05. Whitechapel und das mörderische Geschichtsfernsehen

Heutzutage lernt man im Fernsehen über das wirkliche Leben. Keine Sorge, hier folgt kein vorhersagbares Einprügeln auf unterirdisches „Reality-TV“, das seinen lebensfremden Charakter bereits durch den englischsprachigen Titel anzeigt, mit dem aufwendige televisonäre Produktionstechniken versprochen werden, wie sie im Bildschirm-Universum Sinn machen mögen, aber nicht unbedingt für die Welt außerhalb davon. „Wirklichkeitsfernsehen“ hingegen wäre eine verstörende, allzu pädagogisch klingende Bezeichnung – Fernsehen, das den Bildungsauftrag tatsächlich noch ernst nähme. Nein, es geht um die allseits hochgelobten Fernsehserien meist amerikanischer Machart, die möglichst lebensnah und möglichst glaubwürdig an unterschiedliche gesellschaftliche Situationen heranzoomen, um diese in Kombination mit entsprechenden Schauspielerleistungen, Drehbüchern und auch sonstigem technisch-künstlerischem Aufwand über viele Stunden Sendezeit hinweg in all ihren Verästelungen zu sezieren. Mögen diese Serien nun „The Wire“, „Homeland“, „Mad Men“, „Sopranos“ oder sonstwie heißen, hier scheint man irgendwie klüger fürs Leben zu werden.

Mein Pech, denn ich habe es nicht so mit dem Fernsehen. Mag zwar snobistisch klingen, aber ich halte diese Nicht-Tätigkeit zu einem gehörigen Teil für Zeitverschwendung. Nicht weil da nur Schrott liefe, denn es gibt inzwischen ausreichend Auswahl, um sich auch ein interessantes Programm zusammenstellen zu können. Nein, ich mag einfach die Situation der strukturellen Passivität nicht, in die mich das Fernsehen zwingt. Nicht nur die individuelle Zeitorganisation hat sich nach dem Fernsehen auszurichten, sondern man muss auch in körperlich unterwürfiger Duldungsstarre verharren, um die Inhalte zu erwarten, die einem serviert werden. Die einzig vom Zuschauer erwartete Aktivität besteht in der Hantierung der Fernbedienung und dem möglichst geschickten Abpassen der Werbepausen, um körperlichen Bedürfnissen nachzukommen. Nicht mein Ding, vor allem wenn die guten Sendungen gar keine Werbepausen haben!

Natürlich sehe ich fern. Nach einer zwischenzeitlichen zehnjährigen Abstinenz bin ich schon seit Längerem wieder Mitbesitzer eines entsprechenden Übertragungsgeräts. Die Nachrichten versäume ich eher ungern, zuweilen wird auch Fußball konsumiert und manchmal darf es ein Film sein, den man eigentlich im Kino anschauen sollte. Das war es eigentlich. Wenn es da nicht ab und an die kleinen Schicksalsschläge des Lebens gäbe, die strukturelle Passivität zu einem wohligen Zustand werden lassen. Die gemeine mitteleuropäische Durchschnittserkältung beispielsweise, oder der winterliche grippale Infekt, die jeglichen Ansatz von Aktivität in einem kläglich Kreislaufkreiseln und einem undefinierbaren Hirnwabern enden lassen. Da bin ich dann doch einmal ganz dankbar für die Programmgestaltung der Fernsehanstalten und die Segnungen des Zappens.

Bei einer solchen, eigentlich eher unwillkommenen Gelegenheit durfte ich die Erfahrung machen, wie man aus Fernsehserien tatsächlich etwas lernen kann, sogar etwas über die Arten und Weisen des Geschichtemachens. „Whitechapel“ heißt die britische Krimi-Serie, deren Inhalte hier nicht im Einzelnen nachzuerzählen sind. Wichtig ist die personale Grundkonstellation, aus der die jeweiligen Fälle ihre Dramatik beziehen: Inspektor Joseph Chandler ist ein typisches Produkt der englischen upper-class, gebildet, sportlich, hoch gewachsen, gut aussehend, snobistisch, aber mit dem Herz am rechten Fleck – und ausgestattet mit ein paar neurotischen Anwandlungen; Ray Miles ist der raue, altgediente Polizeihaudegen mit eher proletarischem Hintergrund, hat daher zunächst seine Probleme mit Chandler, die aber zusehends von väterlicher Sympathie abgelöst werden; und Edward Buchan, der Nerd in der Runde, ein Hobby-Krimihistoriker, der zunächst eingeführt wird als Autor populärhistorischer Bücher und Stadtführer und der sein Geld mit Führungen für Touristen an die Orte des Verbrechens in Whitechapel verdient, im Lauf der Serie aber zum Archivar und zum historischen Berater der Mordkommission mutiert (und dabei von dem Raubein Ray Miles notorisch abgelehnt wird).

Zwischen Unmengen Kräutertee und Medikamenten von ungewisser Wirkkraft war es insbesondere diese Figur des Edward Buchan, die mit ihren Wandlungen mein Oberstübchen ein wenig zum Leben erwecken konnte. Denn seine Aufgaben und sein Verständnis von der Geschichte des Verbrechens verändern sich im Lauf der Serie erheblich, und zwar in einer Art und Weise, dass man daran fast eine Geschichte der Geschichtsschreibung in Kurzform festmachen könnte:

Phase 1: Historia Magistra Vitae. In der ersten Staffel geht im Londoner Stadtteil Whitechapel ein Copykiller um, der die Morde von Jack the Ripper detailgetreu nachahmt. Der neu berufene Inspektor Chandler gerät an den Ripper-Experten (ripperologist heißt der treffende Ausdruck im Englischen) Edward Buchan, der ihm aufgrund seiner historischen Kenntnisse genau vorhersagen kann, wann und unter welchen Umständen der jeweils nächste Mord geschehen wird. Seine aus der Vergangenheit gewonnenen Prognosen sind so genau, dass Buchan zeitweilig selbst unter Verdacht gerät. Geschichte wiederholt sich hier tatsächlich. Man kann aber auch aus ihr lernen, denn zumindest der letzte Ripper-Mord kann dank der historischen Expertise verhindert werden – die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens.

Phase 2: Historismus. Edward Buchan hat sich von seiner Tätigkeit als ripperologist losgesagt, weil ihm bewusst geworden ist, dass echte Morde nichts mit der Schauermärchenromantik des 19. Jahrhunderts zu tun haben. Wo Menschen tatsächlich sterben, kommt der nostalgische Voyeurismus an sein Ende. Buchan will sich mit seiner Expertise aber weiterhin nützlich machen und drängt sich der Polizei mit seinen Erkenntnissen auf. Inspektor Chandler sieht – trotz mancher Zweifel – den Erkenntnisgewinn, den ihm der rückwärtsgewandte Kriminalist verschafft. In einer weiteren kopierten Verbrecher-Karriere behaupten die Zwillingsbrüder Jimmy und Johnny Kray die Söhne von Ronnie Kray zu sein – der wiederum mit seinem Zwillingsbruder Reggie in den 1950er und 1960er Jahren Whitechapel unsicher gemacht hat. Wieder scheint sich Geschichte zu wiederholen, nun allerdings unter historistischen Vorzeichen: Die Polizei nutzt den Zugriff auf die historischen Quellen, soll heißen: auf die DNA der alten und der neuen Kray-Zwillinge, um den Schwindel auffliegen zu lassen. Denn bei der Wiederauflage der Verbrecherbrüder handelt es sich keineswegs um die Söhne von Ronnie Kray. Eine quellenkritische Geschichte hat die Wahrheit über Vergangenheit und Gegenwart ans Licht gebracht und damit dem mythisch angehauchten Spuk ein Ende bereitet.

Phase 3: Kritische Geschichte. Edward Buchan hat erreicht, was er wollte. Er ist als researcher bei der Mordkommission eingestellt, man könnte sagen: als polizeilich bestallter Kriminalitätshistoriker. Die Begründungen, die Inspektor Chandler für diese Personalentscheidung gibt, weisen der Geschichte nun eine kritische Rolle zu: Man soll nicht nur aus den 200 Jahren Verbrechensgeschichte lernen, die im hauseigenen Archiv lagern, sondern soll, vermittelt über dieses historische Material, auch eine andere Perspektive auf die jeweiligen Fälle gewinnen. Zusätzlich verändert sich die Rolle der Geschichte. Denn nun geht es nicht mehr um Copykiller, die die Vergangenheit imitieren. Die Situation wird komplexer. Buchan sitzt in seinem Archivkeller und soll die Berge an Akten über vergangene Verbrechen mit einem strukturierenden und systematisierenden Blick durchforsten. An die Stelle der Geschichte einzelner großer Kriminalfälle tritt nun die Strukturgeschichte mit ihrem typisierenden Verfahren. Zugleich muss der Polizeihistoriker jedoch erkennen, dass ihm mit dieser Zunahme an Komplexität auch die Fähigkeit der eindeutigen historisierenden Prognose verloren gegangen ist. Er kann nicht mehr vorhersagen, wann und wie ein Verbrechen geschehen wird, kann nur noch historisch gewonnene Muster erstellen. Weil diese jedoch nicht immer zutreffen, sterben Menschen. Buchan stellt die Sinnfrage und gerät in eine ernsthafte Krise.

Phase 4: Was nun? Mit einem verzweifelten Buchan, der aufgrund seiner Unzulänglichkeiten – die Geschichte ist nicht mehr Lehrmeisterin des Lebens! – inzwischen auch psychologische Hilfe in Anspruch nehmen muss, endet die dritte Staffel. Die Tragik wird noch dadurch gesteigert, dass Buchan auch den Tod seiner Psychologin nicht verhindern kann. Die Geschichte ist nicht nur kritisch geworden, sondern zugleich in eine handfeste Krise geraten. Wie in der kritischen Sozialgeschichte der 1970er Jahre wird auch hier die Frage gestellt: Wozu noch Geschichte?

Eine vierte Staffel der Serie ist offensichtlich geplant. Stellt sich die Frage, wie es weitergehen könnte mit unserem Polizeihistoriker und der Rolle der Geschichte bei der Bewältigung der Wirklichkeit (des Verbrechens). Nur konsequent wäre eine postmoderne Wende. Denkbar wäre eine Staffel, in der ein Archivaußen konsequent negiert wird, in der sich das Verbrechen nun im Archiv und seinen Akten abspielt, in der der Archivar möglicherweise selbst zum Mörder, zum Vollstrecker der historischen Überlieferung wird – und sich dabei im Archiv selbst auf die Schliche kommt. Der Polizeihistoriker würde dann möglicherweise verschwinden, aber das Archiv würde in all seiner zwielichtigen Bedrohlichkeit weiterbestehen.

Aber dann müsste auch noch eine fünfte Staffel folgen, in der das Verhältnis von Geschichte und Wirklichkeit, von Vergangenheit und Gegenwart neu und offen verhandelt würde. Dann ließen sich geschichtstheoretische Überlegungen in die Mordfälle einbauen, die das komplexe Wechselverhältnis zwischen einer Gegenwart und ihren verschiedenen Möglichkeiten der Bezugnahme zur Vergangenheit thematisieren. Dabei kann es auch nicht mehr genügen, ein dichotomisches Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterstellen, sondern vergangene Gegenwart müsste als Teil unseres Hier und Jetzt offenbar werden, ohne zur Lehrmeisterin degradiert zu werden.

Zugegeben, ein wenig telegener Vorschlag. Ein Glück für dieses Medium, dass ich mir keine Fernsehmorde ausdenken muss. Ich kann nur hoffen, dass mich die nächste Erkältung zum richtigen Zeitpunkt niederstreckt – genau dann, wenn die vierte Staffel ausgestrahlt wird und ich mich gerne passiv berieseln und von geschichtstheoretisch affinen Serien belehren lasse.


Einsortiert unter:Geschichtsfernsehen, Geschichtskultur, Geschichtsmedien Tagged: Fernsehen, Historiographiegeschichte, Jack the Ripper, Kray-Twins, Whitechapel

Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/04/26/05-whitechapel-und-das-morderische-geschichtsfernsehen/

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Tagungsbericht: “Geschlecht im Kontext verschärfter ökonomischer Krisen” (Bern, September 2012) – Von Nadja Mariangeles Olloz

Bankenkrise, Eurokrise, Schuldenkrise: Krisen beherrschen die mediale Berichterstattung der letzten Jahre. Doch welche Auswirkungen hat das auf die Gesellschaft? Wie beeinflusst dies die Geschlechterverhältnisse? Diese Fragen standen im Zentrum der Fachtagung der Schweizerischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (SGGF) „Geschlecht im Kontext … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/4623

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Die Forschungskultur der Digital Humanities in 7 Schlagworten #dhiha5

Mein Beitrag zur Blogparade im Vorfeld der Tagung Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs? Hier in sieben Schlagworten mein Blick auf die digitalisierte Forschungskultur:

1. Beschleunigung

Spezialisiertes Fachwissen blieb vor DH bei Spezialisten oder manifestierte sich in beständig überholten Handbüchern. Methoden wie Topic Modeling leben und entwickeln sich im digitalen Raum, in Blogs, Twitter-Gesprächen, Kommentaren usw. Das bedeutet einerseits einen extrem schnellen Austausch von Wissen aber auch die Akzeptanz des rohen, unfertigen work in progress. Das Warten auf einen im peer review erschienen Artikel wirkt demgegenüber anachronistisch.

2. Ent-Hierarchisierung der öffentlichen Kommunikation

Die klassischen Hierarchien zwischen Nachwuchs und etablierten Wissenschaftlern drücken sich nicht mehr (wie zumindest in Deutschland heute noch häufig zu sehen) im Kommunikationsverhalten aus. Ein Beispiel:

3. Verspieltheit

Mit Blick auf die geisteswissenschaftliche Forschung mit vor allem (aber nicht nur!) Methoden der Computerlinguistik scheinen wir uns im Moment in einer Phase der spielerischen Entdeckung zu befinden. Häufig  zu hören ist der Vorwurf, mit Technik spielen zu wollen ohne dabei ein  ernsthaftes, begründbares geisteswissenschaftliches Forschungsinteresse  zu verfolgen. Momentan werden Forschungsprogramme erst noch sondiert, sie existieren noch nicht. Ein Beispiel hierfür ist Ted Underwoods Artikel “We don’t already understand the broad outlines of literary history”

4. Tunnelblick

Ein weiterer Punkt der nicht zum ersten und letzten Mal von Birgit Emich auf dem Historikertag gemacht wurde: Digital vorliegende Texte/Quellen führen zu einer freiwilligen Verscheuklappung von Forschungsarbeit: Bevorzugt wird natürlich digitalisiertes Material verwendet, nichtdigitalsiertes Bestände bleiben schneller unberücksichtigt. Das führt zu dem Problem, dass einmal nicht die Technik die geisteswissenschaftliche Forschung bestimmt sondern die mehr oder weniger zahlreich vorliegenden Materialien.

5. Interdisziplinarität

Bemerkenswert sind die Anstrengungen von Informatikern et al. und Geisteswissenschaftlern, sich in die Domäne des anderen einzuarbeiten. Allerdings scheitern die disziplinübergreifenden Gehversuche noch immer regelmäßig an Missverständnissen, Ausbildungsmangel und unterschiedlichen Wissenschaftsverständnissen.

6. Ästhetisierung

Zusammen mit dem Aufschwung von Informationsvisualisierungen als eigenem Forschungsfeld werden Arbeiten in den DH zu Designobjekten. Prezi mag das Paradebeispiel hochästhetisierter, effektgeladener Ergebnispräsentation sein, im Bereich der Netzwerkforschung haben u.a. Gephi und NodeXL neue Standards gesetzt. Das erfordert eine neue Kritikfähigkeit, um angemessen auf die massive Suggestionskraft der “bunten Bilder” reagieren zu können. Um nicht geblendet zu werden, müssen Kompetenzen in diesem Feld (Statistik, Methode, Reproduktion etc) ausgebildet werden.

7. Reproduzierbarkeit und Open Source

Bei allen Beschränkungen, die in der Anwendung von Software auf geisteswissenschaftliche Fächer bestehen, bleibt doch das Potenzial, die erzielten Ergebnisse zu reproduzieren. Realistischerweise wird es möglich sein, Arbeitsvorgänge bis zum Punkt der Interpretation der erzielten Ergebnisse zu rekonstruieren, die vor allem dann, wenn diese im Sinne der Open Source Philosophie offen zugänglich und transparent gemacht werden.
Dies führt im besten Fall zu einer explizit dokumentierten Vorgehensweise, die offenlegt (was zumindest in den Geschichtswissenschaften) oft implizit bleibt und damit nur schwer rekonstruierbar ist.
In diesem Sinne werden auch enhanced publications relevant, die u.a. Fußnoten durch Links ersetzen und dadurch eine realistische Chance der Überprüfung von Referenzen eröffnen.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1615

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DH nun auch in Passau: Job offer

Die Universität Passau hat einen Lehrstuhl für Digital Humanities eingerichtet und somit eine weitere Landmarke auf der deutschsprachigen DH-Landkarte gesetzt. Das Erfreuliche an neu eingerichteten Lehrstühlen ist, dass dadurch einige neue Stellen geschaffen werden können, in diesem Fall attraktive Stellen im Bereich Digital Humanities.

Die erste Ausschreibung ist zu finden unter http://www.uni-passau.de/fileadmin/dokumente/beschaeftigte/Stellenangebote/2013_04_WM_Prof_Rehbein.pdf.

Es handelt sich hierbei um eine Postdoc-Stelle als Akademischer Rat/Akademische Rätin (A13) für zunächst 3 Jahre mit Verlängerungsoption um weitere drei Jahre. Doch lest lieber selbst.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1620

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Fotowettbewerb gegen Frontex

Die für die Bekämpfung von Flüchtlingen und deren Tötung zuständige EU-Agentur Frontex schreibt in ihrem Zynismus einen Fotowettbewerb aus; Prager Frühling. Magazin für Freiheit und Sozialismus versucht, diesen zu konterkarieren, in dem diese Zeitschrift ihrerseits zu einem Fotowettbewerb gegen Frontex aufruft: Wer also über Fotos verfügt die den Widerstand von denen zeigen, die Grenzen überschreiten, kann diese bis zum 15. Mai 2013 einreichen.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/351209671/

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Aufstieg und Niedergang der Geschichtswissenschaft als Schrittmacher der Gesellschaft

Von Stefan Sasse

Leopold von Ranke
Die Geschichtswissenschaft ist, verglichen etwa mit den Naturwissenschaften, keine besonders alte Disziplin. Zwar gab es immer wieder einzelne Personen, die historische Abhandlungen schrieben - man denke etwa an Tacitus, Thukydides oder Polybios in der Antike -, doch diese erfüllten keinesfalls die Standards, die die Geschichtswissenschaft prägen und waren eher große Erzählungen, häufig mit direkter politischer oder moralischer Zielrichtung. Erste methodische Zusammenstellungen tauchten im 18. Jahrhundert auf - Schiller etwa war ein begeisterter Hobby-Historiker-, doch erst im 19. Jahrhundert entstanden vor allem in Deutschland die Geschichtswissenschaften mit der expliziten Zielsetzung "zu zeigen, wie es gewesen", um das berühmte Wort Leopold von Rankes zu benutzen. Dieser Anspruch purer Objektivität wird heute als Irrtum angesehen, nicht wegen der Intention, sondern wegen seiner Unmöglichkeit. Wir können Geschichte zwangsläufig immer nur durch die Brille unserer eigenen Zeit wahrnehmen und haben keine Möglichkeit, ein "objektives" Geschichtsbild zu erstellen. Objektive Geschichte existiert nicht, und seit diese Erkenntnis auch Eingang in die Lehrpläne gefunden hat stöhnen die Schüler über dieser Komplexität. 

Im Deutschland des 19. Jahrhunderts war Geschichte ein unglaublich populäres Feld, vergleichbar nur mit der Physik zwischen den Weltkriegen und der Ökonomie seither. Keiner dieser Disziplinen ist das Schlaglicht des Ruhms gut bekommen. Der plötzliche Ruhm, den die Vertreter der jeweiligen Disziplin dadurch genossen, stieg einigen nicht nur zu Kopf sondern weckte Erwartungen an ihre Arbeit, die diese unmöglich erfüllen konnte - ein Irrtum, der aus der erwähnten Eitelkeit nicht aufgedeckt wurde. Die Geschichtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts sahen ihre Aufgabe hauptsächlich darin, eine Meistererzählung der deutschen Geschichte zu schreiben. Der junge Nationalstaat, der vor kurzem noch aus kleinen Nationen wie Hessen-Nassau oder Baden bestanden und nicht über ein übermäßiges, schon gar nicht ethnisches, Zusammengehörigkeitsgefühl verfügt hatte, verlangte nach einer solchen. Die Historiker lieferten sie und zogen eine direkte Linie von Arminius, den man flugs "Hermann" taufte, und nahmen dankbar Tacitus Zivilisationskritik für bare Münze, um eine in den germanischen Urwäldern herumstreifende, edle Stammesgesellschaft als Urgrund der Deutschen zu konstruieren. Urwüchsige Natur, eine natürliche Ordnung und große Männer, die ihre Stammesbrüder für Großtaten wie den Kampf gegen die Römer zusammenschmiedeten - gerne erkannten sich die Deutschen darin wieder. 

Karl der Große
Über Karl den Großen konstruierte man direkt einen Zusammenhang ins Mittelalter, wo die diffizile Machtpolitik der Lehensfürsten flugs zu einer Kulturmission der deutschen Sendung umdefiniert wurde. Der Dreißigjährige Krieg wurde so zu einem Grundübel, das von außen heraufbeschworen worden war, von Böhmen, Österreichern und Schweden, vor allem aber den Franzosen. Die "Erbfeindschaft" konnte so auch hier auf eine lange Ahnentradition zurückblicken, die sich mit der Aufspaltung von Karls Großreich auch beliebig bis ins Mittelalter verlängern und gegebenenfalls mit Verweis auf Kämpfe zwischen Kelten und Germanen nicht zuletzt während der Völkerwanderung auch in die mystische Urgeschichte ziehen ließ. Echten Erklärungsgehalt für zeitgenössische Phänomene besaß das alles natürlich nicht, aber der Mantel der Geschichte wurde mit all seinem Gewicht gerne jeglicher Politik umgehängt, die einer solchen Rechtfertigung bedurfte. Wer konnte etwa das Kolonialisierungsprogramm kritisieren wenn man sich vor Augen hielt, dass die Bekehrung und Zivilisierung der Barbaren seit Karl dem Großen deutsche Tradition und deutsche Sendung war? Zu versuchen, gegen die Geschichte zu argumentieren, war praktisch aussichtslos, und es verwundert nicht, dass auch die entschiedenen Gegner auf die Geschichte zurückgriffen: Karl Marx postulierte nicht umsonst geschichtliche Gesetzmäßigkeiten, die seiner Theorie die Aura einer religiösen Offenbarung verliehen.

Sein Ende fand all diese Geschichtsklitterei mit den Weltkriegen. Bereits der Erste Weltkrieg sorgte für eine schwere Erschütterung in der Vorstellung, die Deutschen seien alle durch ein mystisches Band des Nationalstaats miteinander verknüpft, und spätestens die Brachialvulgarisierung historischer Ereignisse im Nationalsozialismus trieb jeglichen Anspruch an eine gesamtgesellschaftliche Deutungshoheit aus der Geschichtswissenschaft. Sie verlegte sich auf bescheidenere Ziele, die auch in ihrem Vermögen lagen: ein möglichst detailliertes und aussagekräftiges Modell zu entwickeln und gegebenenfalls der Vereinnahmung der Geschichte durch Laien vor allem in der Politik eine differenzierte Analyse gegenüberzustellen. Die Wissenschaft ist dadurch reicher geworden, reicher an Interpretationen, an Erklärungsmustern, an Ansätzen und an Erkenntnissen. Ohne den Anspruch, eine Meistertheorie bieten zu können, die dem Leben und Streben der Menschen Struktur und Sinn bietet. Für die Hybris der Geschichtswissenschaft musste bitter gebüßt werden. Die Physik hatte Glück; der Kalte Krieg bewahrte sie vor diesem Schicksal, und sie zog sich still wieder auf ihr Fachgebiet zurück. Der Ökonomie ist dieses Glück nicht beschieden, und die aktuelle Debatte um Rogoff und Reinhard zeigt, auf welch fatalen Irrwege die Verabsolutierung von Theorien und Modellen führen kann.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2013/04/aufstieg-und-niedergang-der.html

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“Emma, die Nackte” oder vom Akt im öffentlichen Raum

 

L'art Vivant_Novembre 1970
Einst wurde Édouard Manét mit seinem Gemälde “Le Déjeuner sur l’herbe” aus dem Salon verjagt. Das Paris der Jahrhunderwende war der Nacktheit der bekannten Prostituierten moralisch nicht gewachsen. Nach hundert Jahren – so könnte man denken - ist der nackte Körper in der modernen Kunst etwas Normales geworden. Auf den ersten Blick ist dem so. In der Kunstwelt der Theater, Museen, Galerien und Kunstmagazine ist der Akt und das Nacktsein als Motiv und Ausdrucksform etabliert. Doch in der Welt des Internets bekommen genau diese Werke immer wieder Probleme. Zum Schutz der Minderjährigen wird auf die Abbildung des Nackten verzichtet. Dies ist zu begrüßen, würde damit nicht auch die Kunstwelt zensiert.

In den letzten drei Jahren hat Facebook mehrmals Museumsseiten gesperrt, weil scheinbar pornographisches Bildmaterial präsentiert wurde. Dass es sich hierbei aber um Kunstwerke gehandelt hat, war der Social-Media-Plattform leider nicht bekannt. Jüngstes Opfer ist das Museum Jeu de pomme, dass auf der Facebook-Seite für eine Ausstellung von Laure Albin Guillot werben wollte und dazu ein Foto mit einer blonden nackten “Venus” präsentiert, gepostet hat. Doch deren entblöste Brust war Grund genug, die gesamte Seite für einen Tag zu sperren. Mittlerweile prangert ein schwarzer Balken darüber. Ähnlich erging es der Londoner Saatchi-Galerie mit einem Werk des Fotografen Philippe Halsmann. (1)

2012 wurde auch die Facebook-Seite des Centre Pompidou gesperrt. Das Pariser Museum für die Kunst der Moderne und Gegenwart warb mit einem der wohl bekanntesten Werke Gerhard Richters für die Panorama Ausstellung. Dabei handelte es sich um das Gemälde “Ema (Akt auf einer Treppe)” aus dem Jahr 1966. Das fotorealistische Werk zeigt die erste Frau des Künstlers. Behutsam fast schwebend kommt sie die Treppe herunter. Die Architektur hinterlegt den weiß-golden schimmernden Akt mit einem unwirklichen Grün. Die Portraitierte blickt konzentriert nach unten, als ob sie den Maler oder Betrachter nicht zur Kenntnis nehmen will. Darüber hinaus ist die Darstellung aufgrund der Unschärfe, die der Künstler dem fotorealistischen Bild am Ende durch das gleichmäßige Verwischen der noch feuchten Farbe verlieh, unnahbar fern. Der gemalte Akt rekurriert auf Marcel Duchamps “Akt eine Treppe herabsteigend” von 1912, der sich im Philadelphia Museum of Art befindet. Richter hatte das Bild in einer Krefelder Ausstellung als Fotografie gesehen und nahm es zum Anlass, sich der klassischen Aufgabe der Aktes zu widmen und sich zugleich demonstrativ gegen Duchamps Postulat vom Ende der figurativen Malerei zu wenden.

Die Nähe von Fotografie und Malerie wurde dem Bild jedoch immer wieder zum Verhängnis. Denn Facebook ist nicht die einzige öffentliche Plattform, die versucht hat, das Richter-Werk zu verbannen. Schon kurz nach der Entstehung des Bildes war sich die Kunstwelt uneinig. So hatte der damalige Direktor der Berliner Nationalgalerie aufgrund der fotografischen Realität, den Ankauf des Bildes vehement abgelehnt: “Ich sammle keine Photos, sondern Malerei”. (2) Und als das Werk 1970 auf dem Cover des französischen Kunstmagazins “L’art vivant” erschien, wurde dem Herausgeber Aimé Maeght  mit einer Anzeige “wegen Verletzung der öffentlichen Moral und des Pornografiegesetzes” gedroht. Erst nachdem er belegt hatte, dass es sich um keine Fotografie, sondern um ein Ölgemälde handle und er sich auf die Tradition der Aktmalerei in der Kunstgeschichte berief, wurde von einer Anklage abgesehen. (3)

Doch am Ende dieser Debatte sollte nicht nur die Kritik am Unwissen der zensierenden Fachggruppen stehen, sondern auch die positive Erkenntnis, dass ein Kunstwerk die Welt immer wieder in Frage stellen kann. Zudem ist es beruhigend zu wissen, dass es Menschen gibt, die die Kunst verstehen und verteidigen, seien es Autoren oder aufgeschlossene Sammler wie Peter und Irene Ludwig, die Richters Akt bereits 1967 erwarben.

 

Anmerkungen

(1) Eva Hess, Prüder als der Vatikan, in: Sonntagszeitung, 21.04.2013.

(2) Dietmar Elger, Gerhard Richter, Maler, Köln 2008, S. 130-134.

(3) EB, Emma, die Nackte, in: Kölner Stadtanzeiger, 29.12.1970.

 

 

Quelle: http://gra.hypotheses.org/722

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Vortrag & Stadtexkursion zu Wiener Hausnummern, 24./25.5.2013

In einem Monat ist es wieder soweit, an der VHS Urania findet mein Hausnummernvortrag und -spaziergang statt!

Wiener Adressen: Hausschilder, Straßennamen und Hausnummern

Vortrag und Exkursion von Anton Tantner im Rahmen von University Meets Public

Beschreibung: Wie findet ein Brief seinen Empfänger? Wie orientieren wir uns in der Stadt? Erst unter Maria Theresia wurden die Häuser in Wien nummeriert, später noch die Straßennamen durch eigene Schilder kenntlich gemacht. Wie dies geschah, ist Thema des Vortrags und der Exkursion. Der genaue Treffpunkt der Exkursion wird im Vortrag bekannt gegeben.

Termin:

Ort: VHS Wiener Urania, 1010 Wien, Uraniastraße 1
Vortrag: Fr, 24.5.2013, 19:00-20:30
Exkursion: Sa, 25.5.2013, 15:00-16:30
Zur Anmeldung

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/351209337/

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Stellenangebot im Bereich kontrollierte Vokabulare für die historische Forschung

Das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz bietet eine

Stelle für einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt (TV-L E 13)

im Bereich »kontrollierte Vokabulare für die historische Forschung«.

Das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte ist eine gemeinnützige Einrichtung zur Förderung der Wissenschaft. Es ist ein selbstständiges außeruniversitäres Forschungsinstitut. Seine Aufgabe ist die wissenschaftliche Erforschung der europäischen Geschichte. Das IEG engagiert sich außerdem bei der Schaffung von Infrastrukturen für Digital Humanities in den historisch arbeitenden Wissenschaften. Unter anderem ist das IEG ein Partner im europäischen DARIAH-Verbund (Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities) und dem deutschen Beitrag, DARIAH-DE.

Im Kontext von DARIAH-DE bietet das IEG eine Stelle für einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt an, möglichst ab Juni 2013. Die Stelle ist in einem Teilprojekt angesiedelt, das sich mit dem Entwurf und der Entwicklung von kontrollierten Vokabularen für die historische Forschung beschäftigt; insbesondere geht es um ein Vokabular für die Beschreibung historischer Ortstypen.

Bewerber sollten entweder einen Hintergrund in Informatik oder einem informatiknahen Fach (z. B. Computerlinguistik) und historisches Interesse haben, oder einen Hintergrund in einer historisch arbeitenden Wissenschaft (z. B. Geschichte, Theologie) und gute Informatikkenntnisse haben.

Es handelt sich um eine halbe Stelle; die Idee ist, dass der Stelleninhaber, die Stelleninhaberin zur Hälfte im Projekt arbeitet und die andere Hälfte der Zeit für die Erarbeitung eines Promotionsprojekts, Förderantrages o. ä. nutzt, mit der Möglichkeit von Austausch und Diskussionen mit Wissenschaftlern am IEG zu profitieren.

Nähere Informationen (in Englisch)

Bewerbungsfrist ist der 7. Mai 2013.

Die Bewerbung von Frauen ist besonders erwünscht. Schwerbehinderte werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Fragen richten Sie bitte an Dr.-Ing. Michael Piotrowski (piotrowski@ieg-mainz.de, Tel. +49 6131 39-39043); bitte beachten Sie die zusätzlichen Informationen in der vollständigen englischsprachigen Ausschreibung).

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1610

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Das Opfergelände des Himmels und der konfuzianische Staatskult

Das Opfergelände des Himmels (Tiantan 天壇), in westlichen Darstellungen in der Regel vereinfachend und irreführend als “Altar des Himmels”/”Himmelsaltar” beziehungsweise “Himmelstempel” bezeichnet, war der Ort, an dem zwei der wichtigsten Rituale des Staatskultes des kaiserlichen China vollzogen wurden. Dieser Staatskult läßt sich auf vorkonfuzianische Traditionen zurückführen und wurde – durch die Integration vielfältiger Elemente – “Ausdruck jener konfuzianischen Staatsdoktrin, die den Staat zugleich ethisch und kosmologisch legitimierte.”[1].

Die Rituale am Opfergelände des Himmels zählten zu den “großen Opfern”, die in der Regel vom Kaiser persönlich vollzogen wurden. Neben “großen Opfern” (da si 大祀), gab es “mittlere Opfer” (zhong si 中祀) und “Sammelopfer” (qun si 羣祀 ) beziehungsweise “kleine Opfer” (xiao si 小祀).[2]

Plan du Tien-tang ou temple dedié à Chang-ti ou souverain seigneur du ciel / [tirée du P. Duhalde]

Plan du Tien-tang ou temple dedié à Chang-ti ou souverain seigneur du ciel / [tirée du P. Duhalde] | Quelle: gallica

Das Opfergelände des Himmels – durch eine Mauer in zwei gleich große Teile geteilt – wurde zur Zeit der Ming-Dynastie im 9. Jahr der Ära Jiajing 嘉靖 (i.e. 1530) angelegt. Die wohl ausführlichste Beschreibung aus “westlicher” Sicht lieferte der aus den Niederlanden stammende Sinologe J.J.M. de Groot (1854-1921), der im späten 19. Jahrhundert die Opfergelände in Beijing besuchte [3].

Drei Punkte auf dem Opfergelände sollen hier  erwähnt werden:

Runder Hügel auf dem Opfergelände des Himmels, Beijing - Foto: Georg Lehner

Runder Hügel auf dem Opfergelände des Himmels, Beijing – Foto: Georg Lehner

Auf dem im südlichen Bereich gelegenen Runden Hügel (Huanqiu 圜丘) opferte der Kaiser nicht nur zur Wintersonnenwende (dongzhi 冬至) sondern brachte auch im vierten Mondmonat das Gebet um Regen (yu si 雩祀) dar.

In der im nördlichen Bereich gelegenen “Halle des Erntegebets” (Qiniandian 祈年殿) bat er im ersten Mondmonat um eine gute Jahresernte.[4]

Huangqiongyu ("Erhabenes Gewölbe"), Opfergelände des Himmels, Beijing - Foto: Georg Lehner

Huangqiongyu (“Erhabenes Gewölbe”), Opfergelände des Himmels, Beijing – Foto: Georg Lehner

Zwischen den den Nord- und den Südteil dominierenden Punkten lag das Huangqiongyu 皇穹宇, in Übersetzungen meist “Erhabenes Gewölbe” oder “Kaiserliches Himmelsgewölbe” genannt. Darin wurde

“der allerheiligste Fetisch des ganzen Kultes aufbewahrt [...] der ‘Seelensitz’ (shenwei) des Himmelsgottes. Es handelte sich um eine hölzerne Tafel auf einem viereckigen Sockel, in welche die Schriftzeichen huangtian shangdi, ‘erhabener Himmel, oberster Kaiser’, eingeschnitzt waren. Sie stand im nördlichen Teil des Tempelraumes in einem mit Drachenschnitzerei geschmückten Schrein genau in der Nord-Süd-Achse des Tempels mit der Front nach Süden, links und rechts flankiert von den Seelentafeln der verstorbenen Kaiser des herrschenden Hauses.”[5]

 

Mit dem Ende des Kaiserreiches war auch der Staatskult obsolet geworden. Ein letzter Versuch zur neuerlichen Etablierung der Riten am Opfergelände des Himmels wurde schließlich knapp drei Jahre nach dem Ende des Kaiserreiches unternommen. unternommen. Yuan Shikai (1859-1916), Präsident der Republik China, plante, sich zum Kaiser einer neuen Dynastie zu machen und vollzog am 23. Dezember 1914 die zur Wintersonnenwende üblichen Riten am “Opfergelände des Himmels”[6]. Ab 1918 wurde das Gelände als Park öffentlich zugänglich gemacht und 1998 wurde es auf die Weltkulturerbeliste der UNESCO gesetzt[7].

 

  1. Brunhild Staiger, Stefan Friedrich, Hans-Wilm Schütte (Hg.): Das große China-Lexikon. Geschichte – Geographie – Gesellschaft – Politik – Wirtschaft – Bildung – Wissenschaft – Kultur (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003) Sp. 714 (“Staatskult”, Martin Kern)
  2. Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Goldener Drache – Weißer Adler. Kunst im Dienste der Macht am Kaiserhof von China und am sächsisch-polnischen Hof 1644-1795 (München: Hirmer, 2008) 570 (“Zeremonien”, Liang Ke).  Vgl. auch die detaillierte Auflistung der am Ende der Kaiserzeit üblichen Opfer bei H.S. Brunnert, V. V. Hagelstrom: Present Day Political Organization of China (Shanghai: Kelly & Walsh, 1911) 202-207 (no. 572)
  3. J. J. M. de Groot: Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas (Berlin: Reimer 1918) 141-155, zum Kult ebd., 155-186. Daran orientiert sich auch die Darstellung bei Frank Fiedeler: Yin und Yang. Das kosmische Grundmuster in den Kulturformen Chinas (Köln: DuMont, 1993) 68-75 (“Die Opferstätte des Himmels”)
  4. Vgl. Brunnert/Hagelstrom: Present Day Political Organization, 203
  5. Fiedeler: Yin und Yang, 70
  6. Dieter Kuhn: Die Republik China. Entwurf für eine politische Ereignisgeschichte. 3., überarb. u. erw. Aufl., Heidelberg: edition forum 2007), 143 und 148.
  7. Vgl. http://whc.unesco.org/en/list/881

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/399

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