Nicht direkt zu 1848 diesmal, aber es muss ja der Titel vom letzten Mal nicht wörtlich wiederholt werden, um die „3“ in der Klammer zu rechtfertigen. Ganz neu sind sie auch beide nicht, sondern feiern im Mai 2014 jeweils ihr einjähriges Bestehen. Das sei als – wenn auch etwas fadenscheiniger – Anlass genommen, gerade jetzt auf zwei erfreuliche und wichtige Blogs hinzuweisen:
Unter diesem so schlichten wie aussagekräftigen Titel begleitet Holger Berwinkel (tätig im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes) seine Arbeit an einer Monographie zum Thema, na was wohl, Aktenkunde. Wer meint, das müsse spröde und langweilig sein, hat es noch nicht gesehen. Der Autor bietet unter anderem bibliographische Hinweise zu einschlägigen Standardwerken und neu erschienenen Aufsätzen; daneben Berichte dazu, wo Aktenkunde im politischen und medialen Tagesgeschehen wichtig ist – oder wäre, wenn die Beteiligten denn etwas davon wüssten; nicht zuletzt auch eingehende Beispielanalysen zu einzelnen Schriftstücken. Einige Aufmerksamkeit erhielt er vor kurzem mit seiner Diskussion der als Beweis für eine offenbar beliebte Verschwörungstheorie gehandelten „Kanzlerakte“ (Spoiler: nicht nur ist es eine Fälschung, sondern nicht einmal eine halbwegs kompetente). Eine persönliche Empfehlung vom Verfasser dieser Zeilen ist aber dieser Beitrag, in dem Berwinkel zeigt, was auch einem auf den ersten Blick eher zum Schmunzeln verleitenden Schriftstück abzugewinnen ist.
Ganz im Ernst aber: Dass Aktenkunde selbst unter den ohnehin immer weiter zurückgedrängten historischen Grund- (nicht: Hilfs-) wissenschaften meistens eher einen Platz in der zweiten Reihe bekommt, ist umso weniger zu rechtfertigen, als Akten zu den wichtigsten Quellen der neueren und neuesten Geschichte zählen und von weit mehr HistorikerInnen regelmäßig benutzt werden als nahezu jeder andere Quellentyp. Dass es sich nicht von selbst versteht, wie mit ihnen umzugehen ist, ist das Allererste, was Lesende aus Holger Berwinkels Blog mitnehmen sollten. Das klassische discrimen veri ac falsi ist für einen (angeblichen) maschingeschriebenen Bericht von 1992 mitunter ebenso notwendig wie für eine (vorgebliche) Urkunde Ludwigs des Frommen und erfordert ebenso spezialisierte Kenntnisse1. Darüber hinaus kann und sollte eine vertiefte Erforschung amtlichen Schriftguts auch für die Kulturgeschichte des Politischen fruchtbar gemacht werden, die inzwischen schon länger weiß, dass Verwaltung auf allen Ebenen zu ihren unverzichtbaren Untersuchungsgebieten gehört. Und natürlich ist sie auch für die Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt eine conditio sine qua non. Wenn diese Edition später einmal Kopfregesten hat, über die die Verfasser der Schriftstücke nicht gequält lachen müssten, wovon kann das nur kommen? Richtig: von der Aktenkunde.
Der Untertitel dieses Blogs lautet „Ländliche Politik in der europäischen Moderne – ein Forschungsprojekt“, womit im Grunde schon klar sein sollte, warum es einen Link von „Achtundvierzig“ nach dort braucht. Autorin ist Anette Schlimm, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig ist. Ihr Projekt selbst heißt „Übergangsgesellschaften. Zur Politik und Politisierung ländlicher Gesellschaften in Mitteleuropa, ca. 1850–1950“ und wird von ihr in diesem Beitrag besser beschrieben, als das hier geschehen könnte. Nur ein paar Eckpunkte: mit dem „Übergang“ ist jener von der Agrar- zur Industriegesellschaft gemeint, der „längst nicht nur die Wirtschaftsweise“ betraf, sondern „alle Bereiche des Lebens“ – allerdings „im politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Bereich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, was zu Ungleichzeitigkeiten, Spannungen und Konflikten führte“. Das Projekt fragt nach der Mikroebene ländlicher Gesellschaften im Verhältnis zu dieser Makroebene der gesamtgesellschaftlichen Transition, und insbesondere nach der Politik ländlicher Gemeinden. Diese werden sowohl als Akteure als auch als Räume des Politischen begriffen – gleichzeitig. Das ist für den Berichterstatter besonders faszinierend, zumal er selbst schon einmal (ohne Kenntnis dieses Projekts und wohl etwas naiv) auf die Idee gekommen ist, dass sich Gemeinden im Zuge des Übergangs von der ständisch-vormodernen Gesellschaft in die moderne Staatlichkeit tendenziell von Akteuren zu Räumen gewandelt hätten2. Das war natürlich überspitzt …
Die drei Ziele des Projekts lauten:
1. Den „Einfluss von Selbstverwaltungstraditionen und -formen auf Politisierungsprozesse“ untersuchen (gespannt ist Berichterstatter darauf, wie Politisierung definiert wird!);
2. „ländliche Gemeinden als wichtige[n] Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Mobilisierungsprozesse sichtbar“ machen (dringend nötig: Die Annahme, dass Stadt und Moderne deckungsgleich sind, ist so ubiquitär und so forschungsleitend, dass sie zu Einseitigkeiten und Ausblendungen aller Art geführt hat und es weiterhin tut);
3. Methoden der global studies auf eine europäische Region anwenden (auch das höchst lobenswert; in der Kulturgeschichte des Politischen heißt das Modewort dafür „ethnologischer Blick“, und das sollte nicht bloß immer wieder beschworen, sondern methodologisch ernst genommen werden).
Das Blog bringt unter anderem Lektüren, Veranstaltungshinweise (eine eigene Tagung „Herrschaft vor Ort“3 hat auch schon stattgefunden), nicht zuletzt Berichte über Rechercheergebnisse und Rechercheerlebnisse (Kategorien „Fundstücke“, „Exkursionen“), stets in einer ansprechenden, lebendigen Schreibweise. Einen persönlichen Lieblingsbeitrag hat der Schreiber dieser Zeilen auch auf diesem Blog. Die Präferenz dürfte sich von selbst erklären.
- Nota bene: Es ist vermutlich kein Zufall, dass Holger Berwinkel selbst ausgebildeter Mediävist ist. Dissertiert hat er noch zu einem Thema, das ihm eher keinen Link von unserem Blog verschafft hätte: BERWINKEL, Holger: Verwüsten und Belagern. Friedrich Barbarossas Krieg gegen Mailand (1158–1162) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 114), Tübingen 2007.
- STOCKINGER, Thomas: Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise) (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 57), Wien – München 2012, 358.
- Zwischendurch mal ein winziger Kritikpunkt: Die inflationäre Verwendung des Ausdrucks „vor Ort“ ärgert den Schreiber dieses schon seit geraumer Zeit, und er würde Lokalgeschichte zu gern einmal anders beworben sehen.