Günther Heydemann: Das Jahrhundert der Diktaturen in Deutschland im Widerstreit von Bewältigung und Nicht-Bewältigung

Die heutige Erinnerungskultur der Bundesrepublik hat sich nach fast einem Vierteljahrhundert Wiedervereinigung „in einem komplizierten, zweigeteilten Prozess seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet, wobei die Entwicklungen in Bundesrepublik und
DDR in verschiedenen Phasen verliefen“ (Bernd Faulenbach).[1]
In diesem Komplex ist zwischen sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern und Akteuren zu unterscheiden, „nämlich erstens eine politisch-justizielle Aufarbeitung und eine daraus abgeleitete Ebene der Norm- und Gesetzgebung bzw. des politisch-administrativen Umgangs mit den Folgen der NS-Herrschaft, zweitens eine politisch-moralische, künstlerische und kulturelle Auseinandersetzung sowie drittens die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ (Hans-Ulrich Thamer).[2] Alle drei Ebenen hängen jeweils miteinander zusammen und bedingen einander.

1. Was die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Diktatur angeht, so begann die erste Phase unmittelbar nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen bekanntlich mit dem Versuch einer umfassenden Entnazifizierung der Bevölkerung[3], sowie mit Prozessen gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg einschließlich der dortigen Nachfolgeprozesse gegen schwer belastete Nazis oder Helfershelfer und Sympathisanten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie traf allerdings auf eine Bevölkerung, die sich in den denkbar schlimmsten sozioökonomischen Umständen befand und mehrheitlich ums nackte Überleben kämpfte. Die im Grunde einzig richtige justizielle Vorgehensweise der Einzelfallüberprüfung, vorbildhaft von den Amerikanern begonnen, scheiterte allerdings bald an der schieren Masse der zu bearbeitenden Fälle. Sie schlug aber auch deshalb mittelfristig fehl, weil sich NS-Belastete gegenseitig deckten, dadurch oft nur den Status von Mitläufern erhielten und auf diese Weise einer härteren Bestrafung entgingen, Stichwort „Mitläufer-Fabrik“ (Lutz Niethammer). Einmal durch die Mühen und Mühlen der Entnazifizierung gegangen, wurden die Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse bald als die allein Verantwortlichen für die Verbrechen der Nationalsozialisten stigmatisiert, wohingegen „die vielfachen Verstrickungen und das Mitläufertum“[4] der breiten Mehrheit von Deutschen verdrängt oder vergessen wurden.

2. Mit dem Auslaufen der Entnazifizierung und der Nürnberger Prozesse Anfang der 1950er Jahre setzte eine zweite Phase ein. Sie vollzog sich parallel zur Entstehung der bundesdeutschen Demokratie vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Ablehnung und Verurteilung der NS-Diktatur durch die Gründer der zweiten deutschen Demokratie, die einerseits von echter Überzeugung getragen war, andererseits aber auch eine unabdingbare conditio sine qua non für die Westintegration der sicherheitspolitisch gefährdeten jungen Bundesrepublik darstellte. Doch schon an der Wiedergutmachung der jüdischen Opfer, verbunden mit einer Globalentschädigung für Israel und der Jewish Claims Conference durch das Luxemburger Abkommen vom September 1952 erwies sich, dass die unerlässliche Notwendigkeit dieser finanziellen Entschädigungen in der westdeutschen Gesellschaft hoch umstritten war und mehrheitlich abgelehnt wurde.
Denn nicht selten kehrten sich die damit verbundenen Einstellungen bei einer Mehrheit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sogar ins Gegenteil um, als in der Debatte um den Lastenausgleich von Flüchtlingen und Vertriebenen, Luftkriegsgeschädigten und Invaliden die deutschen Opfer in den Vordergrund geschoben wurden. In beträchtlichen Teilen der Bevölkerung wurde auf diese Weise mental eine Opferhierarchie konstruiert, in der nicht die Vernichtung der jüdischen Opfer, der Sinti und Roma und vieler anderer mehr, sondern das eigene Opfer an die Spitze gesetzt wurde. Obwohl die klare Absage an den Nationalsozialismus gleichsam Staatsdoktrin der zweiten deutschen Demokratie geworden war, lief zum vorherrschenden Verschweigen und Verdrängen des Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik ein gesamtgesellschaftlicher Integrationsprozess parallel, durch den Millionen an die junge Demokratie gebunden wurden. Hierzu trug u. a. Art. 131 GG bei, der auch früheren NS-Belasteten den Weg in staatliche und kommunale Stellen öffnete. Dass das nicht selten höchst problematisch war, zeigen die Fälle Globke und Oberländer.
Zum mehrheitlichen gesellschaftlichen Verschweigen gehörte auch die meist in Ansätzen stecken bleibende justizielle Aufdeckung und Verurteilung von NS-Verbrechern bzw. Verbrechen, die während des Krieges verübt worden waren.

3. Eine dritte Phase setzte Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre ein und führte erstmals zu einer breiteren, allerdings noch nicht umfassenden Sensibilisierung der bundesdeutschen Gesellschaft hinsichtlich der ja weiterhin virulenten NS-Problematik, hervorgerufen durch den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und die daraufhin im gleichen Jahr gegründete Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, besonders aber durch den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem sowie den Frankfurter Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963-65. Erstmals wurden die Menschheitsverbrechen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bis ins Detail hinein dokumentiert und publiziert. Und zugleich wurden die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), das bürokratische Procedere und die logistisch-technische Seite millionenfachen Mordes im Rahmen von Befehl und Gehorsam unmißverständlich transparent. Auch wenn das Beschweigen der nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen in Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft weiter virulent blieb, vertuschen oder verharmlosen ließ sich die Monströsität des Holocaust fortan nicht mehr.
Vor dem Hintergrund eines sich vor allem bei Intellektuellen und Studenten markant wandelnden politischen Bewusstseins, Lebens- und Werteverständnisses setzte Ende der 1960er Jahre eine Debatte ein, in welcher die Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen und die jeweilige kollektive und individuelle Verflochtenheit der deutschen Gesellschaft in den Jahren 1933 bis 1945 mit diesen zunehmend auch in Teile der westdeutschen Gesellschaft eindrang, die sich bislang sprachlos und/oder apolitisch verhalten hatte. Diese Diskussion begann allmählich das in Millionen von deutschen Familien noch immer praktizierte Verschweigen der braunen Vergangenheit aufzulösen.

4. Eine vierte Phase, die man inzwischen als Weg von der „Tribunalisierung zur Historisierung“ des Nationalsozialismus bezeichnet, führte schließlich zum Durchbruch einer nun in nahezu allen Gesellschaftsschichten angekommenen Thematisierung der NS-Diktatur. Hierzu hat der Fernsehfilm „Holocaust“ in ganz entscheidendem Maße beigetragen, der im Jahre 1979 gezeigt wurde und für alle Zuschauer das Leben, Leiden und Sterben von Menschen in Auschwitz erlebbar und dadurch zugleich nachvollziehbar machte. Die Empathie mit den Opfern bereitete den Boden für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung und führte damit zu einer Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die seither kaum mehr nachgelassen hat, auch deshalb nicht, weil wissenschaftliche Kontroversen um den Nationalsozialismus ebenso wie gesamtgesellschaftliche Debatten darüber diese Vergegenwärtigung immer wieder neu entfachten. So u. a. der Fall Filbinger im Jahre 1978 oder die richtungweisende Rede Bundespräsident Richard von Weizsäckers im Jahre 1985 – die NS-Diktatur und ihre Verbrechen blieben fortan ein Dauerthema der öffentlichen Debatte. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur der „Historikerstreit“ in den Jahren 1986/87, die hoch emotional geführten Auseinandersetzungen um die „Wehrmachtsausstellungen“ zwischen 1995 und 1999 sowie Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, 1996 in deutscher Fassung erschienen.

5. Eine fünfte Phase, die sicherlich die komplizierteste ist und bis heute andauert, setzte mit der Wiedervereinigung ein, als sich durch den Zusammenbruch der SED-Diktatur die Frage nach dem Wesen kommunistischer und faschistischer Diktaturen neu stellte. Von großem Gewicht war dabei in diesem Zusammenhang, dass mit dem Ende der DDR auch ein häufig gegensätzliches oder stark abweichendes Verständnis der NS-Diktatur bei der ostdeutschen Bevölkerung zum Vorschein kam, das in geschichtspolitischer Hinsicht Berücksichtigung finden musste.
So konnte die Aufarbeitung der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur im nunmehr vereinten Deutschland nicht an der besonderen politisch-ideologischen Behandlung der NS-Diktatur durch die KPD/SED vorüber gehen, zumal die DDR sowohl ihren Legitimationsanspruch daraus abgeleitet, als auch mit einer ganz spezifischen Interpretation des Nationalsozialismus versucht hatte, die eigene Bevölkerung über vier Jahrzehnte lang zu indoktrinieren – durchaus mit einigen mentalen Langzeitwirkungen vor allem bei der älteren Generation. Mit dem Ideologem „Antifaschismus“ sollte innen- wie außenpolitisch die unangreifbare Existenzberechtigung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden legitimiert und abgesichert werden. Da der Begriff Nationalsozialismus schon aus Gründen der Kombination der in ihm enthaltenen Substantive für die SED inakzeptabel war, wurde stattdessen durchweg der Begriff Faschismus verwendet, wodurch wiederum der Begriff universalisiert wurde. Die bekannte Dimitroff-Formel vom „Faschismus als offener terroristischer Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Faschismus des Finanzkapitals“[5] führte darüber hinaus zu einer vornehmlich ökonomistischen Interpretation und trug dadurch zu einer weitreichenden Verkennung der wesentlichen Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus, einschließlich seiner barbarischen Folgen, bei. Die beabsichtigte Folge war, dass „der Faschismus weniger mit der deutschen Geschichte als mit der politischen Geschichte des Kapitalismus zu tun hatte“, wie Herfried Münkler einmal treffend festgestellt hat.[6] Indem die Kommunisten gleichzeitig für sich in Anspruch nahmen, die einzigen gewesen zu sein, die Widerstand gegen die NS-Diktatur geleistet hätten, legitimierten sie sich gleichsam selbst und leiteten daraus auch die Führungsrolle in Staat und Partei ab. Damit nicht genug, wurde angesichts des Weiterbestehens einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik insinuiert, dort lebe gleichsam der Faschismus in Gestalt unverbesserlicher, kriegslüsterner Imperialisten und Militaristen weiter. Auf diese Weise wohnte dem Antifaschismus-Ideologem als Gründungsmythos und Staatsdoktrin der DDR sowohl eine exkulpierende und dadurch zugleich integrierende Funktion (gegenüber der eigenen Bevölkerung) als auch eine exkludierende und depravierende Funktion (gegenüber der Bundesrepublik) inne.

6. Trotz dieser massiven Indoktrination ist das spezifische Erinnerungsverständnis ehemaliger Einwohner der DDR an den SED-Staat allerdings keineswegs homogen, wie die Forschung inzwischen nachgewiesen hat. So ist bei einer Minderheit ein sog. „Diktaturgedächtnis“ anzutreffen, das einerseits auf den diktatorialen Herrschaftscharakter des SED-Regimes und seiner Repressionsorgane und –praktiken fokussiert ist, andererseits auf dessen demokratische Überwindung durch die Friedliche Revolution von 1989/90.[7]
Eine zweite, unter früheren DDR-Bürgern mehrheitlich verbreitete Erinnerung stellt demgegenüber das als „Arrangementgedächtnis“ apostrophierte Erinnern an den früheren SED-Staat dar.[8] Hier steht das persönliche Leben und Erleben im Gehäuse des sozialistischen Obrigkeitsstaates, jene Mischung aus erzwungenem, kollektiven Mitmachen und individueller Selbstbehauptung in der Bandbreite zwischen Lippenbekenntnis und opportunistischem Verhalten bis hin zu geforderter oder sogar überzeugter Unterstützung im Vordergrund. Diese Erinnerung stellt auf der einen Seite das ganz persönliche Erleben, nicht selten den damit verbundenen Eskapismus in den Vordergrund, auf der anderen Seite werden die damaligen politisch-ideologischen Zumutungen und der subkutan existente und effiziente Zwangscharakter des Regimes relativiert oder manchmal sogar ausgeblendet.
Schließlich das sog. „Fortschrittsgedächtnis“, besser als „Festhalten an der sozialistischen Utopie“ bezeichnet. Es weist, meist von älteren DDR-Bürgern vertreten, die noch zur Aufbaugeneration gehören, dem SED-Staat nach wie vor einen eher positiven Charakter zu, getragen von der bis heute verinnerlichten Überzeugung, dass Sozialismus grundsätzlich noch immer die beste Staats- und Gesellschaftsform darstelle, auch und obwohl der Sozialismus im Gewande der DDR gescheitert ist.[9]

7. Auf diesem geschichtspolitisch und erinnerungskulturell heterogenen Trümmerfeld mit unterschiedlichen Reminiszenzen an die NS-Diktatur und an den jeweiligen deutschen Staat, in dem man gelebt hat, bewegt sich die heutige politische, öffentliche und wissenschaftliche Diskussion. Sie spitzte sich besonders in der Problematik doppelter Gedenkstätten zu, die gerade in den neuen Bundesländern existent sind, etwa in der räumlichen Koinzidenz von nationalsozialistischen Konzentrationslagern und sowjetischen Speziallagern (Buchenwald/Sachsenhausen) während der Jahre 1945 bis 1952.

Insgesamt hat sich erwiesen, dass die Hinterlassenschaft zweier totalitärer Diktaturen in Deutschland zu einer jahrzehntelangen, oft skrupulösen und notwendigerweise auch selbstquälerischen Debatte geführt hat. Sie blieb, auch und gerade nach der Wiedervereinigung „geschichtspolitisch umkämpft, erinnerungskulturell fragmentiert und erfahrungsgeschichtlich geteilt“, wie dies Edgar Wolfrum einmal prägnant zusammengefasst hat.[10]

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Prof. Dr. Günther Heydemann ist seit 2009 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden. Außerdem ist er seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten des Diktaturenvergleichs (NS-, SED-Regime), der vergleichenden europäischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert sowie auf Transformationsprozessen in den neuen Bundesländern.

 

[1] Ders., Diktaturerfahrungen und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland, in: Annette Kaminsky (Hg.),Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Bonn 2004, S. 18-30; 20.

[2] Vgl. Ders., Die westdeutsche Erinnerung an die NS-Diktatur in der Nachkriegszeit, in: Peter März/Hans-Joachim Veen (Hg.), Woran erinnern ? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, (=Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, Bd. 8), Köln u. a. 2006, S. 51-70; 56. Dort auch die weitere, diesbezügliche Forschungsliteratur.

[3] Das Standartwerk hierzu stammt nach wie vor von Clemens Vollnhals (Hg.), Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991. Hierzu jüngst auch Horst Möller, Unser letzter Stolz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.6.2012, S. 8.

[4] Vollnhals, ebd., S. 59.

[5] Vgl. Günther Heydemann, Die antifaschistische Erinnerung in der DDR, in: ebd., S. 71-89; 75.

[6] Ders., Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen: Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Br. 2002, S. 79-99; 84.

[7] Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: Ders., (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 18.

[8] Ebd., S. 19.

[9] Ebd.

[10] Ders., Das Erbe zweier Diktaturen und die politische Kultur des gegenwärtigen Deutschland im europäischen Kontext, in: Steffen Sigmund u. a. (Hg.), Soziale Konstellationen und historische Perspektive. FS für Rainer M. Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 310.

Quelle: http://gid.hypotheses.org/130

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MedienKompetenzPreis Hessen 2012

Noch bis 31. Dezember 2012 können sich Schulklassen, Gruppen aus Freizeit- und Kindereinrichtungen, Vereine, Jugendclubs und andere Jugendinitiativen aus Hessen bei der Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien (LPR Hessen) für den MediaSurfer 2012 bewerben. Gesucht sind medienpädagogische Projekte mit Nutzung elektronischer Medien (z.B. Radio, Audio, Fernsehen, Video, Computer, Internet, Handy) aus dem laufenden Jahr. Es gibt zudem Sonderpreise zu den Themen “Kultur medial gestalten” und “Begegnungen”. Die Ausschreibung und weitere Information findet sich auf der Webseite der LPR Hessen

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/880

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Sonderzahl und die analoge Ignoranz

Ein schockierendes Beispiel analoger Ignoranz kam mir gestern beim Besuch der Buch Wien unter: Der ansonsten durchaus empfehlenswerte Verlag Sonderzahl lanciert eine Initiative Stop e-books und brüstet sich damit, seine Bücher nur auf Papier anzubieten. Stellt sich die Frage, warum dieser Verlag überhaupt eine Web-Präsenz hat? Nun, dümmer geht's nimmer.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/219026839/

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Digital verschollen – 4 Gründe

Kollega Haber mokiert sich nicht ganz zu Unrecht über meine nun längere Zeit andauernde Weblog-Abstinenz.1 Woran liegt’s? Vier persönliche, aber irgendwie auch allgemeine Gründe: 1) Keine Zeit Der Klassiker aller Nichts-Tun-Gründe: unverfänglich, aber auch wenig überzeugend. Denn keine Zeit hat jeder – Das kann ja wohl kein Grund sein. Oder anders: Wenn’s einem wichtig ist, […]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6540

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Destroy when done: Ein Fallbeispiel aus der wissenschaftlichen Praxis über die Auswirkungen von Open Access auf misstrauische Menschen

  Neue digitale Technologien und vor allem das Internet ermöglichen die freie Zirkulation und Verfügbarkeit von Wissen und Daten. Das herkömmliche Urheberrecht hält mit dieser Entwicklung nicht Schritt und der Ruf nach Open Access für wissenschaftliche Werke und andere Wissensbestände wird lauter. Die Zukunft verheißt eine globale Wissenschaft, in der Wissen nicht mehr monopolisiert werden kann, sondern allen Menschen an jedem Ort der Erde zugänglich ist. (Für eine postkoloniale Perspektive dazu siehe Artikel über library.nu.) Diese Entwicklung stößt jedoch nicht bei allen Produzenten von wissenschaftlichen Arbeiten auf Zustimmung, sondern führt bei manchen zu Verfolgungswahn und völliger Abschottung von Wissen, wie ich bei der Jagd nach einer abgeschlossen jedoch unveröffentlichten Dissertation feststellen musste. Meine Jagd begann mit dem Hinweis eines Mitarbeiters eines Oral History Archivs, dass in Kalifornien ein Historiker eine Dissertation verfasst hat, die sich mit dem Untersuchungsgegenstand meiner eigenen Dissertation beschäftigt. Aus Interesse an meiner Untersuchung und selbstverständlich auch, um eine Doppeldissertation zu vermeiden, musste ich diese Arbeit sehen. Da die Dissertation an einer amerikanischen Universität eingereicht wurde, führte mich mein erster Weg zu ProQuest, einem Internetportal, das fast alle amerikanischen Master-Abschlussarbeiten und Dissertationen auflistet und entweder zum Download oder Kauf anbietet. Die gesuchte Arbeit war auch dabei, jedoch war es weder möglich sie herunterzuladen noch zu kaufen, was mich verwunderte, da nur wenige Werke in dieser Weise eingeschränkt sind. Mein zweiter Versuch führte mich direkt zu der Homepage der University of Michigan, die ProQuest beheimatet und Dissertationen in gedruckter Form ausschließlich zum Kauf anbietet. Aber auch hier hatte ich keinen Erfolg. Mein dritter Anlauf war die Homepage der Universität, an der die Dissertation eingereicht worden war. Die Arbeit hier zu finden war kein Problem. In der Detailanzeige stand, dass die Arbeit 2009 eingereicht und 2011 veröffentlicht worden war. Ich atmete auf: Anfang 2012 sollte es also kein Problem sein, sie zu lesen. Der Link führte mich zu einer weiteren Seite, die aus einem einzigen Satz bestand: „The digital asset is restricted until July 2014. Please contact archives if you have any questions.“ Als vierten Versuch were ich somit meine E-Mail an das Archiv der Universität, die ich umgehend verfasste und auf die ich keine Antwort erhielt. Die weitere Suche brachte mich auf eine Seite, die nur durch das Login von Mitgliedern der Uni zugänglich ist. Durch Zufall machte ich die Bekanntschaft mit einem Studenten der Uni. Er loggte sich ein und hatte – richtig geraten – keinen Erfolg. Dies war der fünfte Streich. Als Nächstes versuchte ich, den Autor direkt zu kontaktieren. Auf meine E-Mails erhielt ich jedoch keine Reaktion. Alle Off-Site-Möglichkeiten hatte ich ausgeschöpft, also führte kein Weg daran vorbei, es selbst vor Ort zu versuchen – es gibt Schlimmeres, als nach Los Angeles fahren zu müssen. Vor Ort wurde ich zunächst von einer Bibliothek zur nächsten geschickt. Letztendlich wurde mir die Telefonnummer des Archivs gegeben (bis jetzt hatte ich nur dessen Email-Adresse). Von dort wurde ich an die Abteilung Special Collections weitergeleitet. Hier schickte man mich zu einem weiteren Reference Desk. (Nach meiner Berechnung die Versuche sieben bis elf). Hier machte ich die Bekanntschaft von zwei Bibliothekarinnen, Kate und Mary, die, nachdem ich Ihnen mein Problem geschildert hatte, der Ehrgeiz ergriff, die Arbeit aufzuspüren. Sie riefen zunächst noch einmal im Archiv und bei den Spezial Collections an, wo ich schon vergeblich vorgesprochen hatte. Aber auch sie hatten keinen Erfolg. Respektsbezeugungen wurden dem Verfasser der gesuchten Dissertation von den Bibliothekarinnen entgegengebracht, denn er musste einigen Aufwand betrieben haben, um die Arbeit so gänzlich unzugänglich zu machen, selbst für Universitätsmitglieder und Angestellte der Bibliothek. Die Unmöglichkeit eine Arbeit zu finden, die als Dissertation an derselben Stelle eingereicht worden war, sorgte jedoch für Unmut bei den Bibliothekarinnen und sie waren gewillt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um mir zu helfen. Sie empfanden es als Unverschämtheit und Heuchelei, eine wissenschaftliche Arbeit, für die jemandem ein Ph.D. verliehen worden war, der wissenschaftlichen Gemeinschaft vorzuenthalten. Schließlich handelte es sich um eine historische Arbeit und nicht um geheime CIA-Dokumente, merkte Kate an. Da bin ich mir allerdings nicht mehr sicher, wie das Ende der Geschichte zeigt. Dass dieses Versteckspiel überhaupt möglich war, erklärten sie mir, lag daran, dass die Universitätsbibliothek seit 2009 keine ausgedruckten Exemplare ihrer Dissertationen mehr aufbewahrt, sondern lediglich digitale Versionen. Eine Praxis, die zunehmend von amerikanischen Universitäten angewandt wird. Ein ausgedrucktes Exemplar hätte ich somit jederzeit vor Ort einsehen können. Die digitale Version ließ sich verstecken, selbst an der Universität. Wir hatten eine längere Diskussion über Open Access und den Wert von Wissenschaft. Im nächsten Anlauf wurde direkt das digitale Archiv kontaktiert, das für die Digitalisierung der Abschlussarbeiten zuständig ist. James, der Archivar, konnte dann nähere Einblicke in diesen Fall bieten. Generell wird Doktorand(inn)en die Möglichkeit gegeben, den Zugang zu ihrer Arbeit für zwei Jahre zu unterbinden. Dies erlaubt den Autor(inn)en, einen großen Verlag zu finden, der die Arbeit veröffentlicht, ohne dass die Ergebnisse bereits zugänglich sind. Unter bestimmten Voraussetzungen kann eine Verlängerung dieser Frist um weitere drei Jahre erreicht werden. Hierzu muss jedoch ein begründeter Antrag gestellt und vor einem Komitee verteidigt werden. In meinem Fall hat der Autor anscheinend argumentiert, dass nicht nur seine wissenschaftlichen Erkenntnisse geschützt werden müssten, sondern dass seine Arbeit auch als kreatives Werk besonderen Schutz verdient. Diese Argumentation ist reichlich absurd, da wissenschaftliche Arbeiten stets eine kreative Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand darstellen. Der Archivar des digitalen Archivs betonte, dass der Autor mit großem Getue (big stink) die Veröffentlichung 2011 verhindert hat. Er erklärte sich jedoch bereit, mir die Arbeit zur Verfügung zu stellen. Unter zwei Voraussetzungen: „Do not distribute. Destroy when done.“ Also doch CIA – ich fühlte mich an den Film Burn After Reading erinnert. Die Vorgabe wurde mir noch als persönliche Absicherung der Bibliothekarin („I do not want to get fired for this!“) als E-Mail zugeschickt. Letztendlich habe ich die Arbeit nach einigen Anstrengungen also doch noch bekommen. Durch viel Beharrlichkeit, etwas Glück und vor allem dadurch, dass ich mich mit den Mitarbeiter(inne)n der Universität gut gestellt habe. Die ganze Angelegenheit erinnert mich an die Geschichten, die mir Kolleg(inn)en über Archive in Osteuropa erzählen, wo man erst die Archivare „befrienden“ muss, (wie soll das gehen, wenn sie nicht bei facebook sind?), bevor man die Möglichkeit erhält, an die gesuchten Archivalien zu kommen. Die Digitalisierung führt offensichtlich bei einigen Wissenschaftler(inne)n zu Verfolgungswahn ungeahnten Ausmaßes, was sie dazu veranlasst, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihre Arbeit vor jeglichem Zugriff zu schützen. Gewissermaßen ist dies die Gegenbewegung zu Open Access. Die Erkenntnis ist, dass es unter bestimmten Umständen einfacher ist, ein digitales Dokument völlig von der Außenwelt abzuschotten, als ein gedrucktes Werk in einer Bibliothek oder einem Archiv. Es zeigt zudem, dass es nicht um die Existenz von Wissen geht, sondern um dessen Auffindbarkeit und Verfügbarkeit. Was sich nicht auffinden lässt, existiert nicht. Und ein Buch lässt sich mitunter leichter lokalisieren als eine Datei. Dies bedeutet keinesfalls, dass nicht auch gedruckte Dokumente verschwinden können. Dieser Effekt ist gerade für die Geschichtswissenschaft bedeutsam, die ihre Quellen deswegen auch Überreste nennt, was das notwendige Verschwinden von Dokumenten und Artefakten – und somit von Wissen – impliziert, um die Voraussetzungen zu schaffen, die Vergangenheit überhaupt in einer komplexitätsreduzierten und sprachlichen Form zu konstruieren. Für Arbeiten aus dem Jahr 2009 kommt dieser Schritt jedoch etwas zu früh. Mein Hauptkritikpunkt ist allerdings nicht, dass jemand besorgt ist, um seine oder ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse gebracht zu werden und deswegen dass Internet meidet; sondern vielmehr, dass Doktorarbeiten gar nicht mehr in gedruckter Form verfügbar sind. Die Arbeit, die ich suchte, wurde 2009 abgeschlossen. Wäre sie wenige Monate zuvor – im Jahr 2008 – eingereicht worden, wäre ich heute ebenso wenig in der Lage gewesen, sie online zu beziehen. Ich hätte sie jedoch als gedrucktes Exemplar in der Universitätsbibliothek lesen können.   Um die hilfsbereiten Menschen auf meiner Suche nicht in Schwierigkeiten zu bringen, habe ich eindeutig zuordenbare Namen und Ortsangaben vermieden.      

Quelle: http://fyg.hypotheses.org/29

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Die Organisation von persönlicher Information mittels Tagging

Taggen bedeutet, dass Anwender eine Datei mit Schlagworten versehen. Diese Schlagworte können als Suchbegriffe bei der Suche nach der Datei wiederverwendet werden.

Ein großer Unterschied bei der Organisation von persönlichen Dateien zwischen einer hierarchischen Kategorisierung und Tagging liegt in der Exklusivität bei der Kategorisierung und der Multiplizität beim Taggen (Civan et al., 2009). Jedes einzelne Tag bedeutet nämlich einen eigenen Zugang zur Datei, wodurch Anwender von der Multiplizität profitieren können, da ihnen mehrere Suchwege zur Verfügung stehen und dadurch die Wahrscheinlichkeit höher ist, die Datei wiederzufinden.

Das Hauptproblem beim Taggen ist die Inkonsistenz. Je umfangreicher eine Menge an Dateien in einem Tagging-System ist und je mehr Tags vergeben werden, desto inkonsistenter ist die Tagauswahl bei den Nutzern. Inkonsistenzen entstehen z.B. durch Schreibfehler, verschiedene Groß-/Kleinschreibung oder unterschiedlich verwendeter Numerus.

Wash und Rader (2008) ermittelten, dass Nutzer besonders zwei Heuristiken für die Auswahl von Tags anwendeten:

  • Die Wiederverwendung bereits verwendeter Tags sowie
  • das Befolgen von mentalen Regeln oder Definitionen. Diese bestehen in Form eines selbst definierten kontrollierten Vokabulars oder einer Reduzierung des Aufwands, indem die Anwender eine Auswahl aus vorgeschlagenen Tags trafen.

Bei der Wiederverwendung ist interessant, dass die zuletzt getroffenen Auswahl von Tags eines Nutzers einen großen Einfluss auf zukünftige Tagauswahlen hat, während die Tatsache, dass ein Tag auf einer Website vorher verwendet wurde wenig Einfluss hat. Zwar wurde dies bei der Auswahl von Tags in Bezug auf Bookmarks auf delicious.com festgestellt, ich kann mir aber vorstellen, dass sich dieser Effekt auch beim Taggen von Bildern messen lässt.

Weiterhin stellten Golder und Habermann (2006) fest, dass Benutzer Ausdrücke verwendeten, die mit ihnen selbst in Verbindung stehen (subjektive Tags, Selbstreferenz, Aufgabenorganisation) sowie kategoriale Ausdrücken. Das legt nahe, dass Tagger Informationseinheiten ausführlicher verarbeiten, während sie mehrere Verbindungen zwischen den Informationen und ihnen selbst herstellten.  Auch erinnerten sich Nutzer an mehr Einzelheiten unter Tagging-Bedingungen als unter Nicht-Tagging Bedingungen (Budiu, Pirolli und Hong, 2009).

Bei der Suche nach Dateien stellt die Exklusivität eines Kategorisierungs-Schemas sicher, dass sich eine Information an einem bestimmten Platz befindet. Das unterstützt eine systematische und erschöpfende Suche (Civan et al., 2009) und bedeutet folgendes: In einem hierarchischen System bedeutet Finden auch wirklich Finden und damit ist der Prozess der Suche beendet. In einem Nicht-hierarchischen System schließt sich dem Finden ein Verifikationsprozess an, der zusätzlichen kognitiven Aufwand bedeutet, weil der Nutzer sich bei der Suche in einem Nicht-hierarchischen System über die Identität der gefundenen Datei nicht sicher sein kann.

Civan et al. (2008) zogen den Schluss, dass beide Modelle – sowohl das der hierarchischen Organisation als auch das der nichthierarchischen durch Tags – jeweils ihre eigenen Vor- und Nachteile haben. Einem einzigen Modell können sie nicht den Vorzug geben, meinen aber, dass eine Kombination hilfreich sein könnte, weil ein Taggingsystem in Verbindung mit einer hierarchischen Organisationsstruktur Teil-Ganzes-Beziehungen oder Beziehungen vom Typ Spezialisierung – Generalisierung auszudrücken vermag. Abschließend bemerken sie: “The ultimate model of information organization may be neither “place this” nor “label this”, but instead, “this is how I see things””.

Ob sich wohl der letzte Teil der Aussage “…how I see things.” aus den Tags von Bilddatenbanken sichtbar machen lässt?

Literatur:

Qin Gao: An Empirical Study of Tagging for Personal Information Organization: Performance, Workload, Memory, and Consistency. In: International  Journal of Human-Computer Interaction, 27/7-9, 2011, S. 821-863

Aus der o.g. Studie habe ich insbesondere verwendet:

Andrea Civan, William Jones, Predrag Klasnja, Harry Bruce: Better to Organize Personal Information by Folders Or by Tags?: The Devil is in the Details. In: Proceedings of the American Society for Information Science and Technology, 45(1), 2008, S. 1-13
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/meet.2008.1450450214/abstract

Emilee Rader and Rick Wash: Influences on Tag Choices in del.icio.us. In: Proceedings of the 2008 ACM Conference on Computer Supported Cooperative Work, S. 239-248
http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1460601
http://www.rickwash.com/papers/conference/influences-delicious-cscw.html

Quelle: http://games.hypotheses.org/765

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