise an Aufmerksamkeit gewonnen, wo er mal besser, mal schlechter als historischer Vergleichsmaßstab herhalten muss. In Deutschland rächt sich gerade der übermäßige Fokus, den der Zweite Weltkrieg und die Nazi-Zeit bislang in der öffentlichen Debatte hatten. Bis vor kurzem war der Erste Weltkrieg den meisten Menschen hauptsächlich als Vorbedingung für den Zweiten bekannt, und das zeigt sich in der Debatte. Nur so ist es erklärbar, dass viele Zeitungen die Erkenntnis, dass Fischers Thesen nicht unbedingt als Erklärung ausreichen, als gewaltigen Tabubruch feiern - eine Erkenntnis, die den Historikern seit 50 Jahren geläufig ist und seither unzählige Male relativiert wurde. Und selbst diese Relativierungen selbst sind inzwischen durch neue Relativierungen abgelöst worden (etwa Wehlers Sonderweg-These). 

Aber diese Historiker-Debatten haben, das macht die aktuelle Diskussion deutlich, die Öffentlichkeit offensichtlich nie erreicht. Stattdessen steigt man hier in ideologische Schützengräben, die man eigentlich seit den 1960er Jahren überwunden geglaubt hatte, und debattiert von Neuem die Frage der "Kriegsschuld", ein moralisch aufgeladener Begriff, der kaum einen Erklärungswert besitzt und nachhaltig das Klima vergiftet. Nur so ist es möglich, dass Historiker Clark (dessen Buch "Die Schlafwandler" derzeit eine ungeheure Popularität genießt) im konservativen Deutschland wie eine Art Schutzschild geschwungen wird, um die alleinige Kriegsschuld von sich zu weisen - als ob die noch von irgendjemandem außerhalb der Torie-Sphäre ernsthaft debattiert würde. 

Aber genau hier liegt der Kern des Problems, der der deutschen Nabelschau zu entgehen scheint: die anderen Länder haben den Krieg nicht wie wir Deutschen vergessen (mit Ausnahme der Russen, vermutlich). In Großbritannien wie in Frankreich, wo die Formulierung vom "Großen Krieg" (Great War bzw. Grande Guerre) noch nicht durch die Nummerierung abgelöst wurde, ist die Erinnerung an 1914 noch wesentlich lebendiger. In Großbritannien finden sich prominent die Gefallenentafeln, ist die Erinnerung an Flandern noch immer wachgehalten. Auch die Franzosen haben aus naheliegenden Gründen den Ersten Weltkrieg nicht so schnell vergessen wie die Deutschen nach 1945. Für Großbritannien wie Frankreich ist der Sieg heute noch für die Psyche ein wichtiger Einschnitt, der in offiziellen Feiertagen (wie dem Armistice Day in Großbritannien am 11.11.) auch heute noch begangen wird. 

Gleichzeitig wird ein solcherart politisch erinnerter Konflikt, der wesentlich zur Bildung einer nationalen Identität verwendet wird, auch immer politisch vereinnahmt. Sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich ist die Frage nach dem Stolz auf die erbrachten Leistungen und Opfer stets auch ein Glaubensbekenntnis. So etwa wird in Großbritannien darum gestritten, ob auch pazifistische Einstellungen bei den offiziellen Feiern zu Wort kommen dürfen. Wenn es nach den Tories geht, würde jedenfalls das Narrativ eines tapferen Verteidigungskrieg gegen den üblen deutschen Imperialismus obsiegen, der vom gesamten britischen Volk einig geführt und gewonnen wurde. 

Solche Debatten führen wir in Deutschland nicht. Zurecht hat man sich davon verabschiedet, die Geschichte der Kriege als sinnstiftenden Identitätsquell zu nutzen. Dies führt jedoch gleichzeitig zu einem Unverständnis gegenüber den Vorstellungen und Mentalitäten der unmittelbaren Nachbarn, die den Krieg ganz anders erlebt haben und ihn auch ganz anders erinnern. Doch auch in Deutschland zeigen sich in der Debatte erneut die Risse und politischen Konflikte, die den Krieg noch immer umgeben. Das erklärt auch die Heftigkeit, mit der die Welt die britische Selbstdarstellung (die rein nach innen gerichtet ist und daher von uns genauso gut ignoriert werden könnte) attackiert. Die ständigen Vergleiche eines nach der europäischen Vorherrschaft strebenden Deutschland kommen zur politischen Unzeit. Schon länger greift die Linke etwa die Krisenpolitik Deutschlands als neues Hegemonieprojekt an, eine Sichtweise, die besonders in den betroffenen Ländern noch wesentlich virulenter ist. Ein Akzeptieren dieses Narrativs hätte daher in der heutigen europäischen Union Nebenwirkungen. 

Und so verbindet sich die Deutung des Ersten Weltkriegs in seinem Jubiläumsjahr aufs Neue mit politischen und ideologischen Zielsetzungen. Die eigentlichen Ansichten der Historiker, ihre Debatten und ihre differenzierten Analysen kommen dabei kaum zu Wort und werden allenfalls selektiv wahrgenommen. Es steht daher zu hoffen, dass die eigentlichen Gedenkfeierlichkeiten davon unbeeindruckt in einem nüchternen Rahmen ablaufen und sich der moralischen Fragen weitgehend zugunsten des Konsenses, dass das Trauma eines europäischen Krieges sich unter keinen Umständen wiederholen darf, enthalten werden. Die Frage der Kriegsschuld ist keine, die uns sonderlich weiter bringt. Viel wichtiger muss es sein, die richtigen Schlüsse aus den Ereignissen zu ziehen. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/01/erinnerungskultur-und-erster-weltkrieg.html

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Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Eine Homepage bietet Sekundärtexte zum Zweiten Weltkrieg (englischssprachig) an. Wer das hässliche 90er-Layout übersteht, findet vielleicht etwas Interessantes. 

- Die FAZ hat was zum Hartmannsweiler Kopf. Der Umgang mit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Frankreich ist schon strange.  

- Das Jahr 2014 wird schlimm. Oh ja.  

- Serbien spinnt schon rum. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/01/fundstucke.html

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Historical accuracy, games and World War II

Crosspost von The Nerdstream Era. 

Practically every game that takes place in the World War II era has one selling point in common, whether it's a stategy game or a shooter: historical accuracy. They all pride themselves on conveying the details of the epoch right, able to give the player that unique feeling. The shooters, like Medal of Honor or Call of Duty, went over great lengths to incorporate the correct sounds of all weapons, for example, the physics, the looks. In the Hearts of Iron series, you can equip your divisons and brigades with the contempory leaders and weaponry. And if you browse the Company of Heroes forums, you find people asking themselves how accurate the depiction of the Sturmgeschütz III Ausführung E in comparison to Ausführung F is. There's a great emphasis on getting the details right.

Detail, with a capital D

But I would argue that this entirely misses the point. While World War II has been a playground for amateur historians most of the time, in their minds winning the crucial battles by a simple change in the deployment of troops, seldom is the question asked whether these games really depict the time accurately, or whether this should be a goal in the first place. 

Before you get me wrong, most of these games do a marvellous job to simulate the equipment that was used by the combattants. Firing a M1 carabine feels different than the KAR98, for example, and commanding Tiger tanks is different to ordering an advance with Shermans. Often, the weapon effects also seem very realistic, with explosions tearing up the battlefield, and said battlefield is often carefully reconstructed from historic photographs and other sources.

Depicted: stuff happening
But I seriously doubt that this comes down to giving you a realistic feel of the conflict. It often gives you a feel of how it would feel to fire a special weapon in a totally controlled, cartoon-like environment. It's like the old war movies, with their John-Wayne-like antics, where heroes would shine and prove themselves in the line of fire while nameless guys are dying in dignity all around them to show how dangerous the situation is.



But unfortunately, the dying seldom is dignified, as death in combat often comes unexpected and gruesome, and apart from the short intervals of brutal combat, the feeling that all soldiers of all times agree on is boredom. This doesn't mean that you should try to make the dying as gory as possible in a vein attempt on even more "realism". If you really do this, there can be only two possible outcomes. One, the game becomes unplayable, not a game anymore, but an experience that wants to make you hurl. Or, second, it degrades the game only further by using the gore to justify other lackluster elements, like especially unnecessary violent setpieces. This often feels like one of Uwe Boll's rat-ass ideas, like showing the Auschwitz gas chamber POV style. That's violence porn.



The master himself.


So, with that out of the way, where is the problem? I want to single out three games or game lines, because they all attempt at varying degrees of realism for a World War II setting and all fail at it: Paradox Interactive's "Heart of Iron" series, Activision's "Call of Duty" series, and Relic Entertaintment's "Company of Heroes". In each of those games, you are thrown into the setting in some capacity, influencing historic events.



The "Heart of Iron" series is the flagship of Paradox Entertaintment, a small Scandinavian firm that specializes in strategy titles so complex and user-unfriendly that they are only for the most dedicated of gamers. You take the control over a country during the period of 1936 to 1949 (extended by later expansions to 1953) - any country. Play as the German Reich and unleash the Wehrmacht on Europe, or try to establish an empire as Yemen.

Is it a game? Art? Torture? Exam? You decide.


In the game, you have control over various bloated menus and sliders, where you produce units, research technology, balance the domestic politicies and manage foreign policy. On a world map, you then proceed to send the produced units into foreign countries to paint their provinces in your own color. This sounds derivative, and in part it is. I played Hearts of Iron for many, many hours, and I thoroughly enjoyed it, make no mistake. But in the end, the pleasure comes from painting a map. Since we are on a grand strategic level, many decisions and details get swamped (like geography and such, which is highly abstracted).



But the most interesting thing I find is that the game, for all its meticulous details and totally overloaded menues, is not really realistic. For example, logistics don't really play a role. Fighting starts when you send your (oftentimes ridiculously large) armies into a province. Sliders move, a side wins, marches in, the province is painted. Yes, there are partisans and such, but the idea that by moving into a foreign country you "own" it hasn't worked for any invader anywhere, anytime.



See? All red.
Also, you don't need to plan offensives in this game. You order the an army of several millions to march into a swamp, and literally a minute later, they will move. I'm still waiting for a war game that tries to really show us how a war on the strategic level feels and not what many amateur leaders wanted it to feel (although, incidentally, this is how the Germans managed to loose two World Wars on the military side of things: an obcession with the idea that the map is the land, and that you can simply paint it).



Going down on the other end of the spectrum, we meet Call of Duty, a series of First-Person-Shooters set in the age of World War 2. As a disclaimer, I only played Call of Duty 5, but I'm told the others are very similar. Here you are one single soldier, shooting your way through hordes and hordes of enemies. The developers tried to give you the feeling that you are a cog in the machinery of war by letting stuff happen - soldiers running around, tanks driving and firing, explosions - but in the end, the nature of the genre makes it impossible for you not to shoot hordes of enemies and survive improbable stuff. It's an action game, after all.



Things tend to become easy when viewed over a rifle's sights.
But that means that the feeling is more Captain America than Saving Private Ryan. Although they are copying scenes from all the great war movies (often blatantly so), the set pieces don't really fall together. The games are also guilty of shamelessly unloading every war movie cliche and reinforcing popular cliches about World War II - Japanese soldiers as totally dishonorable, Russians as cold-blooded killers, and so on. If the Wehrmacht soldiers come around as the nice team while I'm playing Russians, something is going wrong. Seriously.



The last series takes the fighting to the tactical level. Company of Heroes is a Real-Time-Strategy game, allowing you to command squads of three to six soldiers and some vehicles on tightly confined battlefields, conveniently empty of civilians (something that Call of Duty does, too, even if there should be some). The fighting feels realistic, and the option to retreat units rather than to simply send them to the slaughter makes for an important gameplay aspect.



Depicted: Stuff happening
On the other hand, every feeling of immersion that the realistic and not at all glorious depiction of the actual combat could bring is destroyed by a lackluster voice acting and of course the almost unsulting campaign that comes with the game. In the campaign, you revisit all bad cliches about the Soviets in the war, while the game mechanics manage to mindlessly send literally endless waves of soldiers into machine guns to die - until you silence them. No one will ever stop sending those guys in otherwise. Mechanics like this are just so utterly stupid, they defy any resemblance of sense.



And the voice acting! Whoever wrote these lines must have played too much Command&Conquer. The Russian Penal Battailon, historically a unit for all those who dared to speak up or try to shirk that had to perform the most dangerous duties, greets you with such uplifting lines as "Do you need a suicide squad?" when clicked. Other troops display a similar detached sense of heroism in their comments that totally doesn't match the things going on.



Because nothing screams heroism like being burned alive.




I don't have a recipe for making a truly "realistic" World War II game. I seriously doubt that this is something anyone in their right mind wants anyway. But please, stop to distort the real events to match history to the tropes of video game storytelling. The Russians aren't the Orcs, and the Germans aren't the Alliance.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/01/historical-accuracy-games-and-world-war.html

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Irische Geschichte, Teil 7: The Troubles, 1968-1974

Von Stefan Sasse

Teil 1 findet sich hier. In ihm wurde beschrieben, wie Irland seit der Personalunion mit der englischen Krone eine wechselhafte Beziehung mit England unterhielt und vor allem durch seine inneren Konflikte gespalten war, die entlang der Konfessionsgrenzen und Besitzverhältnisse verliefen. In Teil 2 wurde deutlich gemacht, wie die Politik der britischen Regierung und des Parlaments eine immer stärkere Wechselwirkung mit Irland entwickelten, in dem sich eine nationalistische Bewegung zu bilden begann und stets an Boden gewann. Als Großbritannien sich für die Selbstverwaltung Irlands, die Home Rule, entschied, hatten die Devolutionisten, die die totale Unabhängigkeit wollten, bereits deutlich an Boden gewonnen. Teil 3 beschrieb die zunehmende Gewaltbereitschaft zwischen den Unionisten in Ulster und den Nationalisten im Rest des Landes und die Konflikte um die Home Rule und wie diese Konflikte durch den Ersten Weltkrieg erst vertagt und dann verschärft wurden. In Teil 4 wurde gezeigt, wie die Iren den bewaffneten Kampf gegen die Briten aufnahmen und bereits in diesen Tagen der inner-irische Konflikt zu einer Art verdeckten Bürgerkrieg wurde. Auch die irische Nationalbewegung spaltete sich über das Ergebnis des Konflikts - die Teilung Irlands und den Dominion-Staus - und begann den bewaffneten Kampf gegeneinander. In Teil 5 haben wir gesehen, wie die Spaltung in offenen Bürgerkrieg ausartete, der letztlich mit der Niederlage der Radikalen und dem Tod vieler Moderater endete. Profitiert hat vor allem Großbritannien, das die Unabhängigkeit Nordirlands als Ganzes sichern konnte. Viele strukturelle Probleme blieben jedoch in beiden Ländern bestehen und noch ungelöst. Teil 6 beschrieb die Etablierung der beiden irischen Staaten und ihren Weg durch die Wirren der 1930er und 1940er Jahre. Besonders die latente Unruhe in Nordirland und der Versuch einer Modernisierung der irischen Wirtschaftspolitik wurden dabei aufgezeigt. 

Bürgerrechts-Mural in der Bogside, Derry
Zu Beginn der 1960er Jahre war Nordirland weitgehend ruhig geworden. Abgesehen von periodisch auftretenden Unruhen besonders an der Grenze, die allerdings nie eskalierten, geschah nichts mehr. Das Land war entlang der Konfessionsgrenzen stark territorial segregiert; nicht nur ballten sich Katholiken und Protestanten im Westen und Osten des Landes; die ländlichen Regionen waren eher katholisch, die städtischen eher protestantisch geprägt. Auch innerhalb der Städte gab es klar voneinander abgetrennte Wohnviertel, die fast ausschließlich von einer bestimmten Konfessionsgruppe bewohnt wurden. Dazu kam, dass die Gruppen sich selbst schon fast als Ethnien wahrnahmen und auch entsprechend bewerteten; so waren viele Protestanten davon überzeugt, dass nur Protestanten Iren sein konnten und dass die Katholiken gewissermaßen einer minderwertigeren Rasse angehörten, ähnlich amerikanischen Vorurteilen gegenüber der afro-amerikanischen Bevölkerung. Diese Sicht der Dinge fand auf katholischer Seite durchaus ihre Entsprechung.


Trotz allem war die Lage zu Beginn des Jahrzehnts bis etwa zu seiner Mitte relativ ruhig. Dann allerdings explodierte der stets latent vorhandene Konflikt in einer Reihe von provokativen Aktionen, die durch die beginnende Bürgerrechtsbewegung der Katholiken in Nordirland hervorgerufen wurde. Die Bürgerrechtsbewegung benannte dabei einige real existierende Benachteiligungen der Katholiken in Nordirland. Dazu gehörte eine Diskriminierung bei der Einstellung (ganz besonders im Öffentlichen Dienst, aber auch anderswo), was sogar mit Dokumenten belegt werden konnte; ein diskriminierendes Wahlrecht, das auf dem Stand des 19. Jahrhunderts zurückgeblieben schien und nur "Haushaltsvorständen" eine Stimme gab; die Zuweisung von Sozialleistungen auf Basis der Konfession; die Diskriminierung beim Zuschnitt der Wahlbezirke, die Protestanten wesentlich größere Repräsentation im Parlament gab ("Gerrymandering") und vieles mehr.

Erinnerung an den Marsch auf Derry 1968
Die Aufmerksamkeit, die die Bürgerrechtsbewegung erzielte beunruhigte viele Loyalisten (wie sich die königstreuen Protestanten in Nordirland in Abgrenzung zu der friedlichen Bürgerrechtsbewegung und der terroristischen IRA nannten), was 1966 weder durch die Sprengung der Nelson-Säule in Dublin durch die IRA noch durch zahlreiche Osteraufstands-Gedenkmärsche zum 50. Jahrestags des Aufstands 1916 verbessert wurde. Die Gemüter auf beiden Seiten erhitzten sich, und obwohl die nordirische IRA schlecht bewaffnet und organisiert und kaum zu Aktionen in der Lage war, versuchte sie mit aller Macht den gegenteiligen Eindruck zu erwecken - ein Propagandaschachzug, den aufzugreifen den Loyalisten sehr gelegen kam, die ihrerseits noch im selben Jahr die "Ulster Volunteer Force" als paramilitärischen Verband wiedergründeten, die seinerzeit im Bürgerkrieg gegen die IRA gekämpft hatte. 

Damit war die Bühne bereitet, und die nächsten drei Jahre sahen eine rasant steigende Zahl von Gewalttaten der UVF gegen Katholiken und, in geringerem Umfang, der IRA gegen Protestanten. Die Lage wurde dadurch nicht besser, dass die nordirische Polizei (RUC) wohl nicht unbegründet im Verdacht stand, die UVF zu decken und ihre Angriffe nicht zu verhindern, dafür umso härter gegen die IRA vorzugehen. Diese Konfliktlinie führte 1968 zu einer ersten Explosion. Die Bürgerrechtsbewegung plante einen großen Marsch nach Derry (nachdem bereits vorher andere Märsche abgehalten worden waren), den die RUC verhindern wollte. Polizisten kettelten die friedlichen katholischen Demonstranten ein und schlugen sie brutal zusammen. Der Zwischenfall wurde von anwesenden Kamerateams gefilmt und ging um die Welt; das Resultat waren zweitätige Unruhen in Derry und Umgebung.

Mural für die UVF, Belfast
Dasselbe Spiel wiederholte sich, als eine neu gegründete Studentengruppe - People's Democracy - einen viertägigen Marsch von Belfast nach Derry unternahm. Polizei und UVF-Schläger attackierten sie wiederholt, einmal sogar mit Eisenstangen, Pflastersteinen und Flaschen bewaffnet, und griffen sie in Derry erneut an. Einige Einwohner Derrys bauten Barrikaden und verwehrten der Polizei Zugang zu ihren Vierteln; im Anschluss wurde das "freie Derry" proklamiert. Die Zustände wurden bürgerkriegsähnlich. Im Frühjahr 1969 beschlossen die Loyalisten, die Regierung, die ihnen nicht entschlossen genug gegen die Katholiken vorging, zum Rücktritt zu zwingen. Mit insgesamt sechs Bombenanschlägen in Dublin, die zweitweise Strom und Wasser abschalteten und die der IRA in die Schuhe geschoben wurden. Der Plan ging auf, und Premierminister O'Neill trat im April 1969 zurück. 

Derry blieb weiterhin das Zentrum der Auseinandersetzung. Nachdem die RUC bei Hausdurchsuchungen durch exzessive Gewalt gegen Zivilisten sogar für Todesopfer sorgte, goss die neue Regierung noch Öl auf die Flammen, indem sie der loyalistischen Gruppe "Apprentice Boys" erlaubte, eine Demonstration entlang der Grenze zum katholischen Bogside-Viertel in Derry abzuhalten. Innerhalb kürzester Zeit bekämpften sich beide Seiten und die RUC griff ein und nutzte Tränengas, Wasserkanonen und gepanzerte Fahrzeuge um die Streithähne zu trennen. Die Straßenkämpfe dauerten fast zwei Tage. Als Antwort darauf protestierten die Katholiken vor RUC-Basen und blockierten einige, was zu erneuten Kämpfen führte. Die Panzerfahrzeuge der RUC schossen in Derry mit Maschinengewehren auf die Apartmenthäuser der Katholiken und erschossen einen neunjährigen Jungen. 

Katholisches Banner in Derry
Inmitten dieser Gewalt und Chaos hielt der irische Ministerpräsident Jack Lynch eine Rede, in der die Handlungen der RUC einseitig verurteilte, die UNO aufrief eine Friedenstruppe zu schicke und erklärte, dass "Irland nicht länger tatenlos zusehen" könne. Die einzige Lösung, die er sehe, sei die Wiedervereinigung. Die irische Armee errichtete Feldlazerette direkt an der nordirischen Grenze, um verletzte Katholiken zu versorgen. Er gab sogar einen geheimen Befehl an die Armee, die gewaltsame Evakuierung des katholischen Nordirland zu planen - was erst 30 Jahre später bekannt wurde. Die Straßenkämpfe in Derry einstweilen wurden druch das direkt Eingreifen der britischen Armee, die Truppen in Nordirland stationierte, zum Erliegen gebracht. Neun Menschen waren tot, über 750 verletzt (davon 133 mit Schusswunden), 400 Häuser und Geschäfte zerstört. 

Keine der beiden Seiten war unschuldig am Ausbrechen des Konflikts, aber der Löwenanteil der Schuld liegt sicher bei der nordirischen Seite. Nicht nur sah man den gegenseitigen Provokationen der protestantischen Loyalisten und der katholischen Nationalisten tatenlos zu, man ergriff auch noch Partei für die Loyalisten. Auch das Eintreffen der Armee, der die Katholiken zuerst mehr vertrauten als der RUC, besserte die Lage nicht, da die Armeeführung diplomatisch nicht sonderlich bewandert war und die Beziehungen zu den Katholiken schnell einfroren. Für einen kurzen Moment jedoch legte sich wieder etwas Ruhe über das Land. 

Protestantisches Graffitti in Belfast
1970 flammte der Konflikt dann mit voller Härte wieder auf, denn die IRA hatte ihre anfängliche organisatorische Schwäche gegenüber der UVF aufgeholt. In Derry, das immer noch Zentrum des Konflikts war, waren viele Teile der Stadt für die britischen Behörden effektiv No-Go-Areas, in die selbst mit 1-Tonnen-Panzerfahrzeugen nicht mehr eindringen konnten. Innerhalb dieser Bezirke hatten sich zwei verfeindete IRA-Strömungen eingenistet, die "Official IRA", die gewissermaßen der politische Arm der irischen IRA war und gewaltsame Auseinandersetzungen ablehnte, und die "Provisional IRA", die den bewaffneten Kampf als einzige Lösung sah. In der Praxis jedoch bekämpften beide IRA-Organisationen die Loyalisten und die Briten - und sich selbst. 

Zwischen 1970 und 1972, den blutigsten Jahren des Konflikts, brach die Gewalt in Schusswechseln immer wieder aus, nicht nur in Derry, sondern auch Belfast und anderen Städten. Ein gewichtiger Grund für diesen Ausbruch war mit Sicherheit der Aufstieg der Provisional IRA und ihrem Fokus auf bewaffnetem Kampf. Die protestantischen Terroroganisationen zahlten in gleicher Münze zurück, was eine Spirale gegenseitiger Morde in Gang setzte. Eine weitere, wenngleich weniger gewichtige Rolle spielte die Strategie der Behörden, die oft ebenfalls auf Gewalt setzten, mit dem Bruch von illegalen Besetzungen oder den überdimensionierten Angriffen auf vermutete Verstecke der IRA, die praktisch zwingend Kollateralschäden bedeuteten. Die Provisional IRA schob ihren Fokus auf den Kampf gegen die britischen Truppen, was angesichts der professionellen Bewaffnung und geringen Toleranz der einen und der irischen Unterstützung auf der anderen Seite ebenfalls einen gewaltigen Anstieg in der Gewaltspirale bedeutete.

Polizeikontrolle in Belfast
Im Juni 1973 begann sich die Lage wieder etwas abzukühlen, als im so genannten "Sunningdale Agreeement" die Republik Irland und die britische Regierung darin übereinkamen, dass Nordirland künftig auch katholisch-unionistische Kräfte mit einbeziehen würde. Die Lebenszeit dieses Abkommens allerdings war kurz: die protestantischen Radikalen akzeptierten es überhaupt nicht, und durch die IRA ging ein tiefer Graben, der die Bewegung spaltete und zu Bruderkämpfen führte. Das Abkommen scheiterte 1974, nachdem das "Ulster Worker Council" (UWC) einen Generalstreik ausrief, der auch vom britischen MI5 massiv unterstützt wurde, der mit dieser Einmischung die regierende Labour-Regierung unter Harold Wilson stürzen wollte. Der Streik wurde von massiven Bombenattentaten begleitet, deren Ursprung bis heuten icht geklärt ist. Die Katholiken traten aus den Sunningdale-Gremien aus.

Literaturhinweise:
Richard English - Armed Struggle - The history of the IRA 
 

Bildnachweise: 
Bürgerrechts-Mural - Kenneth Allen (CC-BY-SA 2.0)
Gedenkstein -  Kenneth Allen (CC-BY-SA 2.0)
UVF Mural - Sitomon (CC-BY-SA 2.0)
Banner -  Fribbler (GNU 1.2)
Graffitti - George Louis (GNU 1.2)
Polizeikontrolle -  George Louis (GNU 1.2)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/12/irische-geschichte-teil-7-troubles-1968.html

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Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Spiegel TV hat einen 20 Jahre alten Bericht über ein Treffen der Ritterkreuzträger in Celle. Da läuft's einem kalt den Rücken hinunter. Ein Glück ist die Bande mittlerweile ausgestorben. 

- Die SZ hat ein Stück über die Räterepublik Bayern und den Hitlerputsch. 

- Die Zeit hat einen guten Überblick über die Geschichte Nordkoreas. 

- In der Welt wird berichtet, wie das deutsche Soldatendenkmal in Sedan verfällt, weil die Bundesregierung sich nicht als zuständig betrachtet. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/12/fundstucke_9.html

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Geschichtspodcast, Folge 2: Historische Ereignisse im kulturellen Spiegel

Von Stefan Sasse

In Folge 2 des Geschichtspodcasts (Folge 1 hier) reden der amerikanische Historiker Steven Attewel und ich über die Wahrnehmung von historischen Ereignissen durch die kulturelle Linse. Wir nehmen den amerikanischen Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg als Beispiele, die sowohl in den USA als auch in Deutschland eine gewisse Bekanntheit genießen und vergleichen, wie beide Völker diese Ereignisse betrachten. Die Differenzen darin sind bemerkenswert.

Download!

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/12/geschichtspodcast-folge-2-historische.html

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Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Spiegel TV hat einen 20 Jahre alten Bericht über ein Treffen der Ritterkreuzträger in Celle. Da läuft's einem kalt den Rücken hinunter. Ein Glück ist die Bande mittlerweile ausgestorben. 

- Die SZ hat ein Stück über die Räterepublik Bayern und den Hitlerputsch. 

- Die Zeit hat einen guten Überblick über die Geschichte Nordkoreas. 

- In der Welt wird berichtet, wie das deutsche Soldatendenkmal in Sedan verfällt, weil die Bundesregierung sich nicht als zuständig betrachtet. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/11/fundstucke_25.html

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Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Im KZ Sobibor fand1943 der größte KZ-Aufstand statt. Die Geschichte ist äußerst bedrückend. 

- Ein Stern-Journalist erklärt seinem Sohn, warum es schade ist, dass er Willy Brandt nicht erleben durfte. 

- Die wenigen Afro-Deutschen im Dritten Reich überlebten hauptsächlich, weil sie in Goebbels Filmen als afrikanische Wilde gebraucht wurden. 

- Der Spiegel über die MDR-Sondersendungen zur Völkerschlacht.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/11/fundstucke_11.html

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