Nicht nur Historiker müssen es ertragen, ihre komplexe Rekonstruktionen auf Schlagwörter und griffige Formeln reduziert zu sehen. Von Spenglers gesättigter Kulturmorphologie bleib vor allem der Titel im Gedächtnis: Der Untergang des Abendlands. Das Beziehungsgeflecht der spätantik-frühmittelalterlichen Welt, das Henri Pirenne einst (1936) in Mahomet et Charlemagne entwickelte, reduzierte sich in der Rezeption auf die am Schluß griffig zugespitzten Thesen: Die Welt um 600 unterschied sich von der zweihundert Jahre zuvor nicht sehr; die germanischen Reichbildungen hatten nichts daran ändern können, daß die Kultur mittelmeerzentriert blieb (mit einem Schwerpunkt im Osten) und Konstantinopel das maßgebliche Zentrum bildete. Erst der „unvorhergesehene Vormarsch des Islam” zerstörte die Einheit der Mittelmeerwelt, trennte den Orient endgültig vom Westen und beraubte letzteren seiner Stützpfeiler in Nordafrika und Spanien. „Das Abendland ist abgesperrt und gezwungen, aus sich selbst in dem geschlossenen Raum zu leben. Zum ersten Mal überhaupt hat sich die Achse des geschichtlichen Lebens vom Mittelmeer weg nach Norden verlagert.” Auch die römische Kirche orientiert sich um. Zwischen 650 und 750 „geht die antike Tradition verloren, und neue Elemente gewinnen das Übergewicht”. Die islamische Expansion wirkte demnach als Spaltung. Fortan begegneten die Jünger des Propheten dem ‘Abendland’ überwiegend feindlich, in Spanien, als Herrscher über das Mittelmeer, schließlich bei den Kreuzzügen.
Allerdings – das war immer bekannt und auch gewürdigt – wurden in den gelehrten Zentren des Islam, zumal in Bagdad, wichtige Teile des griechischen Wissens bewahrt und gelangten von dort sekundär, als Übersetzungen aus dem Arabischen, später wieder in den ‘Westen’. Kürzlich hat der in Istanbul lebenden Wissenschaftshistoriker John Freely diesen Transfer in einem viel beachteten Buch eindrucksvoll nachgezeichnet (Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam. Aus dem Englischen von Ina Pfitzner, Stuttgart [Klett-Cotta] 2012). Vorgefunden hatten die Eroberer dieses Wissen in Alexandria, aber auch in Gondischapur, im Reich der spätantiken Sassaniden. Überdies bestanden Beziehungen nach Byzanz, von wo ebenfalls griechische Bücher kamen. Das von Kalif al Ma’mun in Bagdad gegründete „Haus des Wissens” mit seiner großen Bibliothek löste so etwas wie eine islamische Renaissance aus, indem nun die platonische Philosophie, Aristoteles, zahlreiche Schriften griechischer Mathematiker, Astronomen, Geographen und Ärzte, aber auch Traktate persischer Astrologen systematisch ins Arabische übersetzt wurden. Weitere Zentren dieser Renaissance wurden Damaskus, Kairo und Toledo. Aus dem Arabischen ins Lateinische weiterübersetzt fanden die Schriften und damit antikes Wissen und Ideen ihren Weg nach Paris, Oxford und Bologna.
Doch neben diese Translatio-Erzählung tritt seit geraumer Zeit in der Forschung eine neue Genesis: Der frühe Islam selbst wird in seinen spätantiken Kontext gerückt. Die lange geläufige Vorstellung, Mohammed und seine Bewegung seien gleichsam ursprungslos aus der Wüste gekommen, als reiner Gegenentwurf zu den Städten mit ihren vielfältigen Traditionen und Widersprüchen, kann keine Geltung mehr beanspruchen. Im dickleibigen ersten Band der New Cambridge History of Islam waltet nunmehr die Prämisse, die islamischen Herrschaften der ersten Jahrhunderte nicht als einen unabhängigen politischen, religiösen und kulturellen Raum anzusehen, sondern sie in spätantike Prozesse einzuordnen (Chase F. Robinson [ed.]: The Formation of the Islamic World. Sixth to Eleventh Centuries, Cambridge 2010). Es gab vielfältige und prägende religiöse Voraussetzungen, aber auch historisch gewachsene Strukturen wie die Verschränkung von urbanen und nomadischen Lebensformen auf dem Boden der östlichen Randzone des Imperium Romanum, des neupersischen Sassanidenreiches und der imperial nicht stark durchdrungenen Arabischen Halbinsel. Die Welt, in die der Prophet hineingeboren wurde, war in der Tat eine spätantike. Es war von daher auch keine ironische Verbeugung vor Pirenne, wenn vor einigen Jahren in einer Sammlung biographischer Skizzen zu Personen dieser Zeit unter dem Titel Sie schufen Europa auch Mohammed und Hārūn ar Rašīd zu finden waren (Mischa Meier [Hg.], Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen, München 2007). Auch die neuere – freilich vorwiegend außerarabische – Koranforschung schaut auf die Entstehung des Heiligen Buches in dieser Zeit und diesem Raum. So fordert die in Princeton lehrende Islamwissenschaftlerin Patricia Crone, den Koran zu lesen „wie einen Text, den wir ausgegraben haben und von dem wir nur wissen, daß er aus der Spätantike stamme und irgendwo in Arabien gefunden wurde. Ohne die Auslegungen also, die den Text und sein Verständnis im Laufe der Zeit in ganz bestimmte Richtungen lenkten. Komplementär zu diesem Ansatz fördert die Archäologie Neues zutage. So etwa eine Karawanenstation gut zweihundert Kilometer südlich von Mekka, in der saudischen Wüste (die Grabungsstätte heißt Qaryat al Fau). Ergraben wurden hochkarätige hellenistische Bronzeskulpturen, Bankettdarstellungen und manifeste Zeugnisse einer entwickelten Urbanität – in einer Gegend, wo man diese nie vermutet hätte! Das vorislamische Arabien stellte also keineswegs eine primitive nomadische Stammesgesellschaft dar; wie Griechen und Perser lebten und dachten, das war für die Generationen vor Mohammed offenbar von großer Bedeutung. Doch zu friedlich sollte man sich diese Welt nicht vorstellen – Byzantiner und Neuperser waren in einem beinahe ewigen Krieg miteinander verkeilt, und die Araber ihre gelehrigen Schüler und gut verdienenden Lieferanten.
Nun liegt der Gedanke nahe, Forschungen in dieser Richtung seien willkommen, weil sie eine politisch korrekte Strategie der freundlichen Umarmung unterstützen und die aktuell offenkundige Schieflage – ein bis zur Selbstaufgabe verständnisvoller, ‘aufgeklärter’ Westen hier, dort ein fundamentalistisch verhärteter Islamismus – zu überwinden versprechen. Doch so platt an den Bedürfnissen von Orientierung und Identitätsstiftung ausgerichtet funktioniert Wissenschaft meistens nicht. Immer spielen auch ganz persönliche Interessen eine Rolle. So bemühte sich Carl Heinrich Becker (1876-1933) als Mitbegründer der Islamwissenschaft in Deutschland wie als preußischer Minister für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung in der Weimarer Republik sehr energisch, das Wissen um die islamische Welt zu fördern. Der Islam sei, so Becker, Teil der europäischen Kulturgeschichte „wegen der einzigartigen Vergleichsmöglichkeiten in bezug auf die Assimilation des gleichen Erbes und wegen der Fülle der historischen Wechselwirkungen”. Und: „Ohne Alexander den Großen keine islamische Zivilisation!” Und vor mehr als vierzig Jahren spannte Peter Brown, der weltweit vielleicht bekannteste Spätantike-Forscher, in seiner ersten Zusammenschau der Epoche den Bogen nicht nur der Alliteration wegen von Mark Aurel bis Mohammed.
Ein unermüdlicher Schrittmacher der neuen Sicht in unserer Zeit ist der Islamwissenschaftler Aziz al-Azmeh. Der Verfasser zahlreicher Bücher zur arabischen und muslimischen Ideengeschichte und Historiographie rekonstruiert eine Genealogie, ein Modell mithin, in dem Konflikte nicht als Streit um die Wahrheit, sondern als Erbschaftsstreitigkeiten aufzutreten pflegen, und fragt nach den Querverbindungen zwischen Rom, Neu-Rom (Konstantinopel) und Bagdad. Anstatt die islamischen Eroberungen seit dem siebten Jahrhundert mit Pirenne als Zerstörung einer zuvor homogenen Welt zu deuten, hält al-Azmeh die Kette der Kriege zwischen dem griechisch-römischen Westen und den „Persern”, zusammen mit dem Handel und den Migrationen für Bedingungen einer kulturell höchst fruchtbaren eurasischen Zwischenzone. Die frühe islamische Welt des Nahen Osten bildete in dieser Lesart tatsächlich die letzte Blüte der Spätantike. Freilich in einer besonderen, eben islamischen Lesart. Denn als frühe arabisch-islamische Gelehrte wie der Kalif al-Ma’mun (der Sohn Harun ar-Rashids) oder der Mathematiker Thabit bin Qurra den Hellenismus für sich entdeckten, griffen sie auf dessen pagane Phase zurück. Aristoteles, Ptolemaios und Galen konnten bestens zum Erbe erklärt und gepflegt werden, weil sie keine Christen waren. Byzanz hingegen habe das hellenische Erbe an die neue Religion verraten und nehme die griechischen Bücher eher zufällig und der räumlichen Identität wegen für sich in Anspruch. Umgekehrt wurden pagane Traditionen und Kulte im islamischen Raum noch lange auch praktisch gepflegt, etwa in der mesopotamischen Stadt Harran. Das Beste, was Rom in seiner Spätzeit zu geben hatte, waren demnach ‘östliche’ religiös-spirituelle Angebote wie Isis, Mithras, Sol Invictus, Jesus Christus und der Kaiserkult: ein anspruchsvoller und entwicklungsfähiger Polytheismus. Man kann sich fragen, ob dieses Bild nicht eher im Kopf von Kaiser Julian existierte, als daß es die spätere Wirklichkeit in einem seit Justinian (reg. 529-565) rapide theokratischer und dogmatischer werdenden Byzantinischen Reich widerspiegelt. Aber al-Azmeh beleuchtet ohnehin die andere Seite des Transformationsprozesses, indem er auf die auffälligen Übereinstimmungen zwischen dem frühen Islam und dem frühen Christentum hinweist. In der Tat gab es einen „Proto-” oder „Paläo-Islam”, in dem beträchtliche Teile aus der frühen christlichen Theologie und der spätantiken Philosophie stammten – bevor beide Religionen, mit zeitlicher Verzögerung, durch Dogma und Kanon so lange homogenisiert wurden, bis sie den Ansprüchen ihres jeweiligen imperialen Systems genügten. Dazu passen aktuelle Nachrichten: Islamische Fundamentalisten sind in einigen Ländern dabei, solche Elemente der Tradition, die ihnen als unislamisch erscheinen, zu bekämpfen und auszumerzen; dazu gehört die Erinnerung an ‘Heilige’ durch deren Gräber. Der frühe Islam stand hier noch in der Tradition des antiken Heroenkultes an Gräbern, der ja bekanntlich seinen Weg auch ins Christentum gefunden hat – und diesem ein polytheistisches Element verleiht, v.a. dem Katholizismus mit seiner Verehrung Marias und der Heiligen.
Al-Azmeh warnt – die spätere Entwicklung im Blick – ausdrücklich davor, den Gehalt des heutigen Islam aus den Uranfängen erschließen zu wollen, denn selbstverständlich weiß er um die durchgreifende Islamisierung des zunächst sehr viel offeneren Korans. So bleiben die faszinierenden Einsichten in den Weg Allahs – von einem unter vielen über den wichtigsten, andere Götter in sich aufnehmenden zum schließlich einzigen Gott – im Bereich der Wissenschaft und des aufgeklärten Bemühens um einen Dialog auf der Basis des Wissens um gemeinsame Wurzeln. Daß viele arabische Moslems die hier ausgebreiteten Brückenschläge und Historisierungen akzeptieren oder gar in Handeln umsetzen werden, dürfte dagegen ein frommer Wunsch bleiben.
Aziz al-Azmeh, Rom, das Neue Rom, Bagdad. Pfade der Spätantike. Carl Heinrich Becker Lecture der Fritz Thyssen Stiftung 2008
Jim al-Khalili, Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur, Frankfurt/M. (S. Fischer) 2011.
Die Ausgangsregion der späteren islamischen Expansion im Kartenbild eines klassischen Schulatlanten: Atlas Antiquus. Neunzehnte Auflage von Heinrich Kieperts Atlas der Alten Welt, neu bearb. von Carl Wolf, Weimar 1884, Karte III.
von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.
Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/10/30/den-fruehen-islam-historisch-eingemeinden-mutter-dreier-welten-die-spaetantike-400/