Wissenschaftlicher Nachwuchs in den Digital Humanities: Ein Manifest

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Die Sozial- und Geisteswissenschaften sind ein zentraler Bestandteil unserer Kultur. Sie bieten einen analytischen Einblick in die Welt, in der wir leben. Die Digital Humanities reflektieren den Übergang der Geisteswissenschaften ins digitale Zeitalter. Sie schaffen nicht nur neue technische Werkzeuge, sondern eröffnen auch neue Wege, Wissen zu generieren und zu verbreiten, und dies sowohl innerhalb der einzelnen akademischen Disziplinen als auch über diese Grenzen hinaus.

Die Digital Humanities verbinden Praxisnähe, Reflexivität und kollaboratives Erarbeiten von Standards. Sie bieten eine hervorragende Grundlage, die Geisteswissenschaften mithilfe neuer Materialien, Methoden und hermeneutischen Ansätzen zu überdenken und zu erweitern. Freier Zugang auf unser kulturelles Erbe und kollaborative Projekte, die auch nicht-akademische Zielgruppen erreichen, erlauben eine Neudefinition unseres Verhältnisses zur Gesellschaft. Wir sehen die Digital Humanities daher als Scharnierstelle für die Zukunft der Geisteswissenschaften.

Vor drei Jahren nahmen über 100 Mitglieder der wachsenden DH-Community am THATCamp Paris 2010 teil. Um ihre Anerkennung gegenüber diesem neuen Wissenschaftsbereich Ausdruck zu verleihen, verfassten sie gemeinsam das erste europäische Manifest der Digital Humanities. Der anschließende Zuwachs an beteiligten Personen und Vorhaben trug dazu bei, diesem Arbeitsfeld eine größere Sichtbarkeit zu verleihen.

Dennoch  hat sich die institutionellen und traditionellen Strukturen unterworfene akademische Welt mit ihren Institutionen, Akteuren und Praktiken nicht in der gleichen Geschwindigkeit entwickelt. Auf der einen Seite entstehen neue Forschungsmethoden: vernetzt, kollektiv, horizontal, multimodal, pluridisziplinär und mehrsprachig. Akteure der Digital Humanities sind mit neuen Aufgaben und Arbeitsstellungen konfrontiert: Sie erstellen Datenbanken, entwickeln Softwares, analysieren umfangreiche Datensätze, definieren Begrifflichkeiten und Modelle, arbeiten über Wikis und Pads zusammen, kommunizieren via Websites, Blogs und anderen sozialen Medien. Auf der anderen Seite leisten Forschungseinrichtungen einen gewissen Widerstand gegen diese Veränderungen oder behindern sie sogar: Fortbildungen, Förderstrukturen, Bewertungskriterien, Auswahlprozesse und Karrierewege haben sich nur geringfügig verändert und scheinen nicht in der Lage zu sein, aus dem entstehenden digitalen Ökosystem Nutzen zu ziehen.

Die wachsende Lücke zwischen der florierenden digitalen Praxis und ihrer institutionellen Anerkennung gefährdet die akademische Gemeinschaft als Ganzes. Insbesondere aber leidet der wissenschaftliche Nachwuchs darunter, denn die gegenwärtige Situation bringt ein hohes Maß an Unsicherheit in die Planung der eigenen wissenschaftlichen Zukunft.

Am 10. und 11. Juni 2013 trafen sich Forscher/innen und andere Mitglieder der akademischen Gemeinschaft am Deutschen Historischen Institut in Paris, um an der internationalen Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?“ teilzunehmen. Der Konferenz war ein offener Aufruf zur Blogparade vorausgegangen, in dessen Rahmen online Beiträge publiziert wurden, um die Konferenz gemeinsam und öffentlich vorzubereiten.

Das vorliegende Manifest ist das Ergebnis dieses Arbeitsprozesses. Es betont die wichtigsten Aspekte der Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und benennt die dringendsten institutionellen Erfordernisse.

I. Allgemeines

Der wissenschaftliche Nachwuchs leidet in allen Disziplinen unter einer hohen Arbeitsplatzunsicherheit, den Folgen von befristeten Verträgen und dem Risiko, nie eine feste Stelle zu bekommen. Digital Humanists spüren diesen Druck aufgrund relativ kurzer Finanzierungszeiträume, einer geringen Zahl geeigneter Stellen und dem Fehlen deutlicher Karriereaussichten noch stärker. Aus den genannten Gründen fordern wir:

  • Langfristige Karriereaussichten für junge Forscherinnen und Forscher, Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sich in den Digital Humanities engagieren.

  • Ermutigung, Beratung und Unterstützung durch etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Diesen Aspekt betont ebenfalls das 2011 von der Europäischen Wissenschaftsstiftung einberufene Forum der Nachwuchswissenschaftler in seinen Empfehlungen (Changing Publication Cultures in the Humanities).

  • Faire Grundsätze und klar definierte Richtlinien, um die wissenschaftliche Relevanz von gemeinsam erstellten Arbeiten zu beurteilen und allen Teilnehmern angemessene Anerkennung einzuräumen.

  • Breite Akzeptanz und Anerkennung für die Vielfalt digitaler Medien und Veröffentlichungsformen als Mittel wissenschaftlicher Kommunikation.


Wesentliche Arbeiten von Digital Humanists
bleiben zu Unrecht unter dem Radar interner und externer Evaluationen. Daher fordern wir:

  • Open Access- und Open Data-Veröffentlichungen müssen ermutigt und unterstützt werden – indem die Nutzung erleichtert, adäquate Finanzierung bereit gestellt und die akademische Anerkennung erhöht wird.

  • Das Recht auf Zweitveröffentlichung muss im europäischen und nationalen Recht festgeschrieben werden, um gesetzliche Sicherheit für den Grünen Weg im Open Acess zu gewährleisten.

Die Forschung und Lehre mit digitalen Mitteln erfordert spezifische Fähigkeiten und Infrastrukturen. Um Bedingungen zu schaffen, in denen diese sich entfalten können, brauchen wir:

  • geeignete und nachhaltige akademische Infrastrukturen wie Repositorien, Publikationsplattformen, Kataloge, soziale Netzwerke und Blogportale.

  • ein öffentliches Datenbankprojekt, das nationale und europäische Informationen zu in den DH beantragten Projekten – unabhängig von deren Bewilligung – bereithält, mit dem Ziel, durch größere Transparenz eine bessere Orientierung und Koordinierung zu erreichen.

  • ehrgeizige digitale Trainingsprogramme in den Geisteswissenschaften für alle Generationen und Karrierestufen. Fortgeschrittene Studierende, Junior und Senior Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler benötigen angepasste Schulungen.

Als Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler schätzen wir interkulturellen Dialog und Mehrsprachigkeit. Veröffentlichungen sollten nicht ausschließlich in englischer Sprache erfolgen, sondern als Zusatz zu Veröffentlichungen in der eigenen Sprache angeregt werden.

II. Forschungseinrichtungen und Hochschulen

Konsistente digitale Strategien sollten in jeder Einrichtung entwickelt und gepflegt werden. Akademische Gesellschaften und Universitäten sollten den wissenschaftlichen Nachwuchs in den Digital Humanities durch adäquate Finanzierungszeiträume, Aussichten auf eine Festanstellung und Nachhaltigkeit für Wissenschaftler/innen und Techniker/innen zugleich unterstützen. Frühes Training kollaborativen Arbeitens sollte gefördert werden, dasselbe gilt für den Erwerb technischer Kenntnisse in Arbeitsgruppen.

Wir befürworten die Einrichtung von spezialisierten Arbeitsgruppen zur Förderung digitaler Vorhaben und interdisziplinärer Forschung. Institutionen müssen dies durch Schaffung eines wissenschaftlichen Ökosystems für Akteure der Digital Humanities untersützen. Dies sollte folgendes beinhalten:

  • qualitätsgesicherte Open Access-Plattformen

  • Archive und Technologien sowie Infrastrukturen für die langfristige Archivierung von Forschungspublikationen und -daten in Verbindung mit den Grundsätzen von Open Access und Open Data.

  • Datenbanken- und Softwareinfrastrukturen (z.B. Big Data und Linked Data Anwendungen)

  • effiziente Werkzeuge für die Digitalisierung analoger Quellen

  • Suchmaschinen und Recherchewerkzeuge für Metadaten, um digitale Medien einfacher recherchierbar zu machen, zu kontextualisieren und zu bewerten

  • Verbreitung frei zugänglicher Quellen, Lehrmaterialien und Creative Commons-Lizenzen

Wissenschaftliches Bloggen, Aktivitäten in sozialen Medien und Rezensieren in netzbasierten Formaten müssen offiziell anerkannt und gefördert werden. Forschungseinrichtungen sollten Fachkenntnisse und Trainings anbieten, die der Verbreitung folgender Kompetenzen dienen: Einsatz von sozialen Medien in der Forschung und der öffentlichen Kommunikation, Kodieren, Management von Websites, Erstellung von Datenbanken und multimediales Editieren. Alle beteiligten Akteure müssen zudem über ausreichende Kenntnisse in rechtlichen Fragen verfügen, insbesondere im Bereich des Urheberrechts und der freien Lizenzen.

III. Forschungsförderer

Es ist wichtig, dass Forschungsförderer die Bedürfnisse der wissenschaftlichen Gemeinschaften bei der Entscheidung über Art und Umfang der Förderung digitaler Projekte, Institutionen und Infrastrukturen berücksichtigen sowie die Art und Weise, wie diese evaluiert werden. Forschungsförderer müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass digitale Projekte, besonders solche mit eigener Website, nie richtig zu Ende gehen: kontinuierliche Unterstützung über die Gründungsphase hinaus ist notwendig (z.B. für Serverkosten und technische Instandhaltung).

Forschungsförderer sollten spezifische Programme schaffen, die kollaborative Forschung über nationale Grenzen hinweg genauso wie nachhaltige Infrastrukturen für die Wissenschaft und praktische Schulungen für den Gebrauch digitaler Forschungswerkzeuge fördern.

Forschungsförderer sollten neue Bewertungsverfahren entwickeln, die digitale Formen und digitale Qualifikationen berücksichtigen.

  • Peer-Reviewed Print-Zeitschriften können nicht länger die einzigen Veröffentlichungsformen bleiben, die bei Bewerbungen und Anträgen berücksichtigt werden. Neue Formen digitaler Wissenschaftskommunikation, -bewertung und -veröffentlichung müssen gefördert werden.

  • Die Bewertung von Digital Humanities-Projekten sollte neue Kriterien in Betracht ziehen, wie etwa wissenschaftliche Qualität sowie technische Qualität und Anwendung

  • Der Kreis traditioneller Gutachter muss erweitert werden: Experten für digitale Medien, Informatiker und Ingenieure müssen miteinbezogen werden, um eine verlässliche Bewertung zu ermöglichen.

  • Forschungsförderer sollten Open Peer-Review-Verfahren und offene Kommentare in ihren Bewertungsprozessen berücksichtigen.

Was nun?

Akteure und Beobachter beklagen oft das langsame Tempo, in dem sich Infrastrukturen entwickeln. Während sich eine neue Wissenschaftskultur etabliert, in der digitale Instrumente und Methoden vollständig anerkannt sein werden, müssen alle Beteiligten proaktiv tätig werden, um akademische Strukturen an die neuen Forschungspraktiken anzupassen. Diese Aufgabe stellt sich ganz konkret für jeden, in jedem akademischen Bereich und jeder akademischen Disziplin. Wir alle können zu diesem gemeinsamen Neuanfang beitragen.

Die ersten Unterzeichner (vor Ort und online) waren die Teilnehmer der Konferenz “Forschungsbedingungen und Digital Humanities: Welche Perspektiven hat der Nachwuchs?”, Paris, 10. – 11. Juni 2013. Sie können das Manifest in einem Kommentar unterstützen und mitzeichnen.

Pascal Arnaud
Anne Baillot
Aurélien Berra
Dominique Boullier
Thomas Cauvin
Georgios Chatzoudis
Arianna Ciula
Camille Desenclos
André Donk
Marten Düring
Natalia Filatkina
Sascha Foerster
Sebastian Gießmann
Martin Grandjean
Franziska Heimburger
Christian Jacob
Mareike König
Marion Lamé
Lilian Landes
Matthias Lemke
Anika Meier
Benoît Majerus
Claudine Moulin
Pierre Mounier
Marc Mudrak
Cynthia Pedroja
Jean-Michel Salaün
Markus Schnöpf
Julian Schulz
Bertram Triebel
Milena Žic-Fuchs

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Abbildung: Yes we digital! by Martin Grandjean, CC-BY-SA.

English Version: Young Researchers in Digital Humanities: A Manifesto

Version française : Jeunes chercheurs et humanités numérique : un manifeste

Versión española: Jóvenes Investigadores en Humanidades Digitales: un Manifiesto

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1995

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