Jürgen Osterhammel ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. International große Beachtung hat er für sein 2009 erschienenes Buch „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“ bekommen. Er erhielt dafür 2009 den NDR Kultur Sachbuchpreis für das beste Sachbuch des Jahres. 2010 wurde Jürgen Osterhammel mit dem Leibnizpreis ausgezeichnet. 2012 mit dem Gerda Henkel Preis. Das folgende Interview ist soeben auf Französisch erschienen in der Revue d’histoire du XIXe siècle, 46 (2013), im Themenheft “L’espace du politique en Allemagne au XIXe siècle“. Jürgen Osterhammel hat die Fragen von Quentin Deluermoz und Mareike König schriftlich beantwortet. Wir veröffentlichen hier die deutsche Originalfassung.
Herr Osterhammel, wie ist die Idee entstanden, ein Buch über die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben und wie lange haben Sie an diesem Opus Magnum gearbeitet?
Bücher dieser Art entstehen in Deutschland im Allgemeinen als Teil mehrbändiger Reihen und auf Initiative von Verlagen. Das war in diesem Fall anders. Ich habe das Vorhaben ganz allein entwickelt und dafür auch niemals die Drittmittelfinanzierung beantragt, die nach der deutschen Praxis eigentlich eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Das Buch hat drei Wurzeln. Ursprünglich wollte ich eine Geschichte der europäischen Kolonialreiche im 19. Jahrhundert schreiben, merkte dann aber, dass der niederländische Historiker Henk L. Wesseling gerade dabei war, genau ein solches Werk zu verfassen. Also trat ich gewissermaßen die „Flucht nach vorn“ an. Hinzu kam zweitens die Überlegung, dass bei uns schon seit Jahren über die Möglichkeiten von Weltgeschichtsschreibung theoretisch gestritten worden war, aber niemand sich in die Niederungen der tatsächlichen Ausarbeitung begeben hatte. Und drittens wollte ich versuchen, meine Interessen an allen möglichen Aspekten der Geschichte – von der Wirtschaftsgeschichte über die Ideengeschichte bis hin zur Geschichte der internationalen Beziehungen – in einem Buch zusammenzuführen. Die jahrelangen Kämpfe zwischen Sozial- und Kulturgeschichte zum Beispiel schienen mir überholt zu sein. An dem Buch habe ich etwa sechs Jahre lang gearbeitet, allerdings mit langen Pausen, da ich nur relativ kurz von der Lehre befreit war.
In Ihrem Buch betonen Sie die Besonderheit des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Weltgeschichte. Könnten Sie diesen Punkt erläutern, z.B. im Vergleich zur Globalgeschichte oder zur connected history des 16. bis 18. Jahrhunderts, die stärker die Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Teilen der Welt betonen, während Sie das besondere Gewicht Europas unterstreichen.
Was ich über die besondere Bedeutung Europas im 19 Jahrhundert sage, ist in der Tat von denjenigen kritisiert worden, die uns ermahnen, immer und überall an der „Provinzialisierung Europas“ zu arbeiten. Ich halte einen solchen Standpunkt für dogmatisch und unhistorisch. Auch Anti-Eurozentrismus kann zur Ideologie werden. Die relative Macht militärischer und ökonomischer Zentren muss als Variable behandelt werden. Das ist eine Binsenweisheit für alle, die sich mit Staatensystemen und imperialen Strukturen in der longue durée beschäftigen; die heutigen Weltlage bietet markante Beispiele dafür. Auch verändert sich die Strahlkraft einzelner Zivilisationen. Im 19. Jahrhundert ging der Aufbau großräumiger Kommunikations- und Ordnungssysteme primär von Europa aus. (West)-Europa wurde in vielen Teilen der Welt zum kritisch bewunderten Referenzmodell. In meinem Buch „Die Entzauberung Asiens“ (1998, Neuausgabe 2010) hatte ich das globale „Gleichgewicht“ des 18. Jahrhunderts ausführlich dargestellt. Dadurch ist mir der Kontrast zum 19. Jahrhundert, den Sie erwähnen, besonders deutlich aufgefallen.
In der Einleitung wie auch in mehreren Kapiteln in Ihrem Buch betonen Sie die Besonderheit der Jahrzehnte von 1860 bis 1880 in diesem weltgeschichtlichen 19. Jahrhundert. Könnten Sie präzisieren, was Sie zu dieser Schwerpunktlegung, die aus dem Blickwinkel der französischen Geschichte besonders ist, veranlasst hat?
Die verschiedenen Periodisierungsmuster, mit denen Historiker immer arbeiten müssen, ohne sie jemals verdinglichen zu dürfen, decken sich auf den verschiedenen Raumebenen nicht. Eine globale Periodisierung ist selbstverständlich eine noch viel stärkere Abstraktion als die chronologische Strukturierung einer einzelnen Nationalgeschichte, für die es viele tiefe Wurzeln in einer gemeinsamen kollektiven Erfahrung gibt, außerdem eine viel wirksamere Mythenbildung. Mir scheint, dass eine wachsende Zahl von Historikerinnen und Historikern zumindest für Europa und die USA in den Jahren um 1880 so etwas wie einen Übergang zur Moderne wahrnimmt. Ich vermeide den Moderne-Begriff, weil er mir analytisch zu vage ist, aber ich denke, dass auf vielen Feldern der beobachtbaren historischen Wirklichkeit in den 1870er und 1880er Jahren neue Strukturbildungen erkennbar sind. Das reicht von der sogenannten Zweiten industriellen Revolution über die Expansion und Effektivierung des Kolonialismus bis zu einer schubartigen Konzentration wissenschaftlicher Innovationen und zu den Anfängen einer ästhetischen Avantgarde. Auch diese Tendenzen – das führt zu Ihrer früheren Frage zurück – gingen vorwiegend vom „Westen“ aus, wurden aber in anderen Teilen der Welt zumindest in ihren Fernwirkungen wahrgenommen, Imperialismus, Kolonialismus und der Ausbau internationaler Märkte direkter als andere.
Es ist bemerkenswert, dass Sie Ihr umfangreiches Unterfangen als Einzelperson vorgelegt haben, gibt es doch einige Synthesen einer transnationalen Geschichte, um bei einer etwas bescheideneren Form zu bleiben, die kollektiv entstanden sind (z.B. die Arbeiten von Thomas Bender über die USA, oder in Frankreich „Histoire du monde au XVe siècle“ von Patrick Boucheron). Gerade für Frankreich ist ein vergleichbares Einzelunterfangen kaum denkbar. Können Sie erklären, für diejenigen, die Ihre Arbeit nicht kennen, worin das Interesse einer Einzelarbeit besteht im Vergleich zu einer kollektiven Arbeit?
Ich möchte Ihnen widersprechen, wenn Sie die moralische Kategorie der Bescheidenheit ins Spiel bringen. Ich glaube nicht, dass sie zu einer Zeit, in der wir lehrenden und forschenden Wissenschaftler von Politikern und Wissenschaftsmanagern täglich neu zur „Innovation“ gedrängt werden, legitim ist. Die wissenschaftliche Kritik sorgt in den Wissenschaftskulturen des Westens verlässlich dafür, dass Unbescheidenheit – oder sagen wir krasser: Hochstapelei – keine Chance hat. Ein historiographisches Experiment kann ebenso scheitern wie ein chemisches im Laboratorium. Da ich gemeinsam mit dem Harvard-Historiker Akira Iriye eine sechsbändige „History of the World“ herausgebe, deren erster Band im Oktober 2012 erschienen ist und die am Ende mehr als 4000 Seiten stark wird, ist mir auch die Arbeitsweise im Autorenteam vertraut. Beide Verfahren haben Vorzüge und Nachteile. Der Einzelautor lebt in ständiger Überforderung und riskiert es, auf manchen Gebieten den neuesten Stand der Forschung zu verfehlen. Andererseits hat er die Gesamtarchitektur eines Werkes besser unter Kontrolle, kann seine interpretierenden Akzente konsistenter setzen und für die Einheitlichkeit des Stils sorgen. Darin unterscheidet sich Weltgeschichtsschreibung in keiner Weise von Synthetisierungen anderer Reichweite. Gerade die französische Historiographie bietet dafür bewunderte Vorbilder, allen voran Marc Blochs „La Société féodale“.
Könnten Sie noch ein paar Worte sagen zum gegenwärtigen Ruf, den Synthesen in der Geschichtswissenschaft haben? In den Jahren 1980 bis 1990 standen diese aufgrund ihres zu umfassenden und essentiellen Charakters stark unter Druck, was zu anderen, eher dekonstruierten Formen der Geschichtsschreibung geführt hat (Wörterbücher, Lexika, Kataloge). Sind Synthesen heute wieder wichtig geworden, vor allem in der Weltgeschichtsschreibung, die ja oftmals als besonders „risikoreich“ dargestellt wird?
Der „Ruf“ von Synthesen im Allgemeinen ist mir gleichgültig. Vielleicht war es eine (mir weniger bewusste) Nebenabsicht meines Buches, ihn zu verbessern. Allerdings können Synthesen immer nur Nebenprodukte sein. Ich halte meine beiden Forschungsmonographien für wichtigere Leistungen als „Die Verwandlung der Welt“. „Risikoreich“ ist eine Synthese nur, was die persönliche Reputation ihres Autors betrifft. Vermutlich wäre ich selbst weniger mutig gewesen, wenn ich nicht eine sichere Stelle als Hochschullehrer hätte und aus dem Alter heraus wäre, in die man sich noch um neue Professuren bewerben kann. Im Übrigen: die in allen Ländern fleißig geschriebenen und veröffentlichten Lehrbücher (oder „textbooks“) sind auch „Synthesen“. Ich habe mich aber ausdrücklich bemüht, nicht aus didaktischen Gründen allzu sehr zu vereinfachen. Nur so erklärt sich der außerordentliche Umfang des Buches, das nicht speziell für Studierende geschrieben wurde.
In Ihrem Buch haben Sie sich für eine originelle Organisation des umfangreichen Stoffes entschieden. Sie sehen von den üblichen räumlich-zeitlichen Strukturen ab und stellen dafür bestimmte Dynamiken und spezifische Themen in den Vordergrund, deren Überlagerung ein komplexes, multidimensionales und originelles Raster hervorbringt, das die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert ausmachte. Ihr Buch entzieht sich damit den Meistererzählungen und ihren methodischen Ansätzen, die solchen Arbeiten oftmals zugrunde liegen (Teleologie, „große Motoren“, marxistische oder liberale Perspektive etc.). Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Sie haben die Verfahrensweise vorzüglich beschrieben oder schon auf ihre Stärken hingewiesen. Das Buch versucht eine mittlere Ebene zwischen einer reinen Materialpräsentation und einer geschlossenen Epochendeutung zu halten. Man hat seine Form als „modular“ beschrieben, ich würde „offen“ vorziehen. Es spart nicht mit Deutungsangeboten, aber es verzichtet auf die rhetorischen Mittel, sie den Lesern aufzudrängen. Deshalb sind alle diejenigen enttäuscht, die nach einer knappen und eindeutigen Gesamtthese suchen.
Auch erscheint Ihre Geschichte im Vergleich zu ähnlichen Arbeiten wie die von Hobsbawm oder Bayly in der Schreibart sehr originell: Ihr Buch ist klar strukturiert (Kapitel, Unterkapitel, 1, 2, 3), die Sätze sind direkt, der Ton neutral, manchmal vielleicht sogar etwas kalt. Die Vorteile für eine effiziente Lektüre liegen auf der Hand (z.B. bei der Vorbereitung von Seminaren). Warum haben Sie sich für diesen sehr objektiven Stil entschieden?
Ich selbst habe den Stil nicht als „objektiv“ empfunden oder bewusst so gewählt, aber ich sehe, dass Sie mit dieser Charakterisierung etwas Wichtiges getroffen haben. Zudem ist das Buch in keiner Weise „narrativ“, obwohl Verlage in ihrer Werbung gerne den klischeehaften Eindruck erwecken, Geschichte werde immer nur „erzählt“. Für mehr Kolorit hätte man noch mehr Platz benötigt. Auch bin ich selbst durch die Schule der Klassiker der Soziologie, vor allem Max Webers, gegangen. Dort kann man Prägnanz lernen.
Ist eine Übersetzung Ihres Buches ins Französische vorgesehen ?
Sie ist in Arbeit und wird bei Seuil erscheinen.
Herr Osterhammel, vielen Dank für das Interview.
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Rezension von Quentin Deluermoz des Buches “Die Verwandlung der Welt” in der Revue d’histoire du XIXe siècle 45 (2012), http://rh19.revues.org/4423.
Foto: Jürgen Osterhammel, Universität Konstanz; Titel Abbildung “Die Verwandlung der Welt”, Beck Verlag.