Der Ursprung des Anti-Amerikanismus

Von Stefan Sasse

Typische anti-amerikanische Darstellung
Der Anti-Amerikanismus ist in Deutschland tief verwurzelt. Wir schleppen ihn bereits seit langer Zeit in unserer historischen DNA mit herum. Man begegnet ihm in verschiedenen Formen, ob es in der pauschalen Aburteilung der Amerikaner als ein "kulturloses" Volk ist - Stichwort Hollywood - oder ob es die oftmals blutigen Interventionen in anderen Staaten ist. Obwohl die Deutschen bereits im 19. Jahrhundert eine Meinung zu den Amerikanern hatten (Friedrich Daniel Bassermann etwa zog die USA in seinem Aufruf zur Wahl einer Nationalversammlung 1848 ausführlich und explizit als Vorbild heran), entwickelte sich das eigentliche, spannungsgeladene Verhältnis zu Amerika erst in den 1920er Jahren. Die Amerikaner waren für Deutschland vorher keine echte Größe. Das ausgehende "lange 19. Jahrhundert" (1789-1914/18) war so eurozentristisch gewesen, dass der langsame Aufstieg der USA zur Großmacht eher unbemerkt vonstatten ging, noch dazu, da die Amerikaner dem Kolonialismus offen abschworen. Ihr entscheidender Eintritt in den Ersten Weltkrieg, ihr demokratisch-liberales Versprechen der "14 Punkte" und der von den Deutschen als Verrat empfundene Gang der Friedensverhandlungen in Versailles schleuderten die USA mit einem Mal jäh in die deutsche Aufmerksamkeit.

Der Anti-Amerikanismus der 1920er Jahre war vornehmlich eine konservative Erscheinung. Nicht nur verübelten die Rechten den USA ihre Teilnahme am Weltkrieg gegen Deutschland. Der wirtschaftliche Erfolg Amerikas und seine wichtige Rolle für die Finanzierung Deutschlands, das mit amerikanischen Krediten die Reparationen aus dem Versailler Vertrag bediente, sorgten ebenfalls für Animositäten. Zum Teil aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus, zum Teil auch einfach aus Chauvinismus entwickelten die Rechten einen Anti-Amerikanismus, der sich vor allem durch seinen konstruierten Gegensatz von Zivilisation und Kultur auszeichnete. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten deutsche Vordenker gerne einen solchen Gegensatz zwischen Deutschland und England gezeichnet, der nun nahtlos auf die USA übertragen wurde, wo er auf deutlich furchtbareren Boden fiel. 
Man beachte die Sprache.

Dieser Lesart zufolge habe Deutschland "Kultur" - man muss sich im Geiste dazu Goethe, Mozart und Hegel denken - während die USA zwar die Annehmlichkeiten der "Zivilisation" besitzen - also Kühlschränke, Autos und Telefone - aber eben jegliche geistige Entwicklung vermissen ließen. Verstärkt wurden diese Vorurteile durch Reiseberichte, die im Tenor negativ die neuen Entwicklungen und Trends aus den USA in den Fokus rückten, vor allem den Jazz, Radio und den aufkommenden Massenkonsum. Da diese Entwicklungen zeitverzögert auch in Deutschland ankamen und im konservativ und völkisch geprägten Rechts-Milieu auf Ablehnung stießen, konnte der Anti-Amerikanismus massentauglich werden, war man doch mit dem "amerikanischen Sittenverfall" bereits vor der eigenen Haustüre konfrontiert. Zusätzlich eigneten sich die USA mit ihrer schwarzen Bevölkerung und der vergleichsweise geringen Diskriminierung von Juden als Projektionsfläche für rassistische Ressentiments. Diese Entwicklung verstärkte sich in der Nazi-Diktatur natürlicherweise noch und fand ihren Höhepunkt während des Krieges.

Nach dem Krieg jedoch war Anti-Amerikanismus auf Seiten der Rechten ein Randphänomen der Extremisten, vor allem der Neo-Nazis. Die Konservativen und Bürgerlichen warfen sich dem neuen Freund, der ihren bürgerlichen Staat gegen den drohenden Kommunismus zu garantieren schien, um den Hals. Zwar lebten die Ressentiments gegen die "Zivilisation" fort, blieben jedoch auf die heimischen Wohnzimmer begrenzt, wo man den Nachwuchs möglichst lange von der aufkommenden amerikanischen Popkultur von James Dean bis Elvis fernzuhalten gedachte. Da die deutsche Kulturszene aber kein eigenständiges Angebot machen konnte, war der Siegeszug der amerikanischen Unterhaltungsindustrie nicht aufzuhalten, und das Meckern verkam zu einer reinen Symbolgeste, mit der man seine eigene Intellektualität unterstrich. 

Anti-amerikanische Demo 1984
Stattdessen entwickelte sich auf der Linken in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein gänzlich anderer Strang deutschen Anti-Amerikanismus. Für sie war Amerika bisher weder Urquell alles Bösen noch großer Magnet der Hoffnungen gewesen. Der Ost-West-Konflikt aber schleuderte sich als links begreifende Menschen fast automatisch in eine antagonistische Position zu den USA (und eine freundliche zur Sowjetunion). Die sowjetische Propaganda verstand dies geschickt auszunutzen, indem sie den USA einen neo-kolonialen "Imperialismus" vorwarf (der sich nicht von ungefähr noch heute im linken Standardrepertoire findet) und sich selbst quasi per sozialistischer Selbstzuschreibung für immun erklärte. Dies ist, nebenbei bemerkt, praktisch eine Umkehrung der amerikanischen Position aus dem 19. Jahrhundert, in der man wohlfeil den europäischen Mächten Kolonialismus vorwarf, während man sich selbst im Pazifik ein Kolonialreich zusammeneroberte und dies mit Verweis auf seine demokratische Verfassung heftig bestritt. 

Diese Frontstellung der Linken gegen die USA zog sich durch die gesamte Zeit des Ost-West-Konflikts hindurch. Sie ist auch die Hauptwurzel des linken Anti-Israelismus, der praktisch nichts mit Anti-Semitismus zu tun hat, wie es seine rechte Spielart tut. Auch die Frontstellung gegen Israel ist ein eher zufälliges Produkt des Ost-West-Konflikts, denn die USA unterstützten Israel, die Sowjetunion seine Gegner. Dieser Frontstellung konnte sich praktisch niemand entziehen, weder auf der einen Seite (wo Kritik an den USA lange Zeit Vaterlandsverrat fast gleichgestellt war) noch auf der anderen Seite (wo die USA spätestens seit Vietnam der Feind Nr. 1 waren). 

Anti-amerikanisches Graffiti in Venezuela
Der konservative Anti-Amerikanismus hat sich im Gedächtnis der Bevölkerung besser gehalten, weil er unpolitisch ist. Ein Verweis auf die mangelnde Bildung und Kultur der Amerikaner ist schnell gemacht, wird praktisch überall goutiert und verlangt keine tiefer gehende Beschäftigung mit dem Gegenstand. Der linke Anti-Amerikanismus dagegen ist zutiefst politisch und stigmatisiert die USA als Inbegriff des verhassten radikal-kapitalistischen Systems und des "Imperialismus". Er erfordert einen größeren Grad an politischem Bewusstsein, ist aber in diesen Kreisen dafür umso wirkmächtiger. Seine oftmals radikale und ultimative Ablehnung der USA korrespondiert mit der gleichermaßen emphatischen Ablehnung der USA durch die extreme Rechte, die in alter Tradition ebenfalls den Radikallapitalismus ablehnt (der freilich so auch an der Wallstreet nicht existiert), die "Vernegerung" des Landes beschreit und die USA als "Besatzungsmacht" ablehnt. Die Kritikflächen scheinen zwischen linkem und rechtsradikalem Anti-Amerikanismus ähnlich, insbesondere in der Ablehnung der Unterstützung für Israel und der Ablehnung des Kapitalismus, aber das ist reiner Zufall. Linke und Rechte werden fundamental unterschiedlichen Motivationen in ihre Ablehnung gegen die USA getrieben. Trotzdem oder gerade deshalb ist es ihren Gegnern aber ein leichtes, sie in denselben Topf zu werfen und damit in der breiten Bevölkerungsmehrheit zu disavouieren, damals wie heute.

Bildnachweise:
Teheran - Bertil Videt (GNU 1.2)
Demo -  Bundesarchiv, Bild 183-1984-0909-406 / Schindler, Karl-Heinz / CC-BY-SA
Venezuela -  Erik Cleves Kristensen (CC-BY-SA 2.0)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/11/der-ursprung-des-anti-amerikanismus.html

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Die deutsche Einheit, Teil 2


Von Stefan Sasse

Emblem "Schwerter zu Pflugscharen"
Die Proteste innerhalb der DDR benötigten wegen der Unterdrückung von Opposition durch die SED Schutzräume, innerhalb derer sie sich entfalten konnten. Ein Schutzraum war die evangelische Kirche, die zwar im durch die DDR verordneten Staats-Atheismus keine große Rolle spielte und deren Stellung stets prekär war, die aber auch nicht einfach angegriffen werden konnte – das internationale Ansehen der DDR war so schon schlecht genug, ohne einen Kulturkampf vom Zaun zu brechen, und die abzusehenden Propagandabilder von aufgelösten Gottesdiensten und misshandelten Pfarrern ließen die staatlichen Stellen vorsichtiger agieren als bei den meisten anderen Oppositionsgruppen. Dazu kam, dass der Protest auf einer breiten, nicht grundoppositionellen Stimmung genährt wurde: der Afghanistankrieg der Sowjetunion und die Verschärfung des Tonfalls in den 1980er Jahren, verbunden mit der Wiederaufrüstung (Stichwort NATO-Doppelbeschluss) hatten viele Menschen auch in der DDR mit Sorge um einen neuen Krieg zurückgelassen. Durch die Selbststilisierung in der Propaganda des Sozialismus als „Kraft des Friedens“, konträr zum kriegerischen „Imperialismus des Westens“, konnte die Friedensbewegung, die aus dieser Furcht resultierte, ebenfalls nur vorsichtig angegangen werden.
 
Getragen wurde diese Friedensbewegung, die seit langem die erste zivilgesellschaftliche Massenbewegung der DDR außerhalb der Parteigrenzen darstellte, auch von der evangelischen Kirche. Das berühmte Motto war das Bibelzitat „Schwerter zu Pflugscharen“, das es auch wenig religiösen Menschen erlaubte, sich hinter ihm zu sammeln. Die Friedensbewegung vermischte sich jedoch mehr und mehr mit anderen Bewegungen, die der DDR-Führung gegenüber kritisch eingestellt werden, etwa dem Neuen Forum. 

Jens Reich vom "Neuen Forum", 4.11.1989
Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass die damalige DDR-Opposition nicht die Auflösung des Landes betrieb. Eine Wiedervereinigung stand überhaupt nicht zur Debatte. Gefordert wurde eine Reform der verkrusteten DDR-Strukturen, besonders in wirtschaftlicher und liberaler Hinsicht. Reisefreiheit, ein Ende der ständigen Zensur und vergleichbare Forderungen bestimmten die Agenda und wurden durchaus entlang sozialistischer Linien vertreten – auch die Änderung dieses ideologischen Fundaments wurde nicht offen angestrebt; eine Abkehr wurde vom „Real“-Sozialismus gewünscht, von der Herrschaft der SED. Die Fundamentalkritiker waren eine verschwindende Minderheit und würden erst im Gefolge des Mauerfalls Zulauf erhalten. Stattdessen richtete man seine Hoffnungen mit erstaunlichem Realismus an die Sowjetunion, gegen die – das hatte sich 1953 gezeigt – keine Änderung möglich war, deren Entwicklung unter Gorbatschow aber Anlass zur Hoffnung bot.

Gorbatschow aber handelte nicht. Er tadelte zwar die SED-Führung bei seinen Besuchen in der DDR, forderte aber keine Politik ein. Es ist auch fraglich, ob er sich überhaupt noch in einer entsprechenden Position befand, dies zu tun, selbst wenn er es gewollt hätte. Die Ostblockstaaten waren 1989 aber auf sich allein gestellt und hatten mehrheitlich den Kurs auf Öffnung und Abkehr von der Sowjetunion gestellt. Die regierenden Kommunisten in vielen dieser Länder konnten sich einen solchen Kurs auch leisten. Die radikale Ablehnung einer ähnlichen Öffnungs- und Reformpolitik durch die SED folgte aber durchaus einem rationalen Kalkül: mit dem Magneten BRD in direkter Nachbarschaft war nicht damit zu rechnen, dass die SED selbst diesen Prozess überleben könnte. Während die kommunistischen Parteien etwa in Polen oder Ungarn eine gewisse Transformation bewerkstelligen und eine gewisse Stellung behalten konnten, konnte für die SED kein Zweifel über ihre eigene Popularität entstehen. Dies machte die Parteiführung entschlossen, und die Situation gefährlich, wusste man doch nicht, zu welchen Mitteln sie greifen würde.

Sowjetische Panzer in Leipzig, 1953
Dies galt auch für das Ausland. Die westlichen Staaten hatten auf die Unruhen im Ostblock immer auch mit Sorge geblickt, denn die Instabilität dieser Länder betraf sie direkt auch. Sowohl 1953 als auch 1956 war klar, dass ein Eingreifen des Westens einerseits im Einklang mit seinen propagierten Idealen stehen, aber andererseits auch eine gewaltige Kriegsgefahr mit sich bringen würde. Es war zu erwarten, dass sie SED versuchen würde, eine ähnliche Situation wieder zu erschaffen und die Sowjetunion in eine Lage zu bringen, die ein militärisches Eingreifen wie 1953 erforderlich machte. Als etwa massenhaft Flüchtlinge die BRD-Botschaft in Prag stürmten, befürchtete man in Bonn schwere diplomatische Verwicklungen, und die Westalliierten brannten nicht gerade darauf, über die Frage der deutschen Wiedervereinigung in eine große internationale Krise gestürzt zu werden. Sie unternahmen daher nichts.

Diese Politik aber wurde bald durch die Kraft des Faktischen weggeschwemmt. Die SED schasste ihren langjährigen Chef, Erich Honecker, und versuchte sich an Reformen. Wie zu erwarten wurden diese als ungenügend empfunden, und die Stimmung wurde immer aufrührerischer. Der Wandel in den anderen Ostblockstaaten bildete ein stetes Vorbild, anhand dessen man die Langsamkeit der SED ebenso kritisieren konnte wie das Ungenügen der Maßnahmen. Entscheidend für den Zusammenbruch der DDR aber war letztlich der Zufall.

Günther Schabowski
Am Abend des 9. November 1989 hielt Günther Schabowski, Mitglied des Politbüros, eine Pressekonferenz ab. Nichts deutete darauf hin, dass etwas Besonderes passieren würde. Doch aus der Frage eines italienischen Journalisten nach dem neuen Reisegesetz, das Schabowski vorher vorzustellen aufgetragen worden war, entwickelte sich eine ungeheure Dynamik: Schabowski, der die Sperrfrist des Gesetzes nicht kannte, erklärte auf Nachfrage, es trete sofort in Kraft. Das war falsch, aber der Schaden war angerichtet. Tausende von Bürgern in Berlin verlangten nach Radioberichten von ersten Grenzübertritten von den irritierten Grenzwachen, nach Westen gelassen zu werden. Dieser Moment ist eine Schicksalsstunde der deutschen Geschichte, denn niemand hatte irgendwelche Befehle gegeben. Dass nicht irgendwo das Feuer eröffnet wurde, ist fast ein Wunder. Stattdessen implodierte die Grenzsicherung und gab die Übergänge frei – der Mauerfall, das historische Ereignis, hatte stattgefunden.

2009 allerdings kamen Informationen zutage, die an dieser Version der Ereignisse Zweifel aufkommen lassen. Riccardo Ehrmann, der Journalist, der Schabowski die Frage gestellt hatte, war nämlich vorher gebrieft worden, sie zu stellen – andernfalls hätte Schabowski das Gesetz wohl vergessen vorzustellen, und ohne die Nachfrage, wann es in Kraft trete, wäre der Mauerfall ebenfalls nicht vonstattengegangen – zumindest nicht so. Die Quelle Ehrmanns befand sich innerhalb der SED. Die wahrscheinlichste Erklärung hierfür ist, dass jemandem der politische Wandel nicht schnell genug ging und das Durchstechen an den Journalisten ein Versuch war, Egon Krenz zum Handeln zu zwingen. Trotzdem bestimmen immer noch wesentliche Zufälle das Bild, denn weder Journalist noch Quelle konnten ahnen, dass Schabowski nicht die geringste Ahnung von dem Gesetz hatte und zur Information nur auf einen kleinen Zettel bauen konnte, auf dem nichts von der Sperrfrist stand. Hätte er diese gekannt, so wäre der Plan der SED, das Ganze im Wust weiterer Ankündigungen zu verstecken und erst einmal auszutesten sabotiert worden – aber trotzdem Zeit geblieben, die Grenzsicherung entsprechend zu instruieren und es in organisierte Bahnen zu lenken. Das Chaos des Mauerfalls jedenfalls dürfte die Quelle nicht intendiert haben. Im direkten Nachhall des Mauerfalls nahm die Kohärenz der Grenzkontrollen stark ab. Oftmals wurden nur noch stichpunktartige Überprüfungen durchgeführt um bis nach der Volkskammerwahl im März 1990 fast völlig zu verschwinden.

Kohl mit Honecker, 1987
Der Mauerfall setzte die BRD unter starken Zugzwang. Es war klar, dass eine reformunwillige SED in einer DDR mit offenen Grenzen geradezu eine Einladung zur Massenausreise aussprach, die die BRD unmöglich würde bewältigen können und die die Machtbalance stark gefährden würde. Die Priorität der BRD musste es daher sein, den Bürgern der DDR eine Perspektive zu geben, die sie bleiben ließ, und gleichzeitig die Situation im eigenen Sinne nutzen. Welche Überlegungen die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt angestellt hatte, erkennt man sehr gut am Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls, der bereits Wochen später rettungslos überholt war. Er sah wirtschaftliche Soforthilfe und die Zementierung der „humanitären Erleichterungen“ (vulgo: Grenzöffnung) vor, ehe konföderative Strukturen geschaffen und die DDR auf Beitrittskurs zur EG gebracht werden konnte. Am Ende dieses Prozesses sollte, unter internationaler Einbindung der KSZE-Staaten, dann in irgendeiner Form die Wiedervereinigung stehen. Mit Sicherheit war diese Vorstellung langfristig angelegt; die Konföderation beider deutscher Staaten hätte genügend Zeit für einen entsprechenden Umbau und Maßnahmen gelassen.

Die Realität überholte diese Vorstellungen schnell. Für den Mai 1990 war eine Volkskammerwahl angesetzt worden, die erste freie in der DDR-Geschichte. Die Regierungsgewalt der SED brach jedoch bereits zwischen Dezember 1989 und Februar 1990 immer stärker in sich zusammen. Bundeskanzler Helmut Kohl war damit gezwungen, schneller als gedacht zu handeln, und ergriff die Gelegenheit mit zielsicherem Instinkt. Bei aller Kritik an seiner Politik muss man festhalten, dass sein Handeln in diesem Jahr zwischen Mauerfall von einer klaren Analyse politischer Realitäten geprägt war, die etwa seinen Konkurrenten bei der SPD ebenso abging wie vielen Beobachten und ausländischen Diplomaten. Schneller als anderen wurde ihm klar, dass die Weichen auf einer schnellen Wiedervereinigung standen und die Vorstellungen, vorsichtig den Weg über eine Konföderation zu gehen, hinfällig waren. Er setzte sich dabei brutal über ökonomische Bedenken hinweg – für die Bürger der DDR hatte die D-Mark Signalwirkung, daher mussten sie sie erhalten, um die Situation zu stabilisieren, und zu einem für sie günstigen Umrechnungskurs. Als darüber in der BRD eine Debatte ausbrach, zeigten die Demonstrationen in der DDR („Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh‘n wir zu ihr“), wie richtig er gelegen hatte. Dass dies später gewaltige ökonomische Verwerfungen im wiedervereinigten Deutschland produzieren würde, nahm Kohl ebenso in Kauf wie die Unhaltbarkeit seiner Versprechen von den „blühenden Landschaften“. In der Situation des Jahreswechsels 1989/90 stabilisierte er so die Lage und verschaffte sich Luft nach außen.

Von der BRD nominell beanspruchter Grenzverlauf
Die brauchte er auch, denn die Entwicklungen in Deutschland wurden äußerst misstrauisch beäugt. Den alliierten Siegermächten war nicht entgangen, welchen Weg die bundesdeutsche Politik einschlug, und die Lage war sehr verworren. Das Besatzungsstatut von 1945 regelte, dass gesamtdeutsche Fragen nur von den vier Siegermächten im Konsens geregelt werden konnten, bis ein Friedensvertrag mit Deutschland geschlossen war, etwa nach den Nachkriegsgrenzen Deutschlands. Dazu war es im Kalten Krieg aber nie gekommen, wo gesamtdeutsche Fragen ohnehin akademische Fragen geblieben waren. Nun aber bedeutete es, dass jegliche Konföderation oder gar Vereinigung den Abschluss eines Vertrags mit BRD und DDR sowie die Einigkeit von Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien und der Vereinigten Staaten voraussetzte. Hätte man dies noch 1988 jemandem vorgeschlagen, wäre man schallend ausgelacht worden. So aber gerieten diese Provisiorien zu den letzten Verhandlungstrümpfen, die die DDR-Führung in der Hand hatte – und die es Frankreich und Großbritannien ermöglichten, den von ihnen sehr kritisch gesehenen Vereinigungsprozess zu entschleunigen und in ihrem Sinne zu lenken.

Bildnachweise:
Emblem - unbekannt
Jens Reich - Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-036 / Link, Hubert / CC-BY-SA
Panzer - Bundesarchiv, Bild 175-14676 / CC-BY-SA
Schwabowski - Bundesarchiv, Bild 183-1982-0504-421 / CC-BY-SA
Kohl/Honecker - Bundesarchiv, Bild 183-1987-0907-017 / Oberst, Klaus / CC-BY-SA
Karte - Christoph Lingg (CC-BY-SA 2.0)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/10/die-deutsche-einheit-teil-2.html

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Schlaglichter auf die Geschichte, Band 2

Von Stefan Sasse

Nachdem nun fast ein halbes Jahr vergangen ist, seit Schlaglichter auf die Geschichte das Licht der Welt erblickte, ist nun "Schlaglichter auf die Geschichte, Band 2" auf Amazon und Beam E-Books (in PDF, MOBI und EPUB) erhältlich.

„Schlaglichter auf die Geschichte“ ist ein Lesebuch zur Geschichte. Es bietet kurze Kapitel, die sich auf etwa zehn bis zwanzig Seiten mit einem spezifischen Thema auseinandersetzen und auf dem Stand der aktuellen Forschung allgemein verständlich darlegen. Das Spektrum dieser Artikel ist breit gewählt und reicht von der Antike über das Mittelalter in die Frühe Neuzeit und in unsere Gegenwart hinein. Schwerpunkte sind die Geschichte Deutschlands und der USA. Viele dieser historischen Themen werden dabei unter dem Fokus von bestimmten Problemen untersucht, die in der entsprechenden Epoche maßgebend waren.

So etwa steht eine kurze Abhandlung der Weltwirtschaftskrise unter dem spezifischen Blickwinkel, welchen Verlauf sie in ihrem Ursprungsland, den USA, nahm. Eine Betrachtung der Vorgeschichte des amerikanischen Bürgerkriegs zeichnet die einzelnen Schritte nach, die in diesen blutigen Konflikt führten. Eine umfassende Darstellung des Vietnamkriegs beschränkt sich nicht nur auf die amerikanische Perspektive des Krieges, sondern erforscht auch ausführlich den französischen Konflikt. Bundespräsident Gauck wird in eine Reihe mit seinen Amtsvorgängern gestellt, was diverse Mythen über Bundespräsidenten aushebelt. Und nicht zuletzt enthielt dieser Band die umfassende Darstellung des Zweiten Weltkriegs, ohne die Mythen und populären Erzählungen und so manchem überraschenden Fakt.

Zusätzlich zu diesen allgemeinen Themen, die eine komplette Epoche beschreiben und deren Relevanz anhand einer spezifischen Problemstellung greifen, befassen sich andere Artikel mit sehr speziellen Themen. Beispiele für solche Themen sind etwa die Dekonstruktion der feministischen Mythen um die Frauenemanzipation oder die Analyse der Macht der Bilder und wie sie unser Geschichtsbild beeinflussen. Eine Erörtertung der Frage, was eigentlich Zivilisation ist findet sich ebenso wie die Geschichte von Aufstieg und Fall des Bürgertums als Klasse.

Die einzelnen Artikel wurden ursprünglich für meine Homepage, das Geschichtsblog (http://geschichts-blog.blogspot.com) geschrieben. Ihre Reihe wird ständig erweitert. Für „Schlaglichter auf die Geschichte“ wurden die verwendeten Artikel noch einmal grundlegend überarbeitet. Jeder Band dieser Reihe enthält eine Auswahl von Artikeln zu den verschiedensten Themen.

Die Problemorientierung der Artikel und ihre prägnante Kürze ermöglicht dem historisch interessierten Publikum einen schnellen Einstieg ins Thema, die Aktualität des Forschungsstands und die pointierten Thesen regen das Nachdenken und Reflektieren an und heben „Schlaglichter auf die Geschichte“ damit von anderen Geschichtsüberblicken ab. In diesem Band finden Sie:

- Der Anfang vom Ende der Römischen Republik
- Der Beginn des Kalten Krieges aus ideologischer Perspektive
--- Die amerikanische Perspektive
--- Die sowjetische Perspektive
- Aufstieg und Fall des Bürgertums
- Der Vietnamkrieg
- Darf man Begriffe benutzen, die bisher der Beschreibung der Verhältnisse in der Nazizeit vorbehalten waren?
- Vom Missouri-Kompromiss zur Sezession
- Die Macht der Bilder
- Die Geschichte der SPD
- 2008 ist nicht 1929
- Der Gedanke der Frauenemanzipation in der Geschichte
- Die deutschen Bundespräsidenten
- Von der Zivilisation
- Die Great Depression in den USA
- Zwei Filme, historische Fakten und was sie bedeuten
- Der Zweite Weltkrieg
--- Der Weg in den Krieg
--- Der europäische Kriegsschauplatz 1939-1941
--- Der pazifische Kriegsschauplatz 1941-1944
--- Der europäische Kriegsschauplatz 1941-1944
--- Das Ende

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/10/schlaglichter-auf-die-geschichte-band-2.html

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Die deutsche Einheit, Teil 1

Von Stefan Sasse

Brandeburger Tor, Dezember 1989
Als die DDR 1989 den 40. Jahrestag ihres Bestehens feierte, knirschte es bereits heftig im Gebälk. Der sowjetische Staatschef Gorbatschow, der anlässlich der Feiern in Berlin weilte, kündigte dem Land de facto die Gefolgschaft auf – und ohne die Unterstützung der Sowjetunion war die DDR in ihrer damaligen Form nicht zu halten, das musste allen klar sein, selbst Erich Honecker. Die frenetischen Reformversuche der SED nach Honeckers Entmachtung und dem Mauerfall zeigen, dass die Parteiführung das auch erkannt hatte – sie kam jedoch wesentlich zu spät und musste mit einer Konkursmasse arbeiten, die kaum mehr Handlungsspielraum bot. Dazu kam noch die erdrückende Umarmung aus dem Westen, denn auch wenn er rhetorisch noch etwas anderes behauptete, so hatte Bundeskanzler Helmut Kohl längst die Weichen auf die deutsche Einheit gestellt – nach Artikel 23GG, was ein substantielles Mitspracherecht der SED effektiv ausschloss. Im Folgenden sollen die Schritte, die zur deutschen Einheit führten, besprochen werden, ehe der Blick auf eine Bewertung dieser Vorgänge gerichtet werden kann.

Selbst die größten Verteidiger der DDR können nicht verleugnen, dass das Land sich 1989 in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand. Bereits 1983 hatte nur die Vermittlung von Franz Josef Strauß – ausgerechnet! – über einen Milliardenkredit den drohenden Bankrott des Landes abgewendet. Dieser Kredit zeigt, dass die Bundesrepublik kein grundsätzliches Interesse am Untergang der DDR haben konnte. Der Grund dafür ist leicht zu erraten: ein Bankrott der DDR würde nicht ohne schwere innenpolitische Verwerfungen abgehen. Solche Verwerfungen aber gefährdeten den damals von der UdSSR keinesfalls in Frage gestellten Verbleib des Landes im Ostblock und mussten daher sowjetische Reaktionen hervorrufen. Die Gefahren, die aus einer solchen Situation resultieren konnten waren in der damals wieder aufgeheizten Situation (man denke an den NATO-Doppelbeschluss) kaum zu unterschätzen. Die wichtigste Frage ist also, was 1989 anders war als 1983, warum die BRD plötzlich bereit war, aggressive Schritte zur Auflösung und Integration der DDR zu gehen, die in dem eher zurückhaltenden Regime der Bonner Außenpolitik sonst undenkbar gewesen wären. 

Michail Gorbatschow, 1986
Diese Ursache liegt in der Situation der Sowjetunion begründet. In der deutsch-deutschen Politik war seit 1949 nichts ohne die Zustimmung der großen Blockvormächte USA und UdSSR zu machen gewesen. Die BRD besaß zwar seit 1955 formell außenpolitische Souveränität durch das Ende des Besatzungsstatus; da aber innerdeutsche Angelegenheiten bis zum Abschluss eines Friedensvertrags den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs unterlagen und diese sich im Konsens einigen mussten, war unter der Situation des Kalten Krieges hier nicht viel zu gewinnen – die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition stellte hier eher die Ausnahme als die Regel dar und vollzog eher einen Schwenk, den die Siegermächte sich bereits länger gewünscht hatten. Als 1985 Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde, änderte sich die Situation in der Sowjetunion aber grundsätzlich. Nicht nur wollte Gorbatschow mit Glasnost („Offenheit“) Reformen im eigenen Land einleiten (die er implizit auch für die Blockstaaten forderte), sondern im Rahmen der Perestroika („Umbau“) auch die Außenpolitik auf eine andere, etwas kooperativere Grundlage stellen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig jegliche Legendenbildung zurückzuweisen, nach der Gorbatschow die Sowjetunion und den Ostblock generell in Richtung Westen hätte umbauen wollen – die vorherrschende Rolle der KPs in den jeweiligen Ländern und der Sowjetunion in der Region stand für ihn nie zur Debatte; er wollte sie lediglich modernisieren. 

Während die Sowjetunion eine zaghafte Öffnung begann, sah die Führung der DDR auf eine bestimmte Weise klarer als Gorbatschow: Honecker und seine Verbündeten im Politbüro waren sich sicher, dass eine Öffnung unter Glasnost und Perestroika ihr Ende bedeuten würde und lehnten sie entschieden ab. Sie waren sich der Gefährdung ihrer Herrschaft nur zu bewusst, denn die DDR hatte 1953 selbst einen Aufstand erlebt, der nur durch sowjetische Panzer unterdrückt werden konnte (was Gorbatschow 1989 explizit ausschloss und die SED damit fallen ließ) und war durch die Revolutionen in Ungarn 1956, der Tschechoslowakei 1968 und Polen seit 1980 jedes Mal selbst gefährdet gewesen und hatte die Grenzen schließen müssen. Als die Glasnost und Perestroika in diesen sozialistischen Nachbarländern in den späten 1980er Jahren erneut für Unruhen sorgte und Ungarn seine berühmte Grenzöffnung nach Österreich vollzog, schloss die DDR erneut die Grenzen und machte sich effektiv zu einer Insel inmitten Europas – eine unhaltbare Position. 

Khomeinis Rückkehr 1979 löste die 2. Ölkrise aus
Die prekäre Lage der DDR entsprang zwei Hauptursachen. Die eine war eine der politischen Mentalität, die andere war wirtschaftlich. Die politisch-mentale war eine beinahe bleierne Schwere, die über dem Geistesleben des Landes lag. Selbst sozialistische Denker, die den Westen verachteten und alternative Wege des Sozialismus suchten, wurden aus Sorge um das Machtmonopol der SED unterdrückt. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns etwa kann nur pars pro toto stehen. Noch schwerwiegender für das Regime aber war die wirtschaftliche Lage. Die DDR und ihre Produkte waren nicht wettbewerbsfähig, es kam zu Engpässen, an Konsumgütern herrschte Dauermangel und die Lage auf dem Wohnungsmarkt blieb dauerhaft angespannt. Dazu kam, dass die Ölkrisen der 1970er Jahre die DDR wegen ihrer starken Importabhängigkeit schwer getroffen hatten, denn die UdSSR, von der sie ihr Öl bezog, hatte im Umfeld der Ölkrisen ihre Preise stark erhöht. Ohne neue Kredite konnte sich die DDR mittelfristig nicht mehr refinanzieren, und aus dem gebeutelten Ostblock waren solche Kredite nicht zu haben, während Investoren das Land kaum attraktiv finden konnten. 

Um das zu ändern, musste das Land eine ganze Reihe tiefgreifender Reformen unternehmen, die alle auf eine stärkere marktwirtschaftlichere Orientierung hinausliefen. Das bedeutet nicht, dass das Land eine zweite BRD hätte werden müssen – es sind genügend alternative Wirtschaftsideen vorhanden, an denen man sich hätte versuchen können, ohne gleich eine radikale Transformation in den Kapitalismus zu übernehmen, wie dies dann geschah. Das Problem mit all diesen Varianten war aber eben, dass sie tiefgreifend waren und die Interessen- und Machtgeflechte der Partei wenn nicht in Frage stellten so doch zumindest erschüttern und verändern würden. Von den staatlichen Banken über die großen Unternehmenskonglomerate und die landwirtschaftlichen Produktionseinheiten der LPGs hing alles irgendwie an der Partei, war der Aufstieg unmittelbar mit der Linientreue verknüpft. Reformen würden das ändern und diese Machtbasis entfernen – eine Gefahr, die Honecker wesentlich deutlicher sah als Gorbatschow und sich deswegen dem auch entgegenstemmte.

Abzeichen der Friedensbewegung, einer starken opp. Strömung
Im Frühsommer 1989 kam zu diesen wirtschaftlichen Problembedingungen allerdings die politische Dimension hinzu. Trotz der gängigen Unterdrückungspraktiken des Regimes begann sich eine immer stärker wahrnehmbare Opposition zu formieren, die Freiräume geschickt auszunutzen wusste – etwa unter dem Dach der evangelischen Kirche. Vermehrt kam es zu Treffen und Unmutsbekundungen, begannen sich DDR-Bürger zu formieren und über Alternativen nachzudenken und sie auch zu fordern. Als Gorbatschow die Feiern zum 40. Jahrestag besuchte, war diese Bewegung bereits so weit fortgeschritten, dass sie sich traute, die Feierlichkeiten mit Protesten zu überschatten. Sie ging dabei auch insoweit sehr geschickt vor, als dass die Gorbatschow und seine Glasnost&Perestroika-Reformen als Vorbild erklärte und von der DDR-Führung „nur“ einforderte, dem Vorbild des großen Bruders aus dem Osten zu folgen – etwas, das die SED fast 40 Jahre lang unter dem Slogan „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ praktiziert hatte. Die 180-Grad-Wende, die die SED nun zu beschreiben gezwungen war, entbehrte jeglicher Glaubwürdigkeit („Würden Sie ihre Wohnung tapezieren, nur weil Ihr Nachbar das tut?“). Der Druck auf Honecker stieg immer weiter. 

Der erste große politische Protest in der DDR aber fand bereits im Mai 1989 statt. Der Anlass waren die Kommunalwahlen. Wie üblich fälschte die SED großzügig die Wahlscheine, um auf die üblichen Werte im hohen 90%-Bereich zu kommen, aber die reine Zahl der oppositionellen Stimmen ging weit über das Gewohnte hinaus. Da die Auszählungen offen waren – Teil der demokratischen Legitimationsstrategie der SED – konnte diese Fälschung nur funktionieren, indem Gegenstimmen als ungültig gezählt wurden. Zum ersten Mal beobachteten aber viele Bürger den Prozess und protestierten lautstark gegen dieses Vorgehen – eine für das Regime ungewohnte Situation, mit der sie nicht umzugehen wusste und auf die es hauptsächlich mit Repression reagierte. Die Protestdemonstrationen, besonders auf dem Alexanderplatz, begannen sich schnell zu verfestigen und zu Dauerinstitutionen zu werden. 

Grenzbefestigung in Tschechien
Den nächsten Schlag erlitt die SED, als Ungarn und die Tschechoslowakei im Rahmen der von Gorbatschow betriebenen Auflösung der Breschnew-Doktrin (die eine Unterordnung der Außenpolitik unter Moskau gefordert hatte) ihre Grenzen zum Westen öffneten. Die DDR reagierte schnell und schloss ihrerseits die Grenzen zu diesen Ländern; viele Urlauber, die sich zur Zeit dort befanden, nutzten allerdings die Gelegenheit und flüchteten in die BRD, was für das Regime verheerende Fernsehbilder erzeugte. Nennenswert ist hier besonders die Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Prag, wo Flüchtlinge tagelang kampierten, ehe die DDR der Ausreise zustimmte – in einem Sonderzeug über das Territorium der DDR. Was sich die SED davon versprochen hatte ist nicht ganz klar, denn die Fahrt geriet zu einem regelrechten Triumphzug und führte die Probleme des Landes einmal mehr der ganzen Welt vor Augen. 

Das nächste große politische Signal war die Gründung des „Neuen Forums“ am 9./10. September 1989. Gedacht war es als eine Art basisdemokratische Organisation zur Formulierung oppositioneller Ideen und Ausübung von Druck auf die SED. Entgegen heutiger BRD-Folklore war es keine Vorstufe zur Einigung; die Auflösung der DDR stand nicht auf der Agenda. Den Initiatoren ging es darum, eine bessere DDR zu schaffen, nicht, sie abzuschaffen. Die Initiatoren des Forums hatten selbst nicht damit gerechnet, wie populär es innerhalb kürzester Zeit werden sollte. 

Der Platz des Himmlischen Friedens
Ein herber Rückschlag für die Oppositionellen war das Schicksal der zeitgleich stattfindenden Proteste in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die Niederschlagung dieser Proteste durch die chinesische KP war, obwohl anders als in den westlichen Medien berichtet gar nicht auf dem Platz selbst, eine blutige Angelegenheit. Die entsprechenden Fernsehbilder entsetzten die Zuschauer auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, aber während sie für den Westen nur eine Bestätigung der postulierten Unmenschlichkeit des Ostens waren nutzte das Staatsfernsehen der SED sie, um die eigenen Bürger zu verunsichern und in Angst zu halten und kommentierte sie schonungslos. Der Eindruck, dass die DDR zu ähnlichen Maßnahmen greifen würde, wurde bewusst geschürt und verließ die Einwohner des Landes bis zum Mauerfall auch nicht mehr. Die SED nutzte diese Furcht massiv aus, um die Menschen vom Protestieren abzuhalten. Das Schlagwort von der „chinesischen Lösung“ machte alsbald die Runde. Anfang Oktober wurde zudem die NVA in „erhöhte Alarmbereitschaft“ versetzt. Gestoppt wurden die Proteste dadurch allerdings nicht. Noch immer protestierten wöchentlich hunderte und tausende von Oppositionellen gegen die SED und ihre Herrschaft über die DDR, und die Proteste ebbten auch zu den 40. Jahrestagsfeierlichkeiten nicht ab.

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Grenze - Ladin (GNU 1.2)
Platz - LuxTonerre (CC-BY-SA 2.0)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/10/die-deutsche-einheit-teil-1.html

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