(Von Philippe Kellermann) Manch einer – vor allem in Ländern ohne größere anarchistische Tradition – kam eher zufällig zum Anarchismus: „Nach dem Verfahren“, so der us-amerikanische Anarchosyndikalist Sam Dolgoff rückblickend zu seinem Ausschluss aus der Socialist Party,
kam einer der Beteiligten zu mir und sagte: ‚Weißt du, du bist gar nicht so übel. Du hast dich soweit ziemlich gut verteidigt, auch wenn dein Fall hoffnungslos ist. Ich gebe dir einen Tipp. Du bist kein Sozialist. Du bist ein Anarchist.’ Also fragte ich ihn: ‚Wo kann ich die finden?’
In gewisser Weise ähnlich erging es dem Anarchisten Friedrich Kniestedt (1873-1947), der in seinen nun im „Verlag Barrikade“ veröffentlichten Erinnerungen berichtet, wie er im Laufe einer Diskussion aus einem sozialdemokratisch dominierten Arbeiterbildungsverein mit dem Hinweis verwiesen wurde, er sei Anarchist – und kommentiert:
Einige der Anwesenden verließen mit mir das Lokal. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich damals noch nicht Anarchist war, wusste nun aber, dass ein Mensch, welcher für die Opfer der Tyrannei eintrat, unbedingt ein Anarchist sein musste. (S.16)
Das deutsche Kaiserreich, in dem sich diese Geschichte zutrug, war tatsächlich alles andere als bekannt für seinen einflussreichen Anarchismus. Vielmehr war es eines jener Länder, sogar das Land, in dem sich der Marxismus festigen und durch die numerischen Erfolge der Sozialdemokratie in alle Welt ausstrahlen konnte. Auch Kniestedts Biografie macht dies deutlich und so sehen wir ihn zu Beginn seines politischen Werdegangs im Umkreis sozialdemokratischer Organisationen, denn, wenngleich sein „Verhältnis zur Sozialdemokratischen Partei immer ein recht sonderbares“ gewesen sei (S.25), habe gegolten:
Ich hatte innerlich mit der Sozialdemokratie gebrochen, eigentlich gehörte ich nie zu ihr. Aber ich musste ein Betätigungsfeld haben; und dann diese Menschen, welche gleich mir im Elend geboren, im Elend und der Lüge erzogen, mit allen Fasern ihres Gemüts und Gefühls zur Freiheit strebten und glaubten, durch die Sozialdemokratie den Sozialismus und die Freiheit erringen, erkämpfen zu können – das war der Grund, warum ich nicht schon damals offen mit der sozialdemokratischen Partei brach. Ich muss gestehen, dass aber auch der Glaube, dass es doch noch möglich sein würde, die sozialdemokratische Partei von innen heraus zu revolutionieren, mich zu ihr hielt. Eine Illusion, an der schon unzählige Kämpfer zu Grunde gegangen sind. (S.31)
Die Sozialdemokratie greift er in seinen Erinnerungen heftig an, nicht zuletzt, weil sie in keiner Weise gewillt war, anarchistische Aktivitäten zu tolerieren. So berichtet er im Kontext der Einberufung eines landesweiten Anarchistenkongresses 1907:
Die Sozialdemokraten befolgten erst die Taktik des Totschweigens. Als aber die sogenannte Generalanzeiger-Presse die Vorbereitungen breit behandelte, musste man aus der Reserve heraus. Dann begann ein schmutziger Kampf, wie er eben nur von dieser Seite geführt werden konnte. Die Massen sollten gegen uns rebellisch gemacht werden, es waren das dieselben Mittel, die später von den Nazis gegen die Marxisten angewandt wurden und noch heute angewandt werden. Überhaupt, wer so wie ich, Jahrzehnte in der Opposition gegen den Marxismus gestanden hat, für den ist (…) alles, was die Nazis gegen ihre Gegner anwenden, absolut nichts Neues. Nein, auch hier gilt das Sprichwort: ‚Alles ist schon dagewesen.’ Die Nazis haben von ihren Vätern gelernt. Die Herren Demokraten, vor allem ihre ‚roten Brüder’, haben den jetzigen Demagogen nicht nur die Steigbügel gehalten, nein, sie haben ihnen gelehrt [sic!], wie man es macht. (S.60)
Wie stark allerdings die Verbindung zur Sozialdemokratie gewesen sein muss oder: wie komplex das innere Leben in dieser sich darstellte, wird noch aus Kniestedts Bemerkung deutlich, wenn er mit Respekt von den „links eingestellten Sozialdemokraten der alten Schule“ (S.44) spricht.
Kniestedts Aktivitäten waren vor allem der Versuch der Verbreitung anarchistischer Propaganda und die (gewerkschaftliche) Organisierung der Arbeiterschaft. Darüber hinaus auch Versuche eine überregionale Organisierung der Anarchisten anzustoßen. Eine der bizarrsten und interessantesten Anekdoten behandelt dann auch den unglaublichen Aufwand, mit dem der oben erwähnte Anarchistenkongress von 1907 zustande kam und die Art und Weise wie er sich vollzog (S.61ff.). Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei den sogenannten „Lokalisten“, aus deren Kernen sich im Gefolge des Ersten Weltkrieges die anarcho-syndikalistische FAUD rekrutierte, wird allerdings auch ein etwas befremdlich wirkender Aspekt dieser Erinnerungen deutlich: ein gewisser Hang zur Selbststilisierung. So schreibt er beispielsweise im Zusammenhang der Bestrebungen von Seiten der sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften, eine Einigung mit den „Lokalisten“ zu erreichen:
Wenn ich damals diesen Kuhhandel nicht gestört hätte, wäre die FVdG, aus der die anarcho-syndikalistische Bewegung Deutschlands hervorgegangen ist, mit Haut und Haaren von den sozialdemokratischen Verbänden verschlungen worden, genau so, wie vor zwei Jahren die grosse deutsche Gewerkschaftsbewegung von den Nazis verzehrt worden ist. (…) Wenn also noch heute eine Gewerkschaftsrichtung – illegal – in Deutschland besteht, welche von den Nazis nicht aufgesaugt werden konnte, so ist das vor allem meiner Tätigkeit im Jahre 1907 zu verdanken. (S.65f.)
Das ist schon eine etwas sehr gewagte These. Und es ist verstörend, wenn Kniestedt immer wieder von seinen Erfolgen auf Veranstaltungen schreibt: es scheint, als habe ihm nie jemand auch nur annährend Paroli bieten können.
Nun denn, vielleicht unterschätze ich auch seine Bedeutung, denn Kniestedt – dessen Name mir vor der Lektüre im Übrigen überhaupt kein Begriff war – sei „im Süden Brasiliens bekannter (…) als in Deutschland, wo er beinahe in Vergessenheit geriet“ (S.205), wie es im Nachwort heißt.
Mit Brasilien ist ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Erinnerungen angesprochen, denn Kniestedt immigrierte noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Südamerika und verbrachte dort sein restliches Leben. Viele Schilderungen aus seinem Alltag als Siedler in Brasilien und später als Aktivist in der südamerikanischen Arbeiterbewegung machen dieses Buch dann auch wirklich recht singulär und, glaubt man dem Nachwort, zu einem „Klassiker der brasilianischen Arbeiter- und Immigrationsgeschichte und wichtige Quelle zur transnationalen Arbeitergeschichte“ (S.204). Kniestedt erlebte dort nicht nur das Elend, sondern auch den Alltag in einer Kolonie, die ihm demonstrierte, „dass vernünftige Menschen im Zeichen der gegenseitigen Hilfe ohne Führer, ohne gegenseitige Unterdrückung friedlich nebeneinander leben können“ (S.141).
Ihn selbst aber zog es wieder in die politischen Kämpfe und so bekam er laut Eigenaussage nicht nur den Spitznamen „der Streikprofessor“ verliehen (S.148), er sah sich zu allem Überfluss auch mit neuen Widersachern konfrontiert:
Nachdem es diesen Herren Bolschewisten nun nicht möglich gewesen war den Verein sowie den Freien Arbeiter bolschewistisch umzuformen, begann man eine Hetzkampagne, wie sie nur noch von den Nazis übertroffen werden konnte. Man verfasste ein Flugblatt, welches das schmutzigste war, das je gegen meine Person veröffentlicht wurde, und nur, weil ich nicht Parteikommunist werden wollte. (S.157)
Und so schließt er:
Heute, nach so vielen Jahren, habe ich die Genugtuung, in den Reihen der hiesigen Nazis ein halbes Dutzend der ehemaligen Bolschewisten zu finden, und genau so, wie diese damals echten Bolschewisten gegen mich brüllten, nur weil ich kein Kommunist werden wollte, so brüllen heute nach etwa 10 Jahren dieselben echten Nazis gegen mich, weil ich angeblich ein Kommunist sei. (S.157)
Abschließend sei noch auf Kniestedts eigentliches „Steckenpferd“ (S.57) hingewiesen: den Antimilitarismus. Denn immer, so Kniestedt, „war [ich] ein Gegner jeder Gewalt, darum auch ein Gegner des Staates mit seiner Exekutivgewalt sowie des Militarismus.“ (S.33) Vor allem Tolstoi sei es gewesen, „welcher mein Denken und Handeln noch heute bestimmt“ (S.32). Dass gerade dies ihn in heftige Gegnerschaft zur etablierten Autoritäten brachte, hatte er schon in Deutschland erlebt:
Ich hatte mir im Laufe der Jahre einen Feind verschafft, der weit mächtiger war als alle anderen. Ich durfte die Gesellschaft, den Staat als solchen, die Kirche, das Kapital als Stützen des Staates kritisieren, aber die stärkste Stütze des Staates und damit der Gesellschaft, den Militarismus, in einer solchen Weise [sic!], wie ich es getan hatte, unter die [sic!] Lupe zu nehmen, war mehr als ein Staatsverbrechen. Von dieser Versammlung an hatte ich keine ruhige Stunde. Bei jeder Gelegenheit und überall wurde ich überwacht. (S.70)
Insgesamt ein auch aufgrund seiner „exotischen Schlagseite“ interessantes Buch und es ist zu begrüßen, dass ein weiterer Verlag zur Verbreitung anarchistischer Quellen im deutschsprachigen Raum nun seine Arbeit aufgenommen hat.
Friedrich Kniestedt: Fuchsfeuerwild. Erinnerungen eines anarchistischen Auswanderers nach Rio Grande do Sul. Verlag Barrikade, Hamburg 2013, 224 Seiten, 18 Euro.
Wir danken Philippe Kellermann herzlich für die Erlaubnis zur Erstpublikation dieser Rezension auf unserem Blog. Kellermann schreibt u.a. für grundrisse und kritisch-lesen.de. Von ihm erschien zuletzt u.a. Anarchismus, Marxismus, Emanzipation (Berlin 2012, als Hrsg.) und Anarchismusreflexionen. Zur kritischen Sichtung des anarchistischen Erbes (Interviewband, 2013).
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