Mit zwei Aufrufen meldete sich am 4. Dezember 1989 der Arbeitsausschuss am Institut für Marxismus-Leninismus in Berlin zu Wort. Dem Gremium stand Prof. Dr. Günter Benser vor und ihm und seinen aktivsten Mitstreitern war Folgendes sehr wichtig: ein „Neuansatz der Geschichte der nationalen und internationalen Arbeiterbewegung“, die „schonungslose Aufdeckung stalinistischer Verbrechen“ sowie die „sofortige Rehabilitierung aller unschuldigen Opfer“ und die nachdrückliche Aufforderung zum Mitdenken jedes einzelnen Institutsmitarbeiters über die Perspektive des Instituts – Vorschläge seien umgehend (bis 12 Uhr des nächsten Arbeitstages) im Sekretariat abzugeben.
Couragiert agierte damals der Historiker Benser als fast einstimmig gewählter Institutsdirektor an der Spitze einer der größten gesellschaftswissenschaftlichen Institutionen der DDR. Als Abteilung des Apparats des Zentralkomitees der SED war das IML seit 1968 „im System der Gesellschaftswissenschaften der DDR zentrale Leiteinrichtung für die Tätigkeit auf den Gebieten der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, der deutschen und allgemeinen Geschichte sowie der Marx-Engel-Forschung“ und seine Mitarbeiter waren „stärker in die politischen Strukturen der DDR und speziell in den Apparat der SED eingebunden als Wissenschaftler aller anderen Institutionen“.
Bensers Bericht „Aus per Treuhand-Bescheid“ ist ein kurzer und übersichtlicher Text mit einem ausführlichen Dokumentenanhang aus der kurzen Wirkungszeit des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung am Ende der DDR und im neuvereinten Deutschland. Selbstkritische Bestandsaufnahme und ein historisch-theoretischer Neuansatz waren die Eckpunkte, die Benser am historischen Wendepunkt verbuchen kann. Das Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung blieb auch dem Parteivorstand der PDS zugeordnet und sollte die politische Bildungsarbeit unterstützen, jedoch entschied es „selbständig über seine wissenschaftlichen und editorischen Projekte“. Zur angestrebten Transparenz gehörte, dass schnell die Archiv- und Bibliotheksbestände für alle interessierten Nutzer aus Ost und West geöffnet wurden, ohne die in der Bundesrepublik übliche dreißigjährige Benutzungssperre. Zu den dringlichsten Aufgaben gehörte das Bemühen um einen Rettungsschirm für die Bestände der Bibliothek (ca. 800 000 Bestandseinheiten) und des Zentralen Parteiarchivs (ca. 5000 laufende Meter Archivgut), die nicht zerrissen werden und uneingeschränkt am Standort Berlin nutzbar sein sollten. Die Entscheidung fiel schließlich auf einer Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 28. August 1991 mit der Bildung einer unselbständigen Stiftung unter dem Dach des Bundesarchivs. Für das IfGA gab es keine Chance. Seine Liquidierung lief auf der Schiene der autokratisch schaltenden und waltenden Treuhandanstalt – Direktorat Sondervermögen.
Benser gibt in kurzen Kapiteln das Erbe und die „Doppelherrschaft“ des IML, das Thema Stalinismus und die Arbeitsgruppe „Opfer des Stalinismus“, die MEGA-Kommission an der Akademie der Wissenschaften der DDR und den Verein MEGA-Stiftung Berlin e. V., die Historische Kommission der PDS und die Stiftung Gesellschaftsanalyse und politische Bildung, die internationalen und deutsch-deutschen Kontakte, die Publikationen und Veranstaltungen des IfGA u. a. zu Protokoll, schildert Initiativen und Arbeitsergebnisse des in seinen Inhalten selbstbestimmten wissenschaftlichen IfGA, um dann das Tempo und die Radikalität des in Deutschland „noch nie erfolgten Elitenaustausches“ durch Treuhand und Unabhängige Kommission zu skizzieren, „den keine einzige strukturbestimmende sozialwissenschaftliche Einrichtung der DDR auch nur im Entferntesten unbeschadet überstand“.
Fazit sei mit dem Verschwinden der Institutionen der DDR-Geschichtswissenschaft eine Verarmung der bundesdeutschen Historiografie, der es an prinzipiellen Herausforderungen und „am Streit über große Themen und geschichtstheoretische Grundfragen“ mangele. Die Folgen seien noch nicht gänzlich absehbar.
Marga Voigt
Günter Benser: Aus per Treuhand-Bescheid. Der Überlebenskampf des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung. Mit einem Dokumentenanhang (edition bodoni 2013, 238 Seiten, ISBN 978-3-940781-34-5)
Eine weitere Rezension des Bandes hier auf der Website der RLS.
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