Wer erschlägt hier wen? Historisch-politische Bildung

 

Dass Geschichte und politische Bildung harmonischen Geschwistern gleichen, scheint in der Öffentlichkeit weitgehend unwidersprochen. Unter BildungsexpertInnen an Schule und Universität wird diese Meinung aber keineswegs geteilt, ganz im Gegenteil erscheinen sie dort fast als die biblischen Brüder Kain und Abel. Vonseiten der Geschichtsdidaktik wird befürchtet, dass Geschichte auf Politik verkürzt werde. Die politische Bildung sieht in einer zu starken Annäherung wiederum eine Verengung des Politikbegriffs. Es scheint eindeutig: Geschichts- und Politikdidaktik mögen sich zwar hin und wieder ergänzen, kurzfristige Sympathien sind erlaubt. Ein längerfristiges Zusammenrücken beider Disziplinen ist aber undenkbar und wird abgelehnt.

 

Ein österreichisch-schweizerischer Virus?

Trotz der genannten Einwände tritt nun aber ein Blog Journal, „Public History Weekly“, als Mediatorin auf? Hat gar ein österreichisch-schweizerischer Virus die Redaktion und die AutorInnen befallen? Keine unberechtigte Frage, besteht doch in beiden Ländern traditionell eine enge und zudem nicht immer ruhmreiche Verbindung von Geschichte und politischer Bildung. Die Gründe für diese schwierige Liaison sind vielfältig: In beiden Ländern erschien nach 1945 ein eigenes Fach „Politische Bildung“ nicht so dringlich – die Schweiz hatte ja angeblich mit dem Nationalsozialismus ohnehin nichts zu tun, und Österreich verstand sich bekanntlich als ein „Opfer“ nationalsozialistischer Expansionspolitik. Nach dem Krieg sollte die nationale Integration vorangetrieben und das Bekenntnis zur Demokratie in den Köpfen der Bürger und Bürgerinnen verfestigt werden. Nicht der „Citoyen“, der oder die kritische „AktivbürgerIn“, war gefragt, sondern die Ein- oder auch Unterordnung in die Republik. In diesem Zusammenhang ließ sich Geschichte lange Zeit für nationale Manipulation und Indoktrination instrumentalisieren.

Gefahr der Mythenbildung?

In der Schweiz dienten etwa die Legende des Rütlischwurs und der Bundesbrief von 1291 zur Begründung eines demokratischen Mythos und zur Beschwörung einer vermeintlichen nationalen Harmonie. In Österreich war es wiederum der Opfermythos, der seine Begründung in der angeblichen Friedfertigkeit der österreichischen Bevölkerung bzw. überhaupt im „österreichischen Charakter“ fand. Die habsburgische „Macht des Herzens“ und die große kulturelle Vergangenheit stünden den nationalsozialistischen Verbrechen im Wege. Daher seien die ÖsterreicherInnen während der nationalsozialistischen Diktatur offenbar auch jeglicher Handlungsfähigkeit beraubt worden.

Kulturwissenschaft als Ausweg

Ein solcher Missbrauch von Geschichte liegt Public History Weekly selbstverständlich fern. Ganz im Gegenteil wird historisch-politische Bildung im kulturwissenschaftlichen Sinne verstanden. Herrschafts- und Machtverhältnisse, soziale Strukturen, hegemoniale kulturelle Praktiken oder unterschiedlichen Kategorien wie „Freiheit“ oder „Gerechtigkeit“ sind immer auch historisch zu begründen. Nur mit dem Überschreiten der von den wissenschaftlichen (Teil-)Disziplinen gesetzten Grenzen, durch das Suchen politischer Implikationen in den kulturellen Praktiken oder besser: das Verstehen des Politischen selbst als einen kulturellen Habitus können diese historischen Dimensionen verdeutlicht werden.
Als „liaison dangereuse“ kann historisch-politische Bildung daher nur dann verstanden werden, wenn ein enger Politikbegriff vertreten wird. Eine moderne, kulturwissenschaftlich orientierte historisch-politische Bildung hat sich dagegen mit dem Bewusstseinsbegriff auseinanderzusetzen. Sie beschäftigt sich, wie etwa der Beitrag von Monika Fenn in diesem Blog Journal sehr anschaulich zeigt, mit Geschichtskultur und politischer Kultur. Zu ihren Themen zählen Identitätsbildung, Sozialisationsprozesse und kollektive Gedächtnisse, sie betreibt Ideologiekritik und untersucht die individuelle Deutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Geschichte und politische Bildung lassen sich hier nicht getrennt denken. Ganz im Gegenteil wäre eine Vernachlässigung dieser Verbindung geradezu bedenklich oder gar sträflich.

Wiederbelebung eines alten Diskurses

Der Diskurs über eine Zusammenführung oder besser: über eine Synthese beider Disziplinen, der bereits in den 1960/70er Jahren geführt wurde, sei daher unter neuen kulturwissenschaftlichen Voraussetzungen wiederbelebt. Damit werden keine alten Gräben aufgerissen, sondern Perspektiven geboten, die dem Geschichts- und Politikunterricht letztlich bereichern können. Provokant sei gefragt: Kann moderner Geschichts- und Politikunterricht denn letztlich etwas anderes sein als historisch-politische Bildung?

 

Literatur

  • Hedtke, Reinhold: Historisch-politische Bildung – ein Exempel für das überholte Selbstverständnis der Fachdidaktiken. In: Politisches Lernen, 21/1-3 (2003), S. 112-122.
  • Hellmuth, Thomas: Politische Bildung als historisch-politische Sinnstiftung: Überlegungen zu einem historisch-politischen Kompetenzmodell. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaften, 38/4 (2009), S. 483-496.
  • Lange, Dirk: Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens, Schwalbach/Ts. 2004 (Studien zu Politik und Wissenschaft).

Externe Links

 

Abbildungsnachweis
(c) The Courtauld Gallery, London. Peter Paul Rubens, 1608, Kain erschlägt Abel, Abbildung gemeinfrei.

Empfohlene Zitierweise
Hellmuth, Thomas: Wer erschlägt hier wen? Historisch-politische Bildung. In: Public History Weekly 1 (2013) 5, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-278.

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