Die Ereignisse vom 7. Januar scheinen, obgleich in den konkreten Auswirkungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, ihr über die Rache für die vermeintliche Beleidigung des Propheten hinausgehendes Meta-Ziel erreicht zu haben: neben der wohl noch lange Zeit anhaltenden Trauer um die Opfer macht sich eine allgemeine Unsicherheit insbesondere bei denen breit, die nicht nur vom Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, sondern von ihm abhängig sind (darunter Journalisten und Wissenschaftler).
Reagierten die am direktesten Betroffenen (andere Satiriker) noch vorhersehbar und verständlich mit einem trotzig-kämpferischen „Jetzt erst recht!“, so scheint die Reaktion bei verwandten Berufsgruppen schon differenzierter und nachdenklicher auszufallen, was für die Zunft der Religionswissenschaft beispielhaft die von Frau Professor Dr. Edith Franke bei Yggdrasill angestoßene Diskussion unter dem Titel „Gedanken zur Verantwortung der Religionswissenschaft“ zeigt.
Dass die Morde vom gestrigen Tag für die Religionswissenschaft dabei von besonderer Brisanz sind, ist zum einen auf die Zuordnung des Faches zum übergeordneten Wissenschaftssystem, das sich schon aus Gründen der Selbsterhaltung zu Angriffen auf die freie Meinungsäußerung zumindest in ein Verhältnis setzen, wenn nicht gar aktiv gegen sie vorgehen muss, zum anderen auf den Untersuchungsgegenstand der Religionswissenschaft selbst („Religion“) zurückzuführen.
Diese doppelte Involvierung als Wissenschaftler und als Religionswissenschaftler (ganz abgesehen von der als „Privatperson“ bzw. „Bürger“) entpuppt sich hierbei schnell als Dilemma bzw. Aporie, die aufzulösen ich selber nicht in der Lage bin, mit der ich mich jedoch als Betroffener auseinandersetzen muss, da sie sich nicht erst in abstrakten Gedankenspielen offenbart, sondern bereits bei der Frage relevant wird, ob ich einen „Je suis Charlie“ Ausdruck an meine Bürotür in der religionswissenschaftlichen Fakultät hängen sollte, darf oder vielleicht sogar muss.
Als (angehender) Wissenschaftler bin ich zwar generell zur Neutralität (zumindest aus dem eigenen Berufsethos heraus) verpflichtet, muss aber auf äußere Einwirkungen und Entwicklungen, welche meine Berufsausübung beeinflussen (könnten), reagieren dürfen, „im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich“ (Franz Josef Degenhardt). Dazu gehört das Recht auf Opposition gegen Universitätsreformen genauso wie das zur Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung - alles andere wäre zynisch oder masochistisch. Gleichberechtigt daneben besteht allerdings meine Funktion als Religionswissenschaftler, in der ich mich ebenfalls aus berufsethischen Gründen zur Neutralität gegenüber meinem Untersuchungsgegenstand, dem der Religion, verpflichtet fühlen sollte. Wie nun kombiniere ich diese beiden Komplexe, ohne mich in meiner Funktion sowohl als Religionswissenschaftler wie auch in der als Wissenschaftler verbiegen oder gar verleugnen zu müssen?
Um noch einmal das konkrete Beispiel des „Je suis Charlie“ Ausdrucks an der Bürotür im Fachbereich der Religionswissenschaft aufzunehmen: Schon eine sehr oberflächliche und viele weitere Antwortmöglichkeiten aussparende Betrachtung zeigt, dass ein Außenstehender, der an der Tür vorbeigeht, ganz unabhängig von meinen persönlichen Intentionen folgende Schlüsse beim Anblick des Schriftzuges ziehen könnte:
- Da solidarisiert sich eine Privatperson ODER/UND Wissenschaftler ODER/UND Religionswissenschaftler mit den Opfern der gestrigen Morde und drückt seine Trauer aus. Die Bewertung dieser Aktion hängt nun von den unterschiedlichen Standpunkten ab und könnte zwischen den Idealtypen eines affirmativen „Ja, finde ich gut“ und einem „Hmm, warum muss er das denn gerade hier machen und nicht später als „Privatperson“ gemeinsam mit anderen Privatpersonen auf dem Kurt-Schumacher Platz?“ changieren. So weit, so kontrovers-verständlich. Eine weitere Möglichkeit wäre:
- Da zeigt jemand explizit in seiner Funktion als Wissenschaftler ODER/UND Religionswissenschaftler, dass er gegen die hinter den Attentaten mitschwingende bzw. konkret stehende Bedrohung des Rechts auf freie Meinungsäußerung ein Zeichen setzen möchte. Wenn der Zusatz „ODER/UND Religionswissenschaftler“ nicht wäre, läge hier wohl die allgemein verständlichste und akzeptierteste Reaktion vor, ganz gleich, ob nun mit der Aussage selbst sympathisiert wird oder nicht. Konkret: Würde diese Aussage an der Tür eines Professors im Fachbereich der Physik, der befürchtet, dereinst von Kepler, Galileo und Kopernikus wieder Abschied nehmen zu müssen, große Kontroversen auslösen? Wohl eher nicht. Nun bleibt aber der Zusatz des Religionswissenschaftlers kontextbedingt unweigerlich bestehen, was zur dritten und letzten Interpretationsmöglichkeit führt, die insbesondere in Kombination mit der zweiten schnell zu einer Aporie werden kann:
- Hier sympathisiert jemand (schon des semantischen Gehalts von „Je suis Charlie“ wegen) mit der Redaktion von bzw. der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ und somit auch mit der von ihr durchgeführten Veröffentlichung von Mohammed Darstellungen. Was an sich recht unproblematisch verbliebe, wäre da nicht der religionswissenschaftliche Kontext und die mit ihm einhergehenden informellen Verpflichtungen zu religiöser Neutralität.
Nun könnte eingeworfen werden, dass zwischen diesen drei recht schablonenhaft wirkenden Interpretationsmöglichkeiten durchaus Grauzonen existieren, in die betreffende Person sich, beispielsweise mit Hilfe eines längeren Disclaimer unterhalb des schwarzgrundierten „Je suis Charlie“, einordnen könnte:
„Ich, Thomas Jurczyk, möchte mit dem obigen Plakat meine Opposition gegen die drohende Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, zu der auch die Kritik und satirische Darstellung von Religionen gehört, durch vermeintlich religiös legitimierten Terrorismus zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass ich in der Frage, ob satirische Karikaturen statthaft sind, die religiöse Gefühle einzelner Gruppen verletzen, neutral verbleiben und hierzu keine Aussage machen.“
Da dieser Beitrag von vornherein keinerlei Ansprüche auf einen kathartischen Schluss besaß, möchte ich mit der Frage enden, ob nur ich an diesem Punkt eine weiteres Paradoxon sehe: Auf der einen Seite setze ich mich für die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung ein (und verteidige somit die potentielle Verletzung religiöser Gefühle und Gruppen), auf der anderen Seite bleibe ich bezüglich des Dargestellten „neutral“. Hier mag im Geiste des (schlecht paraphrasierten Zitats eines gerade in Stammtisch-Foren beliebten französischen Intellektuellen der Aufklärung) „Ich bin vielleicht nicht Deiner Meinung, aber ich würde Haus und Kind, nicht aber meinen Hund dafür hergeben, dass Du diese frei äußern darfst!“ eingewendet werden, dass wer für die Form (das Recht auf freie Meinungsäußerung) votiert, noch lange nicht für den Inhalt (das dann Geäußerte) verantwortlich gemacht werden kann. Dies halte ich in diesem Fall jedoch für einen Fehlschluss.
Ich kann nicht auf der einen Seite für die freie Meinungsäußerung sein und gleichzeitig neutral gegenüber der Möglichkeit der Abbildung von Themen verbleiben, um deren potentielle Realisierung ich weiß. Entweder, ich muss das Recht auf freie Meinungsäußerung insoweit einschränken, dass diese Themen eben nicht mehr in dieses Recht der freien Meinungsäußerung hineinfallen (es gibt ja bereits zahlreiche Ausnahmen, bspw. Holocaust-Leugnung), oder ich muss mir eingestehen, dass ich durch die Höherstellung des Rechts auf freie Meinungsäußerung über die Befindlichkeiten einzelner religiöser Gruppen bereits eine Wahl und somit eine Wertung dem konkreten Inhalt sowie diesen Gruppen gegenüber getroffen habe, was in diesem Zusammenhang mit dem Verlassen meiner religiösen Neutralitätszone einhergeht.
tj
Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/83