Tablets und Apps bieten neue Möglichkeiten für die Vermittlung und Aneignung von Geschichte in Schule und Öffentlichkeit. Sie ermöglichen, dass die Rezeption von Vergangenheitsdeutungen und die Produktion von Erinnerungsalben zusammenrücken. An Vergangenheit Interessierte und Lernende im Unterricht werden zu „Produsern“ von Geschichte und Erinnerung.
Personalisiertes Schulgeschichtsbuch
Für die SchülerInnen ist klar: Sie müssen vor der nächsten Geschichtsstunde das Videobook „Wegbereiter der modernen Schweiz“1 herunterladen, weil im Unterricht die Entstehung der Schweiz im 19. Jahrhundert behandelt wird. Zu Beginn der Stunde erklärt die Lehrerin die Aufgabe: Die SchülerInnen sollen sich zuerst einen Überblick über ausgewählte wichtige Persönlichkeiten verschaffen, welche die Geschichte der Schweiz geprägt haben, und dann jemanden bestimmen, den sie porträtieren möchten. Die meisten wählen General Dufour (vgl. Bild), einige wenige den Wirtschaftsführer Escher, fast niemand Bundesrat Franscini. Anschliessend sollen die SchülerInnen das Videobook zur gewählten Person studieren, dabei wichtige Passagen im Text markieren und danach mit drei KollegInnen, die dieselbe Person gewählt haben, eine eigene kleine Dokumentation auf ihrem Tablet herstellen.2 Die Dokumentation muss einen Überblick zur Biografie in ungefähr zehn Sätzen enthalten, dazu sollen zwei passende Quellen und zwei Filmausschnitte eingebunden werden. Ein Filmausschnitt muss aus dem vorgegebenen Videobook oder aus dem Internet stammen, ein weiterer Filmausschnitt soll selber produziert werden, entweder in Form eines fiktiven Interviews oder in Form eines Rollenspiels.3
Multimediales Erinnerungsalbum
Für Luzern-Touristen ist klar: Sie laden vor ihrer Reise ausgewählte Luzern-Apps auf ihr Tablet herunter. So können sie sich auf die wichtigen Sehenswürdigkeiten vorbereiten, haben schon Routenvorschläge für Spaziergänge auf ihrem Tablet und erst noch mit dem Kauf der App gleichzeitig das Eintrittsbillett fürs Museum erworben. Diejenigen, die sich für die Geschichte des Roten Kreuzes und für Panoramabilder interessieren, wählen das Videobook des Bourbaki-Panoramas. Nach dem Download betrachten sie auf ihrem Tablet bereits das vollständige Rundbild. Durch „Wischen“ bewegen sie sich durch die ganze Geschichte der Internierung der französischen Bourbaki-Armee 1871 im Schweizer Jura. Durch „Scrollen“ gehen sie in die Tiefe und erfahren, wer die einzelnen dargestellten Menschen sind, welche Bedeutung Rundbilder im späten 19. Jahrhundert hatten, wieso das Rundbild für den entstehenden Schweizer Bundesstaat von Bedeutung war. In Luzern angekommen besuchen sie dann das Museum, machen mit ihrem Tablet Fotografien, nehmen kleine Filmszenen beim Spazieren auf und erstellen ein persönliches Album, indem sie eigene Aufnahmen mit denjenigen des gekauften Videobooks kombinieren. Bereits während der Reise stellen sie das selber produzierte Erinnerungsalbum auf eine Austauschplattform, damit diejenigen, die sich dafür interessieren, die Reise mitverfolgen können.
„Produsing“ von Geschichte und Erinnerung
Sowohl die Luzern-TouristInnen als auch die SchülerInnen sind Tablet-„Produser“ (Producer & User)4 von Geschichte und Erinnerung. Sie nutzen die Angebote für Tablets mit all ihren Möglichkeiten zur Rezeption und Produktion. Damit werden analytische und synthetische Denkoperationen parallelisiert und dank Medienkonvergenz zusammengebunden. Angebot und Nutzung rücken zusammen; sinnhaftes Verknüpfen zeitdifferenter Phänomene ist leicht zu bewerkstelligen. Die Chancen von Tablets für alle, die Geschichte vermitteln oder die sich Geschichte aneignen wollen, sind groß. Tablets ermöglichen personalisierte Geschichtsbücher und Erinnerungsalben. Neben der visuellen Attraktivität des Angebots, das Multimedialität auf dem Tablett serviert, überzeugen vor allem die einfachen Möglichkeiten der Angebotsdifferenzierung, der Kommunikation und des Updatings. Zudem ermöglichen Videobooks mit und trotz Internetanbindung eine geschlossene Lernumgebung, weil ein Weiternavigieren über die angebotenen Links hinaus verunmöglicht werden kann. Schliesslich ist ein Videobook klar strukturiert und liest sich im Hauptnarrativ durch „Wischen“ von links nach rechts und ermöglicht durch „Scrollen“ ein Hinabsteigen in thematische Vertiefungen.
Neue Herausforderungen, alt bekannte Aufgaben
GeschichtsvermittlerInnen sind durch Tablets und Apps vor neue Herausforderungen gestellt: Sie müssen die Angebote klug designen und die verschiedenen Medien aufeinander abstimmen. Auch verlangt das Entwickeln von Animationen und interaktiven Seiten eine besondere Vorstellungskraft. GeschichtslehrerInnen stehen aber auch mit dem modernsten Tablet vor den alt bekannten Aufgaben: Wie gewinnen wir die Aufmerksamkeit? Wie verwickeln wir die NutzerInnen in historische Denkprozesse? Welche Geschichte/n bieten wir an? Wie bringen wir die Betrachtenden und Lernenden zum Deuten? Wie werden die Deutungen und Orientierungen in einen kommunikativen Zusammenhang gebracht und allenfalls validiert? Welche Arrangements ermöglichen, dass die Angebote nicht nur genutzt, sondern eigenaktiv angeeignet und weiterentwickelt werden? Wie unterstützen wir „Produsing“ von Geschichte und Erinnerung?
Literatur
- Hodel, Jan: Verkürzen und Verknüpfen, Geschichte als Netz narrativer Fragmente. Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden, Bern 2013.
- Macgilchrist, Felicitas: E-Schulbücher, iPads und Interpassivität: Reflexionen über neue schulische Bildungsmedien und deren Subjektivierungspotential. In: Bildungsforschung 9 (2012) 1, S. 180-204, online (zuletzt am 18.12.13).
- Schreiber, Waltraud u.a.: Das multimediale Schulbuch – kompetenzorientiert, individualisierbar und konstruktionstransparent. In: diess.: Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik, Stuttgart 2012, S. 212-232.
Externer Link
- Themenmonat „Die Schweizer“ beim SRF; Trailer auf YouTube.
Abbildungsnachweis
Tablet mit einem Screenshot aus dem Videobook „Wegbereiter der modernen Schweiz“ (vgl. Fußnote 1); © SRG SSR / DOCMINE.
Empfohlene Zitierweise
Gautschi, Peter: Mit “Wischen” und “Scrollen” durch die Schweizer Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 16, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-962.
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