Wenn Bilder wandern …. Oder: Von der Schwierigkeit, Karikaturen zu übersetzen

MIT Visualizing Cultures (Screenshot)

MIT Visualizing Cultures (Screenshot)

Seit mehr als 10 Jahren präsentiert das am Massachusetts Institute of Technology angesiedelte Projekt Visualizing Cultures, das in die Open Courseware-Initiative eingebettet ist, Module zur Geschichte Ostasiens und fördert bei regelmäßigen Konferenzen die Vernetzung von ForscherInnen unterschiedlichster Disziplinen, die mit Bildquellen arbeiten.

Visualizing Cultures was launched at MIT in 2002 to explore the potential of the Web for developing innovative image-driven scholarship and learning. The VC mission is to use new technology and hitherto inaccessible visual materials to reconstruct the past as people of the time visualized the world (or imagined it to be). [Quelle: http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/home/index.html]

Jedes Modul stellt Bildmaterial zu einem bestimmten Ereignis in den Mittelpunkt – wobei die Bildmaterialien, die vorgestellt werden, von Gemälden und Zeichnungen über Landkarten und Pläne zu Photographien, von Plakaten über Propoaganda-Postkarten zu Karikaturen reichen – wie beispielsweise:

Eines der Module beschäftigt sich mit der Kaiserinwitwe Cixi (Cixi 慈禧, 1835-1908). In The Empress Dowager and the Camera. Photographing Cixi, 1903-1904 bespricht David Hogge im Abschnitt Cixi’s Image Problem einige Karikaturen, um die Wahrnehmung der Kaiserinwitwe zu veranschaulichen. Unter diesen Karikaturen finden sich auch Beispiele aus österreichisch-ungarischen satirisch-humoristischen Periodika, so aus dem “Floh”, der “Germany” zugerechnet wird und aus dem “Kikeriki”.

Aus den verwendeten Karikaturen und deren Präsentation wird ersichtlich, wie komplex der Umgang mit der Quellengattung Karikatur ist – und warum es mitunter unumgänglich ist, auf das Original zurückzugreifen.

MIT Visualizing Cultures | Karikatur aus dem 'Kikeriki'Eine Karikatur (s. Abbildung links) aus dem “Kikeriki” [Bild cx235 (mit Quellenangabe, Vergrößerung])  ist besonders interessant. Thema das Schicksal der ausländischen Diplomaten in Beijing 北京 während der Yihetuan-Bewegung (義和團運動 Yihetuan Yundong, Boxer-Krieg, häufig auch “Boxer-Aufstand”) im Sommer 1900.

Die Karikatur hat hier keinen Titel, der Blocktext ist in französischer Sprache:

“Kikeriki, No. 97 June 12, 1900 (Austria)  “Cette bonne impératrice de Chine garde soigneusement dans le plus intime de son palais, les représentants des puissances. Alors! que signifie?”

In der Präsentationwird eine englische Übersetzung beigefügt:

“This good empress of China carefully guards in the innermost part of the palace the representatives of the Powers. So! what does that mean?”

Die Frage ist nicht unberechtigt – denn die ganze Sache erschein bei genauer Betrachtung durchaus mysteriös …

Als Quelle wird lediglich “Kikeriki, No. 97 June 12, 1900 (Austria) angegeben.  Das kann nicht sein, denn der 12. Juni 1900 war ein Dienstag. Der “Kikeriki”, eines der bedeutendsten satirisch-humoristischen Periodika des späten 19./frühen 20. Jahrhunderts, erschien wöchentlich am Dienstag und am Sonntag (s. Jahresübersicht Kikeriki 1900) – allerdings liegt der ‘Fehler’ schon in der Vorlage, die wohl einem französischen Sammelband mit China-Karikaturen oder Karikaturen zu ‘la guerre de Boxeurs’ entnommen wurde, das allerdings im Quellenverzeichnis nicht genannt wird.

ANNO | Kikeriki, 5.8.1900, S. 4 Das Original (s. Abb. rechts) findet sich auch in der Nummer  62 vom 5. August 1900 auf Seite 4 – dort mit einem deutschen Text:

Neuesten Nachrichten zufolge befinden sich die europäischen Gesandten unter dem Schutz der Kaiserin Tsu-tsi [i.e. Cixi] derzeit sehr wohl. [oberhalb der Karikatur]
- Aber so! [unterhalb der Karikatur]

Die Karikatur ist die sehr drastische Umsetzung der Interpretation der sehr widersprüchlichen Nachrichten aus China, denn einerseits gab es die offizielle Mitteilung, dass es den Gesandten gut geht, andererseits kamen zahllose Gerüchte darüber, dass die Gesandtschaften niedergebrannt und alle Gesandten gefangen genommen oder gar ermordet worden wären. Im Zentrum thront eine weibliche Figur, die durch Kleidung, Frisur und (über)lange Fingernägel als ‘Chinesin’ markiert und durch den Blocktext als Cixi identifiziert wird. Sie ‘bewacht’ einen Käfig mit der Aufschrift “Gesandtschafts-Palais”. In diesem Käfig sind eine ganze Reihe von Figuren gefangen, die durch Kleidung/Uniform, Kopfbedeckungen und Frisuren als Ausländer markiert und durch den Text als diplomatische Vertreter identifiziert sind. Zu erkennen sind (v. l. n. r.) Russland, Spanien, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien und das Deutsche Reich. Rechts neben dem Käfig ist ein rauchender Ofen mit der Aufschrift “Englische Gesandtschaft” zu sehen. Im Bildhintergrund links ist ein als chinesisch markiertes Gebäude mit der Aufschrift “Kaiserpalast” zu sehen.

Ohne den Text wäre das eines von vielen [1] kaum verhüllt rassistischen und Chinesen-feindlichen Bildern (Karikaturen und Bildwitzen) des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der Blocktext erlaubt eine Einordnung, er setzt einen Rahmen, der zwar am in der manifesten Feindbild nichts ändert, für die Deutung der Karikatur aber zwingend notwendig ist. Durch die Übersetzung und die damit verbundene Verfremdung in der im Visualizing-Cultures-Modul präsentierten Version (die allem Anschein nach aus einem französischen Sammelband von Karikaturen stammt) wird die Bedeutung verändert, die Pointe ist verloren. Aus einer pointierten Karikatur wird eine platte Feindbilder verstärkende Zeichnung von begrenzter künstlerischer Qualität …

[1] Die Karikatur ist eine von mehr als dreihundert zum Thema China, die zwischen 1894 und 1917 im Figaro, im Kikeriki, im Floh, in den Humoristischen Blättern und in den (N)euen Glühlichtern erschienen.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/68

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Das Projekt „Stolpertonsteine“ Hamburg

von Marek Schossek -

Auf den kleinen Messingplatten stehen Namen und Daten: Elizabeth Lange, geb. 7.7.1900, gestorben am 28.1.1944 im KZ Fuhlsbüttel; Jonny Rummel, geb. 15.12.1924, erschossen am 8.2.1945 in Königsberg. Die Gedenksteine begegnen uns überall in Hamburg vor den Häusern, in denen diese Menschen einst gewohnt haben.

Sie zeugen von den Verbrechen, die an ihnen verübt wurden. Gemeint sind die Stolpersteine. Wir nehmen sie sicherlich an den meisten unserer täglichen Wege gar nicht mehr wahr. Und doch wird wohl jeder von uns hin und wieder über die Steine geistig stolpern und sich fragen:  “Was für Geschichten haben diese Menschen wohl gehabt?”

Die Vertonung der Stolpersteine

Seit 1995 erinnert der Kölner Künstler Günter Demnig mit den Stolpersteinen an die Opfer des Nationalsozialismus. Eine seiner Intentionen ist es, den ,in den Konzentrationslagern zu Nummern degradierten Opfern, ihre Namen zurückzugeben. Dass heute noch etwas mehr möglich ist, zeigen aktuell die beiden Studentinnen Marta Werner und Sarah Dannhäuser. Mit ihrem Projekt der „Stolpertonsteine“ haben sie die Biographien von 20 Opfern vertont. Die Idee kam den beiden angehenden Medienwissenschaftlerinnen, während eines Seminars. In neun Monaten und in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung, sowie dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden. sind die „Stolpertonsteine“ entstanden.

Die beiden betonen, dass es ihnen wichtig ist, neben dem neuen Zugang zu den Biographien auch die verschiedenen Schicksale zu zeigen. Die 20 Biographien, die momentan über die Internetseite www.stolpersteine-hamburg.de und der Smartphone App (“Stolpersteine in Hamburg”) abrufbar sind, wurden mit ehrenamtlichen Sprechern aufgenommen. Unter ihnen Persönlichkeiten wie der Moderator Carlo von Tidemann oder der Schauspieler Tim Kreuer. Gelesen werden dabei nicht nur die Lebensläufe, sondern auch persönliche Aufzeichnungen der Opfer und ihrer Familien. Durch die Untermalung mit passenden Umgebungsgeräuschen werden die gelesenen Passagen zu kleinen Hörspielen. So hört man z.B. bei einer in einer Bar spielenden Szene die passenden Hintergrundgeräusche. Durch den Hörspielcharakter gewinnen die Stolpertonsteine eine Dimension, die die erwähnte Intention Demnigs übertrifft. Die Opfer gewinnen nicht mehr nur ihre Namen, sie bekommen einen Teil ihrer Geschichte zurück.

Es braucht nur Zeit und ein Smartphone

Im Augenblick ruht das Projekt der Studentinnen, die beiden arbeiten gerade an ihren Master-Abschlüssen. Es soll aber nach Möglichkeit weiter geführt werden. Material gibt es noch mehr als genug. Seit 2002 wurden in Hamburg 4326 privat finanzierte Stolpersteine verlegt. Es liegen noch gut 250 weitere Anträge auf Patenschaften vor. Und seit dem Herbst 2006 haben Forscher des Projektes “Biographische Spurensuche”, mehr als 1000 Biografien zu den in der Stadt gesetzten Stolpersteinen, erarbeitet. Dieses von den begleitenden Instituten geleitete Projekt, liefert die Grundlage für die von Marta Werner und Sarah Dannhäuser bisher produzierten „Stolpertonsteine“.

Die Frage nach der Geschichte der Opfer auf den Stolpersteinen, lässt sich jetzt einfacher beantworten. Wir brauchen nur noch ein Smartphone und etwas Zeit, Zeit um uns die Geschichten von diesen Menschen anzuhören. Menschen wie: Josef Schupp, geb. 11.3.1893, hingerichtet am 11.10.1944 im KZ Sachsenhausen, Heinrich Habitz GEN.“ Liddy Barcroff“ geb. 19.8.1908, gestorben am 6.1.1943 KZ Mauthausen.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=666

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Der Altavista lebt! … (und der Lycos und der Hotbot auch)

So höret Ihr Kinder, ich will Euch erzählen von alter Zeit. Es gibt einige ältere Mitbürger/innen unter uns, die mit “Altavista” nicht eine Outdoor-Sportmarke, ein Brillenfachgeschäft oder ein Arnold-Schwarzenegger-Zitat1 assoziieren. Denn, oh ja, es war einmal eine Zeit, als in den Bibliotheken noch Zettelkästen stunden und die tapfersten und aufgewecktesten der jungen Generation, geschmacklos in […]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6575

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Erfurt: Häuserkampf und linke Erinnerungspolitik (Rezension)

Die Besetzung des Areals der ehemaligen Firma “Topf und Söhne” in Erfurt dauerte von April 2001 bis April 2009. Die vielen BesetzerInnen hatten sich etwa ein Viertel des über 50.000 Quadratmeter umfassenden Geländes angeeignet – es genutzt, dort gewohnt, Kultur veranstaltet, Raum für Politik und Werkstätten geschaffen. Mit diesem sehr preiswerten Buch sollen nun die Erfahrungen dieser Zeit festgehalten werden.

Zuerst wird aber die Geschichte der Hausbetzungen in Erfurt bis 2001 nacherzählt. Danach folgen unterschiedliche Beiträge zum Alltag in einem linken Projekt. Zu seinen Untiefen, seinen internen und öffentlichen Debatten und zur “Organisierung des Chaos”. Das besetzte Haus wollte nie ein Freiraum in der alten politischen Bedeutung sein. Es wird aber doch deutlich, dass ein besetzter Raum immer auch ein Laboratorium für Ideen und ihre Umsetzung ist. Der Bedeutung jenseits seiner Mauern hat, ja über die Stadt Erfurt hinauswirkte.

Die Firma “Topf und Söhne” war nicht irgendeine Firma. Sie stellte während des Nationalsozialismus auf dem später besetzten Gelände Krematoriumsöfen für Auschwitz und andere Lager her. So war von Anfang an klar, dass die BesetzerInnen sich dazu verhalten mussten und dies dann auch taten. In mehreren Artikeln wird sowohl die Geschichte der Firma wie die vielfältigen Aktivitäten der BesetzerInnen dokumentiert. Diese stoßen immer wieder, zum Beispiel anhand des Topos der “deutschen Wertarbeit”, auf die schwierige Frage des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Kapitalismus. Die Konflikte und die Zusammenarbeit mit dem schon 1999 gegründeten “Förderkeis Geschichtsort” werden analysiert. Einige kritisieren, er kehre durch seine Arbeit Schuld und Verantwortung unter den Tisch – ganz im Sinne der neuen deutschen Erinnerungspolitik.

Heute ist auf dem Gelände ein Baumarkt und Gartencenter samt Parkplatz. In einem Gebäude, das nie Bestandteil der Besetzung war, wurde ein offizieller Geschichtsort zur Firma eingerichtet. Alle Spuren der Besetzung sind getilgt, auch im Gedenkort wird nicht darauf hingewiesen, dass die BesetzerInnen sich erinnerungspolitisch und antifaschistisch engagiert haben und somit zu seiner Durchsetzung mit beigetragen haben.

Durch das mit über 200 Fotos reichhaltig illustrierte Buch entsteht ein sehr plastisches Bild, das von der Spannung zwischen dem linksradikalen Alltag sowie der historischen Bedeutung des Ortes lebt – und den jeweiligen Umgang damit schildert.

Bernd Hüttner

Karl Meyerbeer, Pascal Späth (Hrsg.): Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort; Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2012, 187 Seiten, 12,90 EUR


Einsortiert unter:Erinnerung, Faschismus, Geschichtspolitik, Literatur

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/12/07/erfurt-hauserkampf-und-linke-erinnerungspolitik-rezension/

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Umkämpfte Erinnerung – wie mit Geschichte Politik gemacht wird | Audiomitschnitt online

Wie wird mit Geschichte Politik gemacht (et vice versa)? Am 30. November 2012 wurde in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften die Gesprächsreihe “Geisteswissenschaft im Dialog” neu gestartet. Es debattierten Norbert Frei, Ute Daniel, Heinz Duchardt und Günter Heydemann mit Moderatorin Hilde Weeg zur Geschichts- und Erinnerungspolitik. Am 15. November wird MDR Figaro über den Abend in Leipzig berichten. Der Audiomitschnitt der von “Umkämpfte Erinnerung – wie mit Geschichte Politik gemacht wird” ist bereits jetzt auf perspectivia.net online.      

Quelle: http://gid.hypotheses.org/216

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Soziale Netzwerke als politische Partizipationschance?

Wird Facebook, im Zeitalter des Web 2.0, dem Begriff der Produtzung gerecht und kann es auch als politische Partizipationschance verstanden werden? Politische Partizipation, die Teilnahme am politischen Leben ist ein Kernthema, wenn es darum geht, als Bürger/in eines Staates an der Gesellschaft durch die Gestaltung seiner/ihrer, sowie der gemeinschaftlichen Lebenswelt teil zu haben bzw. mitzuwirken. Die Möglichkeit der Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen oder der Ausschluss davon, also die Inklusion oder Exklusion von Individuen, stellt stets ein zentrales Thema dar. Die Begrifflichkeiten Inklusion und Exklusion [...]

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/612

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Die deutsche Einheit, Teil 3

Von Stefan Sasse


Volkskammerwahl 1990, TV-Übertragung
Die deutsche Einheit hatte also sowohl eine innenpolitische als auch eine außenpolitische Dimension. Beide konnten nicht ohne Weiteres überwunden werden. Die für März angesetzte erste freie Volkskammerwahl in der DDR bedeutete nicht nur die Wahl eines ostdeutschen Parlaments. Sie wurde gleichzeitig auch zu einer Entscheidung über die Zukunft der DDR. Effektiv traten vier verschiedene Fraktionen zur Wahl an: Die christlich-demokratischen Parteien unter dem neuen Label „Allianz für Deutschland“, die verschiedenen Bürgerinitiativen aus der DDR, besonders das Bündnis 90, im Verbund mit den Grünen, die SPD und die zur PDS umbenannte SED. Die Ziele dieser Gruppierungen unterschieden sich deutlich voneinander und strahlten auf die auf den Dezember vorgezogene Bundestagswahl ab. Die „Allianz für Deutschland“ sowie die FDP strebte die vollständige und sofortige Wiedervereinigung unter Artikel 23 des Grundgesetzes an, während die SPD sich eher für eine föderale Lösung aussprach, die die Wiedervereinigung als mittelfristiges Ziel betrachtete. Gleiches gilt für Bündnis90 und Grüne, während die PDS die Eigenstaatlichkeit der DDR vertrat.

Auch wirtschaftspolitisch besaß die Wahl eine große Dimension. Die anfängliche Euphorie über den Mauerfall war verflogen, und das starke Wohlstandsgefälle zwischen BRD und DDR wurde erneut und drastisch sichtbar. Neben der Frage der künftigen Staatlichkeit der DDR, die ohnehin ohne außenpolitische Arbeit nicht lösbar war, stellte sich die nach dem Währungsraum. Helmut Kohl sprach sich schnell für eine Wirtschaftsunion beider deutscher Teilstaaten inklusive Übernahme der D-Mark zum Wechselkurs 1:1 aus. Die Folgen waren absehbar: ein kurzfristiger, großer Kaufkraftgewinn für sämtliche Ostbürger und ein rapider Verlust an Wettbewerbsfähigkeit für die ohnehin schwache DDR-Wirtschaft, die quasi über Nacht auf das westdeutsche Wirtschaftssystem umgestellt werden würde. Kohl bewies mit dieser Forderung jedoch den richtigen politischen Instinkt. Die mittelfristigen und langfristigen Wirkungen interessierten in der dynamischen und spannungsgeladenen Atmosphäre niemanden. Oskar Lafontaine, Kanzlerkandidat der SPD, verschätzte sich mit seinen Versuchen, auf einen wirtschaftlich besonneneren Kurs zu schwenken schwer. 

Briefmarke, 1989
Dies lässt sich auch an den geänderten Slogans der immer noch regelmäßig stattfindenden Demonstrationen ablesen: aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Neu hinzu kam „Kommt die DM bleiben wir, kommt sie nicht geh’n wir zu ihr“. Die Stoßrichtung war klar: die Bürger der DDR erwarteten eine wirtschaftliche Angleichung an die BRD (nicht so sehr eine politisch-soziale, aber das zu differenzieren erwies sich in jenen stürmischen Tagen als praktisch unmöglich). Die SPD, die bei den ersten Umfragen zum Jahreswechsel 1989/90 noch auf eine Mehrheit hoffen durfte, sackte bis zur Volkskammerwahl selbst daher immer weiter ab und wurde in der Wählergunst völlig von der „Allianz für Deutschland“ verdrängt. Dies hatte neben dem klaren Nachteil bei den politischen Positionen einen handfesten infrastrukturellen Grund: während die CDU und FDP ohne viel Federlesens ihre entsprechenden Blockparteien aufsaugten und deren Strukturen und Finanzen übernahmen, weigerte sich die SPD, mit der neuformierten PDS zusammenzuarbeiten. Sie musste ihre Wahlkampfstrukturen daher völlig aus dem Stand aus dem Westen heraus aufbauen. Hinter dieser Weigerung stand die Furcht, eine Übernahme von PDS-Mitgliedern (tatsächlich wurde seitens der PDS ernsthaft debattiert, dass die gesamte Führungsspitze geschlossen zur SPD überwechselte, was der PDS den Todesstoß versetzt hätte) würde die SPD zu stark verändern und der „Allianz für Deutschland“ einen Rote-Socken-Wahlkampf zu erlauben. 

Je mehr die Unterschiede zwischen PDS und SPD deutlich wurden und die beiden Parteien sich gegenseitig mieden, desto mehr profitierte die „Allianz für Deutschland“. In den Volkskammerwahlen erzielte sie 40,8%, verglichen mit nur 21,9% für die SPD und immerhin 16,4% für die PDS. Der Vorsitzende der „Allianz für Deutschland“, Lothar de Maizière, bildete daraufhin eine Koalition zwischen CDU, SPD und den Liberalen. Die Weichen standen damit endgültig auf Wiedervereinigung, denn de Maizière ließ keinen Zweifel daran, dass er die DDR nicht zu erhalten wünsche und seine Aufgabe eher als „Reichsverweser“ betrachtete. Neben der Verabschiedung einer neuen, an die BRD angelehnten Kommunalverfassung im Mai 1990, die die Grundlage für einen föderalistischen Aufbau legte, beschloss die Volkskammer im Sommer 1990 vor allem die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der BRD. Nicht nur wurde die D-Mark zum Kurs 1:1 offizielle Währung der DDR, auch die Renten wurden an das BRD-System angepasst und damit relativ zum vorherigen Stand deutlich erhöht, während die vielen nun anfallenden Arbeitslosen von der westdeutschen Sozialversicherung versorgt wurden. Um die vielen staatseigenen Betriebe zu überprüfen und zu privatisieren oder gegebenenfalls abzuwickeln wurde die berüchtigte Treuhand gegründet, von der später noch die Rede sein wird. Die klarsten Verlierer der Volkskammerwahl aber waren nicht SPD und PDS, sondern die Bürgerinitiativen wie das Bündnis90. Sie verloren in er Folgezeit massiv an Bedeutung, schon allein, weil sie es mit den Politprofis der Parteien nicht aufnehmen konnten. Ihre Reste fusionierten schließlich mit den Grünen.

Kohl im Wahlkampf 1990 in Erfurt
Neben diesen innenpolitischen Dimension spielte jedoch die außenpolitische ebenfalls eine tragende Rolle. England, Frankreich und Russland waren alle wenig begeistert von der Aussicht auf eine deutsche Wiedervereinigung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Für Großbritannien gefährdete ein Deutschland der 80 Millionen das Gleichgewicht in Europa. Bislang war die 60-Millionen-BRD durch das ähnlich große Frankreich in der Waage gehalten worden. Für Frankreich stand der delikate deutsch-französische Ausgleich, der die EWG bestimmte, auf der Kippe. Die Agrarsubventionen der EWG etwa waren für Frankreich extrem wichtig. Ein größeres industrialisiertes Deutschland aber könnte diese in Frage stellen. Für beide Länder war außerdem völlig unklar, wie zuverlässig eine solcherart vergrößerte BRD bleiben würde. Wäre Kohl bereit, ähnlich der Stalin-Note 1952 eine Neutralisierung Deutschlands zu akzeptieren, die zu einer Art Rapallo 2.0 führen würde, einer Politik zwischen Ost und West? Genau das war natürlich das erklärte Ziel der Sowjetunion. Sie wollte Ostdeutschland unbedingt aus Nato und EWG heraushalten.

Für Kohl galt es damit mehrere Ängste zu zerstreuen. Letztlich bedeutend aber waren vor allem zwei Mächte: die USA und die Sowjetunion. Kohl hatte schnell die Unterstützung George Bushs, des damaligen US-Präsidenten. Mit dieser gewichtigen Unterstützung im Rücken war damit zu rechnen, dass auch Großbritannien und Frankreich letztlich einlenken würden. Kohl musste ihnen nur garantieren, dass Deutschland in den bisherigen Vertragsgebieten bleiben würde. Dies gelang seitens Frankreichs durch das Versprechen auf eine gemeinsame europäische Währung, dem Euro. Großbritannien überwand seine Vorbehalte als deutlich wurde, dass Deutschland sich in der EWG selbst beschränken würde (so würde das Europäische Parlament keine zusätzliche deutschen Sitze bekommen, obwohl es eigentlich nach Einwohnerzahl bestimmt wurde) und in der Nato blieb. Übrig blieb somit nur die Sowjetunion.

Gorbatschow und Bush 1989 auf Malta
Kohl gelang es, auf einer sehr persönlichen Ebene mit Gorbatschow zusammenzukommen (bedenkt man, dass es 1987 noch wegen eines unglücklichen Goebbels-Vergleichs fast zum Eklat gekommen war ein erstaunliches Ergebnis) und sein Vertrauen zu gewinnen. Auf dieser Basis konnten die restlichen Probleme in Verhandlungen aus dem Weg geräumt werden. Einerseits verlangte die Sowjetunion großzügige finanzielle Entschädigungen, unter anderem einen deutschen „Kredit“ sowie die Finanzierung des sowjetischen Truppenabzugs aus Ostdeutschland bis 1994. Andererseits verpflichtete sich die BRD, in Ostdeutschland eine Art entmilitarisierter Zone einzurichten und das Gebiet nicht zum offiziellen Nato-Gebiet zu machen. Im Gegenzug durfte die wiedervereinigte BRD Nato-Gebiet bleiben (der Zusammenbruch des Warschauer Pakts kurz darauf machte diese Regelungen ohnehin zur Makulatur). Ebenfalls vereinbart wurde der EWG-Beitritt Ostdeutschlands. Die BRD musste außerdem noch einmal förmlich die Odergrenze anerkennen und gegenüber Polen auf gewaltsame Grenzänderungen verzichten.

Mit diesen Vereinbarungen waren die außenpolitischen Hindernisse beseitigt. In den 2+4-Verhandlungen wurde der Zweite Weltkrieg endgültig beendet – die Besatzungsmächte zogen vollständig ab. Dies betraf die sowjetischen Garnisonen in Ostdeutschland und die alliierten Truppen in Westberlin, sofern nicht durch entsprechende Stationierungsverträge im Rahmen der Nato Truppen verblieben. Das wiedervereinigte Deutschland würde die UNO-Mitgliedschaft der BRD erben und endgültig souverän sein. Der Vorbehalt in gesamtdeutschen Fragen entfiel. Es ist wichtig zu wissen, dass die 2+4-Verhandlungen keinen offiziellen Friedensvertrag darstellten. Die Frage nach Reparationen für den verlorenen Krieg, besonders an viele kleine Nationen wie Polen oder Griechenland, wurde damit auf die kalte Art bereinigt. Zwar verzichteten viele dieser Länder offiziell auf ihre verbliebenen Forderungen, jedoch brachen alte, in den 1950er und 1960er eigentlich als erledigt betrachtete Fragen über juristische Zuständigkeiten erneut wieder auf, was etwa Ende der 1990er Jahre zu den großen Zwangsarbeiterentschädigungen führte. Für die Wiedervereinigung stellte dies jedoch kein Hindernis dar. Zum Dezember 1990 wurden Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag ausgerufen. Die Popularität Kohls, der im Sommer 1989 noch als lahme Ente gegolten hatte, kannte fast keine Grenzen mehr. Lafontaines Wahlkampfkonzept erwies sich als falsch, und der Anschlag einer geistig verwirrten Frau auf ihn verbesserte die Lage nicht. Die SPD schwenkte ebenfalls auf den Wiedervereinigungskonsens ein (der nur noch von der PDS in Frage gestellt wurde) und verlor die Wahl mit rund 33,5% deutlich, während die Union mit 43,8% und die FDP mit 11% eine klare Mehrheit gewannen. Bündnis90/Die Grünen bestätigte den Trend der Volkskammerwahlen und gelangte überhaupt nur dank der Sonderregelung, dass in West und Ost jeweils eine eigene 5%-Hürde galt, in den Bundestag. Am 3. Oktober 1990 war zuvor die offizielle Wiedervereinigung in einem Festakt begangen worden, der zum offiziellen Nationalfeiertag wurde.

Polizist in DDR-Uniform vor Treuhandgebäude 1991
Bereits 1991 zeigten sich jedoch gravierende Schwächen in Kohls Wiedervereinigungskonzept. Während die außenpolitische Abwickelung der Einheit geradezu elegant von ihm gelöst worden war – was viele als praktisch unmöglich gesehen hatten -, machte besonders die wirtschaftliche Abwicklung deutliche Sorgen. Um die Wahl zu gewinnen hatte Kohl Steuererhöhungen, die Lafontaine als unausweichlich bezeichnet hatte, entschieden abgelehnt. Stattdessen waren Fantasiekonzepte von Privatisierungserlösen aus der Treuhand zur Finanzierung herangezogen worden. Trotz moderater Steuererhöhungen legte Kohl einen Großteil der entstehenden Kosten einfach auf die Sozialversicherungssysteme um. Die Folgen dieser Mehrbelastung besonders der Rentenversicherung fanden ihren Ausgang in der Agenda2010-Politik Schröders 2003/2004. Zudem erwies sich die Treuhand, die zur Privatisierung der DDR-Wirtschaft gegründet worden war, als wahre Katastrophe.

Investoren aus der BRD feierten geradezu ein Fest, als sie für Schleuderpreise die Filetstücke der DDR-Wirtschaft übernahmen, während der Rest – etwa die exzessive Braunkohleförderung oder die geradezu aberwitzig ineffiziente Mikrotechnikindustrie – in großem Stil abgewickelt wurde. Einige wenige Leute wurden an der Treuhand sehr reich, während viele DDR-Unternehmen ohne Rücksicht auf die Umstände liquidiert wurden. Fast allen brach das Genick, dass die umfassende Subventionierung der Betriebe durch den realsozialistischen Staat offiziell als Kredite der DDR-Banken getarnt worden war. Diese Banken waren von westlichen Investoren übernommen worden, die diese „Kredite“, die oftmals reine Luftbuchungen gewesen waren, nun einforderten. Der 1:1-Umrechnungskurs von Ostmark und D-Mark, der den realen Gegebenheiten keinesfalls entsprach, wirkte verstärkend. Bis 1992 waren weite Teile Ostdeutschlands effektiv deindustrialisiert. Trotzdem hatte die Aufbruchstimmung einen zarten Boom ausgelöst (im Osten gab es offensichtlich massive Potenziale und Märkte), der 1992 jedoch durch eine drastische Anhebung des Leitzins durch die Bundesbank, die Inflationsgefahr beschwor, abgewürgt wurde. Bis heute, mehr als 20 Jahre nach der Einigung, sind die neuen Bundesländer den alten wirtschaftlich hinterher und müssen mit Transferzahlungen finanziert werden. Auch dies ist das Erbe der deutschen Einheitspolitik.
Lafontaine im Wahlkampf 1990
Mental hinterließ besonders die Treuhand einen riesigen Scherbenhaufen. Ihre gescheiterte Politik trug dazu bei, dass viele Ostdeutsche sich kolonisiert und ausgebeutet fühlten und dem Westen vorwarfen, sich nur bereichert zu haben und selbst Deutsche zweiter Klasse zu sein. Zu einem gewissen Teil war die Enttäuschung wohl unvermeidlich, denn das rosarote Bild des Westens, das unter den Bedingungen der SED-Herrschaft geherrscht hatte, konnte der Wirklichkeit nicht standhalten. Viel davon war in jener Zeit aber auch mutwillig zerstört worden. Der Instinkt für die wirtschaftlichen Realitäten war bei Lafontaine wesentlich besser ausgeprägt als bei Kohl. Der jedoch hatte den politischen, und er nutzte ihn. Auch der eher unglückliche Umgang mit der Stasi-Akten-Behörde unter Joachim Gauck trug seinen Teil bei. Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bevor ein unverstellter Blick auf diesen Teil der deutschen Geschichte möglich ist.

Bildnachweise:
Volkskammerwahl -  Bundesarchiv, Bild 183-1990-0318-431 / Schindler, Karl-Heinz / CC-BY-SA
Briefmarke - DDR Post, gemeinfrei
Kohl - Bundesarchiv, Bild 183-1990-0220-032 / CC-BY-SA
Gipfel Malta - George Bush Library, Series: George H. W. Bush Presidential Photographs, compiled 01/20/1989 - 01/20/1993. U.S. National Archives and Records Administration, NAIL Control Number: NLB-WHPC-A-P8488(18) (gemeinfrei)
Polizist - Bundesarchiv, B 145 Bild-F088838-0037 / Thurn, Joachim F. / CC-BY-SA
Lafontaine - Bundesarchiv, Bild 183-1990-1025-300 / Gahlbeck, Friedrich / CC-BY-SA

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/12/die-deutsche-einheit-teil-3.html

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