Entwurfsfassung (Vorabversion): Beitrag zur “Informationsveranstaltung: Social media – Chance oder Gefahr” (Deutscher Archivtag, Köln, 28.9. 2012).
Der Kurzbericht aus der Praxis des Stadtarchivs Speyer wird an dieser Stelle vorab (in ausformulierter Entwurfsfassung) veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Für Hinweise und Ergänzungen (gerne auch im Hinblick auf den 28.9.) bin ich dankbar. Auf den Nachweis von Links wurde aus Zeitgründen verzichtet. Nach der Veranstaltung wird ergänzend die PPT veröffentlicht werden.
Ich beginne meinen Praxisbericht zunächst mit einem Zitat:
Das Netz ist kein virtueller Raum. Es gehört zur Lebensrealität einer immer größer werdenden Gruppe von Menschen. Zu meiner kulturellen Identität gehört das Jazz-Konzert, der Besuch der Oper, ein gutes Computerspiel, Blogs und Twitter etc. Alle diese Komponenten sind ein Teil meiner gelebten Kulturwelt. Und diese Welt hat sich durch die digitalen Angebote massiv verändert. Nun bin ich kein „Digital Native“. Ich kenne eine Welt ohne Computer und Internet – und ich möchte auf keinen Fall dahin zurück. Bei allem Trash, bei all der Masse an Angeboten … – ich habe gelernt damit zu arbeiten … Wir brauchen die Kulturinstitutionen im Netz. Und die Kulturinstitutionen brauchen das Netz, um ihre eigene Realität weiter entwickeln zu können. … die kulturellen Inhalte und ihre Rezipienten sind bereits im Netz – es sind nur die Institutionen, die bis jetzt in der Breite noch nicht in der digitalen Welt angekommen sind. Christoph Deeg (Jahrbuch für Kulturpolitik 2011, S. 193f.; http://crocksberlin.wordpress.com)
Die sozialen Medien sind wenn man so will der aktuelle Stand des Internets und schon allein aufgrund ihrer Größe kaum noch zu ignorieren. Soviel steht fest und m.E. gilt das auch für Kulturgut verwahrende Einrichtungen wie Archive. Zahlreiche kleine und große Bibliotheken, auch viele Museen usw. machen uns mittlerweile vor, wie ein Einsatz der sozialen Medien auch im Archivwesen aussehen könnte. Gar nicht so wenige ausländische Archive und Archivverwaltungen im Web 2.0 unterwegs. Aus meiner Sicht im Vordergrund steht bei vielen Einrichtungen zunächst die Funktion als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit, aber auch das „offene, transparentere“ Archiv erscheint wie ein Gebot der Stunde. Dazu gehört die direkte Kommunikation z.B. über Facebook oder Twitter, dazu könnte aber auch die „Kollaboration“ bei der Erschließung, Verschlagwortung oder Transkription ausgewählter Bestände und Archivalien zählen – eine ganze Reihe zumeist nichtdeutscher Archive (von den US-National archives angefangen und bis hin zu kleinen Einrichtungen und Projekten) macht uns vor, was in Sachen nutzergenerierter Erschließung möglich ist.
In meinem kurzen Bericht möchte ich jetzt die typischen Fragen und Argumente pro und contra nur am Rande streifen: Ja, die Zahl der Beitragsaufrufe, gemessen bei Facebook, ist für ein kleineres Archiv immens und überstieg in knapp 12 Monaten die Millionengrenze. Wir liegen bei aktuell knapp 680 Fans aus über 20 Staaten. Wir sind damit mit dem Stadtarchiv Amberg und dem ÖSTA nach Zahlen „führend“, was sich natürlich angesichts der immer noch kleinen Zahl deutschsprachiger Web 2.0-Archive wieder relativiert. Hinweisen möchte ich dabei allerdings auf das Stadtarchiv Linz am Rhein, das als Beispiel eines nebenamtlich betriebenen, gleichwohl digital sehr präsenten Archivs gelten kann. Weiter könnte man die Stadtarchive Heilbronn und Bielefeld erwähnen, die z.B. schwerpunktmäßig über Umbauten und Umzugsmaßnahmen berichten; dann das kleine Stadtarchiv Brilon, das mit einigem Erfolg „Fundstücke“ postet. Dass auch Archivare mit ihren privaten Accounts „Archivisches“ posten und eine Gruppe namens „Archivfragen“ existiert – das nur am Rande. Aber genug davon.
Wir holen das Netzpublikum dort ab, wo es mittels einer einfachen Internetseite nur noch teilweise abgeholt werden will. Bei Twitter stehen wir derzeit bei über 6.000 Kurznachrichten und haben über 400 Follower, die diese Nachrichten lesen und manchmal auch weiterverteilen. Die als PPT im Netz stehenden Vorträge aus der Arbeit des Archivs werden in der Regel mehrere Hundert mal angesehen, also um ein mehrfaches im Vergleich zum analogen Publikum; in Einzelfällen kommen wir auf mehrere Tausend Zugriffe. Ähnliches gilt für unsere derzeit knapp 20 Alben mit Fotosammlungen und kleinen virtuellen Präsentationen auf Flickr.
Nein, dies hat allerdings nicht dazu geführt, dass sich die Nutzerzahl im Lesesaal geradezu verdoppelt hätte. Die Zahl unserer Online-Kunden, Freunde und Follower hat sich aber vervielfacht, wenn man auf die bis Anfang 2011 bestehende eher kümmerliche Homepage zurückblickt. Wir sind gut vernetzt und werden wahrgenommen, in der Region und auch durchaus in der weiteren „Archivwelt“. Die Nachrichten und Informationen werden auch von Personen rezipiert, von denen man dies nicht erwarten würde (Stichwort „silver surfer“). Gleichzeitig ist der Arbeitsaufwand – und das ist eine oft gestellte Frage – relativ gering. Web 2.0 heißt bei uns: ein halbes Dutzend Anwendungen werden von 2-3 Mitarbeitern in der Regel ca. 2-3h pro Woche „bedient“. Wir beschränken uns nicht nur auf Facebook. Facebook ist bei weitem nicht optimal, stellt seine Nutzer aufgrund von Änderungen immer wieder vor neue Probleme und Fragen, technisch und auch rechtlich. Andererseits: es bietet ziemlich gute Optionen für die Online-Präsentation von Kultureinrichtungen.
Ein Teil unseres „klassischen“ und ein erheblicher Teil des möglichen erweiterten Zielpublikums bewegt sich in Facebook. Das soziale Netzwerk zu ignorieren wäre, wie wenn man vor einigen Jahren das Internet als Ganzes boykottiert hätte.
Neben dem sozialen Netzwerk betreiben wir wie gesagt für das Stadtarchiv einen Twitter-Account, ebenso Auftritte bei Flickr und Slideshare; ebenso sind wir bei der Wikipedia. Dazu kommt ein kleines regionalgeschichtliches Blog, das über mehrere Monate befüllt wurde – es ging um das Bloggen eines Hausbuchs der Zeit um 1800. Für die Tagung „Offene Archive?“, die wir im November 2012 in Speyer veranstalten, nutzen wir ebenfalls ein Weblog: Archive 2.0 läuft als Blog unter dem Dach des deutschsprachigen geisteswissenschaftlichen Blogportals „hypotheses“. Eine Fortsetzung über die Tagung hinaus ist natürlich beabsichtigt. Ein gleichnamiger Twitter-Account dient der Verbreitung von Neuigkeiten.
Wir nutzen also derzeit noch kein institutionelles Blog für das Archiv. Ein frühes Beispiel hierfür wäre z.B. das nicht mit Archivalia zu verwechselnde Blog des Hochschularchivs Aachen, in jüngerer Zeit z.B. das Blog der Archive im Kreis Siegen-Wittgenstein (siwiarchiv). Ein Grund für die derzeitige Nichtnutzung bei uns ist sicherlich, dass wir uns nach der Web 2.0-Strategie der Stadt Speyer richten müssen, die eine Fokussierung auf die gängigen Anwendungen vorsieht. Ein Blog im „Hintergrund“, hinter Facebook & Co. ist allerdings durchaus überlegenswert und gerade Archive 2.0 zeigt, dass hier Potential vorhanden ist.
Daneben nutzen wir eine ganze Reihe weiterer Anwendungen und kleiner Programme, die man dem weiten Web 2.0-Kosmos zuordnen könnte. Vom kollaborativen Arbeiten a lá Dropbox, über Terminfindungen via Doodle bis hin zu Hilfsmitteln wie Tinyurl, Twitpic und Tweetdeck als „Dashboard“. Zu den Hilfsmitteln im weiteren Sinn zähle ich auch eine regelmäßige Nutzung von Digitalkamera und Smartphone – das Posten von Bildern peppt Nachrichten ungemein auf, das mobile Posten (Twittern – so etwa hier vom Archivtag) ist ebenfalls wichtig.
Wir sind als Teilprojekt eines Anfang 2011 gestarteten Web 2.0-Pilotprojekts der Stadtverwaltung Speyer online gegangen. Das Projekt ist nach einem guten Jahr abgeschlossen und als erfolgreich gewertet worden. Neben uns verfügt auch die Pressestelle der Stadt, die Tourist-Information und die Stadtbibliothek über Web 2.0-Auftritte. Zumeist steht eine Facebook-Fanpage im Mittelpunkt, das Profil der Stadt soll allerdings mit einer komplett neuen Gesamthomepage geschärft werden, d.h. es wird jetzt auch Sharing-Funktionen geben (zum Verbreiten von Neuigkeiten der Homepage); es wird auch explizite Hinweise geben zu den Auftritten der Stadt im Web 2.0 (und dann mit Videokanal usw.). Verwendet wird dabei eine Zwei-Klick-Lösung, auf die direkte Einbindung von sozialen Plugins wird verzichtet. Der Impressumpflicht ist derzeit wohl Genüge getan. Eine Dienstanweisung regelt seit einiger Zeit den Umgang der involvierten Mitarbeiter mit den sozialen Netzwerken – hierzu gibt es ja mittlerweile genügend Beispiele. Die datenschutzrechtliche Debatte um Facebook ist sicher dazu angetan, dass sich die Web 2.0-Arbeitsgruppe in Zukunft noch öfter treffen wird. Aus meiner Sicht ist der Graben zwischen kommunalen Öffentlichkeitsarbeitern und Kultureinrichtungen auf der einen Seite und den Datenschutzbeauftragten der Länder erheblich und schwer zu schließen.
Jetzt noch ein Blick auf Facebook und Twitter konkret. Was wird von uns ins Netz gestellt? Sicherlich nicht „alles“, wie manche vermuten. Facebook wird unter der Woche täglich mit ca. 2-3 Nachrichten befüllt. Wir haben denke ich eine ganz gute Mischung gefunden:
- Da sind einerseits Fotos und Berichte über das, was sich gerade im Archiv „abspielt“ oder etwas beendet wurde. Das können Arbeiten im Magazin sein, neu ins Archiv geholte Abgaben, neu verzeichnete Bestände oder auch aktuelle Fotos von Vortragsabenden im Archiv. Ebenso findet sich vieles zum Jüdischen Museum in Speyer sowie zu den verschiedenen Gedenkstätten, da das Archiv hier eine koordinierende Funktion hat.
- Dann bieten wir Hinweise auf eigene und fremde Veranstaltungen, Pressemitteilungen u.ä. (die wir ergänzend auf FB verbreiten)
- Archivfachliche Informationen und generell die Interaktion mit anderen Archiven
- Und schließlich kommen historische Fotos mit kurzen Erläuterungen sehr gut beim regionalen Publikum an. Von Einzelfotos (Straße, Kirche, Gebäude XY) über kleine Serien etwa zur Sportgeschichte bis hin zu größeren Zusammenstellungen mit Speyer-Bezug: Rheinhochwasser, Jahrhundertwinter 1929, 1. Weltkrieg (jeweils auch Flickr-Alben).
Vielleicht noch ein Wort zum Umgangston in den sozialen Medien: zu sehr amtlich klingende Verlautbarungen (Schließung, Aktentransporte) sollte man eher vermeiden. Zumindest sollten sie nicht im Zentrum des Auftritts stehen. Andererseits muss man nicht zwanghaft in der Kommunikation ins „Du“ verfallen. Es gibt Mittelwege wie eine Ansprache mit „Ihr“ und das gute alte „Sie“. Was die Verwendung von Fotos angeht: man sollte durchaus kreativ sein und nicht nur saubere Archivkartons und schön beleuchtete Magazine online stellen. Ein Foto mit einer blubbernden Kaffeemaschine kann sehr gut mit dem Hinweis, dass gerade eine Teambesprechung ist, verbunden werden.
Jetzt abschließend noch ein Blick auf Twitter: Der Kurznachrichtendienst ist nicht nur einfach zu erlernen; er erlaubt vor allem, mit seinen Kurzblogs von maximal 140 Zeichen schnell und häufig an die Öffentlichkeit zu kommen und auf dem Laufenden zu bleiben. Wir informieren unsere Follower z.B. über geplante Vorträge und Veranstaltungen sowie allgemein gesprochen über die Tätigkeit und Arbeitsfelder des Archivs – also das, was gerade „eben“ im Archiv passiert. Auch das Bloggen von Tagungen gehört zu den Möglichkeiten, die wir gerne nutzen. Natürlich habe ich auch die Möglichkeit, Facebook-Posts analog auf Twitter erscheinen zu lassen, aber das sollte auch nicht die einzige Form des „Twitterns“ sein. Die Herstellung von Netzwerken, in unserem Fall neben Archiven und Bibliotheken auch mit vielen Kollegen, Historikern und Studenten, ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt; gerade Twitter erscheint mir in vielem noch zielgruppenrelevanter als z.B. Facebook zu sein, auch wenn die typischen Spam-Follower etwas nerven. Nicht betonen muss ich, dass die Fachcommunity in Deutschland immer noch klein ist, was die Twitternutzung angeht. Man hat es also eher mit twitternden Bibliothekaren, Kulturmanagern, Historikern, Studenten und dazu auch vielen Kollegen in Europa und Übersee zu tun.
Ich komme zum Schluss: Viele Fragen sind in Sachen Web 2.0 noch nicht endgültig geklärt. Manche Schwächen und Modifizierungen einzelner Anwendungen müssen natürlich im Blick behalten werden, worauf ich ja bereits hingewiesen hatte. Aber wir können nicht mehr zurück, der digital-soziale „Tiger“ will geritten werden.
Ich habe versucht, einen kurzen Einblick in die Web 2.0-„Praxis“ des Stadtarchivs zu geben. Ein digital-soziales Archiv ist jedenfalls möglich und ich bin gespannt, was uns die Zukunft bringen wird. Eine komplette Ignorierung der sozialen Medien im Archivwesen und durch die Archivare zeugt jedenfalls von Realitätsverlust. Und das wäre bedauerlich.
Quelle: http://archive20.hypotheses.org/225