„‚Das hat nichts mit dem Islam zu tun.‘ Doch!“ Oder?

„Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun“

„Das hat doch nichts mit dem Islam zu tun“

„Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ zitierte der Focus vor kurzem auf seinem Titelbild. Das Zitat sollte dabei wohl eher eine allgemeine Grundhaltung ausdrücken, der gleichzeitig mit einem fetten roten „Doch!“ widersprochen wurde. Was soll denn nun eigentlich nichts mit dem Islam zu tun haben, oder eben doch? Das beantwortete der Focus anschaulich mit der Abbildung eines Maschinengewehrs: Die Gewalt natürlich, der Krieg und der Terror.

Es ist eine Debatte im Gange, die deutlich größer ist als der provokative Titel des Focus. Norbert Lammert sagt dazu: „Die gutgemeinte Erklärung, man dürfe den Islam nicht mit dem Islamismus verwechseln, der religiös begründete Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun, reicht nicht aus – und sie ist auch nicht wahr“. Aber er sagt auch: „… ebenso wenig wie die beschwichtigende Behauptung, die Kreuzzüge hätten nichts mit dem Christentum zu tun und die Inquisition auch nicht und die Hexenverbrennung natürlich auch nicht.“

Das Anliegen, Gewalt und Islam trennen zu wollen, ist erst einmal nachvollziehbar: Wenn Gewalt und Terror mit dem Islam zu tun hätten, wären dann nicht auch die Muslime verdächtig, die sich nicht gewalttätig verhalten? Die Aussage, der Terror habe nichts mit dem Islam zu tun, entspringt damit der gleichen Idee, die Islam und Islamismus unterscheidet: Gegen den Islam an sich hat man nichts, nur der Islamismus als politisierter, gewalttätiger Auswuchs des Islam ist ein Problem.

Die Idee ist nachvollziehbar, aber kann ich als Religionswissenschaftler sie unterschreiben? Wenn ich das nicht kann, ihr sogar widerspreche, befeuere ich damit nicht die Positionen derer, die den Islam für inkompatibel mit der westlichen Demokratie halten? Würde ich das wiederum wollen?

Das Problem liegt dabei in dem – häufig unausgesprochenen – „an sich“. Was ist denn der Islam an sich, der mit Gewalt nichts zu tun hat? Oder der Islam an sich, der mit Demokratie unvereinbar ist? Hinter beiden Gedanken steckt die Idee eines unveränderlichen Wesenskerns der unterschiedlichen Religionen. Leider ist diese Idee auch in der Religionswissenschaft nicht unbekannt, wenn man etwa Max Webers Ausführungen zu den Weltreligionen liest, nach denen der Buddhismus die Religion „weltablehnende[r] Bettelmönche“, der Islam aber die Religion „welterobernder Krieger“ war.1

Wenn der Islam also in seinem Wesen kriegerisch wäre, dann könnte  er nur oberflächlich gegen seine Natur befriedet werden. Wenn er aber seinem Wesen nach friedlich wäre – und auch dafür gibt es ja Stimmen –, dann wäre die Gewalt der Islamisten gegen seine Natur, und damit ein Missbrauch der Religion für politische Zwecke.

Nun ist das mit der Natur einer Religion an sich so eine Sache: Clifford Geertz zum Beispiel hat den Islam in Indonesien und Marokko studiert, und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass die Religion zugleich die größte Gemeinsamkeit der beiden Länder ist und ihr größter Unterschied – so verschieden ist der Islam, den er vorgefunden hat.2 Für Geertz ist Religion ein soziales, kulturelles und psychologischen Phänomen.3Den Islam an sich gibt es nicht, es gibt nur das, was Menschen daraus machen. Der Islam ist sowohl gewalttätig als auch friedlich, ebenso wie das Christentum. Das Christentum ist sowohl Jorge Mario Bergoglio als auch Franz-Peter Tebartz-van Elst. Der Hinduismus ist sowohl Lal Krishna Advani als auch Mohandas Karamchand Gandhi.

Aus diesem Grund kann ich als Religionswissenschaftler auch nicht sagen, dass Gewalt nichts mit dem Islam zu tun hat. Mit dem Islam von Saïd und Chérif Kouachi hat sie schon etwas zu tun. Aber ebenso kann Ahmad Mansour feststellen: „Mein Islam ist ein anderer als der Islam der Hassprediger …“4

Als Religionswissenschaftler bringt mich das gelegentlich in eine schwierige Lage. Wenn jemand sagt: „Ich weiß, das hat mit dem Islam nichts zu tun“, dann müsste ich widersprechen. Im besten Falle könnte man zu einer Debatte kommen, welche historischen und sozialen Gründe dazu geführt haben, das in bestimmten Regionen und bestimmten Milieus ein Islam entstanden ist, zu dem Gewalt und Krieg eben doch gehören. Denn es ist ja richtig, dass darüber diskutiert werden muss. Und auch darüber, ob es Traditionen im Islam gibt, die militante Strömungen vielleicht nicht aktiv fördern, aber doch dulden. Im besten Falle würde man darüber ins Gespräch kommen. Aber im schlimmsten Fall bleibt nur der viel einfachere Gedanke zurück, dass die Gewalt eben doch etwas mit dem Islam zu tun hat. Und deshalb schweige ich manchmal.

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  1. Weber, Max: „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche. Einleitung“, Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 19, Tübingen: Mohr Siebeck 1989, S. 83–127, hier S. 86f.
  2. Geertz, Clifford: Islam Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia, University of Chicago Press 1971, S. 4.
  3. Ebd., S. viii.
  4. Mansour, Ahmad: „Jetzt mal unter uns“, Der Spiegel 4 (2015), S. 132–135, hier S. 135.

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/101

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Wie lange muss jemand hier leben? Migration und Identität

 

In den Jahren 2010 bis 2012 konnte man eine Diskussion verfolgen, die sich an einer Rede des Bundespräsidenten Wulff entzündete. Wulff betonte seinerzeit, der Islam gehöre heute, ebenso wie das Christentum und das Judentum, zu Deutschland.1 Widerspruch kam von den führenden CDU/CSU-Politikern Hans-Peter Friedrich und Volker Kauder. Sie erklärten, der Islam gehöre historisch nicht zu Deutschland, er präge nicht die deutsche Kultur und Identität, auch wenn Muslime heute zu Deutschland gehörten und als Staatsbürger alle Staatsbürgerrechte genießen würden. Das sicherzustellen, sei Aufgabe des Staates.2  

 

Bezüge: Rechtsstaat vs. Nationalstaat

Gehört der Islam zu Deutschland? Diese Frage bewegt die Menschen hierzulande immer dann besonders stark, wenn entsprechende Debatten auftauchen. Einig ist man sich bislang nicht. Was aber an den Einlassungen der drei Politiker exemplarisch deutlich wird ist, dass die Beantwortung dieser Frage viel mit der Einstellung zur Geschichte zu tun hat. Einigkeit besteht offensichtlich darin, dass auf der Ebene des Staates alle Menschen zusammen gehören. Dies sicherzustellen ist die Aufgabe des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates und von daher gehören Muslime selbstverständlich als Staatsbürger in den Rechts- und Verfassungsstaat Deutschland. Für Christian Wulff gehören Christentum und Judentum historisch zu Deutschland, und der Islam jetzt auch. Weitere Unterscheidungen sind für ihn hier überflüssig. Die Argumentation der beiden anderen bezieht dezidiert eine andere Ebene mit ein: Sie sprechen von Tradition, von Kultur und von Identität und kommen zum umgekehrten Schluss: Der Islam gehört historisch nicht zu Deutschland! Er hat nämlich keine Bezüge zur deutschen Tradition, er gehört daher nicht in die deutsche Kultur und kann damit auch nicht Bestandteil einer deutschen Identität sein. Pointiert gesagt: Der Islam kann wohl auch niemals zum Bestandteil einer deutschen Identität werden, weil er zu der Zeit, als eine Identitätsbildung mit dem Ziel eines deutschen Nationalstaates begann, offenbar kulturell nicht anwesend war. Unsere “Wurzeln” sind daher “nur” als jüdisch-christlich zu bestimmen. Herauszuhören ist in den Argumentationen eine qualitative Unterscheidung zwischen Staat und Nation und diese Unterscheidung wird über die Wurzelmetapher möglich. Denkt man Geschichte von der Wurzelmetapher her, hat sie offensichtlich die Aufgabe, Menschen lebensweltlich zu verwurzeln.3 In einer Wechselbeziehung zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur bilden die Menschen Sinn über Zeiterfahrungen und entwickeln eine historische Identität. Diese ermöglicht ihnen, sich im Wandel der Zeit als kohärente Personen in einer Gemeinschaft wahrzunehmen. Wurzeln statten eine Person mit “Kraft und Authentizität”4 aus, sie legitimieren die Kultur eines Personenverbandes historisch.

Dominanzkultur historisch

Worin unterscheiden sich Staat und Nation? Auf der Ebene des freiheitlich-demokratischen Staates werden Pluralität und Heterogenität rechtlich gewährleistet und abgesichert. Allerdings findet hier aufgrund der funktionalen Differenzierung, die die heutige Gesellschaft kennzeichnet, eine Identitätsdiffusion statt: Wer gehört mit wem wie warum zusammen? Für dieses Problem kann „die Nation“ eine Lösung anbieten.5 Mit Hilfe von Geschichte ermöglicht sie dem Personenverband, der den Boden der Nation als “Vaterland” bewohnt, eine nach innen gerichtete Homogenisierung mit einer “ur-”eigenen kulturellen Identität und damit eine Vollinklusion in die Gemeinschaft der Nation. Um diese historische Identität überhaupt wahrnehmen zu können, bedarf es dann notwendigerweise der Anwesenheit von Geschichte in der Gegenwart in Form eines historischen Orientierungswissens “von der Antike an bis zur Gegenwart”6 mit dem Ziel einer “störungsfreien Kommunikation”.7 Die Ausrichtung des historischen Lernens und Denkens an einem master narrative ist die folgerichtige Konsequenz einer solchen Denkweise. Das kommunizierte historische Orientierungswissen prägt damit die Dominanzkultur innerhalb einer Gesellschaft in ihrer historischen Dimension.8

Ursprungskontinuität

Das Thematisieren einer Geschichte, deren Sinn das Herausbilden einer historischen Identität ist, hat jedoch Konsequenzen: In Kommunikationen wird demjenigen Element, dem eine größere Kontinuität zum Ursprung zuerkannt wird, der Vorrang eingeräumt; es repräsentiert das unsichtbare Allgemeine.9 Damit wird in eine Kommunikation zwischen Gleichen eine Unterscheidung eingeführt. Als Folge dieser Unterscheidung kann der unterlegene Teil in der Kommunikation physisch sichtbar gemacht werden. Da in der institutionell kommunizierten Geschichte der Dominanzkultur eine größere Kontinuität zum Ursprung zuerkannt wird, stehen deren Mitglieder für das unsichtbare Allgemeine als ein WIR. “Wir” können “die Anderen” nun auch sehen: Es sind die Menschen “ohne Geschichte” innerhalb der Dominanzkultur.

Bezugspunkt Gegenwart!

Nationalstaaten sind offensichtlich besonders dann keine Inklusionsgemeinschaften, wenn Kultur zur Basisgröße der historischen Orientierung erklärt wird.10 Wollen wir tatsächlich eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Staatsbürgern und Bürgern der Nation tradieren? Wenn wir weiter auf eine historische Identität verweisen, die soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängig macht, werden mindestens weitere 2000 Jahre vergehen müssen, bis der Islam zu Deutschland gehört – wenn es die Menschheit bis dahin überhaupt noch gibt. Wir könnten dies ändern, indem wir Geschichte anders denken und dann auch kommunizieren: Zusammen gehört, wer zusammen lebt. Und wer zusammen lebt, macht fortan gemeinsam Geschichte. Die Gegenwart sollte der Bezugspunkt eines durch Achtsamkeit geprägten Miteinanders sein – nicht eine kommunizierte Geschichte, die auf ein Orientierungswissen von der Antike an abhebt.

 

 

Literatur

  • Nassehi, Armin: Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne, Wiesbaden 1999.
  • Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, 2. Aufl., Berlin 1998.
  • Völkel, Bärbel: Man sieht nur mit dem Herzen gut!? – Was hat Thilo Sarrazins Angst um Deutschland mit Geschichte zu tun? Kritische Überlegungen zur Sinnbildung über Zeiterfahrung. In: Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Band 2: Kirchengeschichte, Hannover 2011, S. 23-37.

Externe Links

 



Abbildungsnachweis
Mit freundlicher Genehmigung © der Berliner Senatverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen / Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration, unter Verwendung von http://www.einbuergerung-jetzt.de

Empfohlene Zitierweise
Völkel, Bärbel: Wie lange muss jemand hier leben? Migration und Identität. In: Public History Weekly 2 (2014) 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1284.

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Den frühen Islam historisch eingemeinden? Mutter dreier Welten – die Spätantike

Nicht nur Historiker müssen es ertragen, ihre komplexe Rekonstruktionen auf Schlagwörter und griffige Formeln reduziert zu sehen. Von Spenglers gesättigter Kulturmorphologie bleib vor allem der Titel im Gedächtnis: Der Untergang des Abendlands . Das Beziehungsgeflecht der spätantik-frühmittelalterlichen Welt, das Henri Pirenne einst (1936) in Mahomet et Charlemagne entwickelte, reduzierte sich in der Rezeption auf die am Schluß griffig zugespitzten Thesen: Die...(read more)

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Den frühen Islam historisch eingemeinden? Mutter dreier Welten – die Spätantike

Nicht nur Historiker müssen es ertragen, ihre komplexe Rekonstruktionen auf Schlagwörter und griffige Formeln reduziert zu sehen. Von Spenglers gesättigter Kulturmorphologie bleib vor allem der Titel im Gedächtnis: Der Untergang des Abendlands. Das Beziehungsgeflecht der spätantik-frühmittelalterlichen Welt, das Henri Pirenne einst (1936) in Mahomet et Charlemagne entwickelte, reduzierte sich in der Rezeption auf die am Schluß griffig zugespitzten Thesen: Die Welt um 600 unterschied sich von der zweihundert Jahre zuvor nicht sehr; die germanischen Reichbildungen hatten nichts daran ändern können, daß die Kultur mittelmeerzentriert blieb (mit einem Schwerpunkt im Osten) und Konstantinopel das maßgebliche Zentrum bildete. Erst der „unvorhergesehene Vormarsch des Islam” zerstörte die Einheit der Mittelmeerwelt, trennte den Orient endgültig vom Westen und beraubte letzteren seiner Stützpfeiler in Nordafrika und Spanien. „Das Abendland ist abgesperrt und gezwungen, aus sich selbst in dem geschlossenen Raum zu leben. Zum ersten Mal überhaupt hat sich die Achse des geschichtlichen Lebens vom Mittelmeer weg nach Norden verlagert.” Auch die römische Kirche orientiert sich um. Zwischen 650 und 750 „geht die antike Tradition verloren, und neue Elemente gewinnen das Übergewicht”. Die islamische Expansion wirkte demnach als Spaltung. Fortan begegneten die Jünger des Propheten dem ‘Abendland’ überwiegend feindlich, in Spanien, als Herrscher über das Mittelmeer, schließlich bei den Kreuzzügen.

Allerdings – das war immer bekannt und auch gewürdigt – wurden in den gelehrten Zentren des Islam, zumal in Bagdad, wichtige Teile des griechischen Wissens bewahrt und gelangten von dort sekundär, als Übersetzungen aus dem Arabischen, später wieder in den ‘Westen’. Kürzlich hat der in Istanbul lebenden Wissenschaftshistoriker John Freely diesen Transfer in einem viel beachteten Buch eindrucksvoll nachgezeichnet (Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam. Aus dem Englischen von Ina Pfitzner, Stuttgart [Klett-Cotta] 2012). Vorgefunden hatten die Eroberer dieses Wissen in Alexandria, aber auch in Gondischapur, im Reich der spätantiken Sassaniden. Überdies bestanden Beziehungen nach Byzanz, von wo ebenfalls griechische Bücher kamen. Das von Kalif al Ma’mun in Bagdad gegründete „Haus des Wissens” mit seiner großen Bibliothek löste so etwas wie eine islamische Renaissance aus, indem nun die platonische Philosophie, Aristoteles, zahlreiche Schriften griechischer Mathematiker, Astronomen, Geographen und Ärzte, aber auch Traktate persischer Astrologen systematisch ins Arabische übersetzt wurden. Weitere Zentren dieser Renaissance wurden Damaskus, Kairo und Toledo. Aus dem Arabischen ins Lateinische weiterübersetzt fanden die Schriften und damit antikes Wissen und Ideen ihren Weg nach Paris, Oxford und Bologna.

Doch neben diese Translatio-Erzählung tritt seit geraumer Zeit in der Forschung eine neue Genesis: Der frühe Islam selbst wird in seinen spätantiken Kontext gerückt. Die lange geläufige Vorstellung, Mohammed und seine Bewegung seien gleichsam ursprungslos aus der Wüste gekommen, als reiner Gegenentwurf zu den Städten mit ihren vielfältigen Traditionen und Widersprüchen, kann keine Geltung mehr beanspruchen. Im dickleibigen ersten Band der New Cambridge History of Islam waltet nunmehr die Prämisse, die islamischen Herrschaften der ersten Jahrhunderte nicht als einen unabhängigen politischen, religiösen und kulturellen Raum anzusehen, sondern sie in spätantike Prozesse einzuordnen (Chase F. Robinson [ed.]: The Formation of the Islamic World. Sixth to Eleventh Centuries, Cambridge 2010). Es gab vielfältige und prägende religiöse Voraussetzungen, aber auch historisch gewachsene Strukturen wie die Verschränkung von urbanen und nomadischen Lebensformen auf dem Boden der östlichen Randzone des Imperium Romanum, des neupersischen Sassanidenreiches und der imperial nicht stark durchdrungenen Arabischen Halbinsel. Die Welt, in die der Prophet hineingeboren wurde, war in der Tat eine spätantike. Es war von daher auch keine ironische Verbeugung vor Pirenne, wenn vor einigen Jahren in einer Sammlung biographischer Skizzen zu Personen dieser Zeit unter dem Titel Sie schufen Europa auch Mohammed und Hārūn ar Rašīd zu finden waren (Mischa Meier [Hg.], Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen, München 2007). Auch die neuere – freilich vorwiegend außerarabische – Koranforschung schaut auf die Entstehung des Heiligen Buches in dieser Zeit und diesem Raum. So fordert die in Princeton lehrende Islamwissenschaftlerin Patricia Crone, den Koran zu lesen „wie einen Text, den wir ausgegraben haben und von dem wir nur wissen, daß er aus der Spätantike stamme und irgendwo in Arabien gefunden wurde. Ohne die Auslegungen also, die den Text und sein Verständnis im Laufe der Zeit in ganz bestimmte Richtungen lenkten. Komplementär zu diesem Ansatz fördert die Archäologie Neues zutage. So etwa eine Karawanenstation gut zweihundert Kilometer südlich von Mekka, in der saudischen Wüste (die Grabungsstätte heißt Qaryat al Fau). Ergraben wurden hochkarätige hellenistische Bronzeskulpturen, Bankettdarstellungen und manifeste Zeugnisse einer entwickelten Urbanität – in einer Gegend, wo man diese nie vermutet hätte! Das vorislamische Arabien stellte also keineswegs eine primitive nomadische Stammesgesellschaft dar; wie Griechen und Perser lebten und dachten, das war für die Generationen vor Mohammed offenbar von großer Bedeutung. Doch zu friedlich sollte man sich diese Welt nicht vorstellen – Byzantiner und Neuperser waren in einem beinahe ewigen Krieg miteinander verkeilt, und die Araber ihre gelehrigen Schüler und gut verdienenden Lieferanten.

Nun liegt der Gedanke nahe, Forschungen in dieser Richtung seien willkommen, weil sie eine politisch korrekte Strategie der freundlichen Umarmung unterstützen und die aktuell offenkundige Schieflage – ein bis zur Selbstaufgabe verständnisvoller, ‘aufgeklärter’ Westen hier, dort ein fundamentalistisch verhärteter Islamismus – zu überwinden versprechen. Doch so platt an den Bedürfnissen von Orientierung und Identitätsstiftung ausgerichtet funktioniert Wissenschaft meistens nicht. Immer spielen auch ganz persönliche Interessen eine Rolle. So bemühte sich Carl Heinrich Becker (1876-1933) als Mitbegründer der Islamwissenschaft in Deutschland wie als preußischer Minister für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung in der Weimarer Republik sehr energisch, das Wissen um die islamische Welt zu fördern. Der Islam sei, so Becker, Teil der europäischen Kulturgeschichte „wegen der einzigartigen Vergleichsmöglichkeiten in bezug auf die Assimilation des gleichen Erbes und wegen der Fülle der historischen Wechselwirkungen”. Und: „Ohne Alexander den Großen keine islamische Zivilisation!” Und vor mehr als vierzig Jahren spannte Peter Brown, der weltweit vielleicht bekannteste Spätantike-Forscher, in seiner ersten Zusammenschau der Epoche den Bogen nicht nur der Alliteration wegen von Mark Aurel bis Mohammed.

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Ein unermüdlicher Schrittmacher der neuen Sicht in unserer Zeit ist der Islamwissenschaftler Aziz al-Azmeh. Der Verfasser zahlreicher Bücher zur arabischen und muslimischen Ideengeschichte und Historiographie rekonstruiert eine Genealogie, ein Modell mithin, in dem Konflikte nicht als Streit um die Wahrheit, sondern als Erbschaftsstreitigkeiten aufzutreten pflegen, und fragt nach den Querverbindungen zwischen Rom, Neu-Rom (Konstantinopel) und Bagdad. Anstatt die islamischen Eroberungen seit dem siebten Jahrhundert mit Pirenne als Zerstörung einer zuvor homogenen Welt zu deuten, hält al-Azmeh die Kette der Kriege zwischen dem griechisch-römischen Westen und den „Persern”, zusammen mit dem Handel und den Migrationen für Bedingungen einer kulturell höchst fruchtbaren eurasischen Zwischenzone. Die frühe islamische Welt des Nahen Osten bildete in dieser Lesart tatsächlich die letzte Blüte der Spätantike. Freilich in einer besonderen, eben islamischen Lesart. Denn als frühe arabisch-islamische Gelehrte wie der Kalif al-Ma’mun (der Sohn Harun ar-Rashids) oder der Mathematiker Thabit bin Qurra den Hellenismus für sich entdeckten, griffen sie auf dessen pagane Phase zurück. Aristoteles, Ptolemaios und Galen konnten bestens zum Erbe erklärt und gepflegt werden, weil sie keine Christen waren. Byzanz hingegen habe das hellenische Erbe an die neue Religion verraten und nehme die griechischen Bücher eher zufällig und der räumlichen Identität wegen für sich in Anspruch. Umgekehrt wurden pagane Traditionen und Kulte im islamischen Raum noch lange auch praktisch gepflegt, etwa in der mesopotamischen Stadt Harran. Das Beste, was Rom in seiner Spätzeit zu geben hatte, waren demnach ‘östliche’ religiös-spirituelle Angebote wie Isis, Mithras, Sol Invictus, Jesus Christus und der Kaiserkult: ein anspruchsvoller und entwicklungsfähiger Polytheismus. Man kann sich fragen, ob dieses Bild nicht eher im Kopf von Kaiser Julian existierte, als daß es die spätere Wirklichkeit in einem seit Justinian (reg. 529-565) rapide theokratischer und dogmatischer werdenden Byzantinischen Reich widerspiegelt. Aber al-Azmeh beleuchtet ohnehin die andere Seite des Transformationsprozesses, indem er auf die auffälligen Übereinstimmungen zwischen dem frühen Islam und dem frühen Christentum hinweist. In der Tat gab es einen „Proto-” oder „Paläo-Islam”, in dem beträchtliche Teile aus der frühen christlichen Theologie und der spätantiken Philosophie stammten – bevor beide Religionen, mit zeitlicher Verzögerung, durch Dogma und Kanon so lange homogenisiert wurden, bis sie den Ansprüchen ihres jeweiligen imperialen Systems genügten. Dazu passen aktuelle Nachrichten: Islamische Fundamentalisten sind in einigen Ländern dabei, solche Elemente der Tradition, die ihnen als unislamisch erscheinen, zu bekämpfen und auszumerzen; dazu gehört die Erinnerung an ‘Heilige’ durch deren Gräber. Der frühe Islam stand hier noch in der Tradition des antiken Heroenkultes an Gräbern, der ja bekanntlich seinen Weg auch ins Christentum gefunden hat – und diesem ein polytheistisches Element verleiht, v.a. dem Katholizismus mit seiner Verehrung Marias und der Heiligen.

Al-Azmeh warnt – die spätere Entwicklung im Blick – ausdrücklich davor, den Gehalt des heutigen Islam aus den Uranfängen erschließen zu wollen, denn selbstverständlich weiß er um die durchgreifende Islamisierung des zunächst sehr viel offeneren Korans. So bleiben die faszinierenden Einsichten in den Weg Allahs – von einem unter vielen über den wichtigsten, andere Götter in sich aufnehmenden zum schließlich einzigen Gott – im Bereich der Wissenschaft und des aufgeklärten Bemühens um einen Dialog auf der Basis des Wissens um gemeinsame Wurzeln. Daß viele arabische Moslems die hier ausgebreiteten Brückenschläge und Historisierungen akzeptieren oder gar in Handeln umsetzen werden, dürfte dagegen ein frommer Wunsch bleiben.

Aziz al-Azmeh, Rom, das Neue Rom, Bagdad. Pfade der Spätantike. Carl Heinrich Becker Lecture der Fritz Thyssen Stiftung 2008

Jim al-Khalili, Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, Frankfurt/M. (S. Fischer) 2011.

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Die Ausgangsregion der späteren islamischen Expansion im Kartenbild eines klassischen Schulatlanten: Atlas Antiquus. Neunzehnte Auflage von Heinrich Kieperts Atlas der Alten Welt, neu bearb. von Carl Wolf, Weimar 1884, Karte III.

von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.

Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/10/30/den-fruehen-islam-historisch-eingemeinden-mutter-dreier-welten-die-spaetantike-400/

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