Irische Geschichte, Teil 1: Die Geburt Irlands

Von Stefan Sasse

Die irische Flagge seit 1919
1921 endeten fast vierhundert Jahre britischer Herrschaft über die irische Insel. Das Land wurde geteilt. Während der kleine, nördliche Teil unter britischer Herrschaft verblieb und ein Teil des Vereinigten Königreichs wurde, wurde der große, südliche Teil ein unabhängiger Staat - die Republik Irland. Diese Teilung kam nicht friedlich zustande. Ihr voraus gingen Jahre des Guerilla-Krieges gegen die britische Krone, und dem Jahrzehnte der politischen Auseinandersetzung. Irland selbst fand auch nach der Unabhängigkeit keinen Frieden, sondern versank für Jahre in einem blutigen Bürgerkrieg, dessen Narben die irische Politik noch heute prägen. Im Folgenden soll die wechselhafte Geschichte des irischen Freiheitskampfs von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert über ihre Klimax um den Ersten Weltkrieg hin zur Transformation der irischen Republik dargestellt werden. 

Die Geschichte britischer Herrschaft über Irland beginnt offiziell mit dem Crown of Ireland Act von 1542, in dem das damalige irische Parlament den englischen König Heinrich VIII. in Personalunion zum König von Irland erklärte. Bereits vorher hatte eine indirekte englische Kontrolle über Irland bestanden, da der König von England seit 1177 als Lord of Ireland geistiger und weltlicher Oberlehensherr in den damals bestehenden feudalistischen Strukturen war. In Folge der Personalunion wurde das irische Parlament dem englischen untergeordnet und in seinen Rechten beschnitten, was der irischen Elite jedoch durchaus Recht war: anlässlich der Union zwischen Schottland und England zum United Kingdom 1707 gratulierte das irische Parlament und wünschte eine "still more comprehensive union".

Flagge des irischen Königreichs, 1542-1801
Im Verlauf des folgenden Jahrhunderts befasste sich Großbritannien jedoch nicht übermäßig mit der Insel und gab einen Großteil der legislativen Kompetenzen an das irische Parlament ab, das am Rande der Unabhängigkeit fungierte. Für die britische Krone war das kein besonderes Problem, denn die Iren waren mehrheitlich von der Regierungsmacht ausgeschlossen. Diese lag bei einer kleinen, protestantischen Elite, der so genannten "Protestant Ascendancy", die sich aus Klerus, Landbesitzern und reichen Geschäftsleuten zusammensetzte. Diese hatten ein Interesse an einer engeren Bindung zu Großbritannien, sowohl kommerziell als auch kulturell. Die mehrheitlich katholische irische Bevölkerung fand in dieser Art von Regierung genausowenig ihre Repräsentation wie Juden oder Presbyterianer (die sich vor allem im Raum Ulster konzentrierten).  Wie so häufig, wenn eine Elite die Macht an sich reißt und jeglichen Zugang für andere Gruppen verschließt, stellte sich eine Starrheit des Systems ein, das gegenüber Reformen sehr resistent und immer weniger in der Lage war, der wachsenden Unzufriedenheit mit den ökonomischen und politischen Umständen durch Anpassungen entgegenzukommen. 

Die Lage wurde 1782 nur weiter verschärft, als Irland eine neue Verfassung erhielt. Obwohl diese die bisherige weitreichende Autonomie von Großbritannien in weiten Teilen festschrieb, waren immer noch nur Protestanten zum Parlament zugelassen. Unter der Minderheit der Protestanten wiederum durften nur Landbesitzer wählen und gewählt werden, was die Wahlberechtigung insgesamt im niedrigen einstelligen Prozentbereich hielt. Für die politische Stabilität schwerwiegender als die Exklusion der armen Katholiken war aber, dass auch die schmale Schicht  wohlhabender Nicht-Protestanten keinerlei Repräsentation besaß. Die dominierende Figur des neuen irischen Parlaments ab 1782, Henry Grattan, erkannte dieses Problem und versuchte, durch einige moderate Gesetzesvorschläge eine teilweise Öffnung des irischen Systems gegenüber den Katholiken zu erreichen und somit eine Brücke zu schlagen, die die wachsende Unzufriedenheit entschärfen sollte. Sein vorrangiges Ziel war dabei die katholische Bevölkerung, deren Unzufriedenheit aufgrund der bloßen Menge die gefährlichste war. Er glaubte daran, dass die Religion hinter der gemeinsamen irischen Sache zurückstehen müsse.

Henry Grattan
Grattans innerparlamentarische Gegner aber vereitelten jeglichen Versuch, den irischen Minderheiten weitere Rechte zuzugestehen. Gleichzeitig diente vielen irischen Reformern die amerikanische Revolution als großes Vorbild, dem sie nachzueifern entschlossen waren. Es ist an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass dieser Konflikt ein inner-irischer Konflikt war. Die britische Oberherrschaft spielte eine vergleichsweise kleine Rolle; Grattan selbst etwa war ein glühender Loyalist und hatte dafür gesorgt, dass das Parlament 1782 als erste Amtshandlung 20.000 Seeleute für die Royal Navy bereitstellte. Er wollte ein stabiles, autonomes Irland, doch die Beharrungskräfte der alten Eliten erwiesen sich als zu stark. Deren Herrschaft ruhte vor allem auf zwei Säulen: der religiösen Zersplitterung ihrer Gegner - Katholiken und Prysbeterianer hassten sich selbst ebenso sehr wie sie die anglikanische Elite hassten - und der Hilfe britischer regulärer Truppen. Als deutlich wurde, dass Grattans Reformversuche gescheitert waren, brach eine dieser Säulen weg. 

Unter anderem inspiriert durch die Französische Revolution formierte sich 1791 in Belfast die Society of United Irishmen. In dieser fanden sich Katholiken, Prysbeterianer, Methodisten und andere "dissenter". Die Zielsetzung der United Irishmen war die Durchsetzung umfassenderer Reformen, doch der Ausbruch der napoleonischen Kriege zwang die Bewegung schnell in den Untergrund, um den Auswirkungen des Kriegsrechts zu entgehen, wo sie sich schnell radikalisierte und auf die totale Unabhängigkeit Irlands hinarbeitete. Die Gesellschaft suchte die Hilfe des revolutionären Frankreich, das sie mit Waffen versorgte und die Invasion einer Armee zur Sicherung der Unabhängigkeit versprach. Obwohl viele Mitglieder der Bewegung, die bereits mehrere hunderttausend Mann stark war, auf einen schnellen Schlag drängten, verschoben die Anführer jegliche Aktion bis zum Eintreffen französischer Hilfe - die freilich niemals kam. Die 14.000 Mann zählende französische Irlandexpedition musste 1796 auf halbem Wege umkehren. 

Britische Kavalliere greift bei Vinhill irische Truppen an.
Diese Verzögerung sollte sich als fatal erweisen. Nicht nur formierte sich nun eine Gegenbewegung, der anglikanisch geprägte Orange Order, in der Gegend um Ulster, die Franzosen eroberten außerdem Rom und setzten den Papst unter Hausarrest, der daraufhin eine dezidiert pro-britische Haltung einnahm und sich auch während der folgenden Rebellion klar auf die Seite der britischen Krone stellte und in der mehrheitlich katholischen Bevölkerung ernste Zweifel am Erfolg der Unternehmung weckte. Trotz dieser entscheidenden Nachteile wagten die Rebellen den Aufstand. Bereits am ersten Tag zeigte sich die Lückenhaftigkeit des Plans: die britischen Nachrichtendienste hatten Wind von der Aktion bekommen. Die britischen Truppen waren bei weitem nicht so unvorbereitet, wie man zuerst gedacht hatte. Auch gelang es nicht, den Postverkehr abzuschneiden. Trotzdem begann am folgenden Tag die Rebellion großflächig auszubrechen, denn trotz des Fehlschlagens der ersten Störangriffe vollzog sich die Erhebung der United Irishmen planmäßig. Innerhalb kurzer Zeit fanden blutige Gefechte überall im Land statt, wobei ein erster Schwerpunkt in Dublin lag, das für den britischen Nachschub eine entscheidende logistische Wasserscheide darstellte.

Die Franzosen versuchten erneut, in den Konflikt einzugreifen, wurden jedoch von der Royal Navy abgewiesen. Die Briten verlegten zahlreiche reguläre Truppen nach Irland, wo innerhalb von nur drei Monaten in brutalen Kämpfen voller Kriegsverbrechen auf beiden Seiten zwischen 20.000 und 50.000 Menschen ums Leben kamen - niemals wieder in der irischen Geschichte und nie zuvor starben so viele Menschen in so kurzer Zeit in einem gewaltsamen Konflikt. Gegenüber der Stärke der britischen Armee hatten die Rebellen ohne französische Unterstützung wenig Chancen und mussten schließlich nach den letzten Schlachten die Waffen strecken. Die kurze Phase des irischen Parlaments kam damit an ihr Ende. Die Briten schafften es ab und bereiteten die komplette Übernahme Irlands vor. 

Der "Union Jack" mit dem St. Patrick's Cross für Irland
Diese fand formell 1800 mit den Acts of Union statt, die formell England, Wales, Schottland und Irland zum Vereinigten Königreich zusammenschlossen. Anstatt ein eigenes Parlament zu haben, erhielten die Iren Sitze im britischen Parlament in London, die natürlich wiederum von der anglikanischen Elite besetzt wurden. Stimmen der Vernunft in London plädierten dafür, den Katholiken endlich gleiche Rechte einzuräumen (vor allem die Repräsentation im Parlament), aber der englische König erachtete das als unvereinbar gegenüber seinem Eid auf die britische Krone und die anglikanische Kirche. Dieser Streit zog sich bis 1829, als der Premierminister Wellington den König mit einer Rücktrittsdrohung zur Unterzeichnung des "Catholic Relief Act" zwang. Doch der Act konnte nicht verhindern, dass es in der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sporadisch zu religiös und politisch motivierten Gewaltausbrüchen kam. Besonders betroffen war dabei die Region um Ulster, in der der Orange Order seinen Sitz hatte, dessen Mitglieder immer wieder Straßenkämpfe mit den Katholiken ausfochten. Trotzdem wäre es vorstellbar gewesen, dass die Konflikte in Irland auf dieselbe Art geregelt werden würden wie im Rest Großbritanniens, wo im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr Menschen das Wahlrecht erhielten und der industrielle Aufschwung die Lebenslage allgemein verbesserte. Doch 1845 begann ein Ereignis, dem man für Irland kaum genug Bedeutung beimessen kann: die Große Hungersnot, the Great Famine.

Weiter geht's im zweiten Teil.

Literaturhinweise:

Bildnachweise: 
Irische Flagge - unbekannt (gemeinfrei)
Königsflagge - TRAJAN117 (GNU 12)
Grattan - unbekannt (gemeinfrei)
Vinhill - William Sadler (gemeinfrei)
Union Jack - unbekannt (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/05/irische-geschichte-teil-1-die-geburt.html

Weiterlesen

Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Ein Chirurgenset aus dem 19. Jahrhundert. Allein die Vorstellung, dass dieses Set ALLE Teile beinhaltet, mit denen Chirurgen arbeiteten lässt einem schwindeln.
- Trevor-Roper und die Hitler-Tagebücher. 
- Lächerliche Western-Mythen die jeder glaubt. 
- In den USA gibt es eine Bewegung, die die offizielle Aufhebung der Korematsu-Entscheidung von 1944 verlangt; dieser Artikel beleuchtet die Details. 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/05/fundstucke_13.html

Weiterlesen

Fundstücke

Von Stefan Sasse

- The Atlantic hat 50 Bilder aus der Welt vor 50 Jahren. Gemeint sind weniger Alltagsaufnahmen als vielmehr ikonische Bilder politischer Ereignisse, aber schon das ist sehr interessant. Oh, und "die Welt" meint natürlich die USA.
- Die kuriose Geschichte des Freistaats Flaschenhals 1919-1923. Eine ähnliche Geschichte gab es 1945 mit der Freien Republik Schwarzenberg, by the way.
- Cracked hat die Hintergrundgeschichten zu 21 berühmten historischen Fotos. Teilweise wirklich krasses Zeug dabei. 
- Die Welt hat eine detaillierte Rekonstruktion von Stalins Tod. Interessant, wie der Kerl letztlich an seiner eigenen Paranoia zugrundegeht.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/fundstucke_29.html

Weiterlesen

Aufstieg und Niedergang der Geschichtswissenschaft als Schrittmacher der Gesellschaft

Von Stefan Sasse

Leopold von Ranke
Die Geschichtswissenschaft ist, verglichen etwa mit den Naturwissenschaften, keine besonders alte Disziplin. Zwar gab es immer wieder einzelne Personen, die historische Abhandlungen schrieben - man denke etwa an Tacitus, Thukydides oder Polybios in der Antike -, doch diese erfüllten keinesfalls die Standards, die die Geschichtswissenschaft prägen und waren eher große Erzählungen, häufig mit direkter politischer oder moralischer Zielrichtung. Erste methodische Zusammenstellungen tauchten im 18. Jahrhundert auf - Schiller etwa war ein begeisterter Hobby-Historiker-, doch erst im 19. Jahrhundert entstanden vor allem in Deutschland die Geschichtswissenschaften mit der expliziten Zielsetzung "zu zeigen, wie es gewesen", um das berühmte Wort Leopold von Rankes zu benutzen. Dieser Anspruch purer Objektivität wird heute als Irrtum angesehen, nicht wegen der Intention, sondern wegen seiner Unmöglichkeit. Wir können Geschichte zwangsläufig immer nur durch die Brille unserer eigenen Zeit wahrnehmen und haben keine Möglichkeit, ein "objektives" Geschichtsbild zu erstellen. Objektive Geschichte existiert nicht, und seit diese Erkenntnis auch Eingang in die Lehrpläne gefunden hat stöhnen die Schüler über dieser Komplexität. 

Im Deutschland des 19. Jahrhunderts war Geschichte ein unglaublich populäres Feld, vergleichbar nur mit der Physik zwischen den Weltkriegen und der Ökonomie seither. Keiner dieser Disziplinen ist das Schlaglicht des Ruhms gut bekommen. Der plötzliche Ruhm, den die Vertreter der jeweiligen Disziplin dadurch genossen, stieg einigen nicht nur zu Kopf sondern weckte Erwartungen an ihre Arbeit, die diese unmöglich erfüllen konnte - ein Irrtum, der aus der erwähnten Eitelkeit nicht aufgedeckt wurde. Die Geschichtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts sahen ihre Aufgabe hauptsächlich darin, eine Meistererzählung der deutschen Geschichte zu schreiben. Der junge Nationalstaat, der vor kurzem noch aus kleinen Nationen wie Hessen-Nassau oder Baden bestanden und nicht über ein übermäßiges, schon gar nicht ethnisches, Zusammengehörigkeitsgefühl verfügt hatte, verlangte nach einer solchen. Die Historiker lieferten sie und zogen eine direkte Linie von Arminius, den man flugs "Hermann" taufte, und nahmen dankbar Tacitus Zivilisationskritik für bare Münze, um eine in den germanischen Urwäldern herumstreifende, edle Stammesgesellschaft als Urgrund der Deutschen zu konstruieren. Urwüchsige Natur, eine natürliche Ordnung und große Männer, die ihre Stammesbrüder für Großtaten wie den Kampf gegen die Römer zusammenschmiedeten - gerne erkannten sich die Deutschen darin wieder. 

Karl der Große
Über Karl den Großen konstruierte man direkt einen Zusammenhang ins Mittelalter, wo die diffizile Machtpolitik der Lehensfürsten flugs zu einer Kulturmission der deutschen Sendung umdefiniert wurde. Der Dreißigjährige Krieg wurde so zu einem Grundübel, das von außen heraufbeschworen worden war, von Böhmen, Österreichern und Schweden, vor allem aber den Franzosen. Die "Erbfeindschaft" konnte so auch hier auf eine lange Ahnentradition zurückblicken, die sich mit der Aufspaltung von Karls Großreich auch beliebig bis ins Mittelalter verlängern und gegebenenfalls mit Verweis auf Kämpfe zwischen Kelten und Germanen nicht zuletzt während der Völkerwanderung auch in die mystische Urgeschichte ziehen ließ. Echten Erklärungsgehalt für zeitgenössische Phänomene besaß das alles natürlich nicht, aber der Mantel der Geschichte wurde mit all seinem Gewicht gerne jeglicher Politik umgehängt, die einer solchen Rechtfertigung bedurfte. Wer konnte etwa das Kolonialisierungsprogramm kritisieren wenn man sich vor Augen hielt, dass die Bekehrung und Zivilisierung der Barbaren seit Karl dem Großen deutsche Tradition und deutsche Sendung war? Zu versuchen, gegen die Geschichte zu argumentieren, war praktisch aussichtslos, und es verwundert nicht, dass auch die entschiedenen Gegner auf die Geschichte zurückgriffen: Karl Marx postulierte nicht umsonst geschichtliche Gesetzmäßigkeiten, die seiner Theorie die Aura einer religiösen Offenbarung verliehen.

Sein Ende fand all diese Geschichtsklitterei mit den Weltkriegen. Bereits der Erste Weltkrieg sorgte für eine schwere Erschütterung in der Vorstellung, die Deutschen seien alle durch ein mystisches Band des Nationalstaats miteinander verknüpft, und spätestens die Brachialvulgarisierung historischer Ereignisse im Nationalsozialismus trieb jeglichen Anspruch an eine gesamtgesellschaftliche Deutungshoheit aus der Geschichtswissenschaft. Sie verlegte sich auf bescheidenere Ziele, die auch in ihrem Vermögen lagen: ein möglichst detailliertes und aussagekräftiges Modell zu entwickeln und gegebenenfalls der Vereinnahmung der Geschichte durch Laien vor allem in der Politik eine differenzierte Analyse gegenüberzustellen. Die Wissenschaft ist dadurch reicher geworden, reicher an Interpretationen, an Erklärungsmustern, an Ansätzen und an Erkenntnissen. Ohne den Anspruch, eine Meistertheorie bieten zu können, die dem Leben und Streben der Menschen Struktur und Sinn bietet. Für die Hybris der Geschichtswissenschaft musste bitter gebüßt werden. Die Physik hatte Glück; der Kalte Krieg bewahrte sie vor diesem Schicksal, und sie zog sich still wieder auf ihr Fachgebiet zurück. Der Ökonomie ist dieses Glück nicht beschieden, und die aktuelle Debatte um Rogoff und Reinhard zeigt, auf welch fatalen Irrwege die Verabsolutierung von Theorien und Modellen führen kann.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/aufstieg-und-niedergang-der.html

Weiterlesen

Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Hubertus Volmer äußert sich zur Kollektivschuldthese. 
- Farbaufnahmen von Paris, 1909-1929
 - Eine brillante Analyse über den deutschen Umgang mit Hitler in der FAZ. Es geht vor allem um die Rezeption in der Geschichtswissenschaft und warum alle bedeutenden Werke über den Nationalsozialismus aus den angelsächsischen Universitäten kommen.
- Die höchsten Gebäude der Welt, Stand 1884.


Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/fundstucke_15.html

Weiterlesen

Die USA um 1900, Teil 3/3

Von Stefan Sasse

In Teil 1 haben wir die Außenpolitik und imperialen Ambitionen der USA in der Epoche um 1900 sowie ihre ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit zu jener Zeit besprochen. Die imperialen Ambitionen fußten im so genannten "American Exceptionalism", also der Idee, dass die USA ein ganz besonderes Land seien, während die Fremdenfeindlichkeit der Strömung des "Nativism" zugeordnet werden kann, die eine Unvereinbarkeit von nicht-protestantischen Einflüssen mit dem American Way of Life propagierte. In Teil 2 wurden die Arbeitskämpfe jener Epoche, hervorgerufen durch die miserablen Arbeitsbedingungen, und die wirtschaftliche Funktionsweise der "gilded age" besprochen. Besonderes Gewicht wurde dabei auch auf die heiß debattierte Frage des Bimetallstandards gelegt, der die Präsidentschaftswahlen 1896 maßgeblich prägte. 

Theodore Roosevelt 1904
Roosevelt, obwohl sicherlich kein "Mann des Volkes", brach aus vielerlei Gründen mit den bisherigen Konventionen. Er war was man einen Charakter nennen kann: als Kind reicher Eltern kränklicher Bücherwurm überwand er seine schwächliche Physis und ging nach dem Studium in die Politik. Als seine Frau und seine Tochter am selben Tag starben, verließ er die Politik und ging als Rancher in die Dakota Badlands, was ihm eine Aura harter Arbeit und Frontier-Erfahrung verlieh, was es bis dahin kaum in besseren Kreisen gegeben hatte. Roosevelt kehrte dann in die Politik zurück und wurde ein Law&Order-Polizeichef mit harter Linie, ehe der spanisch-amerikanische Krieg 1898 ihm zur Berühmtheit verhalf, indem er das Freiwilligenregiment der Rough Riders gründete und auf Kuba anführte. Das Regiment erreichte zwar wenig, aber Roosevelt wusste es gut zu vermarkten und konnte als Kriegsheld mit einer Politik der harten Hand nach außen (Imperialismus, Schutzzölle, militärische Stärke) und einer progressiveren Politik nach innen (Kampf gegen die Monopole) sowie einem Konservatismus der Bewahrung der Natur aus seiner Badlands-Zeit die Parteibasis für sich gewinnen und die Vizepräsidentschaft McKinleys erlangen.
Nach dessen Ermordung nur ein Jahr nach der Wiederwahl wurde Roosevelt 1901 Präsident. Das Motto, unter das er seine Präsidentschaft stellte, war der "Square Deal" (den Franklin D. Roosevelt später mit dem "New Deal" wieder aufgreifen sollte), was in etwa "faires Geschäft" bedeutet. Der Square Deal wurde gerne unter den "drei C" zusammengefasst: Conservation (Bewahrung der natürlichen Ressourcen), Control (Kontrolle der Unternehmen, vor allem der Monopole) und Consumer Protection (Verbraucherschutz). Für die damalige Zeit waren diese drei Ideen revolutionär. Niemand war bisher auf die Idee gekommen, dass die Natur schutzbedürftig wäre, stattdessen sah man sie vorrangig als Ressourcenreservoir an. Innerhalb kürzester Zeit wurden die großen Nationalparks populär, in denen man die "wilde Natur" auf fest angelegten Wanderwegen und Zeltplätzen erkunden konnte. Eingriffe des Staates in die Wirtschaft waren bisher ebenfalls stets verdammt worden, doch die Monopole mussten gebrochen und die miserablen Arbeitsbedingungen beendet werden, gegen die es seit einiger Zeit zahnlose und nicht durchgesetzte Gesetze gab. Und zuletzt sollten die Verbraucher Rechte erhalten und nicht mehr auf Gedeih und Verderb dem Betrug durch die Unternehmen ausgesetzt sein, was im Zeitalter des beginnenden Massenkonsums eine besondere Wichtigkeit besaß. 

Roosevelts offizielles Porträt
Besonders bei der Kontrolle der Unternehmen konnte Roosevelt auf einen machtvollen Verbündeten setzen: den Zeitgeist. Im beginnenden 20. Jahrhundert hörte mit Roosevelt nicht nur der traditionelle Schulterschluss zwischen Politik und Big Business wenigstens teilweise auf; auch die Medien vergrößerten den Abstand. Gerade junge Journalisten stürzten sich begierig auf ganz neue Arten der Berichterstattung: einerseits die investigative Recherche, besonders über die kriminellen Aktivitäten der Monopole, andererseits die in Deutschland in den 1970er Jahren von Günter Wallraff popularisierte Recherche durch direkte Infiltration der Betriebe. Die Journalisten berichteten aus erster Hand über die teils katastrophalen Arbeitsbedingungen oder schrieben lange Berichte über die Verflechtungen und Preisabsprachen der großen Kartelle. Die entsprechenden Texte waren Knüller und wurden in hohen Auflagen gedruckt, was weitere Recherchen und einen Zwang zum Finden eigener Skandale war. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Profitdruck der großen Zeitungen die Profitmaschinen der Monopole zu Fall brachte, indem er einen gewaltigen öffentlichen Druck erzeugte, der Roosevelts Anti-Trust-Politik die nötigen Stimmen im Kongress brachte. Natürlich ist Roosevelt auch nicht frei gegenüber Einflüssen des Big Business gewesen; United Steel etwa beschützte er Zeit seiner Präsidentschaft ("a good trust") und brach sogar mit seinem Nachfolger Taft über diese Frage. Wie so oft ermüdete die Öffentlichkeit aber irgendwann über die Monopolskandale und Arbeitsbedingungsberichte, so dass auch diese Politik starb unter erneut laissez-faire-Politiken Platz machte. Erst unter Franklin D. Roosevelt würde diese Politik wieder aufleben. Für die großen Monopolisten aber war es trotzdem das Ende ihrer Hochzeit. Viele von ihnen zogen sich nach der Zerschlagung ihrer Konglomerate ins Privatleben zurück und richteten Stiftungen ein, mit denen sie ihr Bild für die Nachwelt ins günstigere Licht stellen wollten - Rockefeller ist dafür nur ein Beispiel von vielen.

Roosevels Politik veränderte das Gesicht Amerikas trotzdem stark. Nach innen war er, wie bereits beschrieben, ein Law&Order-Politiker, der eine harte Hand gegenüber dem Verbrechen zur Schau stellte. Besonders angesichts der Umstände seiner Präsidentschaft, der Ermordung McKinleys, war das nur zu verständlich. Die USA litten zu jener Zeit unter einer ganzen Serie von Anschlägen, die der anarchistischen Bewegung zugerechnet wurden. In vielerlei Hinsicht waren die damaligen Anarchisten das, was heute der islamistische Terror ist: eine fremdartige Gefahr, eine völlig unverständliche Ideologie, die von Migranten ins Land gebracht wurde von denen man ohnehin davon ausging, dass sie dem American Way of Life nicht zuträglich waren: Ost- und Südeuropäer, vor allem. Einer der prominentesten war Mikhail Bakunin, der ein ganzes Netzwerk anarchistischen Terrors aufbaute. Grundlegend dafür war die Ideologie der "Propaganda der Tat": anstatt Flugblätter zu verteilen und die Menschen für ihre Ideen zu gewinnen, wollten die Anarchisten dieser Couleur durch spektakuläre Taten das System erschüttern und die Menschen wachrütteln. Dieses Ziel erreichten sie damals genauso wenig wie heutige Terroristen. 

Mikhail Bakunin
Stattdessen lösten sie eine schwerwiegende Gegenbewegung aus. Nicht nur wurden die Sicherheitsorgane deutlich repressiver und erlaubten der Politik, eine ganze Reihe von "Sicherheitsgesetzen" mit weitreichenden Befugnissen durchzusetzen; auch die ohnehin vorhandenen Vorurteile, Ängste und Hassgefühle gegenüber den Migranten wurden noch einmal deutlich verstärkt. Die Angst vor den Anarchisten und die überzogenen Gegenmaßnahmen kontrastierten auf unschöne Weise die progressive Politik jener Epoche. Es half nicht, dass viele Anarchisten zudem noch Beziehungen zu den kommunistischen Bewegungen hatten, besonders die russischen Anarchisten wie Bakunin. Die Osteuropäer wurden ohnehin bereits als unpassende Fremde wahrgenommen; Kommunisten aber waren der Todfeind, vollkommen unvereinbar mit dem, für was Amerika stand, besonders aber mit der um 1900 vorherrschenden Religiosität und dem Gedanken des American Exceptionalism. All das wurde ab 1917 noch einmal schlimmer, als die Machtübernahme der Bolschewiken in Russland alle Befürchtungen zu bestätigen schien, obwohl die Hochzeit des anarchistischen Terrors zu dieser Zeit bereits lange vorüber war.

Die Zeit um 1900 stellt für die USA eine Epoche des Umbruchs dar, wie es ihn seit dem Bürgerkrieg nicht mehr erlebt hatte. Für viele Menschen der damaligen Zeit war dies ein hochgradig irritierender Vorgang. Nicht nur kamen politische Vorgänge an ihr Ende - vor allem die enge Verquickung der Oberschicht in Politik und Wirtschaft mit ihrer Verachtung des "einfachen Volks", die beide nicht mehr aufrechtzuerhalten in der Lage waren, die Politiker aber noch weniger als die Unternehmer. Doch nicht nur politische Umbrüche erschütterten die amerikanische Gesellschaft. Der konstante Input von tausenden Migranten jährlich sorgte für eine starke Verschiebung ethnischer Gewichte. Die klassischen angelsächsischen Protestanten wurden immer mehr zu einer Minderheit. In einem sich in jedem Einwanderungsland wiederholenden Muster verbündeten sie sich mit der jeweils vorherigen Einwandererwelle gegen die nächste - die Iren würden an vorderster Front dabei sein, als es darum ging, die Latino-Migration abzuwehren, die den American Way of Life jetzt bedrohte oder den Schwarzen weiter ihre Bürgerrechte vorzuenthalten. 

Präsident Wilson erklärt im Kongress 1917 Deutschland den Krieg
Die Änderung der Lebensverhältnisse selbst war jedoch der wohl größte Sprung, den der Jahrhundertwechsel mit sich brachte. Eine Vielzahl neuer Technologien wälzte das Leben grundlegend um und legte den Grundstein für die Schrumpfung des Agrarsektors, die durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 noch einmal einen Katalysator finden würde (vergleiche auch der Artikel über "Die Great Depression in den USA"). Auf dem Sektor der Außenpolitik wurden die USA ein Player auf der globalen Bühne. Sie bauten ihre Navy stark aus und intervenierten in zahlreichen Ländern ihrer Hemisphäre. Gegenüber den Europäern grenzten sie den Doppelkontinent klar als ihre Interessenssphäre ab und zögerten nicht, diesen Anspruch auch militärisch durchzusetzen. Nur eine Dekade später würde dieser Wandel mit der Teilnahme am Ersten Weltkrieg und der kriegsentscheidenden Rolle der USA einen vorläufigen Höhepunkt finden, der in seiner Geschwindigkeit zu den erschütternden Ereignissen der Zeit passte. Wie auf so viele Entwicklungen jener Epoche reagierten die Zeitgenossen auch darauf mit Furcht und einem Versuch, sich von den Entwicklungen abzuschirmen. Schutzzölle, Migrationsbeschränkungen, neue Polizeigesetze und der Isolationismus nach dem Ersten Weltkrieg sind alle Ausdruck dieser tiefen Unsicherheit, die so merkwürdig mit dem Sendungsbewusstsein des "American Exceptionalism" kontrastiert. 

Ich hatte eingangs erklärt, dass der Weg der USA aus den Unsicherheiten der Epoche ein anderer war als der, den Deutschland wählte. Obwohl beide Staaten sich in einer aggressiven Außenpolitik ergingen und durchaus aufgeschlossen gegenüber der Zurschaustellung von militärischer Stärke waren, so hatte die demokratische und individualistischere Prägung der USA eine wesentlich stärkere Korrektivfunktion parat als dies in Deutschland der Fall war. Der Massenkonsum und liberale Individualismus, der in den USA nach 1900 erwuchs, wurde in Deutschland fast militant abgelehnt. Auch ging hier der staatliche Schutz der Großindustrie wesentlich weiter, war die Verflechtung und damit auch die Autoritätshörigkeit wesentlich größer. Um 1900 aber waren die Unterschiede bei weitem nicht so ausgeprägt wie die Gemeinsamkeiten, ein Befund, den man nur 20 Jahre später nicht mehr anstellen konnte.

Literaturhinweise:
Videospiel "Bioshock Infinite", das sich mit den hier besprochenen Ideen und Ereignissen auseinandersetzt und die Inspiration für diesen Artikel bot: PC, PS3, X360
Joe Fiedler - Mind in Revolt
Bildnachweise: 
Theodore Roosevelt - Pach Brothers (gemeindrei)
Porträt - John Singer Sargent (gemeinfrei)
Mikhail Bakunin - Sotjhesby's (gemeinfrei)
Kriegserklärung - Harris&Ewing (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/die-usa-um-1900-teil-33.html

Weiterlesen

Fundstücke

Von Stefan Sasse

- Der erste Kitler wurde 1939 fotografiert. Wow. 
- Der Bürgerkrieg hat offenbar auch die Presse und das Zeitungsleseverhalten geändert.
- Die Stadt München möchte wegen Angst vor Vandalismus keine weiteren Stolpersteine mehr legen. Das halte ich für den dümmsten möglichen Grund. 200 von den Dingern lagern inzwischen im Keller der Stiftung deswegen.
Wie der KGB die Sowjetunion überlebte.  

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/fundstucke.html

Weiterlesen

In eigener Sache

Von Stefan Sasse

Es gab zuletzt berechtigte Kritik an der Fundstücke-Politik, die ich hier treibe - will heißen, ein eigener Blogpost für jeden Link. Das macht das Blog unübersichtlich und unschön. Ich habe mich deswegen entschlossen, die Fundstücke zu größeren Fundstücke-Posts zusammenzufassen, die in semi-regelmäßigen Abständen gepostet werden. Für einen wöchtentlichen Post wird es wohl nicht reichen, aber ich peile etwa alle zwei Wochen an. Auf die Art bleiben eure Feedreader etwas sauberer, und das Layout des Blogs gewinnt sicher auch.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/in-eigener-sache.html

Weiterlesen

Die USA um 1900, Teil 2/3

Von Stefan Sasse

In Teil 1 haben wir die Außenpolitik und imperialen Ambitionen der USA in der Epoche um 1900 sowie ihre ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit zu jener Zeit besprochen. Die imperialen Ambitionen fußten im so genannten "American Exceptionalism", also der Idee, dass die USA ein ganz besonderes Land seien, während die Fremdenfeindlichkeit der Strömung des "Nativism" zugeordnet werden kann, die eine Unvereinbarkeit von nicht-protestantischen Einflüssen mit dem American Way of Life propagierte. 

Pinkerton-Agenten beschützen Streikbrecher
Doch nicht nur Migranten erlebten furchtbare Arbeitsbedingungen bei mieser Bezahlung. Der große Aufschwung, der durch die zahlreichen Innovationen des späten 19. Jahrhunderts befeuert wurde - Elektrizität, fließendes Wasser, chemische Industrie, etc. - machte einzelne "robber barons" (Räuberbarone), wie man die großen Industriellen jener Epoche nannte, unermesslich reich. Namen wie Carnegie, Astor, Rockefeller oder Vanderbilt stehen heute noch sinnbildlich für jene Zeit. Bei den Arbeitern selbst, die in den entstehenden riesigen Fabriken schufteten, kam davon freilich wenig an. Ihre Arbeitszeiten waren extrem lang, ihre Bezahlung schlecht, ihnen konnte jederzeit gekündigt werden und sie mussten das oft diktatorische Regime der patriarchalischen Unternehmer ertragen. Jeder Versuch, eine Gewerkschaft zu gründen oder nur einer beizutreten war ein sofortiger Kündigungsgrund, und oft genug hatten die robber barons die absolute Dominanz in der lokalen Wirtschaft, so dass es kaum möglich war, einen Job zu finden wenn man erst einmal beim Streiken erwischt worden war.

Dass trotz dieser Bedingungen immer wieder heftige Streiks ausbrachen zeigt die Schwere dieser Bedingungen nur umso mehr auf. Wenn die Arbeiter sich doch einmal zu Streiks organisierten, setzten die Industriebosse aggressive Streikbrecher ein. Sie verstanden sich vor allem darauf, die verschiedenen Gruppierungen gegeneinander auszuspielen. Während normalerweise niemand auf die Idee kommen würde, Iren oder Italiener einzustellen, wurden sie als Streikbrecher gerne genommen (und die Einwanderer ergriffen die Gelegenheit in Hoffnung auf eine Festanstellung begehrlich, die freilich praktisch nie dabei herauskam), was weiter zu den Konflikten zwischen Alteingesessenen und Einwanderern beitrug und dem Nativism ständig neue Nahrung verschaffte. Zu trauriger Berühmtheit kam während dieser Streiks auch die Detektei Pinkerton. Die Agentur genoss einen finsteren Ruf, denn in ihren Diensten fanden sich die übelsten Charaktere und Schlägertypen, die gerne als Streikbrecher eingesetzt wurden. Die völlige Kompromisslosigkeit der Industriebosse führte zu ungeheuer brutalen Auseinandersetzungen. 

Pinkerton-Agenten nach der Kapitulation
Ein Beispiel dafür ist der Homestead-Streik von 1892, in dem rund 300 Pinkerton-Agenten angeheuert wurden, um einen Streik im Industriegebiet von Pittsburgh zu brechen (die Aktion wurde von gleich zwei Räuberbaronen koordiniert, Carnegie und Frick). Sowohl die streikenden Arbeiter als auch die Pinkerton-Agenten waren schwer bewaffnet, und die Pinkerton-Agenten führten eine regelrechte Landeoperation durch, um die Fabriken zurückzuerobern, die in ein Feuergefecht ausartete, das sechzehn Männer das Leben kostete (neun Streikende und sieben Pinkerton-Agenten). Die Pinkerton-Agenten wurden an den Fluss zurückgetrieben und mussten, umzingelt und ohne Fluchtmöglichkeit, kapitulieren. Die Ereignisse von Homestead nahmen die Öffentlichkeit allerdings gegen die Streikenden ein, denen die Schuld am Ausbruch der Gewalt in die Schuhe geschoben wurde. Nach dem Pinkerton-Desaster sandte der Gouverneur von Pennsylvania zwei Brigaden der Nationalgarde, um die Streikenden zu entwaffnen. Zwar war eine Eskalation in diesem Maßstab eher die Ausnahme als die Regel, zu Gewalt kam es aber bei diesen Streiks, die mangels Gewerkschaften und wegen der Kompromisslosigkeit der Industriebosse keine friedlichen Lösungsmechanismen kannten, praktisch immer. 

Doch während die sozialen Verwerfungen durch das Aufkommen der neuen Industrien und ihrer riesigen Monopolherren zu den düsteren Seiten jener Epoche gehören, muss man sich auch klarmachen welche gigantischen Umwälzungen sie im Alltag der Menschen bedeuteten. Im Rahmen von kaum einer Generation änderte sich das Alltagsleben stärker als durch den Siegeszug des PCs und des Internets. Um 1860 lebte die Mehrheit der Menschen noch auf dem Land in Holzhäusern, machte Licht mit Öllampen und bestellte den Boden, während man in der Stadt in furchtbaren Elendsquartieren lebte. Das Hauptfortbewegungsmittel waren die eigenen Füße und das Pferd. Die meisten Güter, die man konsumierte, waren selbst hergestellt oder innerhalb kleienr dörflicher Gemeinden entstanden. Um 1890 hatten sich die Reisezeiten durch die dramatische Ausbreitung der Eisenbahn um ein vielfaches verkürzt, die auch für einfache Leute erschwinglich war. Elektrische Straßenlaternen machten das Durchqueren der Stadt auch nach Sonnenuntergang halbwegs sicher möglich. Kanalisationen schafften die Fäkalien weg und reduzierten die Sterblichkeit deutlich. Eine ganze Palette neuer Behandlungsmethoden für Krankheiten war aufgekommen und erhöhte die durchschnittliche Lebenserwartung um über ein Jahrzehnt, während die Kindersterblichkeit deutlich absank. In immer mehr Haushalten war fließendes Wasser verfügbar. Billig in Massenproduktion hergestellte Kleidung und Nahrung und die deutlich gesunkenen Transportkosten machten mehr Einkommen für andere Ausgaben verfügbar, und die ersten zarten Pflänzchen des späteren Massenkonsums sprossen (es sollte eine neue Generation von Unternehmern sein, allen voran Ford, die die Macht dieses Konsums erkannten und ihre Unternehmenspolitik entsprechend gestalteten). 

Wahlkampf um die Frage des Bimetall-Standards
Die Zeit um 1900 war jedoch nicht nur von Arbeitskonflikten geprägt. Auf der volkswirtschaftlichen Ebene war ein heftiger Streit um die Frage des Finanzsystems entbrannt. Dieser hatte seinen Hintergrund in der Finanzierung des Bürgerkriegs: Der Norden hatte mit dem "greenback" erstmals eine Papierwährung (Fiat-Währung) geschaffen, die als legales Zahlungsmittel akzeptiert wurde. 1873 aber wurde der Goldstandard eingeführt, obwohl Silber ebenfalls noch (in einer Rate von 16:1) als legales Zahlungsmittel akzeptiert wurde. Die Republicans wollten jedoch auf einen reinen Goldstandard hinaus und argumentierten, dass dies die Währung deutlich stabilisieren und die Inflation bekämpfen würde. Die Democrats dagegen forderten eine Ausweitung der Silbermenge ("free silver"), um Geldknappheit zu verhindern (wenn die Goldpreise marktbedingt stiegen, neigten die Menschen dazu die Goldwährung aus dem Verkehr zu ziehen, einzuschmelzen und für den Goldwert zu verkaufen). Diese Frage erreichte 1893 eine ungewohnte Heftigkeit, als in der "Panic of 1893" eine landesweite Rezession ausbrach.

Hintergrund dieser Rezession war eine Blase im Eisenbahnbau, eine Branche, die wegen der engen Verknüpfung mit der Politik und der damit einhergehenden Korruption sowie einer Neigung zu übertriebenen Erwartungen und Börsenhypes ohnehin zu Blasen neigte. Der Zusammenbrach einer Eisenbahnunternehmung riss 1893 mehrere Banken mit den Abgrund, und landesweite Panik war die Folge. Die Menschen zogen ihr Geld aus den Banken ab, was den Geldkreislauf deutlich ins Stocken brachte, und im europäischen Ausland, vor allem im Großbritannien, wurden massiv (in Gold konvertierbare) Anlagen verkauft, was eine effektive Zahlungsunfähigkeit der USA nach sich zog. Wie immer in Wirtschaftskrisen kämpften danach mehrere Gruppierungen um die "richtige" Deutung der Geschehnisse. Im Wahlkampf 1896 kulminierte dies in einem dramatischen voter realignment (einer Wanderung von Wählern von einer Partei zur anderen). Die Republicans, die für einen rigiden Goldstandard eintraten, hatten die Kongresswahlen 1894 deutlich gewonnen und erwarteten bei den Präsidentschaftswahlen mit ihrem Kandidaten McKinley einen vergleichbar einfachen Sieg. Der Kandidat der Democrats, William J. Bryan, vertrat jedoch aggressiv die Einführung eines Bimetallstandards, der Silber zur offiziellen Währung erklären würde. Dies würde die Inflation steigern und damit vor allem zwei Gruppen helfen: den Farmern, die ihre Kredite zurückbezahlen konnten, und den Minenbesitzern, die das Silber schürften. In den Umfragen legte Bryan deutlich zu und gefährdete McKinleys sicher geglaubten Wahlsieg. 

Wahlplakat McKinleys 1896
McKinleys Wahlkampfberater Mark Hanna inszenierte daraufhin den ersten modernen Wahlkampf der Geschichte. Eine vorher nie dagewesene Summe Geld floss in den Wahlkampf (McKinley gab fünfmal so viel  Geld aus wie Bryan; heute entspräche die Summe atemberaubenden drei Milliarden Dollar). Gleichzeitig gelang es den Republicans, eine starke Allianz aus Unternehmern, Facharbeitern und wohlhabenden Farmern zu schmieden, die vor allem im Nordosten, nördlichen Mittelwesten und Westen erfolgreich war (in etwa identisch mit den Zentren der heutigen Democrats). Wahlentscheidend aber dürfte sein framing gewesen sein, also die Deutungshoheit über den Kandidaten. Es gelang McKinley, Bryans Pläne für einen Silberstandard als Inflationsgefahr darzustellen und seine eigene, am Goldstandard ausgerichtete Politik als seriös und sicher ("sound money") darzustellen, obwohl sie die Krise wohl eher verschärfte. An diesem Muster hat sich bis heute wenig geändert. Bryan verlor die Wahl knapp.

Sowohl McKinley als auch Bryan hatten eines gemeinsam: sie traten gewichtig für die Interessen der Wirtschaft ein. Die Idee einer Politik für die breite Masse brauchte noch bis zu Franklin D. Roosevelt in der Wahl 1932 (und einem erneuten voter realignment), weswegen sich an den schlimmen Zuständen für die Arbeiter wenig änderte. Die Rezession tat dazu ihr Übriges und half den Industriebossen eher, ihre Monopole zu festigen. Tatsächlich waren die riesigen Betriebe, über die die "robber barons" verfügten, inzwischen zu einem ernsthaften volkswirtschaftlichen Problem geworden. Die Monopole, etwa von Rockefellers Standard Oil, des Morgan Bankenkonglomerats, der Gould Eisenbahnsysteme oder Carnegies Eisenproduktion, waren so riesig, dass sie oft zwischen 60 und 80% Marktanteil besaßen und jede Konkurrenz ausschalten konnten. Für den Kapitalismus als solchen war diese Situation verheerend, da Monopole grundsätzlich innovationshemmend wirken und die Preise verzerren. Auch für die Arbeiter war die Situation schlecht, da es keine Alternativen und daher praktisch keine Verhandlungsmacht gab. Die Politiker jener Epoche aber hatten die Position der Unternehmer, dass jeglicher staatlicher Eingriff in die Wirtschaft Sozialismus bedeute und der Wirtschaft schade, verinnerlicht. Entsprechend erschien es zumindest als sehr unwahrscheinlich, dass sich hier etwas ändern würde. Das "vergoldete Zeitalter" (im Gegensatz zu einem goldenen Zeitalter scheint es nur golden und ist unter der Oberfläche etwas anderes) schien die Menschen langsam zu erdrücken. Erst die Ermordung William McKinleys und die folgende Vereidigung Theodore Roosevelts bedeuteten hier einen Paradigmenwechsel. 

Weiter geht's im dritten Teil.

Literaturhinweise:
Videospiel "Bioshock Infinite", das sich mit den hier besprochenen Ideen und Ereignissen auseinandersetzt und die Inspiration für diesen Artikel bot: PC, PS3, X360
Joe Fiedler - Mind in Revolt

Bildnachweise: 
Pinkerton - Joseph Becker (gemeinfrei)
Kapitulation - Dabbs (gemeinfrei)
Plakate - GOP (gemeinfrei)
McKinley Plakat - Gillespie, Metzgar & Kelley (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/die-usa-um-1900-teil-23.html

Weiterlesen