Das Deutsche Historische Institut Paris und die Mission du centenaire bieten seit November 2013 gemeinsam ein „deutsch-französisches Album über den Ersten Weltkrieg“ an1. Alle 14 Tage werden zwei Dokumente zum Ersten Weltkrieg publiziert, die von einem deutschen und einem französischen Historiker in ihrem jeweiligen Kontext in den beiden Sprachen dargestellt werden. Im August veröffentlichen wir die Dokumente und deren Erläuterungen hier im Blog “La Grande Guerre”.
Le Matin vom 3. August 1914, von Jean-Jacques Becker
„Deutschland erklärt Frankreich den Krieg”. In Großbuchstaben zog sich diese Überschrift über die gesamte Titelseite der Le Matin, einer der größten französischen Zeitungen der damaligen Epoche. Das Blatt berichtete, dass der deutsche Botschafter Paris um 10.10 Uhr am Abend verlassen hatte (damals sprach man, anders als heute, noch nicht von 22.10 Uhr). Die Zeitung erzählte vom letzten Treffen des französischen Ratspräsidenten, René Viviani, und des deutschen Botschafters, Wilhelm von Schoen. Letzterer hatte die deutsche Kriegserklärung übergeben nachdem französische Flugzeuge deutsche und belgische Gebiete bombardiert hatten. Dies war in Wirklichkeit frei erfunden. Für den Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich gab es ganz andere Gründe. So trug ein anonymer Leitartikel in der ersten Spalte beispielsweise den Titel: „Der heilige Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei”.
Die in Großbuchstaben geschrieben Ankündigung der Kriegserklärung war allerdings keineswegs überdimensioniert. Ganz im Gegenteil: Die Buchstaben waren verhältnismäßig klein, was auch dafür spricht, dass die deutsche Kriegserklärung niemanden wirklich überraschte. Seit einigen Tagen – und wirklich erst seit einigen Tagen – war man sich sicher, dass der europäische Krieg Wirklichkeit werden würde.
Wie konnte es soweit kommen? Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es immer wieder Spannungen auf der internationalen Bühne gegeben. Vor allem zwischen Deutschland und Frankreich, insbesondere im Bezug auf Marokko. Frankreichs Bedürfnis, sich dieses Gebiet anzueignen, und Deutschlands Wille, sich einen Teil davon für sich selbst zu sichern, hatten zwei schwere Krisen ausgelöst: Eine erste im Jahre 1905, eine zweite 1911, die auch als Panthersprung nach Agadir bekannt wurde, und damals bereits in einen Krieg zu münden drohte. Für zusätzliche Spannungen sorgten darüber hinaus die „Balkankriege”, in denen zwar weder Deutschland noch Frankreich Hauptakteure waren, die aber unmittelbare Auswirkungen auf ihre Verbündeten – Österreich-Ungarn und Russland – hatten.
Darüber hinaus wuchsen die Spannungen 1913 im Rahmen der französischen Diskussionen um das Gesetz, das die Dauer des Wehrdienstes auf drei Jahre ausweiten sollte. Ziel war es, auf die Stärkung der aktiven militärischen Kräfte Deutschlands zu reagieren. Dies geschah übrigens im Kontext der Balkankriege und nicht im Hinblick auf Frankreich!
Insgesamt betrachtet gab es zwei Gruppen von Staaten, die sich einander gegenüberstanden: Auf der einen Seite der Dreibund – Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Auf der anderen Seite die Triple Entente – Frankreich, Russland und Großbritannien. Doch trotz dieser zwei entgegengesetzten Bündnisse – deren Zusammenhalt im Übrigen nicht immer unproblematisch war – ließ sich Anfang des Jahres 1914 eine gewisse Entspannung der internationalen Beziehungen beobachten. Dafür spricht beispielsweise, dass im Januar 1914 erstmals seit 1871 wieder einmal ein französischer Staatspräsident – Raymond Poincaré – an einem Empfang in der deutschen Botschaft teilnahm. Gewiss darf man dies nicht überbewerten, aber es handelte sich dennoch um ein deutliches Zeichen.
Dann aber sollte sich der „Unfall” ereignen. Am 28. Juni 1914 gelang es einer Gruppe junger nationalistischer Serben, den Erben der österreich-ungarischen Krone – Erzherzog Franz Ferdinand –, und seine Gattin, die Herzogin von Hohenberg, in Sarajevo während eines offiziellen Besuches zu ermorden. Aufgrund einer Streckenänderung ist dies fast als Zufall zu werten. In Bosnien-Herzegowina, dessen Hauptstadt Sarajewo war, lebten hauptsächlich Slawen, Serben, Kroaten… Seit 1878 aber hatte Österreich-Ungarn es besetzt, und wenige Jahre vor dem Mordanschlag – 1908 – annektiert.
Serbien hatte mit diesem Attentat im Grunde gar nichts zu tun, auch wenn die Verschwörer dort helfende Hände gefunden hatten. Vielmehr wollte Österreich-Ungarn endlich einmal ein Land bezwingen, das sich ihm gegenüber ganz bewusst aggressiv zeigte. Dem aber hatte sich Deutschland – der mächtige Bündnispartner Österreich-Ungarns – stets widersetzt. Nach dem Attentat ließ Deutschland dann aber einfach geschehen, was geschehen sollte. Genau das mündete in einen verheerenden Teufelskreis, der sich nicht nur zu einer „lokalen” Auseinandersetzung entwickelte, wie es sich die Hauptakteure vorgestellt hatten, sondern zu einem europäischen, und in gewisser Weise auch einem weltweiten Krieg, zumal sich die Kampfhandlungen ausweiteten, je mehr der Krieg auch die unterschiedlichen Kolonialreiche der europäischen Großmächte mobilisierte.
Die einzelnen Schritte auf dem Weg zum Krieg lassen sich recht einfach nachvollziehen: Das slawische und orthodoxe Russland eilte dem kleinen und ebenfalls slawischen und orthodoxen Serbien zu Hilfe. Angesichts der von Russland ausgehenden Gefahr konnte Deutschland Österreich-Ungarn nicht im Stich lassen und leitete den Schlieffen-Plan ein. Für den Fall eines Krieges gegen den russischen „Riesen” sah dieser vor, dass man erst einmal Russlands Bündnispartner – Frankreich – besiegen müsse. Darüber hinaus wusste man, dass der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien den Kriegseintritt Großbritanniens nach sich ziehen würde. Zwischen dem Ultimatum, das Österreich-Ungarn Serbien am 23. Juli stellte, und dem Kriegseintritt Großbritanniens am 4. August vergingen 14 Tage (!). In diesen zwei Wochen hatte Österreich am 28. Juli Serbien den Krieg erklärt, Russland seine allgemeine Mobilmachung am 30. Juli, und Deutschland und Frankreich am 1. August verkündet – mit nur wenigen Minuten Zeitunterschied…
Unter den politischen Führungsspitzen in Europa gab es eigentlich niemanden, der sich diesen Krieg wirklich gewünscht hatte, zumindest nicht dieses Ausmaß. Einige bemühten sich sogar darum, den Frieden aufrechtzuerhalten. Beispiele hierfür sind der Telegramm-Wechsel zwischen dem russischen Zar Nikolaus II. und dem deutschen Kaiser Wilhelm II, aber auch die langanhaltenden Bemühungen von Niklaus II., die russische Mobilmachung zu verhindern. Diesbezüglich ist auch daran zu erinnern, dass Wilhelm II seinen Generalstab fragte, warum man Frankreich angreifen müsse, obwohl es doch von diesen Balkan-Angelegenheiten gar nicht direkt betroffen wäre…
Der Druck, der von den Militärkreisen der unterschiedlichen Länder ausgeübt wurde, war sicherlich entscheidend. Die Generalstäbe waren der Überzeugung, dass ein möglicher Krieg angesichts der ganz besonders modernen Waffen schlicht und einfach von kurzer Dauer sein und jede Verzögerung bei der Mobilisierung und der Aufstellung der Armeen äußerst verheerende Folgen haben würde. Bei mindestens drei Kriegsteilnehmern aber spielte auch der von den Öffentlichkeiten ausgeübte Druck eine wichtige Rolle, darunter Serbien, Österreich-Ungarn und Russland. In Bezug auf Russland betraf dies vor allem die Stadtbevölkerung, nicht die unzähligen Bauern.
Letzten Endes aber darf vor allem Folgendes nicht vergessen werden: Zum damaligen Zeitpunkt gab es in keinem einzigen der betroffenen Länder einen oder mehrere Staatsmänner, die in der Lage gewesen wären, einen Weg zu finden, um diesem Teufelskreis Einhalt zu gebieten, der in einen Krieg mündete, der in gewisser Weise tatsächlich zufällig ausbrach.
Jean-Jacques Becker, Emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Universität Paris Ouest Nanterre La Défense.
Aus dem Französischen übersetzt
Berliner Morgenpost vom 4. August 1914, von Gerd Krumeich
Der Tag des 4. August 1914 steht für den Beginn eines weltweiten Krieges. Russland und Deutschland befanden sich bereits seit dem 1. August im Krieg und am 3. August erfolgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich. An eben diesem 4. August trat England in den Krieg gegen Deutschland ein. An diesem Morgen, als die hier besprochene Ausgabe der Berliner Morgenpost erscheint, liegt Beklommenheit und Nervosität in der Luft, genauso wie eine gewisse Kriegsbegeisterung, so wie es schon zu oft beschrieben wurde. Die Morgenpost war eine eher konservativ ausgerichtete Zeitung, ganz im Gegensatz zum Berliner Tageblatt, das noch heute für seine hellsichtigen und kritischen Artikel des Chefredakteurs, Theodor Wolff, bekannt ist. Die Morgenpost war jedoch das ganze Gegenteil davon. Als Zeitung des Hofes und der Konservativen redete sie ganz und gar deren Sprache.
In der linken Spalte auf der Titelseite wird an alle Angriffe erinnert, die Frankreich gegen Deutschland vorgenommen hätte, das bis zur letzten Minute versucht hätte, den Frieden zu bewahren. Die Rede ist vom Vorrücken französischer Soldaten, gegen die Zusage Frankreichs, seine Truppen in einem Abstand von zehn Kilometern von der Grenze zu halten. In der Tat hatte die französische Regierung General Joffre, dem Oberbefehlshaber der Armee, angewiesen, solche Manöver zu vollziehen. Joffre ereiferte sich über diese Anweisung. Denn insgesamt gesehen war die Pufferzone von zehn Kilometern in der weisen Absicht eingerichtet worden, der Welt zu zeigen, dass Frankreich nur vorhatte, „den geheiligten Boden des Vaterlandes“ zu verteidigen. Aber für Deutschland war es ebenso wichtig, sich in einem Zustand der Notwehr zu erachten, da seine Soldaten, in der großen Mehrheit Zivilisten in Uniform, genau wie die in Frankreich, nur einen Krieg zur nationalen Verteidigung im Auge hatten.
In der rechten Spalte der besagten Titelseite der Berliner Morgenpost wird bereits vom deutschen „Weißbuch“ gesprochen, dass Kanzler Bethmann Hollweg wenige Stunden später dem Reichstag vorlegen wird. Dieses „Weißbuch“ ist das Erste aus einer Serie von „Regenbogenbüchern“, welche die Handlungen der jeweiligen Regierungen rechtfertigen, wobei sie der Gegenseite verbrecherische Handlungen unterstellen. Diese Bücher erscheinen in den ersten Monaten des Krieges in allen kriegsteilnehmenden Staaten (das französische „Gelbbuch“ allerdings erst im November). Das deutsche „Weißbuch“, auf welches in der Zeitung hingewiesen wird, konzentriert sich in seinem ersten Teil auf den Briefwechsel zwischen Wilhelm II. und seinem Cousin, dem Zaren Nikolaus II.. Dem Letzteren wird profunde Böswilligkeit unterstellt, da er noch von der Möglichkeit eines Friedens redet, während Russland schon die allgemeine Mobilmachung veranlasst hat. Es war daher erforderlich, dass Deutschland sich gegenüber der russischen Aggression, die der durchweg „treulose“ Zar verheimlichen wollte, verteidigt.
Die Verteidigungsbereitschaft, eine Schutzbehauptung, die während der Dauer des Weltkrieges ständig wiederholt wird, nämlich, Deutschland führe nur einen Verteidigungskrieg gegen eine angriffslustige Welt, ist Thema der Plenarsitzung des Reichstags vom 4. August 1914, von der die Morgenpost in dem Artikel auf der Titelseite spricht. Unter der Schlagzeile „Einberufung des Reichstags. Es gibt keine Parteien mehr“, wird an diesem Morgen des 4. August vorausgesagt, was wenige Stunden später tatsächlich eintreffen wird. Konkret gesagt, die Beteuerung und Bestätigung der Einheit der Nation: Es gibt keine Parteien mehr und Wilhelm II. übernimmt diese Phrase wenig später in seiner bekannten Rede vom Balkon des Berliner Schlosses: Angesichts des Krieges sagt er: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“ Es war diese Proklamation eines Burgfriedens, durch das Parlament und durch den Kaiser, die zur erstaunlichen „Ruhe im Parteienzwist“ führte, welche der in Frankreich proklamierten Nationalen Allianz vollkommen entsprach.
Tatsächlich haben, wie in der Morgenausgabe der vor diesen Ereignissen erscheinenden Zeitung berichtet wird, die sozialistischen Blätter im gesamten Land schon am Tag vorher angekündigt, dass angesichts eines von den Russen im Bund mit den Franzosen aufgezwungenen Krieges, die deutschen Sozialisten zur Verteidigung der Nation bereit sein werden. Es entspricht der gleichen Geisteshaltung, die in Frankreich die Rede von Léon Jouhaux am Grab von Jaurès beflügelte, der an diesem 4. August sagte: „Sie haben Jaurès umgebracht, aber wir werden Frankreich nicht ermorden.“ Genauso reden die deutschen Sozialisten, Internationalisten, vollkommen überzeugt, wie ihre vor kurzer Zeit noch gewesenen französischen Genossen und Freunde, mit einer Stimme: „Wir werden Deutschland nicht ermorden.“
Die Kriegsbegeisterung, die so oft betont wie kritisiert wird, existierte wirklich: Dieses Bewusstsein und diese Offenkundigkeit, mit der alle im Einklang dachten und fühlten. Man wollte von den alten Gegensätzen nichts mehr wissen und selbst der Kaiser beteuerte, er würde es nicht mehr hinnehmen, dass die Juden geschmäht, die Protestanten die Katholiken als „Papisten“ verspotteten, und dass die letzteren weiter behaupteten, die Protestanten hätten die Einzige und Wahre Kirche verraten. Alle gemeinsam, vorwärts, zur Verteidigung der Nation …Ihre Zeitgenossen haben dieses einmütige Erbeben nie vergessen. Dieser Geist, obwohl er nicht lange Bestand hatte, existierte wohl an diesem 4. August 1914. Der Tag, an dem der Enthusiasmus zur Verteidigung der Nation in einem Krieg mündete, der das alte Europa der Nationen und den Fortschritt verschlingen sollte.
Gerd Krumeich, Emeritierter Professor für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Heinrich Heine Düsseldorf.
Aus dem Französischen übersetzt
- Weitere Informationen: http://dhdhi.hypotheses.org/2067