Emser Depesche: Der Überlieferungszusammenhang

Einleitung zu dieser Serie

Angenommen, wir möchten die Originale der Schriftstücke konsultieren, die zusammen als “Emser Depesche” berühmt geworden sind. Sie werden im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts verwahrt. Was uns im Lesesaal vorgelegt wird, ist ein dicker Aktenband. Er ist fadengeheftet, d. h. die Einzelschriftstücke wurden lagenweise eingenäht, und bietet den typischen Anblick preußischer Behördenakten des 19. Jahrhunderts.

(Natürlich haben wir dem Archiv vorher plausibel dargelegt, dass wir für unsere aktenkundlichen Studien zwingend auf das Original angewiesen sind. Sonst hätten wir aus konservatorischen Gründen zunächst nur einen Mikrofiche erhalten.)

Aus der Literatur kennen wir die moderne Archivsignatur, R 11674, und auch Blattzahlen: 209-214. Also könnten wir uns sofort auf Abekens Bericht aus Ems stürzen. Viele Forscher tun das auch und verzichten darauf, “ihre” Funde im Aktenzusammenhang zu kontextualisieren. Sie tun das auf eigene Gefahr.

Zwar ist auch die Aktenkunde – ein kleiner methodologischer Exkurs – auf Einzelschriftstücke ausgerichtet, aus deren Gestalt und Abfolge sie Entscheidungsprozesse inhaltlich rekonstruiert (Henning 1999: 120). Sie kommt aber, sozusagen als Vorspiel, nicht darum herum, die Einzelschriftstücke in der gesamten Überlieferung der aktenführenden Institution zu verorten, und muss sich dazu mit den Strukturen des Archivguts auseinandersetzen, in denen es heute vorliegt.

Kretzschmar (2011) hat am Beispiel der Gerichtsakten zu dem berüchtigten Prozess gegen Joseph Süß Oppenheimer demonstriert, dass diese ohne Kontextualisierung nur unter größten Mühen sachgerecht ausgewertet werden können. Die entscheidenden Informationen fand er auf den Aktendeckeln: Zeitgenössische Registratur- und neuere Archivvermerke.

Wir schließen den Aktenband wieder – vorsichtig, mit den Baumwollhandschuhen, die uns die Aufsicht gegeben hat – und sehen uns den Aktendeckel an.

Deckel des Aktenbandes PA AA, R 11674

Deckel des Aktenbandes PA AA, R 11674 

Wir bemerken, dass der Aktendeckel wegen des vorgedruckten “19″ für die Laufzeitangabe nicht original sein kann. Aktenzeichen und -titel wurden aber originalgetreu transkribiert. Mit Umlagerungen und Neueinbindungen zur Bestandserhaltung muss immer gerechnet werden. Auch die Schriftstücke im Inneren wurden in jüngster Zeit restauriert. Vielleicht hat dieses Detail aber dennoch etwas zu sagen. Wir merken es uns.

Es handelt sich um Akten des Auswärtigen Amts, “Abteilung A”. Haben wir damit die genaue Provenienzstelle innerhalb der Behörde gefunden, können also identifizieren, wo im Zuständigkeitsgefüge des Ministeriums die Akten entstanden sind? Noch nicht ganz. Im Auswärtigen Amt (des Norddeutschen Bundes, zu dieser Zeit) gab es keine Abteilung A, wie ein Blick in die Behördengeschichte (z. B. Conze 2013: 19) lehrt. Es gab eine politische Abteilung (römisch I), die ihre Akten in zwei Gruppen teilte: A-Akten zu politischen und B-Akten zu nichtpolitischen Betreffen; darunter fielen z. B. die Personalakten der Diplomaten.

Der Kopf des Deckels sagt uns in verkürzter Form, dass uns A-Akten der Abteilung I vorliegen, also ein politischer Betreff in der Zuständigkeit der Politischen Abteilung gegeben ist. Zeitgenössisch sprach man von IA-Akten. (1879 wurde dann die Politische Abteilung in die Abteilungen I A und I B gespalten; das muss uns hier aber nicht interessieren.)

Bei der “Berufung eines Prinzen von Hohenzollern auf den Spanischen Thron” als Betreff ist die politische Natur der Akten nicht zu bestreiten. Der Ort dieser Betreffakten in der Gesamtheit der IA-Akten ergibt sich aus dem Aktenzeichen: B o 32. “Aktenzeichen” ist hier noch nicht im heutigen Sinne als Teil eines umfassenden Aktenplans zu verstehen, der den Zuständigkeitsbereich einer Behörde vorausschauend aufteilt, auf die Gefahr hin, dass manche Aktenzeichen auf ewig unbelegt bleiben. In der klassischen Betreffsregistratur, wie sie auch im Auswärtigen Amt bestand, wurden neue Aktenzeichen ad hoc vergeben, wenn tatsächlich Schriftgut zu einem neuen Betreff anfiel. Innerhalb eines groben Gliederungsschemas wurden die Betreffe “chronologisch nach Anfall gereiht” (Enders 1968: 50).

Die IA-Akten des Auswärtigen Amt wurden nach Sachbetreffen in einer geografischen Gliederung geführt. Das entsprach den Bedürfnissen eines Außenministeriums. Bei den Innenbehörden war es in der Regel umgekehrt: übergeordnete Sachgliederung und geografische Betreffe an der Basis (Meisner 1935: 154). Geografisch befinden wir uns bei diesen Akten in

  • “B” = Europa und
  • “o” = Spanien,

was freundlicherweise auch noch einmal ausgeschrieben wurde. Innerhalb der IA-Europa-Spanien-Akten liegt uns der 32. Betreff vor, zu dem die Registratur Akten angelegt hat, eben die Spanische Kandidatur. Im Vergleich wird sofort deutlich, dass die Nummernfolge der Betreffe zufällig ist, so wie die Sachen gerade anfielen:

  • B o 30 “Verhältnisse der Insel Cuba”,
  • B o 31 “Innere Zustände und Verhältnisse Spaniens”,
  • B o 33 “Vereinigung Spaniens und Portugals zu einem Iberischen Reiche”.

Der Aufbau dieses Weymannschen Registraturplans wird von Philippi (1958) erläutert; man muss es mehrmals lesen und konkret anwenden, um es zu verstehen. Was bringt das nun? Zum einen durchschauen wir jetzt die älteren Angaben der Fundstelle in der Literatur, z. B. bei Walder (1972: 179), mit “IA Bo 32″. Die heutigen Archivsignaturen im Numerus Currens wurden erst 1990/91 eingeführt (Biewer 2005: 151 f.). Zum anderen ist es doch erwähnenswert, dass sich die zentrale Überlieferung zur Genese des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 bei den Spanienakten befindet – wenn auch aus der Registraturlogik heraus einfach zu erklären. Auf dieser Basis könnten wir jetzt methodisch sicher nach ergänzender Überlieferung in anderen Teilen der IA-Registratur suchen, wenn wir uns diplomatiegeschichtlich damit befassen wollten.

Nun wenden wir uns der Binnengliederung der Betreffakten B o 32 zu. Es handelt sich um eine mehrbändige Aktenserie, aus der uns der 4. Band vorliegt. Wir sehen, dass er trotz seines Umfangs Schriftgut eines einzigen Tages enthält, und bekommen so einen Eindruck von der Intensität der Diplomatie auf dem Höhepunkt der Krise. Wir wollen uns von der Vollständigkeit der Aktenserie überzeugen, prüfen den Anschluss an Band 3 – und bemerken gleich eine große Lücke. Band 3 endet mit der Blattnummer 89, Band 4 beginnt mit 116. Wir blättern jetzt den ganzen Band durch und sehen, dass auch die Blätter 134-136, 185-186 und 188-189 fehlen.

Glücklicherweise haben wir beim Aufschlagen bemerkt, dass sich auf der Rückseite des Aktendeckels ein Archivvermerk von 1958 befindet. Damals wurden die Akten aus britischen Gewahrsam zurückgegeben. Dieser Vermerk verweist uns für die fehlenden Seiten auf die parallelen Geheimakten. Dass es eine zweite Aktenserie I A B o 32 mit dem Zusatz “secr.” gibt, wussten wir natürlich schon aus unserer sorgfältigen Durchsicht des Findbuchs. Und in diesen Geheimakten (die längst nicht mehr geheim sind) finden sich, im Band 4, tatsächlich die fehlenden Seiten. Wir stellen fest, dass sich unsere Quellenbasis (Bl. 209-214 im “normalen” Band 4) dadurch nicht verändert.

Zur Überlieferungsgeschichte können wir jetzt postulieren, dass die “offenen” und die geheimen Schriftstücke zu I A B o 32 in der Registratur zunächst vermischt abgelegt wurden. Die durchgehende Blattzählung (Foliierung) ist der Beleg dafür. Später hat man beide Gruppen voneinander getrennt und in neue Aktendeckel eingebunden. “Serienspaltung durch Geheimhaltung” wäre ein Stichwort für die Archivwissenschaft, das vor allem für das 20. Jahrhundert einmal näher beleuchtet werden sollte.

Die Emser Depesche hielt man zu diesem unbestimmten Zeitpunkt offenbar nicht für geheimhaltungsbedürftig – da der Aktendeckel dieses vorgedruckte “19″ aufweist, fand die Umlagerung erst statt, nachdem Caprivi 1892 im Reichstag den unredigierten Depeschentext publik gemacht hat. Die Katze war also schon aus dem Sack.

Wir wiederholen die Prüfung nun für den Anschluss an Band 5, stoßen dort aber nur auf Wiedergaben des Depeschentexts, die wir für unser aktenkundliches Thema nicht brauchen. Soviel Aufwand für einen im Grunde negativen Befund? Ja, denn erst jetzt können wir uns sicher sein, dass wir in den Blättern 209-214 des Archivales mit der zeitgenössischen Registratursignatur I A B o 32 Bd. 4 und der archivischen Bestellnummer R 11674 aus dem Bestand R 201 (Abteilung I A, 1870-1920) des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts abschließend unsere Quellengrundlage identifiziert haben.

Wir können jetzt das vorgangsbegründende Schriftstück näher untersuchen: den Bericht Abekens über die Begegnung Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter auf der Kurpromenade von Bad Ems.

Literatur

Biewer, Ludwig 2005. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amts. Plädoyer für ein Ressortarchiv. Archivalische Zeitschrift, 87, S.137–164.

Conze, Eckart 2013. Das Auswärtige Amt. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. München: Beck 2013.

Enders, Gerhart 1968. Archivverwaltungslehre. 3. Aufl. Berlin (Nachdruck Leipzig 2004).

Henning, Eckhart 1999. Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert, in: Ders. 2004. Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 2. Aufl. Köln usw. S. 105-127.

Kretzschmar, Robert 2011. Der Kriminalprozess gegen Jud Süß Oppenheimer in archivwissenschaftlicher aus aktenkundlicher Sicht, in: Lorenz, Sönke und Molitor, Stephan Hg. 2011. Text und Kontext. Historische Hilfswissenschaften in ihrer Vielfalt. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 18. Ostfildern. S. 489–523.

Philippi, Hans 1958. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Der Archivar, 11, Sp. 139–150.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/188

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Zur Aktenkunde der Emser Depesche

 

Einige Male wurde ich gefragt, ob das Bannerbild zu diesem Blog aus der Emser Depesche stamme. Das ist richtig. Genau gesagt: Es zeigt einen Ausschnitt des Kopfes der Entzifferung des telegrafischen Berichts Abekens aus Bad Ems.

Die Emser Depesche eignet sich gut, um den Erkenntnisgewinn einer aktenkundlichen Herangehensweise an die archivalischen Quellen zu demonstrieren. Dabei wird deutlich, wo die Unterschiede zu einer rein historisch-philologischen Textkritik liegen, die mit Texten und Textzeugen operiert, ohne die Natur von Aktenschriftstücken als Produkten von Verwaltungsprozessen zu berücksichtigen.

Walder (1972) ist die maßgebliche Edition der Depesche. Sie bietet einen zuverlässigen Text, zeugt aber auch von einer gewissen Ratlosigkeit im Umgang mit Überlieferungsverhältnissen, die aus aktenkundlicher Sicht eigentlich recht übersichtlich sind. Walder betrachtete Abekens Konzept des Telegramms und die Bismarck vorgelegte Entzifferung als unterschiedliche Dokumente und konnte auch die Ausfertigungen des Runderlasses mit dem redigierten Text begrifflich nicht treffend bezeichnen.

Walder (1972: 3) wollte “von der Depesche in den verschiedenen Stadien, die sie durchlaufen hat” jeweils “den genauen Text durch wortgetreuen Abdruck der erhaltenen Originale [...] geben”. Das ging soweit, das Originallayout im Drucksatz nachzubilden, andererseits aber Abkürzungen unaufgelöst zu lassen. Imitation also statt Edition, eine drucktechnische Variante der “paläographischen Abschrift” der klassischen Diplomatik. Zur an sich in der Tat gebotenen Differenzierung stellte Walder unglücklicherweise der “Emser Depesche” eine “Depesche aus Ems” gegenüber und perfektionierte damit die Verwirrung.

Die heute maßgebliche Quellensammlung zu den Ursprüngen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, Becker (2007: Nr. 854), übernimmt Walders Text, geht in der Fokussierung auf die Textgestalt aber noch weiter, indem die “Depesche aus Ems” der “Emser Depesche” im Paralleldruck gegenübergestellt wird – als wären es Original und interpolierte Verfälschung einer mittelalterlichen Urkunde in einem Diplomata-Band der MGH.

Einen Aktenvorgang, auch wenn er nur aus wenigen Stücken besteht, kann man in dieser Weise aber nicht aufbereiten, weil jedes einzelne Aktenschriftstück eben nicht bloß ein Textzeuge ist, sondern in seiner Materialität, mit unikalen Bearbeitungsspuren, eine räumlich und zeitlich definierte Momentaufnahme eines Entscheidungsprozesses markiert.

Dies zur Einleitung. Ich habe mir vorgenommen, an dieser Stelle in den nächsten Wochen fünf aktenkundliche Aspekte des als “Emser Depesche” bekannten Vorgangs zu behandeln:

  1. Der Überlieferungszusammenhang
  2. Abekens Telegramm I: Das Konzept
  3. Abekens Telegramm II: Die Entzifferung
  4. Bismarcks drei Teilrunderlasse
  5. Aktenkundliche Perspektiven

Der letzte Teil soll ein von Schäfer (2009: 98-101, 119) angemahntes Desiderat aufgreifen: Die Aktenkunde sollte sich, wie vor ihr schon die Urkundenlehre, stärker als umfassende Diplomatik begreifen, die “die Schriftlichkeit in Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie deren Produkte” zum Gegenstand hat. Hinzuzufügen ist die Regierungstätigkeit, die trotz Bürokratisierung keine Verwaltung im engeren Sinne ist. Das Telegramm in der Diplomatie ist dafür ein dankbares Demonstrationsobjekt.

Auf den Inhalt im Einzelnen und die historische Bedeutung der Emser Depesche muss hier wohl nicht eingegangen werden. Indem Bismarck den Bericht über die Begegnung Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter in Bad Ems in einer redigierten Fassung verbreitete, provozierte er Frankreich zur Kriegserklärung. In wie weit Bismarck dies planvoll betrieb oder die Entwicklung ihn vor sich hertrieb, ist in der Forschung bis heute umstritten (monographisch zuletzt Wetzel 2005: 176 f.). Man könnte den Eindruck haben, es würden mi dt dieser Sachfrage in der Hand auch jahrzehntealte Gelehrtenfehden um Imperialismus und den Primat der Innenpolitik fortgesetzt. Der Wikipedia-Artikel hinkt der Forschung hinterher.

Ich arbeite seit einigen Wochen an diesem Thema, an dem ich einmal das ganze Instrumentarium der Aktenkunde demonstrieren möchte. Es ist zwar für die Depesche nicht relevant, aber ein schöner Zufall, dass das Landesarchiv Baden-Württemberg jetzt eine wichtige, von Becker (2007) schon ausgewertete Parallelüberlieferung zu den Akten des Auswärtigen Amts zur spanischen Thronfolge digitalisiert und online gestellt hat (über Archivalia).

Ich bin froher Hoffnung, etwa wöchentlich bloggen zu können … Demnächst also mehr: gleiche Stelle, gleiche Welle.

Literatur

Becker, Josef 2007. Bismarcks spanische “Diversion” 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg: Quellen zur Vor- und Nachgeschichte der Hohenzollern-Kandidatur für den Thron in Madrid 1866-1932. Bd. 3: Spanische “Diversion”, “Emser Depesche” und Reichsgründungslegende bis zum Ende der Weimarer Republik: 12. Juli 1870-1. September 1932. Paderborn. (Eingeschränkte Vorschau bei Amazon. Wer sich einloggt und nach Nr. 854 sucht, kann den gesamten Editionstext der Depesche lesen.)

Schäfer, Udo 2009. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen. In: Uhde, Karsten Hg. 2009. Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 48. Marburg. S. 89-128.

Wetzel, David. 2005. Duell der Giganten: Bismarck, Napoleon III. und die Ursachen des Deutsch-Französischen Krieges 1870-71. Paderborn.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/181

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Diplomatische Dokumente lesen: Hermann Meyers Aktenkunde der Julikrise

Mit der “Kanzlerakte” hat sich dieses Blog eine ganz ungewohnte Zahl von Likes und Tweets eingefangen. War zugegebenermaßen auch plakativ. Mit dem heutigen Beitrag kehre ich zur Spezialbloggerei zurück und traktiere nach Schmid einen weiteren vergessenen Klassiker des Fachs. Mal sehen, wie viele Besucher bis zum Like-Knopf durchhalten.

Titelseite

Titelseite

Der “Meyer” ist mein Vademecum als Archivar diplomatischer Akten. Auch für deren Benutzer sollte er es sein, scheint dort aber völlig unbekannt zu sein. Anlass, sich mit ihm zu beschäftigen, gibt auch das laufende “Supergedenkjahr” rund um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

“Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch” wurden 1919 auf Veranlassung des des sozialistischen Politikers Karl Kautsky aus den Akten des Auswärtigen Amts in einer vierbändigen Edition veröffentlicht und in den Zwanzigerjahren in gigantischen Auflagen bis in die Bücherschränke des Bildungsbürgertums verbreitet, als Quellengrundlage einer gesellschaftlichen Diskussion über die Kriegsursachen, die bald in den notorischen “Kampf gegen die Kriegsschuldlüge” ausartete (was den wissenschaftlichen Wert der heute auch digitalisiert vorliegenden Edition nicht mindert).

Wenn gewünscht wurde, dass weite Kreise der Bevölkerung eine wissenschaftliche Dokumentenedition zur Kenntnis nehmen sollten, dann musste dem “unbelasteten” Leser ein Lektüreschlüssel an die Hand gegeben werden. Zu diesem Zweck erschien 1920 bei Mohr/Siebeck in Tübingen “Das politische Schriftwesen im Deutschen Auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente” von Hermann Meyer.

Geboren 1883 in Soest, war Meyer nach der Promotion in den preußischen Archivdienst eingetreten. Nach Stationen am Geheimen Staatsarchiv, dem Staatsarchiv Magdeburg und der Kriegsteilnahme wurde et 1918/19 ans Auswärtige Amt abgeordnet, um Kautsky bei der Edition der “Deutschen Dokumente” zu unterstützen. In dieser Zeit erlangte er aus erster Hand, von den zuständigen Beamten, eine intime Kenntnis des Kanzlei- und Registraturwesens. 1920 wurde Meyer dann auch zum ersten Leiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts bestellt.

Einmal im Amt, reüssierte er schnell auch im diplomatischen Dienst. Seit 1923 leitete er in Personalunion mit dem Archiv zwei Referate der politischen Abteilungen; 1929 wechselte er nach Rom an die Botschaft beim Heiligen Stuhl, und 1931-1935 amtierte er als Generalkonsul in Marseille, bevor er unter dem Nazi-Regime zwangspensioniert wurde. Hermann Meyer starb 1943 in Bonn.

Die Aufbauarbeit im Politischen Archiv und der Wechsel in die Diplomatenlaufbahn führten dazu, dass “Das politische Schriftwesen” Meyers einziger Beitrag zur Akten- und Quellenkunde blieb, abgesehen von einer kleineren Studie zur Sprachwahl in den Depeschen preußischer Diplomaten (Friedrich der Große hatte Französisch verordnet; Meyer 1926). Leider.

Das Buch zeichnet sich durch Praxisnähe und Eingängigkeit aus, die seiner Rezipierbarkeit außerhalb des Archivs eigentlich zugute kommen sollte. Meyer beschränkt sich darauf, den Ist-Zustand des Aktenwesens zu vermitteln, und verbindet geschickt Aktenkunde im engeren Sinne, also die Untersuchung von Schriftstücken anhand formaler Merkmale, mit quellenkundlichen Einsichten, die er bei der Unterstützung der Edition gewonnen hatte.

Es beginnt mustergültig mit einem Abriss der Aufbauorganisation des Auswärtigen Amts im Kaiserreich, seiner Zentrale und der Auslandsvertretungen, und mit Grundzügen des Gesandtschaftsrechts (Kap. I). Weiter geht es mit der “Allgemeine[n] Organisation des politischen Schriftwesens” (Kap. II), in der eine systematische Aktenkunde der zwischen der Zentrale und den Auslandsvertretungen gewechselten Berichte und Erlasse (Depeschen) mit einer Beschreibung der Kanzlei- und Registraturorganisation in Gestalt des legendären, 1920 aufgelösten Zentral- und Depeschenbüros der Politischen Abteilung I A des Auswärtigen Amts verbunden ist, und zwar sehr umfassend. Meyer beschreibt auch die Registraturfindmittel (Journale, Register), was zum Verständnis der Edition wenig beiträgt, aber der Benutzbarkeit des im Werden begriffenen Archivs dient.

Genetische Aktenkunde

Genetische Aktenkunde

Der Hauptteil der Genetischen Aktenkunde findet sich etwas unerwartet in Kap. III unter dem Rubrum “Grundbegriffe des politischen und diplomatischen Schriftwesens”. Es ist wohl das zentrale Kapitel, weil es am unmittelbarsten der Quellenkritik der edierten Dokumente dient.

In Kapitel IV springt Meyer zurück zur Systematischen Aktenkunde und behandelt die Stilformen des diplomatischen Schriftverkehrs, die berühmten Noten, Verbalnoten und Aide-Mémoires. Auch hier geht er über den Rahmen der Edition, in die fast nur Aide-Mémoires aufgenommen wurden, hinaus. Hinsichtlich dieses aktenkundlichen Sondergebiets beruht praktisch die gesamte seitdem erschienene Literatur auf Meyers Ausführungen. Dabei wurde der Gebrauch dieser Stilformen im Auswärtigen Amt noch im Jahr des Erscheinens, 1920, grundlegend reformiert. Eine Veröffentlichung dazu bereite ich vor.

Einbindung des Kaisers in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts

Einbindung des Kaisers in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts

Mit der “Beteiligung des Staatsoberhaupts” (Kap. V) geht es noch einmal ans Eingemachte der edierten Dokumente und um die Fortsetzung der Geschäftsgangskunde aus Kapitel III. Eine Besonderheit der Edition ist die typographisch gefällig gemachte Wiedergabe der Randbemerkungen Wilhelms II. auf den vorgelegten Depeschen und Immediatberichten. Der Quellenwert dieser zwischen hellsichtig und kreuzdumm rangierenden Marginalien für die Rekonstruktion der Julikrise ist sehr hoch.

Den Abschluss bildet in Kap. VI eine quellenkritische Schatzkammer zum Kurier-, Telegrafen- und Chiffrierwesen des Auswärtigen Amts, in der man sich bediene, um zu rekonstruktion, welcher Entscheidungsträger in der Julikrise wann und wie auf welche vorliegenden Informationen reagiert hat. Wer sich dabei mit forensischer Genauigkeit versuchen und gleichzeitig vor Aktengläubigkeit schützen will, sollte lesen, was Meyer über sich kreuzende Telegramme, die Uneindeutigkeit von Abgangs- und Eingangsdatierungen und Textverlust durch Übertragungsfehler zu sagen hat. Ein ausführliches Register erschließt dieses dünne, aber gehaltvolle Buch.

Meyer also auch ein Klassiker der Aktenkunde? Woran es Meyer noch fehlte, waren die von Meisner entwickelten Konzeptionalisierungen, die helfen, vor lauter Bäumen den Wald sehen. So behandelt er in Kapitel III die Entstehung der in Schriftform ausgehenden Erlasse, in II die registraturtechnische Behandlung der eingehenden Berichte, wiederholt das Ganze in Kap. VI für Erlasse in Telegrammform uns schiebt in V die Anbindung des Kaisers an den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts nach. Das alles beschreibt Teilaspekte der Genetischen Aktenkunde, die sich mit den Bearbeitungsspuren befasst.

An Meisner geschult, würde man diese Aspekte zusammenziehen, um konzise den Geschäftsgang und seine Spuren auf den Unterlagen zu beschreiben. Ohne diese Konzeptionalisierung wird analytisches Potential vergeben. Meyer bleibt dem Praktizismus der Kanzleibeamten verhaftet; es gibt viele terminologische Unschärfen, die ebenfalls auf konzeptionelle Lücken hinweisen. So ist das Telegramm als solches kein Schriftstücktyp, sondern eine Übermittlungsform für verschiedenste Typen. Deshalb unterscheidet sich seine Entstehung im Geschäftsgang auch nicht grundsätzlich von der einer schriftlichen Depesche. Nur wurde die konventionelle Expedition per Post, Depeschenkasten oder Feldjäger eben durch den Weg über die Telegraphenämter ersetzt.

Natürlich kann man dem Wissenschaftler Hermann Meyer keinen Strick daraus trennen, dass er sich 1920 nicht an den aktenkundlichen Ariadnefäden orientiert hat, die Heinrich Otto Meisner erst 1935 gesponnen hat. Der “Meyer” ist ein Monument der aktenkundlichen Vorgeschichte, das man vielleicht mit Haß (1909) in eine Reihe stellen kann. Der Nutzen als praktische Fundgrube bleibt überragend groß.

Benutzer des Politischen Archivs, lest dieses Buch! Leider ist das Digitalisat bei Hathi-Trust mit einer deutschen IP-Adresse nicht abrufbar.

Literatur

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521-575 (online).

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen.

Ders. 1926. Der Sieg Der Deutschen Sprache in den politischen Depeschen Preußens und des Reichs. In: Görres-Gesellschaft, Hg. 1926. Festschrift, Felix Porsch zum 70. Geburtstag dargebracht. Görres-Gesellschaft zur Pfeleg der Wissenschaften im katholischen Deutschland, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaften 40. Paderborn.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/168

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“Was auch immer das heißt”: Diplomatische Aktenkunde in der Bundespressekonferenz

Wer sich als Neuling in die Aktenkunde einarbeitet, wird die meiste Energie wohl in das Teilgebiet der Systematischen Aktenkunde investieren müssen. Hier geht es darum, anhand gemeinsamer formaler Merkmale Gruppen von Aktenschriftstücken zu identifizieren, in die ein konkret vorliegendes Stück eingeordnet werden kann. “Die begriffliche Kennzeichnung des Schriftstücks soll dabei dem schnelleren Erkennen wichtiger Kontextinformationen dienen” (Beck 2000: 69). Die Systematische Aktenkunde ist also ein wichtiges Werkzeug der Quellenkritik. Zugegebenermaßen verführt die barocke Pracht von Begriffsbildungen à la “Behördendorsualdekret” dazu, dieses Teilgebiet als Selbstzweck zu betreiben und die Anwendung der Aktenkunde darauf zu verengen (vgl. ebd.: 77). Bei aller Skepsis gegenüber babylonischem Systembau ist jedoch die Notwendigkeit nicht zu bestreiten, den Dingen einen Namen zu geben, die uns in den Akten erwarten – und keineswegs nur im Archiv!

In der Regierungspressekonferenz vom 8. Juli dieses Jahres ging es auch um “angebliche Umtriebe der NSA in Deutschland”, um das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und um die Verwaltungsvereinbarungen zum G10-Gesetz; tagespolitisch interessierte Leser werden diese Debatte verfolgt haben. Und in diesem Zusammenhang fragten Journalisten nach Verbalnoten, die zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten gewechselt worden seien:

Zusatzfrage: Es gab 1968 aber nicht nur eine Verwaltungsvereinbarung, sondern auch eine „verbal note“, was auch immer das heißt. Das ist angeblich die Grundlage für die Spionage von „Echelon“ in 2004 gewesen. Ist diese „verbal note“ genauso zur Akte gelegt …?

Beyer-Pollok [Sprecher des Bundesinnenministeriums]: … Mit dem Begriff „verbal note“ kann ich jetzt nichts anfangen. Das kommt so ein bisschen aus der Diplomatensprache. Aber hier meinen Sie möglicherweise etwas anderes, was mit dem Verwaltungsabkommen zu tun hat. Dazu habe ich ja eben schon etwas ausgeführt.

“So ein bisschen aus der Diplomatensprache”. Der ebenfalls anwesende Sprecher der Auswärtigen Amts verschaffte Klärung:

Schäfer: … Eine Verbalnote oder ein Verbalnotentausch ist die offizielle, förmliche Kommunikation zwischen Staaten. Das sind Schreiben beziehungsweise Briefe, die zwischen Staaten in einer bestimmten Form ausgetauscht werden und einen bestimmten politischen, manchmal auch juristischen Inhalt haben.

Diese Erklärung war auf die Situation bezogen und hat das journalistische Publikum nicht mit Details belastet. Wenn wir es genauer wissen wollen, sehen wir uns zunächst eine diplomatisch-praktische Definition aus einer offiziösen Veröffentlichung an:

“Die Verbalnote ist ein unpersönliches, an eine fremde Mission gerichtetes Schreiben mit Geschäftszeichen, der Überschrift ‘Verbalnote’, einer international festgelegten Höflichkeitsformel und Schlussformel. Sie trägt einen Siegelabdruck und wird nicht unterschrieben.” (Beuth 2005: 127)

Bauen wir diese Definition nun hilfswissenschaftlich aus: Verbalnoten werden zwischen einer diplomatischen Vertretung und dem Außenministerium des Gastlandes ausgetauscht. Souveräne Staaten befinden sich protokollarisch immer auf Augenhöhe: Ein Rangunterschied – das primäre Klassifikationsmerkmal nach der klassischen Lehre Meisners – besteht somit nicht. Möchte man eher nach dem Schreibzweck klassifizieren, so führt die Erkenntnis, dass es sich um eine Mitteilung handelt, und somit weder um eine Weisung noch um einen Bericht, zu keinem anderen Ergebnis.

Diese Mitteilungsschreiben Ranggleicher sind nun unpersönlich stilisiert, also nicht im Briefstil, den die Selbstbezeichnung des Verfassers mit “ich” kennzeichnet. Typischerweise beginnen sie etwa so: “Das Auswärtige Amt beehrt sich, der Botschaft von X mitzuteilen, dass …” Für eine Anrede ist in diesem Formular kein Raum, sie wird durch die mittig angebrachte Überschrift “Verbalnote” ersetzt. Gleichfalls logisch ist der Wegfall der Unterschrift, an deren Stelle das Behördensiegel tritt.

Charakteristisch ist die erwähnte Höflichkeitsformel, auch “Courtoisie” genannt, die in der Tat international auf monotone Art standardisiert ist: “Die Botschaft von X benutzt diesen Anlass, das Auswärtige Amt erneut ihrer ausgezeichnetsten Hochachtung zu versichen”. Die möglichen Variationen sind minimal. Das ist natürlich kein Deutsch. Diese Formeln stammen direkt aus dem jahrhundertelang stilprägenden französischen Kanzleizeremoniell (und sind dort ja auch heute noch im geschäftlichen wie privaten Bereich üblich).

Verbalnoten sind das Massenschriftgut der Diplomatie und an sich für Alltagsgeschäfte eher technischer Natur vorgesehen. Gerade die Diplomatie hat aber Bedarf für einen flexiblen Formengebrauch, um Subtexte zu formulieren und Botschaften zu nuancieren. Dazu kann schon eine kleine Veränderung in der Courtoisie dienen, oder die absichtsvolle Benutzung einer Verbalnote für eine politische Angelegenheit, die eigentlich eher ein persönliches Schreiben des Botschafters an den Außenminister erfordern würde. Ein wunderbar flexibles Instrument also, das zu kennen auch für außenpolitische Berichterstatter wichtig ist.

Damit ist, wohlgemerkt, nur der Ist-Zustand beschrieben. Die Genese dieser Stilform ist kompliziert, weil bis in das 20. Jahrhundert neben der völlig unpersönlichen, fingiert von der Behörde als solcher verfassten Verbalnote auch die “Note” begegnet, die ebenfalls in der dritten Person stilisiert ist, in der aber eine natürliche Person als Verfasser auftritt, die sich mit “Der Unterzeichnete” einführt. Solche Noten haben eine Anrede und eine Unterschrift (Meyer 1920: 51 f.; Meisner 1935: 53 f.). Die Wikipedia irrt mit ihrer Weiterleitung von “Verbalnote” nach “Diplomatische Note”!

Dies weiter zu diskutieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Zu diesem Problemkreis werde ich übrigens am 4. November im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem referieren.

Literatur:

Beuth, Heinrich W. (2005): Regiert wird schriftlich: Bericht, Weisung und Vorlage, in: Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, hrsg. von Enrico Brandt/Christian F. Buck, 4. Aufl., Wiesbaden, S. 119–128.

Beck, Lorenz Friedrich (2000): Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut, in: Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung, hrsg. von Nils Brübach, Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 33), S. 67–79.

Meisner, Heinrich Otto (1935): Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin.

Meyer, Hermann (1920): Das politische Schriftwesen im deutschen Auswärtigen Dienst: Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente, Tübingen.

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/97

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“Was auch immer das heißt”: Diplomatische Aktenkunde in der Bundespressekonferenz

 

Wer sich als Neuling in die Aktenkunde einarbeitet, wird die meiste Energie wohl in das Teilgebiet der Systematischen Aktenkunde investieren müssen. Hier geht es darum, anhand gemeinsamer formaler Merkmale Gruppen von Aktenschriftstücken zu identifizieren, in die ein konkret vorliegendes Stück eingeordnet werden kann. “Die begriffliche Kennzeichnung des Schriftstücks soll dabei dem schnelleren Erkennen wichtiger Kontextinformationen dienen” (Beck 2000: 69). Die Systematische Aktenkunde ist also ein wichtiges Werkzeug der Quellenkritik. Zugegebenermaßen verführt die barocke Pracht von Begriffsbildungen à la “Behördendorsualdekret” dazu, dieses Teilgebiet als Selbstzweck zu betreiben und die Anwendung der Aktenkunde darauf zu verengen (vgl. ebd.: 77). Bei aller Skepsis gegenüber babylonischem Systembau ist jedoch die Notwendigkeit nicht zu bestreiten, den Dingen einen Namen zu geben, die uns in den Akten erwarten – und keineswegs nur im Archiv!

In der Regierungspressekonferenz vom 8. Juli dieses Jahres ging es auch um “angebliche Umtriebe der NSA in Deutschland”, um das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und um die Verwaltungsvereinbarungen zum G10-Gesetz; tagespolitisch interessierte Leser werden diese Debatte verfolgt haben. Und in diesem Zusammenhang fragten Journalisten nach Verbalnoten, die zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten gewechselt worden seien:

Zusatzfrage: Es gab 1968 aber nicht nur eine Verwaltungsvereinbarung, sondern auch eine „verbal note“, was auch immer das heißt. Das ist angeblich die Grundlage für die Spionage von „Echelon“ in 2004 gewesen. Ist diese „verbal note“ genauso zur Akte gelegt …?

Beyer-Pollok [Sprecher des Bundesinnenministeriums]: … Mit dem Begriff „verbal note“ kann ich jetzt nichts anfangen. Das kommt so ein bisschen aus der Diplomatensprache. Aber hier meinen Sie möglicherweise etwas anderes, was mit dem Verwaltungsabkommen zu tun hat. Dazu habe ich ja eben schon etwas ausgeführt.

“So ein bisschen aus der Diplomatensprache”. Der ebenfalls anwesende Sprecher der Auswärtigen Amts verschaffte Klärung:

Schäfer: … Eine Verbalnote oder ein Verbalnotentausch ist die offizielle, förmliche Kommunikation zwischen Staaten. Das sind Schreiben beziehungsweise Briefe, die zwischen Staaten in einer bestimmten Form ausgetauscht werden und einen bestimmten politischen, manchmal auch juristischen Inhalt haben.

Diese Erklärung war auf die Situation bezogen und hat das journalistische Publikum nicht mit Details belastet. Wenn wir es genauer wissen wollen, sehen wir uns zunächst eine diplomatisch-praktische Definition aus einer offiziösen Veröffentlichung an:

“Die Verbalnote ist ein unpersönliches, an eine fremde Mission gerichtetes Schreiben mit Geschäftszeichen, der Überschrift ‘Verbalnote’, einer international festgelegten Höflichkeitsformel und Schlussformel. Sie trägt einen Siegelabdruck und wird nicht unterschrieben.” (Beuth 2005: 127)

Bauen wir diese Definition nun hilfswissenschaftlich aus: Verbalnoten werden zwischen einer diplomatischen Vertretung und dem Außenministerium des Gastlandes ausgetauscht. Souveräne Staaten befinden sich protokollarisch immer auf Augenhöhe: Ein Rangunterschied – das primäre Klassifikationsmerkmal nach der klassischen Lehre Meisners – besteht somit nicht. Möchte man eher nach dem Schreibzweck klassifizieren, so führt die Erkenntnis, dass es sich um eine Mitteilung handelt, und somit weder um eine Weisung noch um einen Bericht, zu keinem anderen Ergebnis.

Diese Mitteilungsschreiben Ranggleicher sind nun unpersönlich stilisiert, also nicht im Briefstil, den die Selbstbezeichnung des Verfassers mit “ich” kennzeichnet. Typischerweise beginnen sie etwa so: “Das Auswärtige Amt beehrt sich, der Botschaft von X mitzuteilen, dass …” Für eine Anrede ist in diesem Formular kein Raum, sie wird durch die mittig angebrachte Überschrift “Verbalnote” ersetzt. Gleichfalls logisch ist der Wegfall der Unterschrift, an deren Stelle das Behördensiegel tritt.

Charakteristisch ist die erwähnte Höflichkeitsformel, auch “Courtoisie” genannt, die in der Tat international auf monotone Art standardisiert ist: “Die Botschaft von X benutzt diesen Anlass, das Auswärtige Amt erneut ihrer ausgezeichnetsten Hochachtung zu versichen”. Die möglichen Variationen sind minimal. Das ist natürlich kein Deutsch. Diese Formeln stammen direkt aus dem jahrhundertelang stilprägenden französischen Kanzleizeremoniell (und sind dort ja auch heute noch im geschäftlichen wie privaten Bereich üblich).

Verbalnoten sind das Massenschriftgut der Diplomatie und an sich für Alltagsgeschäfte eher technischer Natur vorgesehen. Gerade die Diplomatie hat aber Bedarf für einen flexiblen Formengebrauch, um Subtexte zu formulieren und Botschaften zu nuancieren. Dazu kann schon eine kleine Veränderung in der Courtoisie dienen, oder die absichtsvolle Benutzung einer Verbalnote für eine politische Angelegenheit, die eigentlich eher ein persönliches Schreiben des Botschafters an den Außenminister erfordern würde. Ein wunderbar flexibles Instrument also, das zu kennen auch für außenpolitische Berichterstatter wichtig ist.

Damit ist, wohlgemerkt, nur der Ist-Zustand beschrieben. Die Genese dieser Stilform ist kompliziert, weil bis in das 20. Jahrhundert neben der völlig unpersönlichen, fingiert von der Behörde als solcher verfassten Verbalnote auch die “Note” begegnet, die ebenfalls in der dritten Person stilisiert ist, in der aber eine natürliche Person als Verfasser auftritt, die sich mit “Der Unterzeichnete” einführt. Solche Noten haben eine Anrede und eine Unterschrift (Meyer 1920: 51 f.; Meisner 1935: 53 f.). Die Wikipedia irrt mit ihrer Weiterleitung von “Verbalnote” nach “Diplomatische Note”!

Dies weiter zu diskutieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Zu diesem Problemkreis werde ich übrigens am 4. November im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem referieren.

Literatur:

Beuth, Heinrich W. (2005): Regiert wird schriftlich: Bericht, Weisung und Vorlage, in: Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, hrsg. von Enrico Brandt/Christian F. Buck, 4. Aufl., Wiesbaden, S. 119–128.

Beck, Lorenz Friedrich (2000): Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut, in: Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung, hrsg. von Nils Brübach, Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 33), S. 67–79.

Meisner, Heinrich Otto (1935): Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin.

Meyer, Hermann (1920): Das politische Schriftwesen im deutschen Auswärtigen Dienst: Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente, Tübingen.

 

 

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/97

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