Fundstück

Von Stefan Sasse

Eigentlich verlinke ich hier ja nur Sachen, die man sich ansehen sollte. Das ist dieses Mal anders. Ein Leser hat mich auf ein YouTube-Video aufmerksam gemacht, das in anderthalb schwer erträglichen Stunden noch einmal die unsägliche "Churchill war am Zweiten Weltkrieg Schuld"-Leier abfährt, die bereits hier diskutiert wurde. Wer nicht glauben will, was für Trottel draußen unterwegs sind, kann sich das Video ansehen, der Rest sollte diese Lebenszeitverschwendung eher weiträumig meiden und das Fundstück als Beleg dafür nehmen, dass die rechte Soße nicht ganz so unsichtbar ist, wie man das immer hofft.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/08/fundstuck_31.html

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Darf man Begriffe benutzen, die bisher der Beschreibung der Verhältnisse in der Nazizeit vorbehalten waren?

Von Stefan Sasse

Unter dieser Überschrift fragten die NachDenkSeiten rhetorisch am 4. Juni nach. Dass ich den Artikel so lange mit mir herumschleppe, hat seine Gründe, denn die Beantwortung der Frage ist alles andere als einfach. Konkret geht es den NachDenkSeiten hauptsächlich um den Begriff der "Gleichschaltung", mit dem sie den großen, übergreifenden Reformkonsens in den Medien beschreiben. Weitere verwendete Begriffe sind "Stürmer-Methoden" (BILD) und "völkisches Denken" für den Rassismus, der besonders mit der Euro-Krise wieder salonfähig wurde. Die Frage wurde von den NachDenkSeiten eher rhetorisch gestellt und auch gleich beantwortet: ja, man darf es verwenden, und die Tabuisierung hat nur dazu geführt, dass diese Methoden quasi unter dem Deckmantel der political correctness salonfähig wurden und nicht als das benannt werden dürfen, was sie sind. Ich möchte dieser Argumentation widersprechen, aus zwei Gründen. Der eine ist eine verkappte Zustimmung zum letztgenannten Punkt, während der andere tiefer geht. Ich möchte daher mit dem ersten beginnen, der sich pragmatischer gebärdet und schlicht der politischen Kommunikation entstammt: Nazi-Vergleiche sind ein Verliererthema. Immer. Wer den Nazi-Vergleich benutzt, verliert (ich habe dazu bereits geschrieben). Es ist deswegen in höchstem Maße ratsam, von der Benutzung abzusehen. 

Nazi-Vergleiche werden häufig von Randgruppen der gesellschaftlichen Diskussion benutzt. Es sind stark linksgeprägte Personen, die beständig die Faschismuskeule schwingen, Verschwörungstheoretiker, die von der Gleichschaltung sprechen, und Rechte, die den Vorwurf umzudrehen versuchen. Ebenfalls gerne dabei sind Unsympathen aus dem Ausland, die den Nazi-Vergleich als billige Polemik nutzen - der Iran etwa. Mit diesen Gruppierungen möchte man nicht in einen Topf geworfen werden; der Nazi-Vergleich ist daher ein schwerer Fehler. Nun könnte man argumentieren, dass gerade deswegen der Vergleich genutzt werden muss - um ihn dieser Gruppe zu entziehen. Tatsächlich ist das Besetzen von Begriffen ein schwer unterschätzter Schauplatz des Kampfs um die Deutungshoheit, und pauschal eine komplette Kategorie von Begriffen und jederzeit abrufbaren Assoziationen aufzugeben scheint nur eingeschränkt klug (siehe hier und hier). In den meisten Fällen würde ich deswegen auch zustimmen: entreißt den Gegnern dieser Gesellschaft ihre eigenen rhetorischen Waffen und lasst sie nackt dastehen! Allein, in den von den NachDenkSeiten zitierten Fällen stehen schwerwiegende fachliche Gründe gegen eine Übernahme dieser Begriffe.

Das größte von den NachDenkSeiten aufgemachte Fass ist der Begriff "Gleichschaltung". Mir ist klar, was sie damit sagen wollen - dass die Medien überwiegend einseitig berichten und nur eine bestimmte Meinung geradezu kampagnenartig vertreten. Allein, das ist nicht, was Gleichschaltung ist. Die Verwendung des Begriffs hier entwertet den Begriff für seine konkrete historische Bedeutung völlig. Würde er dem Willen der NachDenkSeiten gemäß salonfähig werden, so wären wir zwar um einen politischen Kampfbegriff reicher (der bald von allen verwendet und deswegen bald sinnentleert wäre), aber um die Beschreibung eines spezifischen historischen Phänomens ärmer. Mit der Gleichschaltung bezeichneten die Nationalsozialisten vor allem die Zusammenfassung der Länder und die Zentralisierung des Deutschen Reiches; später kam dann die Gleichschaltung aller anderen Lebensbereiche hinzu. Die Gleichschaltung aber setzt eine einzige, übergeordnete Instanz voraus. Selbst wenn der von Albrecht Müller erhobene Vorwurf, dass nur rund 200 Personen alle wesentlichen Medien kontrollieren, wahr ist, so konstituiert das allenfalls eine Plutokratie, aber keine Gleichschaltung. Denn es existiert keine zentrale Stelle, die alle Presseorgane gleichschalten und einem Willen unterwerfen würde. 

Dazu kommt, dass der Vorwurf schlicht sachlich falsch ist. Besonders seit 2009 hat sich die Lage ohnehin wesentlich gebessert, und in vielen Zeitungen herrscht inzwischen eine gewisse Meinungsvielfalt mit Beiträgen zu mehreren (konsensfähigen) Sichtweisen. Zweifellos liegt noch immer ein starkes Übergewicht bei einer Sichtweise, aber von einer Gleichschaltung, bei der alle nur dasselbe schreiben dürfen und das auch kontrolliert wird, kann keine Rede sein. Der Begriff relativiert damit, in diesem Zusammenhang geraucht, nicht nur ein historisches Phänomen, das ein Grundstein der Nazi-Zeit war, es ist schlicht im Gebrauch falsch. 

Schwieriger ist es bei den Vorwürfen der "Stürmer-Methoden" und des "völkischen Denkens". Die BILD ist nicht der "Stürmer", so viel sollte klar sein. Aber die krasse Zuspitzung, Polarisierung und Aufpeitschung beherrscht sie. Allerdings bestehen auch hier ernsthafte Probleme: der "Stürmer" war ein Staatsorgan, das die Aufgabe hatte, die Bevölkerung gegen eine bestimmte Gruppe aufzustacheln und gewissermaßen "auf Linie" zu bringen. Die BILD dagegen ist ein kommerzielles Boulevardblatt, das sein Geld damit macht, an die niederen Instinkte zu appellieren. Das ist ein Unterschied. Der Vorwurf der "Stürmer-Methoden" sollte daher an dieser Stelle ebenfalls unterlassen werden. Er ist unzutreffend, eine riesige Keule und eine schwere Beleidigung. 

Der komplizierteste Fall ist wohl das "völkische Denken". Dies liegt auch daran, dass es sich nicht um ein Nazi-Phänomen handelt. Die völkischen Ideen entstammen dem 19. Jahrhundert und sind eher eine übersteigerte Form des Nationalismus als ein direkter Vorläufer des Nationalsozialismus. Dieser nahm zwar viele Elemente der völkischen Bewegung auf - schon allein, weil diese sehr populär und bekannt war -, unterschied sich aber in einigen Punkten. Die Diversität der völkischen Bewegung und ihre lange Geschichte macht es auch leichter anwendbar. Ich sehe allerdings in der Griechen-Polemik unserer Tage kein "völkisches Denken" in dem Sinne, als dass das deutsche Blut dafür verantwortlich wäre. Wäre dem so, so könnte man den Griechen nicht vorwerfen, zu faul zu sein und sie aufzufordern, einfach dem deutschen Beispiel zu folgen. Läge es am Blut, wären sie dazu ja gar nicht in der Lage. Ganz anders sieht es bei Sarrazin aus: ihm völkisches Denken zu unterstellen ist mit Sicherheit kein Fehler. Viktor Orban kann man es ebenso um die Ohren hauen. 

Zuletzt haben die NachDenkSeiten merkwürdigerweise auch "Rassismus" in ihre Auflistung integriert. Das ist insofern merkwürdig, als dass sie zwar Recht damit haben, dass der Begriff tabuisiert wurde, aber er mit Sicherheit kein nazi-spezifischer Begriff. Daher: ja, den kann man verwenden. Man sollte ihn auch verwenden. Sarrazin das Label des Rassisten anzuhängen war das Beste, das man tun konnte, denn das ist er. Es war falsch von der bundesdeutschen Gesellschaft, Rassismus nur auf tumbe Glatzen zu beschränken und so zu tun, als sei der Alltagsrassismus der bürgerlichen Gesellschaft keiner, sondern vielmehr so was wie das konservative Herz der Deutschen, eine im Grunde liebenswürdige Schrulle. Von den Brandanschlägen auf Asylantenheime in den 1990er Jahren über die entwürdigende Behandlung der Asylbewerber bis hin zu den NSU-Morden lässt sich eine klare Linie aus dem Verschweigen des Rassismus ziehen. 

Gerade deshalb aber ist es wichtig, Begriffe trennscharf zu benutzen. Nicht nur macht man sich selbst lächerlich, wenn man mit völlig unangemessenen Begriffen um sich wirft - man richtet dabei auch viel größeren Schaden bei der Aufarbeitung und Bewertung der dunkelsten Zeit in der Geschichte der Deutschen an. Wenn die Begriffe dieser Epoche (beziehungsweise die, mit denen wir sie beschreiben) völlig entwertet und beliebig in aktuellen Debatten zum bashen des jeweiligen Gegners verwendet werden können, beschreiben sie bald gar nichts mehr, und ein bleierndes Schweigen legt sich über jene Zeit. Wie kann man beispielsweise ernsthaft die Geschichte des Sozialismus besprechen, wo der Begriff zu einer so beliebigen politischen Kampfvokabel verkommen ist? Was beschreibt "neoliberal" denn heute noch, außer jemandem, der nicht mit einem Linken übereinstimmt? Dieses Schicksal sollte man den Begriffen, die die Nazi-Zeit beschreiben, dringend ersparen. Deswegen, liebe NachDenkSeiten, seht von ihrer Benutzung ab. Verwendet zutreffende Beschreibungen und macht sie populär. Vor 1933 war Gleichschaltung auch nur ein Begriff, der Elektrikern vertraut war.

Nachtrag:
Ein Leser hat noch weitere Nachfragen gestellt:
Nochmals hallo mit ein paar weiteren Gedanken, die mir im Rahmen Ihres Blogs gekommen sind, während ich mich langsam durch die älteren Beiträge lese.

Zunächst einmal möchte ich anmerken, daß mir die Art, in der die Artikel geschrieben sind, ausgesprochen sympathisch ist, da persönliche Standpunkte, soweit eingebracht, weitgehend in separaten Abschnitten abgehandelt werden, anstatt sie mit dem Faktenmaterial zu vermengen. Eine Tugend, die sich im Internet und gerade bei potentiellen Reizthemen (wozu, wie die weniger lesenswerte Kommentarspalte zeigt, teils auch Ihre Einträge gehören) nicht unbedingt verbreitet ist.

Zum zweiten eine kurze Frage zu Ihrem aktuellsten Artikel über Vor- und Nachteile milieufremder Verwendung faschistisch besetzter Ausdrücke: Ein paar mal habe ich mich auch mit diesem Thema geistig beschäftigt, ohne auf eine konkrete Antwort zu kommen, allerdings in einem anderen Rahmen als die im Eintrag vorhandenen Beispiele. Im Gegensatz zu den klar abwertend und in Assoziation zur damaligen Diktatur gebrauchten Fällen stellt sich mir die Frage, ob es richtig oder falsch wäre, zu damaligen Zeiten pervertierte Sprachfiguren gezielt in einem sachlich passenden Zusammenhang zu nutzen, um sie dem Nazivokabular zu entziehen. Als Extremfall sei hier auf die bekannte Aufschrift "Arbeit macht frei" verwiesen (wenngleich ich die Prämisse nicht gänzlich teile).
Welchen Standpunkt würden Sie hierbei einnehmen?

Eine weitere Frage betrifft den Artikel "Probleme sprachlicher Klarfassung am Beispiel realsozialistischer Diktaturen". In diesem erklären Sie ausführlich, weshalb Sie die Ausdrücke "realsozialistisch" und "Ostblock" verwenden, nutzen aber einen weiteren politisierten Ausdruck relativ unreflektiert. Verbinden Sie mit der Bezeichnung "Warschauer Pakt" eine ähnliche Stellungnahme, die Sie diesen gegenüber dem "Warschauer Vertrag" bevorzugen läßt, oder handelt es sich hierbei eher um sprachliche Gewohnheit?

Und zuguterletzt noch eine Frage zu dem Artikel über "Erinnerung und Geschichtsbewußtsein der Deutschen" vom Februar des letzten Jahres. Ein größerer Teil des Artikels wird durch zeitgenössische Sichtweisen, insbesondere in zunehmend revisionistischer Form zum Nationalsozialismus, eingenommen. In diesem Zusammenhang mußte ich an die Grabrede zu Ehren des damaligen Strafrichters und späteren Landespolitikers Hans Filbinger denken, dessen Nachfolger hierbei die Taten als "inneren Widerstand" einordnete, möglicherweise in einem falsch verstandenen Anfall von Pietät. Die Kritik an der Aussage war heftig, soweit ich mich erinnern kann, wobei ich mir unsicher bin, ob es auch Stimmen gab, die das ähnlich sahen.
Wie würden Sie im Rahmen Ihres Artikels dieses Ereignis einordnen?

Noch einmal im Voraus danke für die Antwort (und in Vorfreude auf weitere Blogartikel)
Jerry
 Meine Antwort: 
Hallo Herr Laval,

prinzipiell ist die Idee, Dinge dem nationalsozialistischen Sprachschatz zu entziehen ja in Ordnung. Aber wozu? In welchem Zusammenhang möchte ich "Arbeit macht frei" denn tatsächlich nutzen? Ich kann sagen "Arbeit wirkt befreiend", ohne Probleme, und habe mich wahrscheinlich auch noch präziser ausgedrückt. Ich denke, die lingua tertii imperii sollte als solche gebrandmarkt bleiben, schon alleine, damit wir sensibilisiert bleiben für das Problem von entmenschlichender Sprache generell. Worte wie "Sonderbehandlung" oder "Endlösung" haben ja dasselbe Problem. Ich könnte auch Waren in mein "Konzentrationslager" bringen, wo ich eben alle meine Samsung Bildschirme, die ich verkaufe auf einem Punkt konzentriere, aber warum, wenn ich "Zentrallager" sagen kann? Der Vorteil der Sprache als reines Nazi-Vokabular ist, dass ich deren Praktiken sehr präzise fassen kann. Wenn ich im Kontext des Nationalsozialismus von Sonderbehandlungen rede weiß ich, was gemeint ist. Ich kann dann auch im Kontext eines modernen Genozids sagen, dass die Praxis sich an die Sonderbehandlungen der Nazi-Zeit anlehnt - und wieder weiß ich sofort, was gemeint ist. Das ist nicht der Fall, wenn ich den Begriff wieder in den Allgemeinwortschatz überführt habe.
Und genau damit wären wir bei Ihrem zweiten Punkt. Die Verwendung des Wortes "realsozialistisch" dient der Differenzierung zwischen der sozialistischen Ideologie und den Staaten, die sie zu ihrer Legitimierung nutzten. Würde ich die DDR und die anderen Warschauer-Pakt-Staaten "sozialistisch" nennen, so würde ichd en Sozialismus als Ganzes diffamieren. Stattdessen kann ich so differenzieren. Das ist etwas, was ich bei "nationalsozialistisch" ganz bewusst will - jede Verwendung des Begriffs soll sofort das Dritte Reich assoziieren, ebenso "Sonderbehandlung" oder "Gleichschaltung".
Der Warschauer Pakt ist genauso wie der Ostblock eine sprachliche Gewohnheit. Wenn ich mich nicht irre wurden die Begriffe aber ebenfalls verwendet.
Was Oettinger betrifft, so versuchen die Konservativen seit langem, in diese Richtung zu gehen. Kohls "geistig-moralische Wende" 1982 hatte dieses Ziel; Oettinger ist da ein relativer Spätzünder. Ich denke in seinem Fall war es einfach unbedachte Pietät, aber es gibt definitiv Menschen, die so denken, und auch zahllose Menschen, die Filbingers Aussage zustimmen würden, weil sie die Implikationen nicht verstehen.

Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich unseren Mailwechsel unter den Artikel ergänze, gegebenenfalls anonym?

Liebe Grüße
Stefan Sasse
 

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/08/darf-man-begriffe-benutzen-die-bisher.html

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Die Geschichte des "Supreme Court of the United States", Teil 3/3

Von Stefan Sasse


Dies ist der dritte und letzte Teil einer Serie zum "Supreme Court of the United States". Teil 1 und Teil 2 findet sich hier und hier. Darin wurde skizziert, wie der Supreme Court sich seine eigene Jurisdiktion schuf, die Frage der Sklaverei zu beantworten versuchte und in nie gekannte Tiefen abrutschte, indem er die Rassentrennung legalisierte. Danach verhinderte er lange Jahre eine Sozialgesetzgebung in den USA, ehe er unter Roosevelt mit liberalen Richtern besetzt  wurde und die New-Deal-Maßnahmen passieren ließ. In den 1950er und 1960er Jahren wurden zahlreiche Urteile gefällt, die die Bürgerrechtsbewegung entscheidend voranbrachten und die politische Landschaft der USA bis heute prägen. Seit dem Rücktritt Earl Warrens 1969 ist allerdings eine graduelle Rechtsverschiebung wahrnehmbar, die mit Ronald Reagans Regierungsantritt 1981 stark zunehmen sollte.

William Rehnquist
Der auf Burgers Rücktritt 1986 folgende Rehnquist-Court war einer der konservativsten Gerichtshöfe der letzten Jahrzehnte. Viele seiner Richter wurden von Ronald Reagan ernannt, und einige von ihnen sind heute noch aktiv. Interessanterweise sind einige sehr liberale Entscheidungen in seiner Zeit gefallen ein Zeichen dafür, dass die Richter tatsächlich sehr unabhängig von den Politikern sind, die sie ernennen. So erlaubte der Supreme Court explizit das Verbrennen von US-Flaggen unter dem ersten Verfassungszusatz (Texas v. Johnson, was zu einer bis heute bestehenden Bewegung für die Einführung eines Verfassungszusatzes, der Flaggenverbrennungen verbietet, führte), verbot öffentliche, von Schülern geführte Schulgebete (Lee v. Weisman), legalisierte Abtreibungen auch nach dem dritten Monat, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist (Stenberg v. Cahart) und erlaubte homosexuellen Geschlechtsverkehr (Lawrence v. Texas). Ebenfalls in diese Reihe gehört Grutter v. Bollinger, eine Entscheidung, die die Praxis der affirmative action, also der bevorzugten Einstellung von Schwarzen, legitimierte.

Zwei gänzlich andere, kontroverse Entscheidungen des Supreme Court jener Epoche aber zeigen deutlich seine konservative Ausrichtung. In United States v. Lopez 1995 entschied das Gericht zum ersten Mal seit Roosevelts Tagen über eine deutliche Grenze für das Recht des Bundes, über die commerce clause in die Rechte der Einzelstaaten einzugreifen. Der Anlass war geradezu trivial; ein Schüler ging in Berufung, weil er unter Berufung auf die commerce clause angeklagt worden war, eine Waffe in der Schule verkauft zu haben. Der Supreme Court zog in seinem Urteil deutliche Grenzen und setzte damit einen Präzedenzfall für einen Umschwung hin zu mehr Staatenrechten. Das wohl berühmteste Urteil des Rehnquist-Court aber ist Bush v. Gore von 2000: die damals in vollem Gange befindliche Nachzählung der Stimmenabgabe zur Präsidentschaftswahl in Florida wurde gestoppt, weil sie den Gleichbehandlungsgrundsatz verletze. Als Folge zog George W. Bush ins Weiße Haus ein. Kaum eine Entscheidung war direkt politischer als diese und ist bis heute unter Hardlinern beider Seiten mythenumrankter. Tatsächlich hat diese Entscheidung der politischen Hygiene in den USA schweren Schaden zugefügt und den Supreme Court dem Verdacht der Parteilichkeit ausgesetzt.

John Roberts
Seit Rehnquists Tod im Jahr 2005 wird der Supreme Court von John G. Roberts geführt, einem Konservativen, der jüngst mit seinem Votum für Obamas Gesundheitsreform Schlagzeilen machte. Bereits vor dieser Entscheidung aber fällte er einige wichtige Entscheidungen, die eine Rechtsbewegung der amerikanischen Politik zementierten. So wurde in Carvetti v. Ceballos bestimmt, dass Staatsbedienstete über ihre Tätigkeit nicht unter dem Schutz des ersten Verfassungszusatz reden dürfen, bestätigte in Kansas v. Marsh die Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe in Kansas, bestätigte das Verbot von Abtreibungen nach der 24. Schwangerschaftswoche in Gonzales v. Carhart, schränkte das Recht auf Privatsphäre ein, indem er die Bedingung bei Hausdurchsuchungen, dass Polizisten sich ankündigen müssen relativierte (aufgefundene Beweise dürfen weiterhin verwendet werden, Hudson v. Michigan) und erlaubte explizit den Besitz von Handfeuerwaffen (District of Columbia v. Heller). Die wohl größte Entscheidung aber ist die Citizens United v. Federal Election Commission-Entscheidung von 2007, die im aktuellen Wahlkampf immer und immer wieder als Beispiel Nr. 1 für die Probleme mit der amerikanischen Demokratie zitiert wurde.

Citizens United ist eine private non-profit-Organisation mit konservativer Stoßrichtung, die Einfluss auf alle möglichen Wahlen zu nehmen versucht beispielsweise durch Produktion und Ausstrahlung von politischen Werbespots. Die Federal Election Commission versuchte, die Ausstrahlung eines solchen Films zu verhindern, da sie solche Interventionen als unzulässig ansah - direkte Spenden von Organisationen oder Firmen an Kandidaten, die für Bundesämter kandidieren, sind illegal, und die Argumentation war, dass ein solcher Beitrag nichts anderes sei. Der Supreme Court sah das anders und erlaubte Citizens United die Ausstrahlung unter dem Schutz des ersten Verfassungszusatzes, der freedom of speech. Die direkte Folge ist der im aktuellen Wahlkampf 2012 oft beklagte gigantische Einfluss der Super PACs (Political Action Committee) auf die Finanzierung und Themensetzung. Problematisch an der Entscheidung ist, dass die free speech eigentlich eingeschränkt wird, denn wer in der Lage ist, seine Meinung mit bezahlten Werbespots im Fernsehen zu verbreiten hat eine völlig andere Ausgangslage als jemand, der kein Geld für solcherlei Dinge hat eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Der Supreme Court sah das anders. Die Folgen davon erleben wir gerade im Präsidentschaftswahlkampf.

Präsident Barack Obama
Die aktuellste und größte Entscheidung des Supreme Courts unter Roberts aber war die über Obamas Gesundheitsreform, den Patient Reform and Affordable Healthcare Act, von den Gegnern Obamacare getauft. Für die meisten Beobachter überraschend erklärte der Supreme Court, obwohl strukturkonservativ, das Werk für verfassungsgemäß. Bereits in der Debatte vorher hatten zwei Argumente die Agenda bestimmt, die im Verlauf dieser kleinen Geschichtsschreibung immer wieder eine Rolle gespielt haben: die Teilung des Gerichtshofs in 5:4 entlang ideologischer Scheidelinien und den daraus resultierenden Vorwurf der allzu großen Einflussnahme nicht gewählter Gremien auf den politischen Prozess einerseits und die Rolle der Einzelstaaten in ihrem Verhältnis zum Bund über die commerce clause andererseits. Roberts erklärte, dass die Zwangsvorschrift (individual mandate) in Obamacare keine Verletzung der commerce clause darstelle, wie die Konservativen argumentiert hatten also einen unzulässigen Eingriff in die Rechte der Bundesstaaten sondern eine Steuer, zu der der Bund prinzipiell berechtigt sei. Gleichzeitig erklärte er, dass die Bundesstaaten darüber hinaus nicht zur Teilnahme an dem Projekt gezwungen werden könnten. Der Vergleich mit Marshalls wegweisender Entscheidung von Marbury v. Madison drängt sich geradezu auf. Roberts zwang Obama durch seinen  Sieg geradezu, sich auf die Seite des Supreme Court zu stellen und das Urteil zu begrüßen, stärkte aber die Rolle der Einzelstaaten und machte spätere Reformen dieser Art fast unmöglich, indem er einen Präzedenzfall schuf. Es ist gut möglich, dass National Federation of Independent Business v. Sebelius, wie die Entscheidung heißt, eine ähnliche Bedeutung für die Zukunft erlangt.

 Der Supreme Court ist eine sehr amerikanische Institution. Fest eingefügt in das System der Checks&Balances, dem wohl bedeutendsten Beitrag der USA zu der Entwicklung politischer Systeme, hat er über mehr als zwei Jahrhunderte die Politik in ihren Schranken gehalten. Dies war beileibe nicht immer zum Besten wie die Politik auch hat sich der Supreme Court einige Male schwer geirrt, und es hat lange gedauert, diese Irrtümer zu revidieren. Das Vertrauen der amerikanischen Bürger in ihn ist aber nicht ohne Grund. Die Richter haben ihre Unabhängigkeit von der Politik stets verteidigt, und in den Geruch der Parteilichkeit kamen sie äußerst selten. Selbst ihre Angehörigkeit zu einer bestimmten Richtung, etwa den Konservativen oder Liberalen, kann nach ihrer Ernennung auf Lebenszeit kaum als garantiert angenommen werden. Oft genug entschieden die Richter unabhängig von ihrer Einstellung. Auch das, das muss deutlich gesagt werden, hat nicht immer zum Besseren geführt. Es steht aber fest, dass die Amerikaner in ihrem Obersten Gericht eine Stelle haben, in der sie davon ausgehen können, dass sie Entscheidungen unabhängig vom Staat und dem Ansehen der Person fällt und das ist etwas, das nur sehr wenige Staaten vorweisen können und das nicht unerheblich zur außergewöhnlichen Stabilität des amerikanischen politischen Systems beigetragen hat. Roosevelts gescheiterter Versuch, den Supreme Court auszuhebeln, zeigt dies deutlich auf.

Thomas Jefferson
Ohne Kritik war das System freilich noch nie. Thomas Jefferson selbst hasste es, weil es verkörperte, was die USA eigentlich hatten beseitigen wollen eine Aristokratie nicht gewählter Männer, die mit fast absoluter Macht dem Volkswillen Schranken aufwiesen. Tatsächlich ist der Vorwurf, dass der Supreme Court mit Demokratie nicht besonders viel zu tun hat, kaum von der Hand zu weisen. Seine Mitglieder werden vom Präsidenten ernannt und dienen lebenslang. Sie sind niemandem jemals Rechenschaft schuldig. Warum aber stehen sie höher als eine Entscheidung des Volkes, dem die Verfassung selbst in ihrem ersten Satz die volle Souveränität zubilligt? Zu erklären ist dies nicht demokratisch, sondern nur mit dem System der Checks&Balances. Manchmal kann es nötig sein, die Demokratie vor sich selbst zu schützen. Es gab 1954 nicht auch nur im Ansatz eine Mehrheit für die Vorstellung, schwarze Kinder mit weißen auf eine Schule gehen zu lassen. Der Supreme Court scherte sich nicht darum. Es wäre möglich gewesen, dass der Präsident mit der Billigung des Volkes im Rücken die Verfassung ignoriert, um eine populäre, aber verfassungsfeindliche Maßnahme durchzudrücken. 1974 zeigte der Supreme Court klar, dass das niemals möglich sein kann. Er ist ein Korrektiv, nicht mehr, nicht weniger. Die alte Frage, wer die Wächter überwacht, kann auch er nicht beantworten.

Viele Länder, die ihre Demokratien am Beispiel der USA aufgebaut haben, versuchten auch, den Supreme Court zu imitieren. Die Einrichtung eines unabhängigen Obersten Gerichts aber ist eine Hürde, an der viele von ihnen scheiterten. Deutschland hat sie genommen, und das Bundesverfassungsgericht genießt in der BRD ein ähnlich hohes Ansehen, obgleich es selten eine solche Bedeutung erlangt wie der Supreme Court (fallen doch schon die Probleme der Staatenrechte hier fast völlig unter den Tisch). Als Gegenbeispiel kann dafür Russland dienen. Nach einigen hoffnungsvollen Ansätzen ist das russische Verfassungsgericht heute eine leere Hülle. Niemand kann in Russland hoffen, einen Prozess gegen den Staat zu gewinnen. Genau diese Aussicht aber ist es, die einen Rechtsstaat erst ausmacht. Die USA hatten das Glück, von Anfang an einen Gerichtshof zu haben, der solche Verfahren ermöglichte. Die Rechte der Bürger werden von seiner Existenz garantiert. Oftmals geht die Bedeutung solcher Institutionen in den Berichten über die Akteure auf der Bühne der großen Politik verloren. Gleichwohl sollte man sie nie unterschätzen für die Existenz einer lebendigen Demokratie und ihren Erhalt sind sie von essenzieller Bedeutung.

Bildnachweise: 
William Rehnquist - United States Department of Justice (gemeinfrei)
Owen Roberts - Steve Petteway (gemeinfrei)
Barack Obama - Pete Souza, The Obama-Biden-Project (gemeinfrei)
Thomas Jefferson - Rembrandt Peale (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/08/die-geschichte-des-supreme-court-of.html

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Fundstück

Von Stefan Sasse

Im Guardian findet sich eine flammende Anklage britischer Kolonialverbrechen, die teilweise eine widerliche Ähnlichkeit zu deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben - und mit Sicherheit Wasser auf die Mühlen der Holocaust-Revisionisten sein werden. Allein die Vorstellung, die Konsequenzen eines solchen Vergleichs auszumalen erschreckt einen zutiefst.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/07/fundstuck_31.html

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Die Geschichte des "Supreme Court of the United States", Teil 2/3

Von Stefan Sasse

Dies ist der zweite Teil einer Serie zum "Supreme Court of the United States". Teil 1 findet sich hier. Darin wurde skizziert, wie der Supreme Court sich seine eigene Jurisdiktion schuf, die Frage der Sklaverei zu beantworten versuchte und in nie gekannte Tiefen abrutschte, indem er die Rassentrennung legalisierte.

Edward Douglas White
Wer gedacht hätte, dass es danach progressiver würde und aufwärts ginge, hatte sich allerdings getäuscht. Unter Edward Douglass White fällte der Supreme Court mehrere Entscheidungen, die Arbeitsschutzregelungen einzelner Staaten kippten. Von einer Washington, D.C.-Mindestlohnregelung bis hin zu Arbeitszeitbegrenzungen in New York fielen zahlreiche zaghafte Gehversuche einer amerikanischen Sozialgesetzgebung dem Supreme Court zum Opfer. Jedes Mal wurde sie als ein unzulässiger Eingriff in die Recht der Unternehmer gesehen. Whites Nachfolger William Howard Taft (vormaliger US-Präsident) änderte an dieser Praxis wenig, hatte aber über weniger solcher Fälle zu entscheiden. Stattdessen urteilte er in mehreren Präzedenzfällen, dass die Bill of Rights auch die Einzelstaaten binde und verwarf damit eine Rechtssprechungspraxis aus der Marshall-Ära, die nur die Bundesregierung daran gebunden gesehen hatte – ein entscheidender Schritt in Richtung der wegweisenden Entscheidungen zur Stärkung der Bürgerrechte ab den 1950er Jahren, auch wenn das kaum Tafts Intention gewesen sein dürfte.

In den 1930er Jahren blieb der Supreme Court weiterhin bei seiner Linie, Regulierungsversuchen der Bundesregierung einen Riegel vorzuschieben. Dies lag hauptsächlich an seiner klaren ideologischen Aufteilung in Liberale und Konservative nach einem bis heute wirkenden Muster. Der Gerichtshof besaß lange vier eindeutig konservative Richter (¨the four horsemen¨) und drei eindeutig liberale Richter (¨the three musketeers¨). Die verbliebenen beiden neigten zwar je einer Seite zu, stimmten aber tendenziell etwas unabhängiger ab (¨swing vote¨). Viele der konservativen Entscheidungen fielen dementsprechend 5:4. Während dies bisher keinen ernsthaften Konflikt mit der Exekutive gebracht hatte, sorgte es ab 1933 mit der Wahl des progressiven Präsidenten Franklin Roosevelt und seinem "New Deal" für einen ernsthaften und tiefgehenden Konflikt. Die weitreichenden Reformen Roosevelts, die zur Schaffung kompletter neuer Institutionen wie etwa der National Recovery Agency NRA führten, griffen stark in die etablierte Machtbalance zwischen Staaten und Bund ein. Dies provozierte den Widerstand zahlreicher Kräfte.

Poster der NRA
Roosevelt befand sich bereits kurz nach seiner Inauguration in einem Dauerkrieg gegen den Supreme Court. Seine Maßnahmen zum New Deal wurden von den konservativen Richtern ein ums andere Mal niedergeschmettert. Besonders die NRA war davon betroffen, wurde sie doch für verfassungswidrig erklärt - Roosevelt hatte sie so eingerichtet, dass der Beitritt zu den Programmen der NRA zwar freiwillig war, die Vorteile, die damit einher gingen, aber nur bei Akzeptanz der strengen Regelungen besonders in arbeitsrechtlicher Hinsicht griffen. So mussten NRA-Mitglieder, die exklusiv an die lukrativen und in der Weltwirtschaftskrise wichtigen Regierungsaufträge kamen, beispielsweise Regelungen bei Lohn und Arbeitszeit hinnehmen. Wie bereits zu Beginn des Jahrhunderts ging das dem Supreme Court wesentlich zu weit, weil es in die Staatenrechte eingriff. Für Roosevelt usurpierte der Supreme Court damit einen politischen Gestaltungsraum für sich, der ihm nicht zustünde - eine Kritik, die seit Jefferson noch jeder Präsident vorgebracht hatte, gegen den der Supreme Court entschieden hatte.

Dies ist ohnehin ein interessanter Punkt. Die grundlegenden Argumentationslinien sowohl des Supreme Court auf der einen als auch seiner Kritiker und Befürworter auf der anderen Seite haben sich seit 1800 praktisch nicht verändert. Die Abwägung zwischen Bundes- und Staatenrecht mäanderte mal zu Gunsten des Einen, mal des Anderen. Stets wurde es auch mit den jeweiligen Trends verbunden. Konservative berufen sich auch deshalb so gerne auf die Einzelstaatenrechte, weil dieses Argument stets dem Abschmettern einer Klage dient und die meisten Klagen die Durchsetzung aktueller Trends zum Ziel haben (etwa der politischen Rechte für die ehemaligen Sklaven nach dem Bürgerkrieg). Im umgekehrten Falle, etwa bei der Beseitigung sozialstaatlicher Regeln in den Einzelstaaten, werden plötzlich Progressive zu Vorkämpfern der Staatenrechte. Auch bringt man dem Supreme Court immer dann Achtung als elementares Element der „Checks&Balances“ entgegen, wenn er in seinem Sinne entscheidet, und kritisiert seine fehlende demokratische Legitimation, wenn er das nicht tut. Geändert hat sich an diesem Muster in über 200 Jahren nichts.

Owen Roberts
Roosevelt nun empfand seinen Konflikt mit dem Supreme Court als besonders schwerwiegend und überlegte sich Mittel und Wege, um ihn in seinem Sinne zu beeinflussen. Als normaler politischer Druck nicht zum Erfolg führte, wandte er sich dem so genannten "court packing" zu: da die Verfassung die Zahl der Richter nicht festlegt, konnte er prinzipiell einfach neue Richter ernennen und damit die Balance ändern (vorausgesetzt, der Kongress erhöhte die Zahl, aber Roosevelt hatte damals eine ihm gewogene Mehrheit). Erwartungsgemäß brach damit ein wahrer Sturm der Entrüstung los. Nicht zu Unrecht wurde Roosevelt vorgeworfen, den Supreme Court auf diese Art und Weise der Exekutive unterwerfen zu wollen. Das zeigt, dass die Institution fest verankert war - selbst Roosevelts engste Verbündete waren fassungslos, und eine darüber hinaus gehende Beschneidung des Supreme Court wäre völlig undenkbar gewesen. Der Präsident nahm auch schnell Abstand von der Idee. Das wurde ihm durch Rücktritte der alternden Richter erleichtert: bald konnte er einige ersetzen, und ab Ende der 1930er Jahre  passierten die New-Deal-Maßnahmen ungehindert die zuständigen Gremien. 1945 waren acht von neun Richtern von Roosevelt ernannt. Bereits zuvor aber hatte Owen Roberts, der einzige Republikaner im Gerichtshof, die Seiten gewechselt und begonnen, mit den liberalen Richtern zu stimmen. Besonders seine Stimme gegen die Internierung japanischstämmiger Amerikaner nach Pearl Harbor („Korematsu v. United States) ist hier hervorzuheben. Die Demokraten breiteten über Roosevelts "court packing"-Plan schnell und gerne den Mantel des Vergessens.

1953 endete die Amtszeit des letzten Roosevelt-liberalen Vorsitzenden, Frederick Moore Vinson. Der neu gewählte Präsident Dwight D. Eisenhower ernannte den Gouverneur von Kalifornien, Earl Warren, zum neuen Vorsitzenden. Unter dem Warren-Gerichtshof, der bis 1969 amtierte, fielen einige der bis heute die Lage in den USA frappant beeinflussenden Entscheidungen. Die erste und gleichzeitig bekannteste ist "Brown v. Board of Education", mit der der Supreme Court die schlimmste Entscheidung seiner Existenz - "Plessy v. Ferguson" - vollständig revidierte. Das Urteil erklärte die Rassentrennung effektiv für illegal und war der juristische Startschuss für die Bürgerrechtsbewegung.

Soldaten eskortieren schwarze Schüler zur Schule
Das war aber erst der Anfang. Der erste Verfassungszusatz, der die „freedom of speech“ garantiert und auch die Freiheit der Religion inkorporiert – der wohl wichtigste Verfassungszusatz überhaupt –, wurde vom Warren Court gänzlich neu ausgelegt. In einer Serie von Entscheidungen wurde das verbindliche Schulgebet für verfassungswidrig erklärt, ebenso die verpflichtende Bibel-Lektüre in vielen Schulen. Dadurch wurde ein Streit begonnen, der bis heute anhält und eine scharfe Trennlinie zwischen Konservativen und Liberalen zieht. Die Forderung nach einem Schulgebet ist seither im Standardrepertoire jeden Konservativen zu finden, und das Thema verfehlt seine Wirkung nicht. In Reaktion auf dieses Urteil wurde übrigens auch die Formel „under god“ in den Flaggenschwur eingefügt, die vorher noch überhaupt nicht existiert hatte („one nation, under god, indivisible…“). Auch die Verteidigung dieses Schwurs ist eine der Roten Linien der Konservativen. Es zeigt schön, dass noch jede Entscheidung des Supreme Court eine Art von Gegenbewegung hervorgerufen hat, wodurch sich im Kleinen das spiegelt, was in den USA im Großen gesamtgesellschaftlich geschieht.

Die Stärkung der Bürger- und Menschenrechte hörte aber damit nicht auf. Der Warren-Court fällte eine Reihe von Entscheidungen, die die Bindewirkung der Bill of Rights auch für die Bundesstaaten festschrieb. Darüber hinaus wurden die Rechte von Angeklagten deutlich erweitert, am berühmtesten der „Miranda v. Arizona“-Entscheidung, die jedem aus Hollywood-Filmen bekannt ist: vor einer Befragung müssen einem Beklagten seine Rechte vorgelesen werden („Sie haben das Recht zu schweigen…“). Zwar hat kaum jemand diese Entscheidung richtig verstanden (in Filmen werden die Rechte bei der Verhaftung verlesen, was Unfug ist) und in der Realität spielt die Lesung auch praktisch keine Rolle, aber das Zeichen, das damit gesetzt wurde, hat seinen Eingang in die Popkultur gefunden. Eine letzte Entscheidung von 1965, „Griswold v. Connecticut“, schuf ein gänzlich neues Recht, das besonders in den letzten Jahren die gesamte Sicherheits- und Technikdebatte beherrscht hat: das Recht auf Privatsphäre. Der Präzedenzfall von „Griswold v. Connecticut“ jedenfalls wird die Gerichte wohl auch in Zukunft noch beschäftigen, denn die Herausforderungen für die Erhaltung der Privatsphäre im Zeitalter des Internets sind mannigfaltig und noch lange nicht alle bekannt.

Warren E. Burger
Nach Earl Warrens Rücktritt 1969 wurde Warren E. Burger der Vorsitzende des Supreme Court, der den Posten bis 1986 innehatte. In seine Amtszeit fallen drei grundlegende Entscheidungen. Die erste davon war die berühmte „Roe v. Wade“-Entscheidung 1973, die Abtreibung in bestimmten Fällen für legal erklärte – eine Regelung, die die US-Gesellschaft tiefgreifend und bis heute spaltete. Die Abtreibung war demnach unter dem Recht auf Privatsphäre einer Frau (das sich auch auf den eigenen Körper erstreckt) grundsätzlich legal, wird aber durch das Interesse des Staates, Leben zu schützen, gegenbalanciert. Der Kompromiss des Supreme Court war es, Abtreibung in der Zeit, in der das Neugeborene nicht ohne die Mutter überleben konnte (rund 24 Wochen), zu legalisieren. Viele Staaten haben bis heute noch Gesetze, die die Abtreibung illegalisieren (und die von „Roe v. Wade“ quasi nur eingefroren wurden) oder verfügen über Gesetze, die sofort in Kraft treten, sollte „Roe v. Wade“ revidiert werden. Eine wesentlich unwichtigere und schwer umstrittene Entscheidung des Burger-Courts dagegen war „Lemon v. Kurtzman“, in der versucht wurde, eine Regelung bezüglich religiöser Inhalte in öffentlichen und privaten Schulen zu finden, ohne dass die gefundene Regelung eine besonders hohe Akzeptanz besäße (der heutige Supreme Court erweckt offensiv den Eindruck, sie künftig revidieren zu wollen).

Eine gänzlich bedeutendere Entscheidung, die uns Deutschen dem Inhalt nach sehr vertraut ist, ist die Schaffung des so genannten „Miller Test“ im Zuge von „Miller v. California“. Miller war ein Porno-Händler, der gegen ein kalifornisches Urteil klagte: er habe eine Massen-Brief-Kampagne für Hardcore-Porn durchführen dürfen, weil es vom erste Verfassungszusatz – „freedom of expression“ – geschützt sei. Der Supreme Court entschied gegen Miller; „obszönes Material“ sei nicht geschützt. Im Bewusstsein darüber, dass das ein reichlich weiches Kriterium war, definierte er außerdem obszön im so genannten „Miller Test“: wenn Material 1) ein Durchschnittsmensch das Material als lüstern machend empfindet 2) offensichtlich anstößig (nach Staatenrecht) Akte der Sexualität oder Ausscheidung darstellt 3) keinen künstlerischen oder politischen Wert hat, dann ist es obszön und kann verboten werden. Die legendäre Prüderie der amerikanischen Popkultur gründet sich hauptsächlich auf diese Entscheidung, denn kaum jemand will eine Verurteilung unter diesem Gummiparagraph riskieren. Zwei weitere Entscheidungen der Burger-Ära sind noch zu nennen: „Gregg v. Georgia“, in der 1976 die 1972 gefallene Entscheidung für ein generelles Moratorium auf die Todesstrafe aufgehoben wurde – und die Todesstrafe damit erneut legal war , vorausgesetzt, bestimmte Kriterien wurden eingehalten – und „United States v. Nixon“ 1974, eine Entscheidung über die Watergate-Affäre, in der in aller Deutlichkeit festgehalten wurde, dass niemand, auch der Präsident nicht, über dem Gesetz steht und alleine die Gerichte verfassungsrechtliche Fragen entscheiden. 

Weiter geht's in Teil 3. 

Bildnachweise: 
White - Frances Benjamin Jonston (gemeinfrei)
NRA - NRA (gemeinfrei)
Owen Roberts - Alfred Jonniaux (gemeinfrei)
Little Rock High School - US Army (gemeinfrei)
Warren Burger - SCOTUS (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/07/die-geschichte-des-supreme-court-of_27.html

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Die Geschichte des "Supreme Court of the United States", Teil 1/3

Von Stefan Sasse

Wappen des Supreme Court of the United States
Nach der Gründung der Vereinigten Staaten und der Verabschiedung der Verfassung schwebte die junge amerikanische Republik in dem typischen Schwebezustand, in dem sich neue Staatswesen immer befinden. Eine Verfassung war zwar verabschiedet, mit hehren Prinzipien, in Artikel gegossen, aber wie diese sich in der Realität bewähren würden war noch völlig offen. Es ist ein Problem eines jeden neuen politischen Systems, dass die Rolle der einzelnen Institutionen und Akteure noch nicht klar ist. Das Grundgesetz etwa weist Parteien und Bundeskanzler keine so herausragende Rolle zu, wie diese sie in der bundesrepublikanischen Realität haben. Als die US-Verfassung vorlag, war das Verhältnis der Bundesstaaten zur Zentralregierung ebenso ungeklärt wie die Kompetenzen des Präsidenten oder des Kongresses. Niemand dachte damals jedoch daran, dass der Supreme Court of the United States, den zu schaffen die Verfassung vorschrieb, eine besonders wichtige Rolle einnehmen würde. Als Thomas Jefferson sein Amt als dritter Präsident mit der offiziellen Agenda einer Stärkung der Einzelstaaten antrat, lehnte er eine dominante Stellung von Bundesorganen ab. Am Ende seiner Amtszeit aber mussten sich Exekutive und Legislative dem Primat der Judikative bereits beugen. Seit diesen Tagen an der Dämmerung des 19. Jahrhunderts hat der Supreme Court im Guten wie im Schlechten die Geschichte der USA maßgeblich mitbestimmt. Dieser Artikel soll die Geschichte dieser Institution nachzeichnen, ihre wichtigsten Entscheidungen, die Bedeutung, die diese hatten, und sich der Frage widmen, wie der Supreme Court eigentlich zu bewerten ist.


Bevor die eigentliche Geschichte besprochen werden soll, einige Worte zur Funktionsweise des Supreme Court. Aktuell besteht er aus neun Richtern, darunter ein Vorsitzender. Entscheidungen werden mit einfacher Mehrheit gefällt. Die Richter werden vom Präsidenten ernannt (und vom Senat bestätigt) und dienen auf Lebenszeit oder bis sie zurücktreten (theoretisch können sie wie Präsidenten in einem ordentlichen Verfahren ihres Amtes enthoben werden, aber das passierte bisher nicht). Ein geflügeltes Wort besagt daher, dass die Ernennung von Richtern an den Supreme Court die dauerhafteste Maßnahme darstellt, die ein Präsident durchführen kann. Die Richter bleiben für gewöhnlich eine lange Zeit im Amt. Gegen Entscheidungen des Supreme Court kann keine Berufung eingelegt werden. Oftmals wirken ihre Entscheidungen über Jahrzehnte nach und stellen Präzedenzfälle dar, anhand derer sich die nachgeordneten Gerichte orientieren.

John Marshall, 1831
Wie bereits eingangs skizziert deutete zu Beginn wenig auf die Stellung des Obersten Gerichts hin. Sowohl George Washington als auch John Adams brachten ihre Amtszeiten ohne große Einmischung des Supreme Court hinter sich; der einzige größere Fall („Chisholm v. Georgia“) wurde durch den elften Verfassungszusatz hinfällig. Es war überhaupt nicht klar, welchen Geltungsbereich das Gericht überhaupt hat. Durfte das Gericht auf eigene Initiative tätig werden? Konnten Entscheidungen nur auf Anfrage getroffen werden? Und wer durfte diese überhaupt verfassen? Lag die Gerichtsbarkeit nicht eher bei den Einzelstaaten? Die generelle Unsicherheit und Irrelevanz des Supreme Court endeten mit dem Amtsantritt John Marshalls 1801. Marshall ist eine der prägendsten Figuren der US-Geschichte, einer dieser Typen, denen es an Selbst- und Sendungsbewusstsein nicht mangelt und die eine Lücke als Chance und weniger als Hindernis begreifen. Wäre er ein Cowboy, hätte er irgendeine Stadt unter seine Kontrolle gebracht und wäre Sheriff geworden. Er war aber Vorsitzender des obersten Gerichts der Vereinigten Staaten.

Marshall war entschlossen, den Supreme Court zum letztinstanzlichen Rechtsprechungsinstrument auszubauen. Damit stieß er aber genau in den Konflikt des gerade entstehenden ersten amerikanischen Parteiensystems hinein, die Auseinandersetzung zwischen den Federalists und den Democrats (nicht identisch mit den heutigen Democrats). Die große und bis heute andauernde Auseinandersetzung um die Frage, wie viele Rechte die Bundesstaaten gegenüber der Bundesregierung haben, war die entscheidende Wasserscheide für politisch Aktive zur damaligen Zeit. Wenn Marshall, dem mit Jefferson ein (zumindest rhetorisch) entschiedener Verfechter der Rechte der Einzelstaaten als Präsident gegenüberstand, dem Supreme Court also eine entscheidende Stellung einräumen wollte, so musste er geschickt zwischen beiden Lagern lavieren. Er konnte es sich nicht leisten, eines zum Feind zu haben, das den Court bei der ersten Gelegenheit beseitigen würde. Diese Gefahr war durchaus real, das hatte die „Revolution of 1800“ deutlich gezeigt, bei der zum ersten Mal überhaupt die Macht friedlich auf die Opposition übergegangen war. Nichts sprach dagegen, dass dies nicht vier Jahre später erneut geschehen würde, oder sogar früher, wenn sich die Mehrheiten im Kongress entsprechend änderten.

William Marbury
Die Gelegenheit für einen Coup kam für Marshall schnell. John Adams hatte, nachdem er die Wahl 1800 verloren hatte, in dem halben Jahr bis zur Inauguration Thomas Jeffersons noch diverse Richter- und andere Verwaltungsposten gefüllt, um seine Politik gegen Jefferson abzusichern, da er dann mit Personal regieren musste, das Adams‘ Vorstellungen anhing.. Diese Ernennungen - die so genannten "Midnight appointments" - brauchten nur noch die förmliche Überstellung der Urkunden, um gültig zu werden. Adams wie auch die Ernannten gingen davon aus, dass dies reine Formsache war. Jefferson dagegen hielt die Auslieferungen als erste Amtshandlungen auf. Die Urkunden blieben schlicht in der Schublade liegen. Einer derer, die so um ihren Posten gebracht wurden, war William Marbury. Er klagte vor dem Supreme Court gegen die Nicht-Zustellung der Ernennung. Das ist der Hintergrund der berühmten "Marbury v. Madison"-Entscheidung.

Der Fall klingt soweit nach einer reinen Formalie und nicht gerade dazu angetan, grundlegende Bedeutung zu erlangen. Dieser Gedanke verfliegt auch beim Lesen des Urteils nicht. Marshall teilte es vereinfacht gesagt in drei Punkte ein: 1) Hatte Marbury Klagerecht? 2) Ist seine Klage berechtigt? 3) Hatte Marbury Klagerecht vor dem Supreme Court? Diese Aufteilung und deren Reihenfolge ist überraschend, denn vieles war gar nicht gefragt. Interessant war ja eigentlich nur Punkt 2. Marshall beantwortete Fragen 1) und 2) trotzdem schnell mit ¨ja¨ und ging danach zu Frage 3 über, wo es wieder sehr formaljuristisch wird. In Kürze: der Supreme Court besitzt einen Zuständigkeitsbereich, der knapp in der Verfassung definiert wird. Insgesamt ist er aber recht unklar. Marshall argumentierte, dass Marbury nicht das Recht hatte, vor dem Supreme Court zu klagen. Stattdessen hätte er vor einem lokalen Gericht klagen und gegebenenfalls in Revision gehen müssen.

Der Sitz des Kongresses, das Kapitol, 1841
Die Sprengkraft hinter dieser Entscheidung liegt zwischen den Zeilen. Marshall definierte nämlich die Zuständigkeit des Supreme Court und begründete sein Urteil damit, dass es dem Kongress NICHT gestattet war, seinen Zuständigkeitsbereich eigenständig zu definieren. Stattdessen etablierte Marshall das bis heute gültige Prinzip des "judicial review" - der Supreme Court ist letztinstantlich verantwortlich für alle Verfassungsfragen. Jefferson erkannte die Sprengkraft dieses Urteils, aber ihm waren die Hände gebunden - Marshall hatte ihn ausmanövriert, denn politisch hatte Jefferson den Sieg davon getragen. Adams´ Ernennungen wurden nie mehr ausgeliefert. Für die Rechte der Einzelstaaten, als deren Advokat sich Jefferson verstand, war das trotzdem ein herber Schlag, genauso wie für die Exekutive selbst. Der Supreme Court hatte sich quasi selbst neu erschaffen. Der Kongress würde einen Fall niemals seiner Zuständigkeit entziehen können.

Marshall blieb bis 1835 Vorsitzender des Supreme Court. In dieser Zeit fielen viele Entscheidungen, die die hervorgehobene Stellung des Bundes gegenüber den Einzelstaaten zementierten, besonders die recht großzügige Auslegung der so genannten "commerce clause", die dem Kongress die Möglichkeit gibt, den Handel zu regulieren, sofern er mehr als einen Bundesstaat involviert (und in der aktuellen Entscheidung über Barrack Obamas Gesundheitsreform eine entscheidende Rolle spielte) und die Feststellung der Dominanz von Bundesrecht über Staatenrecht. Der Supreme Court fällte überdies vergleichsweise viele Entscheidungen ("judicial activism").  Dies sollte sich unter dem nächsten Vorsitzenden Roger B. Taney, der die Position bis 1864 innehatte, ändern.

Roger B. Taney
Taney empfand eine zurückhaltendere Rechtsprechung, die mehr Kompetenzen bei den Einzelstaaten beließ und die Entscheidungen möglichst untergeordneten Gerichten überließ, für angebracht ("judicial restraint"). Entsprechend gab es unter Taney weniger einschneidende Entscheidungen. Eine allerdings war von geradezu epochaler Bedeutung, da sie das Land einen entscheidenden Schritt in Richtung Bürgerkrieg brachte. Diese Entscheidung war "Dredd Scott v. Sandford" von 1857. Der Sklave Dredd Scott klagte vor dem Supreme Court, dass er frei sein müsse, da er sich lange in einem sklavenfreien Staat aufgehalten habe. Hintergrund ist der Missouri-Compromise von 1820, der vorsah, dass neue Territorien südlich des 36. Breitengrads Sklavenhalter-, die nördlich sklavenfreie Staaten sein sollten. Dred Scott argumentierte, dass er durch den Aufenthalt in einem Land, in dem Sklaverei verboten war, selbst frei geworden sei. Taneys Gericht dagegen wies die Klage mit einer bemerkenswerten Begründung ab: 1) Schwarze könnten keine Bürger der USA sein und seien somit nicht klageberechtigt 2) Der Missouri-Compromise sei verfassungswidrig 3) Der Staat könne keine Sklaven befreien, da dies ein Eingriff in das Recht auf Eigentum (fünftes Verfassungszusatz) sei. Taney hatte gehofft, mit dieser Entscheidung für Klarheit zu sorgen und den Graben, der sich wegen der Sklavenfrage in der Union aufgetan hatte, schließen zu können. Schließlich lieferte er ja eine rechtlich einwandfreie Regelung ab. Stattdessen wurde das Dred-Scott-Urteil zum rallying cry des abolitionistischen Nordens. Im Bürgerkrieg selbst traten solche Fragen deutlich in den Hintergrund. Es ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass Lincoln sich allzuviel um Taneys Gedanken scherte, als er 1862 mit der Emancipation Proclamation die Sklaverei in allen aufständischen Staaten abschaffte.

Mitten im Bürgerkrieg ernannte Lincoln einen neuen, entschieden abolitionistischen Vorsitzenden, Salmon P. Chase. Chase war unter anderem für mehrere Entscheidungen verantwortlich, die die Ansicht Lincolns bestätigten, dass die Union unteilbar sei und zementierten so die rechtliche Auffassung des siegreichen Nordens, eine juristische Ansicht, die bis heute nicht revidiert worden ist und die auch keine entschiedenen Gegner kennt. Sowohl Chase als auch seine Nachfolger Morrison Waite und Melville Fuller waren zudem hauptsächlich mit der Herausforderung konfrontiert, den vierzehnten Verfassungszusatz, der die Diskriminierung aufgrund von Rasse untersagt, mit Leben zu füllen. Diese Zeit des Supreme Court ist die wohl schändlichste bislang, fällt in diese doch die "Plessy v. Furgeson"-Entscheidung, die wohl besser unter dem berühmt-berüchtigten Zitat des "seperate but equal" bekannt ist. Nicht nur entschied der Supreme Court, dass der Staat Privatpersonen die rassistische Diskriminierung nicht verbieten könne. Mit "seperate but equal" legte er fest, dass die Ungleichbehandlung keine Verletzung des Gleichheitsanspruchs darstelle - eine Entscheidung, die heute nur noch Kopfschütteln auslöst. Das direkte Resultat waren getrennte Sitze in Bussen, unterschiedliche öffentliche Toiletten, getrennte Schulen, und so weiter und so fort. Die Rassentrennung stellte die effektivste Möglichkeit der Diskriminierung der Schwarzen für Jahrzehnte dar und feierte in Südafrika auch nach ihrem Ende in den USA eine ganz eigene Blüte, die erst in den 1990er Jahren ihr Ende fand. In den USA sollte es noch 70 Jahre dauern, bis diese Entscheidung revidiert wurde. Ein interessantes Detail am Rande ist, dass „Plessy v. Ferguson“ mit 8:1 Stimmen gefällt wurde - die häufige Kritik am Supreme Court, dass entscheidende Fragen mit 5:4-Mehrheiten kaum legitimiert seien, verliert angesichts einer solchen mit klarer Mehrheit getroffenen schlimmen Entscheidung deutlich an Überzeugungskraft. Die von John Marshall Harlan verfasste Minderheitenmeinung zum Urteil wurde darüberhinaus zur Inspirationsquelle für die Bürgerrechtsbewegung - er war der Einzige, der gegen das Urteil gestimmt hatte.

Teil 2 folgt.  

Bildnachweise: 
Siegel -  SCOTUS (gemeinfrei)
Marshall - Henry Inman (gemeinfrei)
Marbury - unbekannt (gemeinfrei)
Capitol - John Plumbe (gemeinfrei)
Taney - George Peter Alexander Haley (gemeinfrei)

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/07/die-geschichte-des-supreme-court-of.html

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