Ausstellungsbericht: Velázquez

Velázquez
Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien, 28. Oktober 2014 bis 15. Februar 2015

Von Andreas Plackinger (München)

Von Prinzen auf Postern – „Auf nach Velasquez!“1
Mit flatternder Schärpe stürmt der kleine Prinz auf seinem Pony durch die kastilische Hochebene… und durch Wien, denn das Plakat mit Velázquez’ 1635 entstandener Darstellung des Infanten Baltasar Carlos, das die Ausstellung im Kunsthistorischen Museum bewirbt, scheint in der Hauptstadt allgegenwärtig.2

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Abb. 1 Diego Velázquez, Prinz Baltasar Carlos zu Pferd, 1635, Öl auf Leinwand, 209 x 173 cm, Madrid, Museo del Prado.*

Das Motiv ist gut gewählt. Mit seinem Blau-Ton hebt es sich vom grauen Winterhimmel ab, außerdem weist es auf zwei Charakteristika hin, die diese Velázquez-Schau auszeichnen: großartige Leihgaben und royaler Glanz. Die Anwesenheit der spanischen Königin Letizia garantierte einen medienwirksamen Ausstellungsauftakt und in den Sälen zeigt eine Reihe von Bildnissen das habsburgische Antlitz des Siglo de Oro. Noch bevor die BesucherInnen die Ausstellungsräume betreten, begegnen sie dem Reiterporträt des früh verstorbenen Prinzen erneut, wiederum in Form einer Reproduktion – in den Sälen werden leider weitere folgen –, die auf der eleganten dunkelgrauen Eingangsstele mit goldenen Lettern eher unbeholfen wirkt. Wenige Schritte entfernt verrät das Sortiment eines Verkaufsstands, dass Infantin Margarita ihren älteren Halbbruder als Merchandising-Ikone ausgestochen hat: Sie ziert Fächer, Armbanduhren, Kartenspiele, Flaschenöffner, Mousepads, Umhängetaschen und Brillentücher. Margarita im blauen Kleid ist sogar als Anhänger für den Weihnachtsbaum erhältlich. Die breite Produktpalette allein lässt keinerlei Zweifel: Hier handelt es sich nicht um irgendeine Ausstellung, sondern um ein Ausstellungs-Ereignis, mit dem sich Sylvia Ferino-Pagden (seit Ende 2010 Direktorin der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums) von ihrer illustren Wirkungsstätte verabschiedet. Die Entdeckung eines Künstlers wird in Aussicht gestellt, der für das breite Publikum vermutlich eine terra incognita ist.

Neben der Fülle an Velázquez-Accessoires könnte man den über 300 Seiten starken Ausstellungskatalog (Hirmer Verlag) fast übersehen. Mit Dawson W. Carr und Javier Portús Pérez, Kuratoren am Portland Art Museum bzw. am Museo Nacional del Prado, weist die Publikation namhafte Kenner auf, die bereits den Katalog der von Carr kuratierten Velázquez-Ausstellung der Londoner National Gallery 2006 zu weiten Teilen bestritten.3 Dass sich der Abbildungsbestand beider Kataloge ähnelt, ist angesichts des künstlermonographischen Zuschnitts der beiden Ausstellungen wenig überraschend. Im Wiener Katalog werden die frühen Jahre des 1599 in Sevilla geborenen Diego Rodriguez de Silva y Velázquez und seine Prägung durch das humanistische Umfeld seines Lehrers Francisco Pacheco nachgezeichnet (Dawson W. Carr), seine Tätigkeit als Porträtmaler am Hof Philipps IV. von 1623 bis zu seinem Tod 1660 geschildert (Javier Portús Pérez), Velázquez als Historienmaler vorgestellt (Gabriele Finaldi) sowie seine beiden Italienaufenthalte 1629–30 und 1649–51 erläutert (Stefan Albl). Von den die bisherige Velázquez-Forschung meist resümierenden Essays4 hebt sich der Beitrag ab, der am Familienporträt von Velázquez’ Schwiegersohn Juan Bautista Martínez del Mazo dem Nachleben seines Hauptwerks Las Meninas nachspürt (Gudrun Swoboda). Schließlich gibt ein Bericht von restauratorischer Seite, ausgestattet mit spannendem Bildmaterial, Einblick in die Maltechnik des späten Velázquez (Elke Oberthaler/Monika Strolz). Trotz der teilweise verknappten Darstellungen – besonders in den Bemerkungen zu den Meninas5 wird dies deutlich – liegt mit dieser Publikation ein weiterer guter Überblick zu Werk und Vita des Künstlers vor, wenn darin auch zuweilen kleinere Fehlinformationen und Unstimmigkeiten bei Literaturverweisen auftreten.6

„Maler der Maler“ oder Hofphotograph?
„Zedwitz wundert sich über meine Enttäuschung vor Velasquez. Er habe nie etwas anderes in Velasquez gesehn, als einen eleganten Photographen vor Erfindung der Photographie […].“7
Diese Zeilen aus der Spanischen Reise von Julius Meier-Graefe von 1910 stehen in schroffem Gegensatz zu Édouard Manets Einschätzung von Velázquez als „peintre des peintres“,8 die der Ausstellung als Motto vorangestellt ist. Damit sind die beiden Pole bezeichnet, zwischen denen sich eine Überblicksschau zu Velázquez positionieren muss.

Der erste Raum der Ausstellung in Wien widmet sich dem Sevillaner Frühwerk, das sich durch seine sorgfältig geschlossene Pinselfaktur auszeichnet. Die eher dunklen Gemälde – Velázquez malt noch auf einer rotbraunen Grundierung, die er nach seiner ersten Italienreise aufgibt – kommen vor der auberginefarbenen Wandbespannung gut zur Geltung. Besonders reizvoll ist es, die Londoner Immaculata und das Velázquez zugeschriebene Gemälde gleichen Themas der Fundacíon Focus-Abengoa in Sevilla vergleichen zu können – letzteres ist erst vor knapp 25 Jahren auf dem Kunstmarkt aufgetaucht. Mit dem Wasserverkäufer der Wellington Collection ist eine Arbeit ausgestellt, die verdeutlicht, welch erstaunlich hohes malerisches und intellektuelles Niveau der Künstler einer scheinbar anspruchslosen Bildaufgabe – einer genreartigen Alltagsszene – verleihen konnte.9

Temporarily used for contact details: The Engine House, Fire Fly Avenue, Swindon, SN2 2EH, United Kingdom, Tel: 01793 414600, Email: archive@english-heritage.org.uk, Website: http://www.english-heritage.org.uk

Abb. 2 Diego Velázquez, Der Wasserverkäufer von Sevilla, ca. 1622, Öl auf Leinwand, 107,7 x 83,3 cm, London, Apsley House, Wellington Collection.*

Die Oberflächentexturen von Keramik und Glas sind mit atemberaubender Könnerschaft wiedergegeben. In den Figuren lassen sich sowohl Vertreter verschiedener sozialer Stände in Interaktion als auch die drei Lebensalter erkennen. Zugleich ist das Bild eine Variation auf eines der Sieben Werke der Barmherzigkeit, die Tränkung der Durstigen. Die Pointe besteht darin, dass der ärmliche Wasserverkäufer einem Knaben aus gutem Haus Trank spendet. Nach einem derartigen Auftakt muss die Photoreproduktion nach einer Sevilla-Ansicht aus dem 17. Jahrhundert neben den Originalgemälden im Eingangssaal als echter Missgriff betrachtet werden.

Der zweite große Ausstellungssaal umfasst rein quantitativ das Herz der Schau: das königliche Porträt. Kriterium für die Hängung der dort gezeigten Porträts der Infantin Margarita ist weder Ober- noch Unterkante der Werke, sondern dass sich das Gesicht der Dargestellten stets auf gleicher Höhe befindet und damit eine direkte Vergleichbarkeit bietet. Dadurch entsteht der Eindruck von Serialität – und dies bei Bildnissen, die zu den größten Schätzen des Kunsthistorischen Museums gehören und mit ihrem offenen Duktus verblüffend individuelle Leistungen sind. Zweit- oder drittklassige Werkstattarbeiten wiederum kommen in diesem Raum zu unverdienter Prominenz, während ein Meisterwerk an Subtilität wie das Porträt des Infanten Don Carlos, des Bruders Philipps IV., in einem Durchgangsraum hängt. In der Mitte der großen Längswand ist schließlich das Plakatmotiv, Prinz Baltasar Carlos zu Pferd, zu finden. Dass dieses Bild als Teil eines Ausstattungszyklus, des Salón de Reinos (Saal der Königreiche) im Buen Retiro-Palast, einem gänzlich anderen Funktionszusammenhang entstammt als die Porträts seiner (Halb-)Geschwister Maria Teresa, Margarita und Felipe Próspero, wird durch die Hängung ausgeblendet. Auf die Freude, nach den Postern in der U-Bahn und dem Edeldruck auf der Eingangsstele das Original zu sehen, folgt die ernüchternde Entdeckung einer großformatigen Farbreproduktion von Las Meninas. Dieses Detail ist beredt: Velázquez’ Gemälde werden zur bloßen Geschichtsillustration. Zu dieser Wahrnehmung tragen auch die anschließenden Kabinette bei, in denen das Ende der casa de Austria in Spanien und die Eheschließung der Infantin Margarita mit Kaiser Leopold I. im Zentrum stehen. Julius Meier-Graefes Bekannter Zedwitz müsste sich in seiner Auffassung von Velázquez als Photograph avant la lettre bestätigt sehen. Es ist bedauerlich, dass der Bestand der vorhandenen Werke nicht genutzt wurde, um die Spannbreite des höfischen Porträts in seinen verschiedenen Spielarten auszuloten, wie dies der Katalogbeitrag von Portús Pérez leistet (S. 33–55). Doch das Dresdner Bildnis des Juan Mateos ist in einem Durchgangskabinett untergebracht und das großartige Herrenporträt (José Nieto?) aus Apsley House wird im letzten Saal von der spektakulären Venus mit dem Spiegel überstrahlt, mit der es die Wand teilt. Die ebenfalls im letzten Raum gezeigten Narrenporträts – ein Höhepunkt von Velázquez’ einfühlsamer Beobachtungsgabe – hätten unbedingt im Horizont des höfischen Porträts verortet werden müssen: Der ganzfigurige Hofnarr Don Juan de Austria wäre als Paraphrase des königlichen Porträts verständlich geworden. Durch die schreiende Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, zwischen Schein und Sein wäre ein Grundprinzip des spanischen Barock (engaño versus desengaño) anschaulich geworden.

Die Ausstellung schließt mit einem Saal, dessen thematische Beschreibung „Mythen, Fabeln und vieles mehr“ von einer gewissen Verlegenheit zeugt. Hier werden unter anderem Werke aus Velázquez’ italienischen Jahren gezeigt, etwa die Schmiede des Vulkan und die sogenannte Rokeby-Venus.

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Abb. 3 Diego Velázquez, Venus mit dem Spiegel (Rokeby Venus), 1648–1651, Öl auf Leinwand, 122,5 x 177 cm, London, National Gallery.*

In dem ergreifend schönen Rückenakt entfaltet der Künstler durch die Thematisierung des Sehens einmal mehr seine konzeptuelle Meisterschaft. Der Betrachter nähert sich als Voyeur, aber die vermeintlich sichere Position als unbemerkter Beobachter wird durch den Spiegel ad absurdum geführt, durch den die junge Frau aus dem Bild herausblickt und den Betrachter zum Betrachtungsgegenstand macht. Indem der Spiegel die Stoff-Falten vor Venus’ Hüfte auf der Mitte des Bildes reflektiert, zugleich aber auch ihr weiter rechts platziertes Haupt, wird der Kunstcharakter der Darstellung deutlich und Velázquez als Regisseur der optischen Illusion greifbar. Dank solch großartiger Leihgaben, darunter nicht zuletzt das erstaunliche, in einem Durchgangsraum ungünstig platzierte Gemälde mit der Ansicht einer Loggia im Garten der Villa Medici – einer der nur zwei autonomen Landschaften im Œuvre des Meisters! –, vermag die Schau einen breiten Überblick über Velázquez’ Schaffen zu geben. Einen Beitrag dazu leisten das äußerst informative kostenlose Begleitheft und die inhaltlich dichten Wandtexte (positiv hervorgehoben sei der Text zu den bodegones, Küchenstücken und Wirtshausszenen mit Still-Lebenelementen, der auf die kunsttheoretische Anbindung dieser genuin spanischen Bildgattung an die antike literarische Tradition hinweist). Äußerst geglückt ist, dass man den Ausstellungsbereich über den Tiziansaal der ständigen Sammlung verlässt und somit einen für Velázquez zentralen Künstler als Vergleichsfolie erfährt. Eine weitere Stärke der Wiener Schau besteht darin, Werke wie die Heilige Rufina aus Sevilla zu präsentieren, die in der älteren Literatur kaum oder gar nicht berücksichtigt wurden. Höchst problematisch ist jedoch, dass auf die damit verbundenen Zuschreibungsdiskussionen nicht deutlicher hingewiesen wird. Ein Fragezeichen oder der Vermerk ‚zugeschrieben‘ im Objektschild oder im ‚Kopf‘ des Eintrags in Begleitheft und Katalog hätten hier Abhilfe geschaffen.10

Derartige Unterlassungen und die nicht immer glückliche Hängung lassen zuweilen den Verdacht aufkommen, die Kuratorin habe sich mit Velázquez schwer getan, ganz so, als hätte es an der rechten Begeisterung für diesen Künstler gefehlt. Nichtsdestoweniger bleibt es eine verdienstvolle Leistung der OrganisatorInnen, Velázquez mit einer umfangreichen monographischen Ausstellung erstmals im deutschsprachigen Raum gewürdigt zu haben.

Abbildungsnachweis
* aus dem Download-Pressebereich der Website des Kunsthistorischen Museums für die aktuelle Berichterstattung: http://press.khm.at/pr/khm/velazquez/ [16.12.2014].

  1. Julius Meier-Graefe: Spanische Reise, Berlin: S. Fischer 1910, S. 20.
  2. Der Vergleich zu anderen Reiterporträts von Velázquez macht deutlich, dass hier keine Levade gezeigt wird.
  3. Dawson Carr (Hg.): Velázquez, Ausstellungskatalog National Gallery London, Stuttgart u.a.: Belser u.a. 2006. Portús Pérez ist seinerseits in den letzten Jahren als Kurator von großen Velázquez-Ausstellungen hervorgetreten. Vgl. Javier Portús Pérez (Hg.): Fábulas de Velázquez. Mitología e Historia Sagrada en el Siglo de Oro, Ausstellungskatalog, Madrid: Museo Nacional del Prado 2007; Javier Portús Pérez (Hg.): Velázquez y la familia de Felipe IV (1650–1680), Ausstellungskatalog, Madrid: Museo Nacional del Prado 2013.
  4. Die Literatur zu Velázquez ist Legion, von den einschlägigen Monographien seien hervorgehoben: José López-Rey: Velázquez. Das Vollständige Werk [1963]. Aktualisierte Ausgabe von Odile Delenda, Köln: Taschen 2014; Enriqueta Harris: Velázquez, Oxford: Phaidon 1982; Jonathan Brown: Velázquez. Painter and Courtier, New Haven u. London: Yale University Press 1986. Einen Eindruck von unterschiedlichen thematischen Zugängen zu Velázquez bietet Suzanne L. Stratton-Pruitt (Hg.): The Cambridge Companion to Velázquez, Cambridge: Cambridge University Press 2002.
  5. Einen ersten Überblick über die große Zahl an unterschiedlichen Interpretationen und damit gleichermaßen zur Rezeptionsgeschichte bietet Thierry Greub (Hg.): Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte, Berlin: Reimer 2001.
  6. Abb. 5 auf S. 43 des Ausstellungskatalogs zeigt nicht die kaum publizierte Variante von Baltasar Carlos in der Reitschule der Wallace Collection, sondern das Gemälde gleichen Themas aus der Sammlung des Herzogs von Westminster. Falsch sind die Behauptungen, Velázquez habe nur eine Tochter gehabt (S. 130) und Don Juan de Austria, der Sieger von Lepanto, sei der Sohn Philipps II. (S. 190) gewesen. Zum Kurztitel Bernheimer & Garrido & Howard 2014 (S. 172) fehlt die Auflösung im Literaturverzeichnis. Das Publikationsdatum von Saskia Joglers Arbeit zu Velázquez’ Narrenporträts scheint ebenso wie das Jahr der Dissertationsschrift von Claudia Ham zu den dynastischen Verbindungen zwischen österreichischen und spanischen Habsburger im 17. Jahrhundert Schwierigkeiten bei der Titelaufnahme verursacht zu haben (S. 190 u. 218).
  7. Meier-Graefe: Spanische Reise (wie Anm. 1), S. 77.
  8. Die Rezeption der spanischen Malerei im Allgemeinen und Velázquez’ im Besonderen durch Manet und sein Umfeld wird beleuchtet in Geneviève Lacambre/Gary Tinterow (Hgg.): Manet – Velázquez. La manière espagnole au XIXe siècle, Ausstellungskatalog Musée d’Orsay Paris u. Metropolitan Museum New York, Paris: Éditions de la RMN 2002.
  9. Vgl. S. 146–150, Kat. Nr 9 (Dawson W. Carr) im Katalog der Ausstellung, wo unter anderem auch die Anspielung auf den Namen des ersten nachweisbaren Besitzers des Gemäldes Juan de Fonseca (fons = lat. ‚Quelle‘; seco/seca = span. ‚trocken‘) erläutert wird. Eine sensible Analyse des Bildes liefert auch Martin Warnke: Velázquez. Form & Reform, Köln: Dumont 2005, S. 25–29.
  10. Gerade im Fall des Raufhandels der römischen Sammlung Pallavicini wäre es dringend geboten gewesen, die Frage der Eigenhändigkeit zu problematisieren, denn das kleine Bild kann weder in Duktus noch Figurenanordnung mit dem Künstler in Verbindung gebracht werden und ist obendrein auf Holz gemalt, einem Bildträger, der in keinem einzigen von Velázquez’ gesicherten Werken Verwendung gefunden hat; vgl. den Werkkatalog von López-Rey: Velázquez (wie Anm. 4), S. 332–393. Einziger Anhaltspunkt für die nicht überzeugende Zuschreibung an Velázquez (in der Ausstellung ist der Künstler ohne jede Einschränkung als Autor genannt) ist eine ungefähre Ähnlichkeit einer Bildfigur mit einer der Gestalten in der Schmiede des Vulkan.

Quelle: http://fnzinfo.hypotheses.org/243

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Das „Heilige Grab“ aus dem Kloster Wienhausen und das Marien-Wappen in Helmstedt – zwei Beispiele aus den Deutschen Inschriften Online

In meinem vorangehenden Blog-Beitrag habe ich die Online-Datenbank der Deutschen Inschriften Online (DIO) vorgestellt. Dabei ging es zunächst einmal um das Projekt selbst und ganz allgemein um die Inhalte, die heraldisch interessierte Nutzer hier finden können. Welche Objekte und Informationen genau man in der Datenbank finden kann und wie sich diese für die heraldische Recherche nutzen lassen, möchte ich im Folgenden an konkreten Beispielen erläutern. Dabei soll auch danach gefragt werden, inwieweit sich die Datenbank für die Suche nach konkreten Wappen und Personen verwenden lässt. Das „Heilige Grab“ aus dem Kloster Wienhausen Das erste Beispiel ist ein Objekt aus dem Kloster Wienhausen bei Hannover. Das „Heilige Grab“ ist eine hausähnliche Darstellung eines Sarkophags aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Es ist geschmückt mit acht großen Wappenträgern in Rüstung, welche die Schriftbänder zu liturgischen Texten und dem Osterfest auf dem Schrein fast in den Hintergrund treten lassen. Der Eintrag in den DIO bietet eine ausführliche Beschreibung, eine Transkription und Übersetzung der Inschriften, eine Aufschlüsselung der Wappen und Fotos des Objektes. In einem Kommentar werden ergänzende Informationen, wie etwa zur Datierung, aufgeführt. Weitere, heraldisch wichtige Informationen (und Vermutungen) finden sich in den abschließenden Anmerkungen. Im Eintrag werden die Figuren als „Grabwächter“ bezeichnet, […]

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/2365

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Francisco de Enzinas und Andreas Reinhard. Die Geschichte einer Digitalisierung 2006


Francisco de Enzinas (* 1. November 1518 in Burgos; † 30. Dezember 1552 in Straßburg), auch bekannt als Franciscus Dryander, Françoys du Chesne, Quernaeus, Eichmann, van Eyck (nach span. encina = [Stein-] Eiche), war ein spanischer Humanist und Protestant, der als Erster das Neue Testament aus dem Griechischen ins Spanische übersetzte. Francisco de Enzinas lebte als spanischer Protestant im 16. Jahrhundert auf der Flucht. Er hinterließ eine womöglich bis heute noch nicht in vollem Umfang erfasste Zahl von Übersetzungen antiker, insbesondere griechischer Autoren ins Spanische sowie zum Teil unter Pseudonym verfasste selbstständige Schriften. [...]

(aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia; Verfasserhistorie)

***

http://de.wikipedia.org/wiki/Francisco_de_Enzinas

Enzinas Historia 005

Ende 2004 stieß ich auf einen Bibliotheksbericht von 1878, in dem Prof. Dr. Lucht, Direktor des Christianeums und Bibliothekar, die 17 Handschriften des Donum Kohlianum beschrieben hatte; eine reizte mich durch eine ausführliche Inhaltsangabe und den Bericht über ihre Herkunft besonders: Historia de statu Belgico et religione Hispanica von 1545; ich fand in der Bibliothek eine deutsche Übersetzung dieser lateinischen Schrift von 1893, die ich in im Frühjahr 2005 in einem Zug durchlas – so spannend war die autobiographische Erzählung des jungen, spanischen Griechischstudenten Melanchthons in Wittenberg namens Francisco, der mit seiner für den Druck vorbereiteten Fassung einer Übersetzung des neuen Testaments ins Spanische, der ersten in der Geschichte, im niederländischen Löwen 1543 mitten in die Greuel der spanischen Inquisition gerät, wegen des Drucks der Übersetzung anderthalb Jahre im Gefängnis einsitzt und erst 1545 nach geglückter Flucht wieder bei Melanchthon in Wittenberg ist, wo er in wenigen Monaten seine Erlebnisse in elegantem Latein niederschreibt.

Die Recherchen nach dem Verfasser, Francisco de Enzinas, ergaben einen philologischen Krimi und führten nicht nur zu einem fruchtbaren Email-Austausch mit zweien der drei gegenwärtig einzigen Forschern auf der Welt zu diesem Autor, einem Spanier und einem US-Amerikaner, sondern auch zu einem Vortrag im Dezember 2005 an der Carl-Albrechts-Universität zu Kiel, aus dem sich en passant ein Forschungsinteresse ergab zu einer anderen Handschrift aus unserer Bibliothek, dem Codex Christianei, einer frühen Erzählung Giovanni Boccaccios, der daraufhin einmal durchfotografiert wurde, so dass das Digitalisat nunmehr auf einem Rechner in Kiel, unserem Bibliotheksrechner und auf meinem Laptop der Bearbeitung harrt.

Dass ich mein Enzinas-Vortragsmanuskript zwei Gegenlesern geschickt hatte, ergab in der Folge Anfang 2006 , dass ich auf Anregung des einen meiner Lektoren eine Zusammenfassung des Vortrags, entsprechend bearbeitet und mit Bildern versehen, als Artikel in die freie Enzyklopädie Wikipedia ins Internet einstellte; durch die Vermittlung des anderen landete eine Kopie der deutschen Übersetzung der Historia des Francisco de Enzinas von 1893 im Mai 2006 bei einem Verleger.

http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Ex_Bibliotheca_Gymnasii_Altonani_(Hamburg)

Unterdessen war der Artikel über Francisco in der Online-Enzyklopädie Wikipedia als „exzellent“ eingestuft worden und hatte das Interesse einiger Benutzer und Autoren dieser Enzyklopädie geweckt. In erster Linie angesprochen wurde ich von Vertretern des akademischen Nachwuchses, die sich für die Altbestände der Christianeumsbibliothek interessierten. Wir fertigten im Laufe des Frühjahrs 2006 einige Scans an, die ich gemeinfrei im Internet auf Wikimedia Commons, einer Datenbank mit freien Mediendateien, zur Weiterverwertung hochlud.

http://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Reinhard

Im April 2006 erschien in der Online-Enzyklopädie Wikipedia ein Artikel über Andreas Reinhard, einen erzgebirgischen Rechenmeister des 16. Jahrhunderts, dessen prächtig ausgestattetes Manuskript eines Rechenbuchs von 1599 in der Bibliothek des Christianeums verwahrt wird und das 1988 erstmals von Bernd Elsner beschrieben wurde. Der Verfasser des Wikipedia-Artikels, Frank Schulenburg aus Göttingen, Historiker mit Schwerpunkt auf der Wirtschaftsgeschichte, hatte die Bilder auf Wikimedia Commons gesehen, umfassende Recherchen über „Rechenbücher“ angestellt und eines Tages angerufen. Als Vorstandsmitglied des Vereins Wikimedia Deutschland machte er den Vorschlag, das Rechenbuch des Andreas Reinhard im Digitalisierungszentrum der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (GDZ) digitalisieren zu lassen auf Kosten des Vereins.

http://commons.wikimedia.org/wiki/Rechenbuch_des_Andreas_Reinhard

http://de.wikisource.org/wiki/Drei_Register_Arithmetischer_ahnfeng_zur_Practic

Am 24. Mai 2006, einen Tag vor Himmelfahrt, wurde in Göttingen eine hochauflösende digitale Fassung des Rechenbuchs erstellt und in den folgenden Tagen auf Wikimedia Commons hochgeladen. Gleichzeitig entsteht, unterstützt durch das Material Bernd Elsners, eine textkritische und kommentierte Ausgabe des Rechenbuchs auf Wikisource, einer deutschen Quellensammlung im Internet. Der unterdessen ausgearbeitete Artikel in Wikipedia informiert über den Verfasser des Rechenbuchs, Andreas Reinhard, und den historischen Hintergrund seines Werks.

http://de.wikisource.org/wiki/Wikisource:Pressemitteilungen/Rechenbuchprojekt

Im Dezember 2005 war der alphabetische Zettelkatalog des Altbestandes der Christianeumsbibliothek - ca. 18 000 Kärtchen -  ehrenamtlich eingescannt worden; der Katalog ist nunmehr schulintern über den Lesesaal-Rechner in der Lehrerbibliothek jederzeit einsehbar. Im März 2006 hatte im Christianeum ein informelles Treffen von dem Christianeum nahestehenden und an der Bibliothek interessierten Persönlichkeiten stattgefunden, die die Möglichkeiten diskutierten, insbesondere die einmaligen Bestände der Christianeumsbibliothek für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Digitalisierung des Rechenbuchs will einen Weg weisen, wertvolle alte Schriften zu sichern und wissenschaftlich nutzbar zu machen in einer zukunftsweisenden Form. Die am 24. Mai 2006 online abgesetzte Pressemeldung über das Wikisource-Rechenbuchprojekt wurde auf Internet-Fachseiten ebenso wie auf Onlineseiten der Presse publiziert.

Das Rechenbuch des Andreas Reinhard ist, wie viele andere Stücke der über 260 Jahre alten Bibliothek des Christianeums, wertvollstes Kulturgut; sie repräsentiert die Historie unserer Anstalt, die es zu bewahren gilt. Für einzelne seltenste Drucke oder die ohnehin einmaligen Handschriften trägt die Schule die Sorge, sie zunächst zu erhalten und zu schützen; nicht wenige Stücke – zum Beispiel alle Inkunabeln, die frühen vor 1500 entstandenen Drucke nach Gutenberg – erlauben in ihrem Zustand, insbesondere dem ihrer originalen Einbände, eine Benutzung derzeit nicht. Die Restaurierung dieser Kostbarkeiten ist teuer. Die Veröffentlichung des Rechenbuchs hat die Schule und die Eigentümerin, die Freie und Hansestadt Hamburg, keinen Cent gekostet; sie war indes nur möglich durch das freiwillige Engagé, insbesondere den Einsatz Frank Schulenburgs, und durch die Neugier nebst den daraus erwachsenen Tätigkeiten aller an diesem Projekt Beteiligten.

***

[...] Ein Druck der Historia de statu Belgico et religione Hispanica zu Lebzeiten Francisco de Enzinas’ ist nicht bekannt, eine eigenhändige Niederschrift nicht erhalten. Es existieren zwei handschriftliche Kopien, die vermutlich von de Enzinas sogleich nach Beendigung der Niederschrift im Juli 1545 in Wittenberg in Auftrag gegeben worden sind. Eine dieser Kopien liegt seit 1623 in der Apostolischen Bibliothek des Vatikans, wohin sie mit der Bibliotheca Palatina aus Heidelberg über die Alpen verfrachtet worden war. Bis auf eine Abschrift ihres Anfangs im 19. Jahrhundert ist bislang keine Einsicht in diese Schrift bekannt geworden; ebenso ist unbekannt, wie sie in die Palatina gelangte. Die andere Kopie wird seit 1768 in der historischen Gymnasialbibliothek des Christianeums in Hamburg-Altona verwahrt; diesem Manuskript fehlt die erste Lage und damit auch der Titel, der handschriftlich auf dem Rücken des Pergamenteinbands aus dem 16. Jahrhundert vermerkt ist. Der Autor ist in den zahlreichen Einträgen der Vorbesitzer genannt; erst der Besitzer, der die Handschrift im 18. Jahrhunderts erwarb, verzeichnete das Fehlen der ersten Lage. [...]

(aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia; Verfasserhistorie)

Enzinas Historia

Epilog

Die Handschrift des Francisco de Enzinas harrt auch im Jahr 2015 noch ihrer Digitalisierung, ebenso die einzige, 1893 in nur 100 Exemplaren in Bonn erschienene Übersetzung ins Deutsche von Hedwig Böhmer,  Denkwürdigkeiten vom Zustand der Niederlande und von der Religion in Spanien,  mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard Böhmer.  Die Ausgabe ist weltweit in nur 8 Exemplaren in den Opacs nachgewiesen, das Exemplar in der Bibliothek des Christianeums hat Säuefraß im letzten Stadium. Ein Nachdruck von 1897, von der University of Toronto digitalisiert, zeigt im Vergleich eine Bearbeitung in den Fußnoten und Kommentaren - der "Nachdruck" war tatsächlich eine neue, veränderte Ausgabe der Übersetzung.

Anmerkung: Der Artikel erschien - ohne die beiden Wikipedia-Zitate und den Epilog - erstmals und mit Abdruck der URLn in: Christianeum. Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums in Verbindung mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer, 61. Jg., H. 1. Hamburg, Juni 2006. S. 58-63

Abbildungen: Bibliothek des Christianeums (public domain)

 

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/576

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Gottesstaat und Prußens Beitrag

1. Einleitung [1]
Nach der Plünderung Roms durch Alarichs Heer im Jahr 410 wurde das Werk De civitate dei durch Augustinus verfasst. Er konzipierte die Schrift als positiven Gegenentwurf des Vorwurfs, dass an dieser Katastrophe die Vernachlässigung der herkömmlichen Götterverehrung schuld sei. [2] In diesem Werk findet sich eine geteilte Konzeption von Gesellschaft. Zum einen die Civitas Dei, zum anderen die Civitas Diaboli. Christoph Horn interpretiert diese Konzeption als moralische Klassifizierung. Die Civitas Dei ist dem Ideal des Staates des Himmels, das den Staat Gottes oder eben den Gottesstaat darstellt, näher, als die Civitas Diaboli, der der Himmel aufgrund ihrer moralischen Verworfenheit verwehrt ist. [3] Der Staat Gottes ist also nicht auf Erden zu realisieren, es ist Aufgabe der Civitas Dei, an diesem Ideal zu partizipieren und sich ihm anzunähern.
Die wohl bedeutendste Chronik des Deutschen Ordens, die Chronica terre Prussie des Peter von Dusburg, so an dieser Stelle die Behauptung, stellt genau diese Konzeption vor.
Darum wird nun zuerst die Chronica vorgestellt und anschließend der Versuch vorgenommen, zu zeigen, dass der Autor Peter von Dusburg diese Teilung der Welt bei der Verschriftlichung vor Augen hatte.
Peter von Dusburg hat im Jahr 1326 die Chronica terre Prussie fertiggestellt. Er unterteilte das Werk in vier Bücher:

1. Buch eins stellt die Gründungsgeschichte des Ordens dar.
2. Buch zwei erzählt den Einzug der Ordensbrüder ins Preußenland.
3. Das dritte Buch behandelt die Eroberung desselben und
4. das vierte Buch bildet ein Kompendium der außerpreußischen Geschichte.

Tatsächlich sind das dritte und vierte Buch in den Handschriften einander gegenübergestellt. [4]
An diese Abschnitte schließt sich das sogenannte Supplementum an, eine Erweiterung der wohl ursprünglichen Chronik, veranlaßt durch die Ermordung des Hochmeisters Werner von Orsel durch den Bruder des Ordens Johannes von Endorf.
Die Idee, dass Dusburg eine augustinische Staatsidee vertrat, kann auf der Trennung der Bücher drei und vier fußen. Wie bereits oben erwähnt, stellt das dritte Buch die Geschichte des Deutschen Ordens im Pruzzenland dar, das vierte Buch berichtet von außerpreußischen Ereignissen, die durch die Folge von Päpsten und Kaisern strukturiert wird.
Dies allein rechtfertigt jedoch noch nicht die Vermutung, dass eine augustinische Theorie zugrunde liegt.

2. Peter von Dusburg und der Deutsche Orden in der Chronicon terre Prussie [5]
Erhärtet wird die Annahme einer augustinischen Konzeption der Chronicon terre Prussie aufgrund der Selbstverortung, die Dusburg in der Epistola vornimmt. Dort heißt es:
„Mit welch sorgfältiger Umsicht und umsichtiger Sorgfalt die alten und heiligen Väter die wunderbaren Werke unseres Herrn Jesus Christus, die er selbst oder durch seine Diener zu wirken die Gnade hatte, zu seinem Lob und seiner Ehre und zur Belehrung der Gegenwärtigen und Zukünftigen aufgezeichnet haben, ist einem jeden offenbar, der seinen Blick auf sie richtet. […] Ihren Spuren bin ich gefolgt, […].“ [6]

Mit diesen wenigen Sätzen scheint sich Dusburg unmittelbar in die Folge der Evangelisten des neuen Testaments zu stellen. Man kann diese Annahme sicherlich noch schärfer fassen und behaupten, dass Dusburg sich als Evangelisten versteht. Doch zeichnet er sehr bewusst nicht die Taten Jesu auf, sondern die Taten des Deutschen Ordens. Doch diese werden hier als gleichwertig und gleichwürdig der Taten Jesu verstanden. Zugleich wird der Deutsche Orden damit als Nachfolger in Jesus verstanden. Weiter heißt es dann auch:
„So habe ich die Kriege, die wir und unsere Vorgänger, die Brüder unseres Ordens, siegreich geführt haben, aufgezeichnet und in diesem Buche niedergelegt.“ [7]
Der nun sich anschließende Prolog erhärtet noch die oben gefasste Annahme, indem Dusburg zunächst Daniel 3,99 zitiert [8] :
„Zeichen und Wunder hat der erhabende Herr an mir getan. Daher gefiel es mir, kund zu tun seine Zeichen, denn sie sind groß und seine Wunder, denn sie sind mächtig.“ [9]

Es heißt darauffolgend:
„Diese Worte darf auch der Verfasser dieses Buches gebrauchen, der für die heilige Gemeinschaft der Brüder des Hospitals Sankt Marien vom Hause der Deutschen zu Jerusalem sagen konnte: […].“ [10]

Erst auf den Prolog folgend beschreibt Dusburg selbst die Struktur seines Textes. In der Tat bestimmt Dusburg hier selbst sein Werk als in vier Teile geteilt. Diese Passage gibt die gedachte Struktur des Textes klar und deutlich wieder:
„Dies Buch ist in der folgenden Weise gegliedert: Zuerst werde ich beschreiben, zu welcher Zeit, durch wen und wie der Orden des Deutschen Hauses seinen Anfang nahm, sodann, wann und wie die Brüder in das Preußenland kamen, drittens von den Kriegen und anderem, das sich in diesem Lande zutrug; […]. Zum vierten werde ich auf dem Rande die Päpste und Kaiser vermerken, die seit der Stiftung dieses Ordens regiert haben und einige beachtenswerte Geschehnisse, die sich zu ihren Zeiten zutrugen.“ [11]

Von nicht unerheblichem Interesse ist indes doch die Formulierung „auf dem Rande“. Im lateinischen-sprachigen Originaltext steht dafür „Quarto ponam in margine[...]“. Diese Formulierung, dafür möchten die Ausführungen plädieren, sind wörtlich zu verstehen. Das jedoch hieße, dass es eine Rangordnung der dargelegten Vorkommen gibt. Und innerhalb dieser Rangordnung stehen die „Taten und Wunder“ des Deutschen Ordens bei der „Eroberung“ der preußischen Lande vor und über den „in margino“ gesetzten Ereignissen, die auch die Päpste und Kaiser umfassen.

2.1 Die Prußen in der Chronicon terre Prussie
Nachdem die Selbstbeschreibung des Deutschen Ordens in der Chronicon terre Prussie aufgezeigt wurde, soll nun die Darstellung der Prußen folgen. Wie der Titel andeutet sind die Prußen die „großen Gegenspieler“ des Ordens. Doch auch in diesem Teil gibt es „Rangstufen“. Das größte Übel, dem der Deutsche Orden im Prußenland begegnet, ist Herzog Swantopolk aus Pomerellen [12] . Dieser wird wiederholt als „ein Sohn der Missetat und Verderbnis“ [13] oder auch als „der Sohn des Teufels“ [14] bezeichnet. Die Prußen hingegen werden von ihm zum Widerstand verführt. [15] Verführt werden können sie, da die Prußen „keine Kenntnis von Gott“ [16] hatten. Weiter heißt es an entsprechender Stelle: „Weil sie einfältig waren, konnten sie ihn mit dem Verstand nicht begreifen, und da sie die Buchstaben nicht kannten, konnten sie ihn auch durch die Schrift nicht erkennen.“ [17] Doch erschöpft sich damit die Andersartigkeit der Prußen nicht, neben der Schilderung ihrer nicht christlichen Glaubensinhalte wird auch folgendes erzählt:
„Ferner lag mitten im Gebiet dieses ungläubigen Volks, nämlich in Nadrauen, ein Ort namens Romow, der seinen Namen von Rom herleitete; hier wohnte einer, der Criwe hieß und den sie als Papst verehrten; wie nämlich der Herr Papst die gesamte Kirche der Gläubigen regiert, so lenkte jener mit Wink oder Befehl nicht nur die Prußen, sondern auch die Litauer und die anderen Völker Livlands.“ [18]

Damit wird eine Parallelwelt der Prußen gestaltet, die ein Zerrbild der christianitas darstellt. Das die Prußen jedoch auf den wahren Weg des Glaubens gelenkt werden können, zeigt eine anschließende Wundergeschichte, in der ein Pruße namens Dorge von einer Furcht vor weißen Pferden geheilt werden kann und zu einem großem „Eiferer für den Glauben und die Gläubigen und ein glühender Verehrer Gottes und der Heiligen“ [19] wurde.

3. Fazit
Die obigen Ausführungen sprachen sich dafür aus, in der Chronicon terre Prussie eine Konzeption aufzufassen, die in der Tradition des augustinischen De civitate Dei steht. Dabei konnte der Deutsche Orden als irdische Institution erfasst werden, die zum einen einem göttlichen Auftrag folgt, aber auch fast schon Jesu gleichgestellt ist. Erhärtet wird diese Annahme durch die Selbstverortung des Autors Peter von Dusburg, der sich als Evangelist zu erfassen scheint. Doch kann deswegen der Ordensstaat wohl noch nicht als Gottesstaat bezeichnet werden. Zumindest ist der Deutsche Orden aber auf der moralisch besseren Seite, was der Interpretation der De civitate Dei durch Horn folgt.
Die Prußen, so konnte gezeigt werden, bilden ein Spiegelbild dieser Konzeption. Doch nicht nur des Ordens allein, sondern der gesamten Christenheit. Man kann aber auch erkennen, dass sie, aufgrund ihrer Beschreibung, grundsätzlich erkenntnisfähig wären. Da sie dies jedoch nicht machen, so könnte man behaupten, sind sie moralisch verworfen und bilden darum die civitas diaboli.
Doch ist dies eine sehr spezifische Lesart der Chronicon terre Prussie, die sicherlich noch genauer überprüft werden müsste.

  1. Angeregt wurden die folgenden Ausführungen durch eine kurze Anmerkung in: Neecke, Michael (2008): Literarische Strategien narrativer Identitätsbildung. Eine Untersuchung der frühen Chroniken des Deutschen Ordens. Regensburg. S. 32.
  2. Röd, Wolfgang (2000): Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Bnd. 1. Altertum, Mittelalter, Renaissance. München S. 306.
  3. Horn, Christoph (1995): Augustinus. München. Hier S. 111-127.
  4. Siehe dazu Wenta, Jarosław (2004): 'Peter von Dusburg' S. 1187-1192. Erschienen in: Wachinger, Burghart u.a. (Hrsgb.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. v. Stammler, Wolfgang. Fortgeführt von Langosch, Karl. Bnd. 11; Nachträge und Korrekturen. 5. Lieferung. 2. Aufl. Berlin, New York.
  5. Um eine einfachere Lesbarkeit zu gewährleisten, werden im Folgenden die entsprechenden Textstellen direkt in Übersetzung wiedergegeben. Das heißt der Text folgt folgender Ausgabe: Dusburg, Peter von: Chronik des Preussenlandes. Übers. u. erl. v. Scholz, Klaus; Wojtecki, Dieter. Erschienen in der Reihe: Buchner, Rudolf; Schmale, Franz-Josef (Hrsgb.): Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters. Bnd. 25. Darmstadt 1984. Der lateinischsprachige Text folgt der Edition: Dusburg, Petri de: Chronicon terre Prussiae. Ediert von Töppen, Max. Erschienen in: Hirsch, Theodor; Töppen, Max; Strehlke, Ernst (Hrsgb.): Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Bnd. I Leipzig 1861. Unveränderter Nachdruck Frankfurt a.M. 1965.
  6. Dusburg, Peter von (1984): S. 27.
  7. Ebd.
  8. Die Zitierung weiterführender Quellen folgt hier den Angaben, die die Übersetzer machen. Siehe dazu Anmerkung 1.
  9. Dusburg, Peter von (1984): S. 27.
  10. Ders.: S. 29
  11. Ders.: S. 35.
  12. Dusburg, Peter von (1984): S. 135.
  13. Ebd.
  14. Ders. S. 139
  15. Ders.: S. 139.
  16. Ders.: S. 135.
  17. Ders.: S. 103.
  18. Ebd.
  19. Ders. S. 107

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/8986

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abstract: Code Literacy

Aus Gründen sammle ich gerade Texte mit Argumenten zur Frage, ob und wie möglichst viele Menschen lernen sollten zu programmieren.


 

Please Don’t Learn to Code

  • “everyone should learn programming” meme has gotten out of control
  • «To those who argue programming is an essential skill we should be teaching our children, right up there with reading, writing, and arithmetic: can you explain to me how Michael Bloomberg would be better at his day to day job of leading the largest city in the USA if he woke up one morning as a crack Java coder? It is obvious to me how being a skilled reader, a skilled writer, and at least high school level math are fundamental to performing the job of a politician. Or at any job, for that matter. But understanding variables and functions, pointers and recursion? I can’t see it.

    [...]

Quelle: https://codinghistory.com/abstract-code-literacy/

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Quelle: http://codinghistory.com/abstract-code-literacy/

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Ikonographien von Solidarität und Widerstand: Karikaturen zum Anschlag auf ‚Charlie Hebdo‘

Der 7. Januar ist der erste Tag nach der Weihnachtspause ... das übliche Programm: Post, nebenher Nachrichten und wie immer zur Einstimmung Karikatur/Karikaturistinnen/Karikaturisten-Feeds aus aller Welt und Daryl Cagles PoliticalCartoons.com. Die Themen sind wenig überraschend, die Tagespolitik läuft an. Charlie Hebdo hat (wie am 6.1. getwittert) Houellebecqs Soumission auf dem Titel[1].

Aber plötzlich ist alles anders. Ab Mittag überschlagen sich Nachrichten mit immer mehr Details zum Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Sondersendungen, Eilmeldungen, Live-Ticker ...

Kurz vor 13.00 twittert Joachim Roncin:

pic.twitter.com/5hr2brBJQt

— joachim (@joachimroncin) 7. Januar 2015

Die weißen und grauen Buchstaben auf Schwarz verbreiten sich in Windeseile und werden zum Hashtag #jesuischarlie, zu spontanen (Tee-)Lichtinstallationen, zu Plakaten, die hundert- und tausendfach hochgehalten werden, zu riesigen Transparenten etc.

Im Laufe des Nachmittags tauchen mehr und mehr Karikaturen zum Thema auf. Karikaturistinnen und Karikaturisten twittern und bloggen spontane Reaktionen.

Am Tag danach bringen die Karikaturen als Antwort auf die Ereignisse. Herausragend (vor allem in Bezug auf die internationale Resonanz )ist The Independent mit einer Arbeit von Dave Brown, die den Geist von Charlie Hebdo symbolisieren soll.[2]

Inhaltlich sind es überwiegend nahezu prototypische Ereigniskarikaturen, die aktuelles Geschehen quasi in Echtzeit kommentieren. Daneben finden sich auch Zustandskarikaturen, die das konkrete Geschehen in einen größeren Kontext einordnen.  Formal sind alle Formen vertreten: personale Individualkarikaturen, personale Typenkarikaturen und apersonale Sachkarikaturen.

Die Themen der Karikaturen sind das Heraufbeschwören von liberté, égalité, fraternité, die Unbeugsamkeit gegenüber allen Versuchen, freie Meinungsäußerung einzuschränken, bis hin zum trotzigen Jetzt-erst-Recht  und  Charlie Hebdo als Märtyrer der Meinungsfreiheit.

Zur Ikonographie gehören

Die Sujets sollen die Unzerstörbarkeit der freien Meinungsäußerung und den Trotz[3] sichtbar machen, aber auch zeigen, dass Humor eine starke Waffe sein kann.

Je größer der zeitliche Abstand wird (und je mehr Fotos vom Schauplatz auftauchen) umso reflektierter werden die Karikaturen zum Thema, während die #JeSuisCharlie-Solidarität längst die Grenzen zur Vereinnahmung überschritten hat.[4]

  1. Luz (i.e. Renald Luzier): "Les prédictions du mage Houellebecq". In: Charlie Hebdo N°1177 (7 janvier 2015) 1.
  2. S. dazu auch: Dave Brown: "Charlie Hebdo cartoon: I knew I had to express defiance because I wanted to be true to the spirit of the magazine." The Independent, Thursday 8 January 2015 - Onlinefassung <abgerufen am 9.1.2015>.
  3. Dazu auch: Ann Telnaes: "A cartoon defying the Paris terrorists", Washington Post 7.1.2015 - Onlinefassung <abgerufen am 9.1.2015>.
  4. S. u.a. David Brooks: "I am not charlie" New York Times Jan 8, 2015 (Online); Jeffrey Goldberg: "We Are Not All Charlie", The Atlantic Jan 8 2015, 10:04 AM ET (Online); Michael White, "After the Charlie Hebdo attack, let’s not pretend we’re not afraid" The Guardian  Thursday 8 January 2015 11.41 GMT (Online);  Sebastian Loudon "Wir sind nicht Charlie", Horizont 08.01.2015 (Online); David Beard: "We're not all Charlie" PRI [Public Radio International] January 08, 2015 · 3:30 PM EST (Online).

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1989

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Karel Čapeks Hausnummer

Heute vor 125 Jahren wurde der tschechische Schriftsteller Karel Čapek geboren, woran der Deutschlandfunk in einem Kalenderblatt erinnert; Čapek verfasste u. a. den wunderbaren Krieg mit dem Molchen, der auf Deutsch zur Zeit nur antiquarisch erhältlich ist.
Die Villa, in der die Brüder Čapek ab 1925 wohnten (Bratří Čapků 28 - 30) wird in ein Museum umgestaltet; von 1907 bis 1925 wohnte Čapek auf der Prager Kleinseite, Říční 11 - voilà die Hausnummer:
Capek_PragRicni11_MalaStrana532

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/1022385362/

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Drei Jahre DHd-Blog – Happy Birthday!

Der DHd-Blog wird drei Jahre alt, wenn das kein Grund zum Feiern ist!

Über 90 AutorInnen aus rund 60 Institutionen und Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben in den letzten drei Jahren mit 535 Beiträgen – das ist durchschnittlich fast alle zwei Tage ein neuer veröffentlichter Artikel – und zahlreichen Kommentaren dafür gesorgt, dass der Blog sich zu einem lebendigen Austauschforum rund um die Digital Humanities entwickelt hat.

Herzlichen Dank an alle unsere AutorInnen und LeserInnen.

Wir freuen uns auch 2015 wieder auf zahlreiche Beiträge und Diskussionen.

Das DHd-Blog-Team

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=4565

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Religionswissenschaft nach Charlie Hebdo

Die Ereignisse vom 7. Januar scheinen, obgleich in den konkreten Auswirkungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, ihr über die Rache für die vermeintliche Beleidigung des Propheten hinausgehendes Meta-Ziel erreicht zu haben: neben der wohl noch lange Zeit anhaltenden Trauer um die Opfer macht sich eine allgemeine Unsicherheit insbesondere bei denen breit, die nicht nur vom Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, sondern von ihm abhängig sind (darunter Journalisten und Wissenschaftler).

Reagierten die am direktesten Betroffenen (andere Satiriker) noch vorhersehbar und verständlich mit einem trotzig-kämpferischen „Jetzt erst recht!“, so scheint die Reaktion bei verwandten Berufsgruppen schon differenzierter und nachdenklicher auszufallen, was für die Zunft der Religionswissenschaft beispielhaft die von Frau Professor Dr. Edith Franke bei Yggdrasill angestoßene Diskussion unter dem Titel „Gedanken zur Verantwortung der Religionswissenschaft“ zeigt.

Dass die Morde vom gestrigen Tag für die Religionswissenschaft dabei von besonderer Brisanz sind, ist zum einen auf die Zuordnung des Faches zum übergeordneten Wissenschaftssystem, das sich schon aus Gründen der Selbsterhaltung zu Angriffen auf die freie Meinungsäußerung zumindest in ein Verhältnis setzen, wenn nicht gar aktiv gegen sie vorgehen muss, zum anderen auf den Untersuchungsgegenstand der Religionswissenschaft selbst („Religion“) zurückzuführen.

Diese doppelte Involvierung als Wissenschaftler und als Religionswissenschaftler (ganz abgesehen von der als „Privatperson“ bzw. „Bürger“) entpuppt sich hierbei schnell als Dilemma bzw. Aporie, die aufzulösen ich selber nicht in der Lage bin, mit der ich mich jedoch als Betroffener auseinandersetzen muss, da sie sich nicht erst in abstrakten Gedankenspielen offenbart, sondern bereits bei der Frage relevant wird, ob ich einen „Je suis Charlie“ Ausdruck an meine Bürotür in der religionswissenschaftlichen Fakultät hängen sollte, darf oder vielleicht sogar muss.

Als (angehender) Wissenschaftler bin ich zwar generell zur Neutralität (zumindest aus dem eigenen Berufsethos heraus) verpflichtet, muss aber auf äußere Einwirkungen und Entwicklungen, welche meine Berufsausübung beeinflussen (könnten), reagieren dürfen, „im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich“ (Franz Josef Degenhardt). Dazu gehört das Recht auf Opposition gegen Universitätsreformen genauso wie das zur Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung - alles andere wäre zynisch oder masochistisch. Gleichberechtigt daneben besteht allerdings meine Funktion als Religionswissenschaftler, in der ich mich ebenfalls aus berufsethischen Gründen zur Neutralität gegenüber meinem Untersuchungsgegenstand, dem der Religion, verpflichtet fühlen sollte. Wie nun kombiniere ich diese beiden Komplexe, ohne mich in meiner Funktion sowohl als Religionswissenschaftler wie auch in der als Wissenschaftler verbiegen oder gar verleugnen zu müssen?

Um noch einmal das konkrete Beispiel des „Je suis Charlie“ Ausdrucks an der Bürotür im Fachbereich der Religionswissenschaft aufzunehmen: Schon eine sehr oberflächliche und viele weitere Antwortmöglichkeiten aussparende Betrachtung zeigt, dass ein Außenstehender, der an der Tür vorbeigeht, ganz unabhängig von meinen persönlichen Intentionen folgende Schlüsse beim Anblick des Schriftzuges ziehen könnte:

  1. Da solidarisiert sich eine Privatperson ODER/UND Wissenschaftler ODER/UND Religionswissenschaftler mit den Opfern der gestrigen Morde und drückt seine Trauer aus. Die Bewertung dieser Aktion hängt nun von den unterschiedlichen Standpunkten ab und könnte zwischen den Idealtypen eines affirmativen „Ja, finde ich gut“ und einem „Hmm, warum muss er das denn gerade hier machen und nicht später als „Privatperson“ gemeinsam mit anderen Privatpersonen auf dem Kurt-Schumacher Platz?“ changieren. So weit, so kontrovers-verständlich. Eine weitere Möglichkeit wäre:
  2. Da zeigt jemand explizit in seiner Funktion als Wissenschaftler ODER/UND Religionswissenschaftler, dass er gegen die hinter den Attentaten mitschwingende bzw. konkret stehende Bedrohung des Rechts auf freie Meinungsäußerung ein Zeichen setzen möchte. Wenn der Zusatz „ODER/UND Religionswissenschaftler“ nicht wäre, läge hier wohl die allgemein verständlichste und akzeptierteste Reaktion vor, ganz gleich, ob nun mit der Aussage selbst sympathisiert wird oder nicht. Konkret: Würde diese Aussage an der Tür eines Professors im Fachbereich der Physik, der befürchtet, dereinst von Kepler, Galileo und Kopernikus wieder Abschied nehmen zu müssen, große Kontroversen auslösen? Wohl eher nicht. Nun bleibt aber der Zusatz des Religionswissenschaftlers kontextbedingt unweigerlich bestehen, was zur dritten und letzten Interpretationsmöglichkeit führt, die insbesondere in Kombination mit der zweiten schnell zu einer Aporie werden kann:
  3. Hier sympathisiert jemand (schon des semantischen Gehalts von „Je suis Charlie“ wegen) mit der Redaktion von bzw. der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ und somit auch mit der von ihr durchgeführten Veröffentlichung von Mohammed Darstellungen. Was an sich recht unproblematisch verbliebe, wäre da nicht der religionswissenschaftliche Kontext und die mit ihm einhergehenden informellen Verpflichtungen zu religiöser Neutralität.

Nun könnte eingeworfen werden, dass zwischen diesen drei recht schablonenhaft wirkenden Interpretationsmöglichkeiten durchaus Grauzonen existieren, in die betreffende Person sich, beispielsweise mit Hilfe eines längeren Disclaimer unterhalb des schwarzgrundierten „Je suis Charlie“, einordnen könnte:

„Ich, Thomas Jurczyk, möchte mit dem obigen Plakat meine Opposition gegen die drohende Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, zu der auch die Kritik und satirische Darstellung von Religionen gehört, durch vermeintlich religiös legitimierten Terrorismus zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass ich in der Frage, ob satirische Karikaturen statthaft sind, die religiöse Gefühle einzelner Gruppen verletzen, neutral verbleiben und hierzu keine Aussage machen.“

Da dieser Beitrag von vornherein keinerlei Ansprüche auf einen kathartischen Schluss besaß, möchte ich mit der Frage enden, ob nur ich an diesem Punkt eine weiteres Paradoxon sehe: Auf der einen Seite setze ich mich für die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung ein (und verteidige somit die potentielle Verletzung religiöser Gefühle und Gruppen), auf der anderen Seite bleibe ich bezüglich des Dargestellten „neutral“. Hier mag im Geiste des (schlecht paraphrasierten Zitats eines gerade in Stammtisch-Foren beliebten französischen Intellektuellen der Aufklärung) „Ich bin vielleicht nicht Deiner Meinung, aber ich würde Haus und Kind, nicht aber meinen Hund dafür hergeben, dass Du diese frei äußern darfst!“ eingewendet werden, dass wer für die Form (das Recht auf freie Meinungsäußerung) votiert, noch lange nicht für den Inhalt (das dann Geäußerte) verantwortlich gemacht werden kann. Dies halte ich in diesem Fall jedoch für einen Fehlschluss.

Ich kann nicht auf der einen Seite für die freie Meinungsäußerung sein und gleichzeitig neutral gegenüber der Möglichkeit der Abbildung von Themen verbleiben, um deren potentielle Realisierung ich weiß. Entweder, ich muss das Recht auf freie Meinungsäußerung insoweit einschränken, dass diese Themen eben nicht mehr in dieses Recht der freien Meinungsäußerung hineinfallen (es gibt ja bereits zahlreiche Ausnahmen, bspw. Holocaust-Leugnung), oder ich muss mir eingestehen, dass ich durch die Höherstellung des Rechts auf freie Meinungsäußerung über die Befindlichkeiten einzelner religiöser Gruppen bereits eine Wahl und somit eine Wertung dem konkreten Inhalt sowie diesen Gruppen gegenüber getroffen habe, was in diesem Zusammenhang mit dem Verlassen meiner religiösen Neutralitätszone einhergeht.

tj

Quelle: http://marginalie.hypotheses.org/83

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