Paul Ridder
Ein Bildnis des unbekannten Heinrich v. Kleist
Wie der Dichter Heinrich v.Kleist (1777-1811) tatsächlich ausgesehen hat, ließ sich bisher kaum sagen. Die bekannte Miniatur von P. Friedel erscheint für die Identifizierung seiner Person in vielerlei Hinsicht unzureichend, wie wir sogleich weiter unten erkennen werden. Nur ein zusätzliches, bisher unbekanntes Porträt könnte hier Abhilfe schaffen. Allerdings müßte man sich zuvor über die methodische Vorgehensweise einigen. Denn selbst ein Dichter mag daran verzweifeln, die Welt, in der man seinen Augen nicht trauen kann, für andere nachvollziehbar werden zu lassen. Erst der Vergleich unterschiedlicher „Sehepunkte“, wie man die Blickwinkel um 1800 nannte, ermöglicht im Kontext biographischer Veränderungen eine Annäherung an das reale Aussehen dieses Mannes.
Mit diesem Grundproblem schlägt Kleist sich sein ganzes Leben lang herum. Ständig suchen seine Figuren Haltepunkte, die sich aber aus anderen Blickwinkeln immer wieder auflösen. In seinem Schauspiel „Der zerbrochende Krug“ jammert Frau Marthe weniger über den entstandenen Schaden als über die vielen Scherben. Folglich liefert sie dem Richter nur eine fragmentierte Bildgeschichte: Dem Gericht wird sie durch die in zahlreichen Bildausschnitten erzählte Handlung den zerfallenen Krug stückweise vor Augen stellen – und dadurch wieder zusammenfügen. In ähnlicher Weise muß man sich auch Kleists Antlitz aus zahlreichen Blickrichtungen sorgfältig zusammensetzen, um einen Eindruck von seiner Person im Lebensverlauf zu erhalten.
Ein liebevoll gewidmetes Bildnis schenkte Kleist 1801 im Alter von 23 Jahren seiner Braut Wilhelmine v. Zenge zur Verlobung. Der Künstler Peter Friedel malte die Miniatur, etwa von der Größe eines Hühnereis (ca. 5,5 cm), in der Technik des Pastellbildes auf Elfenbein.1 Unter stark verblaßten Farben erkennt man ein ovales Gesicht mit alterstypisch ausgeprägtem Schmelz, bekränzt von kastanienbraunen Haaren, unter denen braune (nicht etwa blaue) Augen verliebt hervorschauen. 2 Als Perspektive wählte er – für einen preußischen Offizier im aktiven Militärdienst mit straff aufrechter Haltung eher ungewohnt – eine Blickrichtung von schräg oben, den Kopf ein wenig vorgezeigt, beziehungsweise über die Schulter nach hinten zurückgeworfen, wie man an der Stellung der Halswirbelsäule leicht erkennt. Dieselbe Kopfhaltung ist in dem nachfolgenden Bildnis der W. v.Zenge (s.u.) noch deutlicher zu sehen. Auf eine dritte Blickrichtung neben dem Halbseiten-Profil und der Kopfneigung weist uns eine zwischen 1831 und 1837 entstandene Kopie der Friedel´schen-Miniatur hin. (s.u.) Warum diese sehr ungewöhnliche Haltung des Kopfes? Der Maler hatte sich doch wohl etwas dabei gedacht! Aber was nur kann es gewesen sein, das ihn dazu bewogen hat?
In der mehrfach “gewinkelten” Draufsicht von vorn, das war die Folge, verschwanden, anders als es bei einem Seitenprofil möglich gewesen wäre, die Konturen des Nasenrückens im Lichtglanz und entzogen sich damit dem Blick des Betrachters! Die damit hergestellte optische Täuschung ließ den Eindruck entstehen, als wäre der Nasenverlauf ein wenig abgeflacht oder fast gerade. (Von dieser optischen Täuschung beeinflußt, hatte der Skulpteur Georg Elster i.J. 1910 ein Tondo mit dem Bildnis H.v.Kleists geschaffen, am Postament des Kleist-Denkmals in Frankfurt/Oder, das den Dichter im Seitenprofil mit einer zart eingesenkten Nasenlinie zeigte. Aber im Unterschied dazu stellte ein im letzten Kriege verlorenes Relief an seinem Geburtshaus aus dem 19. Jhdt. den Dichter H.v.K. im Seitenprofil mit einem deutlich gebogenen Nasenrücken bzw. – höcker dar.)
Die zurückgeneigte Haltung des Kopfes sowie die Wahl von Seiten- oder Vorderprofil vermitteln durchaus unterschiedliche Eindrücke von der dargestellten Person. Dies sieht man besonders deutlich an zwei berühmten Schiller-Porträts, die hier zur gefälligen Illustration herangezogen werden sollen, allerdings nur um die Sache zur erläutern: Bei der Silberstift – Zeichnung von D. Stock erkennt man im Seitenprofil F. Schillers gebogene Nase; bei der Schiller – Büste von H.H. Dannecker jedoch scheint die kräftig gebogene Nase Schillers dank der Vorderansicht “gerade” zu sein. Was lernt man daraus? Der für den Betrachter erkennbare, gerade Nasenverlauf ist der Wahl des Blickwinkels zu verdanken! Zu den Auswirkungen der vom Künstler gewählten Perspektive auf unsere Vorstellung von F. Schiller vergleiche man die beiden folgenden Abbildungen.
Dorothea Stock, Schiller, 1787, wikimedia commons
Abb. Blickwinkel auf F. Schiller, D. Stock,, Silberstift- Zeichnung, 1787
H.H. Dannecker, F. Schiller 1794, wikimedia commons
Abb. Blickwinkel zu F. Schiller von H.H. Dannecker, Schiller- Büste, 1794
Die Parallelen in den Profil-Ansichten der Kleist-Bildnisse liegen auf der Hand; auch hier vermitteln Vorder-, Halb- und Seitenprofil einen durchaus unterschiedlichen Eindruck. Das Seitenprofil läßt eine gebogene Nase hervortreten, das Vorderprofil hingegen täuscht einen geraden Verlauf vor. Übertragen auf die Friedel´sche Miniatur des H.v.K. bedeutet dies: Der zurückgelegte Kopf im halben Vorder- oder halben Seitenprofil bringt den wahren Verlauf der Nasenlinie zum Verschwinden! Unterstützt von der Wahl der Blickwinkels auf das zurückgekippte Halbvorder- oder Halbseiten-Profil überblendet der Lichtstrahl die obere Nasenhälfte, so daß vorhandene Kontraste zurücktreten, infolgedessen eine durchgehende Linienführung zwischen Nasenwurzel und -Spitze aufscheint und der kleine Anstieg im Anschluß an die Einkerbung in Höhe der Nasenwurzel – unsichtbar wird! Die Wahl der Perspektive also suggeriert eine Linienführung in der Darstellung des Nasenverlaufs, bei der offenbleibt, ob es sich tatsächlich um eine gerade, griechisch-römische handelt, wie es dem Schönheitsideal der Zeit entspricht oder nur um eine Camouflage.
Im 18.Jhdt. und noch um 1800 war eine ungeschönte, streng realitätstreue Darstellung generell nicht zu erwarten. Denn in den Jahren nach 1750 ff. setzte im Gesellschaftsleben Mitteleuropas eine große Selbstinszenierungswelle ein, der sich auch die Porträtkunst zu fügen hatte mit dem Ergebnis einer Ästhetisierung der Bildnisse, in der etwa die Nasen schön, aber nicht wirklichkeitsgetreu zu sein hatten. Und in der Tat, H.v.K. hatte ja bereits kritisiert, das Bild sei ihm nicht ganz ähnlich, und der Maler hätte ihn „ehrlicher“ malen sollen.
An dieser Stelle zeigen andere Bilder des H.v.K. im Seitenblick eine Schattierung der Nasenwand als wäre sie – bildlich gesprochen von dem Nasenkneifer einer Brille etwa in Höhe des Augenwinkels – ein wenig eingedrückt. Der Nasenrücken erscheint dadurch rein optisch ein wenig gebogen. (An nämlicher Stelle erscheint in der Familiengeschichte nicht selten ein leichter Nasenhöcker.) 6 Nach der Einkerbung an der Nasenwurzel und dem sich anschließenden Anstieg (nach einer Einkerbung an der Nasenwurzel oder einer Vertiefung muß offenbar auch wieder irgendeine Erhöhung folgen, sofern sie nicht eingedrückt erscheinen soll – was aber nicht der Fall ist.) verläuft die Nase mit dem breiten Rücken nun leicht gebogen, fast gerade, um in einer Kuppe zu enden, nicht etwa in einer Spitze.
Dem Malstil der Zeit entsprechend war die Miniatur a.d.J. 1801 also weniger realistisch als gefällig angelegt. P. Friedel wollte den verliebten Jüngling schöner erscheinen lassen, als er tatsächlich war. Kleist mochte das Bild aber nicht und schrieb seiner Verlobten: „Mögest Du es ähnlicher finden als ich… ich wollte er hätte mich ehrlicher gemalt.“ 3 Dabei habe er, um ihr zu gefallen, „fleißig während des Malens gelächelt“, und so wenig er auch dazu gestimmt gewesen, „so gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte.“ Heinrich v. Kleist hat nach seinen eigenen Worten demnach nicht so ausgesehen, wie P. Friedel ihn dargestellt hatte.
Es hieße die Enttäuschung des Dichters sträflich zu mißachten, würde man P. Friedels Miniatur, obgleich sie doch nicht “ehrlich“ war, dennoch zum absoluten Maßstab eines Bildvergleichs nehmen. Aus diesem Grunde, dem ungültigen Maßstab, verbietet sich auch die rein mechanische Deutung des Bildvergleichs, etwa bei der Anwendung technischer Verfahren der Bilderkennung. Hinzu kommt die biographische Insensibilität, die eine unreflektierte Bildbetrachtung nicht ratsam erscheinen läßt. Wäre es nicht etwa vermessen, den großen Mann unter das Joch eines unglaubwürdigen Kinderbildnisses zwingen zu wollen? Dieses Porträt war offenbar kein getreues Abbild der Natur, es war idealisiert und psychologisch gedeutet. 4 Die Miniatur von der Hand des P. Friedel ist dem Dichter H.v.K. nach dessen eigenem Urteil keineswegs ähnlich oder nicht ähnlich genug, sie hilft uns nicht unbedingt weiter, wenn wir uns eine realistische Vorstellung von seinem Äußeren verschaffen wollen. Uns bleibt daher weiterhin die Aufgabe der Klärung: Wie hat Heinrich v.Kleist denn nun wirklich ausgesehen?
H. v.K., Peter Friedel, Staatsbibiliothek Berlin
Abb. Peter Friedel, Verlobungsbildnis H. v.Kleist, 1801, Miniatur 5,5 cm, Staatsbibliothek Berllin. Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Ausschnitt: Kleist-Augenfarbe
Abb. Peter Friedel, braune (!) Augenfarbe H. v.Kleist, 1801, anderenorts jedoch mit “blau” angegeben
Bei genauem Hinsehen erkennt man – von dem gewählten Blickwinkel, wie auch von dem lieblichen Gesichtsausdruck, nahezu unkenntlich gemacht – unter jugendlichem Schmelz ein kräftiges Kinn und „leicht vorstehende Backenknochen“ 5 in einem markanten, fast dreieckigen Untergesicht. Die jugendlichen Weichteile in dem jungenhaften Gesicht werden erwartungsgemäß im Laufe der Zeit verschwinden. Schon gar nicht wird auf anderen Bildnissen wieder der gleiche verliebte Blick erscheinen oder die geschürzten Lippen oder die nach oben verzogenen Mundwinkel. Das Jünglingsgesicht wird sich wohl kaum mit dem des gereiften Mannes decken und das Feststellen von Ähnlichkeiten infolgedessen nicht einfach werden.
Vergleiche mit dem frühen Bildnis sind demnach unter dem Vorbehalt von Reifungsprozessen zu stellen. Ähnlichkeit alleine genügt also nicht ! Folglich darf man nicht ohne weiteres eine vollständige Übereinstimmung mit jener Miniatur von P. Friedel erwarten, man muß gewissermaßen “Übersetzungsarbeit” leisten, aber auch auf Überraschungen gefaßt sein. Die Frage ist nur: Was bleibt angesichts erwartbarer Veränderungen im Laufe seines Lebens identisch? Man ist hier – wie in der Rechtsmedizin oder in der Kriminologie – zur Personenerkennung auf sogenannte unveränderliche Kennzeichen angewiesen. Vornehmlich die anthropologisch-medizinischen Merkmale also eröffnen eine Chance zur Identifizierung; sie sind es, die dazu beitragen könnten, das Bildnis des unbekannten Heinrich v. Kleist zu rekonstruieren. 7
Das soeben angedeutete Phänomen des Übergangs zwischen (mindestens) zwei gesonderten Zuständen des Lebens wirft grundsätzliche Probleme der Prozeßanalyse biographischer Prozesse auf. Goethe hat sie für uns am Beispiel der Wolkenkunde (Nephologie) illustriert: Zunächst erblickt der unbefangene Betrachter die Komplexität wandelbarer „Atmosphäre“: „Die Welt, ist so groß und breit,/ Der Himmel auch so hehr und weit,/ Ich muß das alles mit Augen fassen,/ Will sich aber nicht recht denken lassen.“ Der für Goethe so typische Rat lautet: „Dich im Unendlichen zu finden,/ Mußt unterscheiden und dann verbinden;“
Im zweiten Teil seiner Trilogie „Howards Ehrengedächtnis“ skizziert Goethe die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit einer Wissenschaft des Vorübergehenden, um festzuhalten, was „sich nicht halten“ läßt, und zwar nur scheinbar paradox durch Unveränderliches, durch bestimmte Begriffe. Nachdem sich der Betrachter am Wechsel der Gestalten erfreut hat, regt sich in ihm „des eigenen Bildens Kraft,/ Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft.“ „Mit reinem Sinn“ gelingt ihm das Kunststück, das eigentlich Unberechenbare in seine Rechnungen aufzunehmen, er „bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,/ Benennt es treffend!“ Allein, es fehlt das einigende Band zwischen den Zuständen, die Dynamik des Übergangs.
Goethe kommt am Schluß zu dem Ergebnis: „Wohl zu merken: Und wenn wir unterschieden haben,/ Dann müssen wir lebendige Gaben/ Dem Abgesonderten wieder verleihen/ Und uns eines Folgelebens erfreuen.// So wenn der Maler, der Poet/ Mit Howards Sondrung wohl vertraut/ … die Atmosphäre prüfend schaut.// Da läßt er den Charakter gelten,/ Doch ihm erteilen luftige Welten/ Das Übergängliche, das Milde,/ Daß er es fasse, fühle, bilde.“ Aber wo der Poet als roten Faden „Der Erde tätig leidendes Geschick” vor Augen hat, da orientiert sich der Wissenschaftler an gewissen unveränderlichen Kennzeichen, die von Veränderlichem absehen und die abstrakter sind als die bloß oberflächliche Ähnlichkeit der Bilder. Klare Begriffe knüpfen zweckmäßig beim “Charakter” an und bei den im Verlauf des Lebens unveränderlichen Kennzeichen. Die methodisch sorgfältige, die wissenschaftliche Vorgehensweise muß von den medizinisch-anthropologischen Identifikationsmerkmalen ausgehen, am besten von präzisen, unveränderlichen Kennzeichen. Mit solchem Rüstzeug zur Analyse biographischer Prozesse nähern wir uns dem nächsten Porträt.
Ein zweites Bildnis entstand in französischer Haft von der Hand eines Mitgefangenen, offenbar ein guter Beobachter, wenn auch kein Künstler. Immerhin vermag das sog. “Gefangenschaftsbild” uns den Eindruck, den P. Friedel übermittelt hat, deutlich zu korrigieren. Das Gefangenschaftsbild präsentiert den Dichter im schwarzgrünen Rock mit kastanienbraunem, sogar gelocktem Haar und zwar merklich dunkler als auf jenem Jugendbildnis. Anders als auf jener Miniatur des P. Friedel erscheinen die Augen jetzt auch nicht mehr in brauner, sondern in überraschend hellblauer Färbung. Wieder treten kräftige Wangenknochen und ein markantes Kinn hervor; außerdem erkennt man die Form des linken Ohres, den breiten Schwung der Augenbrauen, mandelförmige Augen mit nach außen hin vertieften Augenwinkeln. Die überlängten Augenwinkel unter ausgeprägter Schläfe, als wären sie Lachfalten am Augenrand, tragen zum Charme des Dargestellten nicht wenig bei. Abzulesen an einer Kahlstelle verläuft in den Augenbrauen, etwa in Höhe des linken Augenwinkels, eine Narbe!
Unbeeinflußt von jenem „unehrlichen“ Bildnis gewährt uns das Gefangenschaftsbild erstmals einen unbefangenen Eindruck auf den Poeten. Ganz anders als bei P. Friedel – selbst bei der gewählten Perspektive von vorn, in der das Seitenprofil unserem Blick entzogen wird – wird eine kräftige Nase nicht mehr verschwiegen. In der Perspektive von vorn, also in der Draufsicht, sieht man einen vergleichsweise breiten Nasenrücken. Jetzt erscheint auch die Nasenlinie nur scheinbar gerade, im Seitenprofil erst oder in der Seitenansicht zeigt sie uns ihre wahre Gestalt ! Deutlicher als zuvor wird die seitliche Nasenwand sichtbar, linksseitig die gebogene Nasenlinie, die Nasenkuppe am Ende, ein breiter Nasenrücken und mit dem Beginn einer Abschattierung die Andeutung eines Nasenanstiegs etwa in Höhe des linken Augenwinkels. 8 Diese Nasenform wird im Friedel´schen Bild nur zart angedeutet, im Gefangenschaftsbild – bei besserer als der hier lieferbaren Bildqualität – jedoch deutlich erkennbar. Die soeben identifizierte Nasenform wird schließlich in der Zeichnung der W. .v.Zenge bestätigt: Dieses Untersuchungsergebnis, eine mit einen kleinen Anstieg leicht gebogene Nasenlinie, bleibt also festzuhalten.
Wenn es nicht rechts auf dem Bild vermerkt wäre, “poète prussien”, würde man eine Gemeinsamkeit mit jener Miniatur von P. Friedel wohl kaum vermuten; gewöhnlich auch wird das Gefangenschaftsbildnis unseren Blicken vorenthalten. Anders als auf dem idealisierenden Jugendbildnis mit dem friseurkundig geglätteten Haarschopf wird der Dichter jetzt mit rundum gelockten Haaren dargestellt. Von Haarfransen überdeckt macht sich ferner eine stark ausgebildete Schläfenstirn bemerkbar, deren Wölbung so ausgeprägt ist, daß sie die Augenwinkel zur Seite hin zu dehnen und zu längen scheint, sogar die Haarfransen seitwärts abzulenken vermag! Vor allem aber bedeutet die Wahl des Blickwinkels bei P. Friedel (Perspektive, Halb-Seitenprofil, zurückgelegter Kopf), daß der Kopf des H..v.K. uns flacher oder runder erscheint (s.u. die Kopie jener Miniatur a.d.J. 1831) als er in Wirklichkeit war, wie man erst auf dem vorliegenden Gefangenschaftsbild erkennt, das uns stattdessen eine hochaufstrebende Stirn präsentiert. Nun wird auch das Untergesicht mit den dicken Pustebacken alterstypisch von dem Schatten eines kräftigen Bartwuchses abgedunkelt. Vergleichsweise zu den Porträts von P. Friedel und W.v.Zenge (s.u.), die den Dichter eher romantisch, fast schwächlich darstellen, tritt uns H v.Kleist in militärisch aufrechter Haltung deutlich maskulin entgegen.
H. v.Kleist, Kleist-Gefangenschaftsbildnis
Abb. Gefangenschaftsbildnis, 1807, aufrechte Kopfhaltung
Eine drittes Bildnis („Berliner Miniatur“) ist zu erwähnen, vermag aber eher zu befremden, wird in einer neuen Monographie zum Thema jedoch ebenfalls als authentisch anerkannt 9 Man könnte es nur eingeschränkt für einen Bildvergleich heranziehen, sofern gewisse Anforderungen erfüllt werden. 10 Denn eine Ähnlichkeit mit der Miniatur von Friedel ebenso wie seine Authentizität sind keineswegs gesichert. Der Beitrag idealisierender Veränderung im Vergleich zur Friedelschen Miniatur bleibt ungeklärt. 11 Selbst die Provenienz ist eigentlich unbekannt. 12 Immerhin sind einige wichtige Merkmale zu erwähnen, die bei bestimmten Kennern offenbar Anerkennung gefunden haben: Denn bei der Zuschreibung des Bildes an H.v.K. findet nachweislich ein kleiner Nasenhöcker die Zustimmung der Kleist-Gemeinde, ebenso eine Warze am linken Nasenflügel. Auffallend erscheint ferner eine weit fortgeschrittene Stirnglatze; auch eine eingefallene Oberlippe ist zu bemerken. (Diese Merkmale könnten als Hinweise auf eine medizinische Behandlung mit bestimmten Arzneimitteln gelten, als deren Nebenwirkung die Haare und Zähne ausfallen. s.u.) Diese von der Kleistgemeinde als gültig anerkannten Kennzeichen wären also, eine Idealisierung vorausgesetzt, dem Merkmalskatalog hinzuzufügen. Bei einer Identifizierung des H.v.K. wäre demnach zusätzlich zu prüfen, ob ein bisher noch unbekanntes Kleist-Porträt einen kleinen Nasenhöcker erkennen läßt, ob eine stark gewölbte Schläfenstirn beobachtet werden kann und eine Warze am li. Nasenflügel erkennbar sind. Ein starker Bartwuchs wäre ebenfalls zu nennen, wie bei P. Friedel schon angedeutet wurde.
Berliner Miniatur v.1803
Abb. Berliner Miniatur (1803/ 04, ?? )
Gelegentlich wird auch eine Marmorbüste, die Karl Friedrich Wichmann posthum 1816 erstellt hat, dem Dichter H.v.K. zugeschrieben. Die Authenzität der Büste ist aber nicht gesichert; ihren Platz im Arbeitszimmer des Bundespräsidenten im Schloß Bellevue, wohin sie ausgeliehen ist, verdient sie wohl nicht. An der Basis liest man nicht – wie man erwarten könnte – den Namen „v.Kleist“, sondern lediglich auf der Rückseite am Büstenansatz links nur „Carl Wichmann fecit 1816“. Schriftliche Zeugnisse liegen nicht vor; es ist nicht einmal gewiß, ob der Künstler den Dichter überhaupt persönlich gekannt hat, geschweige denn, daß er ihn porträtiert hätte. Eine Beauftragung durch den verarmten H.v.Kleist muß ausgeschlossen werden. 13 Die Wichmann-Büste besitzt die Kennzeichen einer verlässlichen Quelle nicht.
Ganz anders liegen die Verhältnisse bei dem bekanntesten Bildnis, das Wilhelmine v.Zenge (Abb.), die das Friedel´sche Bildnis 1801 als Verlobungsgeschenk erhalten und nach der Trennung an Kleists Schweizer Adresse zurückgeschickt hatte, wo es Jahre später wieder aufttauchte. W. v.Zenge konnte Kleists Bildnis also nur aus der Erinnerung zeichnen, nach etwa zwanzig Jahren. Wenn das zugrundeliegende Porträt von P. Friedel (1801) schon nicht „ehrlich“ ( H.v.K.) war, so kann erst recht nicht die Kohlezeichnung der ehemaligen Verlobten ein getreues Abbild „nach der Natur“ darstellen. Immerhin zählt persönliche Vertrautheit zu seinen Vorzügen, so daß man gut beraten ist, bei einem Bildvergleich weniger die Ähnlichkeit als die objektiven Merkmale in den Vordergrund zu stellen. Infolge lebensgeschichtlicher Veränderungen ist man zur Wiedererkennung ohnehin auf jene unveränderlichen Kennzeichen angewiesen, die in dem Bildnis von der Hand der W. v. Zenge (vgl. Abb.) wie in einem Merkmalskatalog erscheinen.
Wir erblicken wieder jenen zurückgelegten Kopf mit seitlichem Blick nach oben, die überlängten Augenwinkel, jenen leicht spöttischen Gesichtsausdruck, den dunklen Bartschatten, mehrere Narben (: eine unnatürlich verlaufende, scharf geschnittene Scharte („Schmiß“) unterhalb des Jochbeins, eine etwa pfenniggroße Hautveränderung (Narbe, Warze?) am linken Nasenflügel, eine fast waagerecht sich hinziehende Kahlstelle (Narbe) an der linken Augenbraue oberhalb des äußeren Augenwinkels), eine charakteristische Nase (breit auslaufende Nasenwurzel, breiter Nasenrücken, leicht gebogene Nasenlinie, eine Nasenwand mit markanter Einbuchtung etwa in Höhe des inneren Augenwinkels (wie Gefangenschaftsbild), eine kuppenförmig auslaufende, durch ein Glanzlicht bezeichnete Nasenendung und jene eingebogene Nasenwand, die am Übergang zwischen der breiten Nasenwurzel und dem Nasenrücken eine, durch einen Lichtfleck beleuchtete Erhebung („Anstieg“, „Höcker“) vermuten läßt (wie Gefangenschaftsbildnis, Berliner Miniatur). Der Verlauf der Nase ist erkennbar leicht gebogen und nicht etwa gerade oder gar scheinbar einfallend wie bei P. Friedel. Schließlich fallen die hervortretenden Wangenknochen auf sowie ein kräftiges Kinn mit starkem Bartwuchs und ein kleines Kinngrübchen.
Heinr. v. Kleist, W. v. Zenge
Abb. Wilhelmine. v.Zenge, Kreidezeichnung des H. v.Kleist, um 1831, Nachschöpfung auf der Grundlage von P. Friedel, 1801, Körperhaltung vom Fotografen wohl ein wenig “nachgebessert”.
Eine Kopie jener Miniatur von P. Friedel , entstanden zwischen 1831 und 1837 unter der Patronage und vermutlich der Auskunftsbereitschaft der Familie v.Kleist und von offensichtlich geringerer Qualität, ist es uns behilflich, unsere Vorstellung über das Aussehen des H.v.K. ein wenig zu ergänzen. Sie zeigt wieder den zurückgeneigten Kopf, diesmal sogar mit einer leichten Neigung zum Betrachter hin, worauf Lage der Augen- bzw. Augenbrauen-Achse hinweist. Mit dieser feinen Wendung kann perspektivisch auch der letzte Anschein eines Nasenhöckers bei H.v.K. zum Verschwinden gebracht werden. Die von dem Kopisten in der vorangegangenen Miniatur von P. Friedel erkannte Zuwendung des Kopfes zum Betrachter, der dritte Blickwinkel (“Sehepunkte” s.o.) nach Zurückwendung und Halbseiten-Profil, diente dazu, im Bilde die Zuneigung zu der Verlobten W. v.Zenge sichtbar werden zu lassen. Außerdem zeigt sich der Rand der Ohrmuschel, in der Miniatur von 1801 durch ein Haarbüschel verdeckt, in der vollständigen Rundung. Die Gestalt des Ohrläppchens ist in beiden Bildern gleich. Aber die Nase erscheint kräftiger und massiger als bei P. Friedel.
Heinrich-von-kleist, Kopie der Miniatur v. P. Friedel, Kleist-Museum Frankfurt/ O
Abb. Unbek. Künstler, Kopie der Miniatur von P. Friedel, (vgl. E. Siebert, a.a.O., Bild-Nr. 132, S. 105, im Besitz des Kleist-Museums, Frankfurt/ Oder).
Den beobachteten Verlauf der Nasenlinie ebenso wie die Ohrenform oder die ausgeprägte Schläfenstirn (vgl. NB) scheint auch der Künstler, der im Auftrag der Dt. Bundespost die Briefmarke (s.u.) gestochen hat, offensichtlich nach genauem Studium zu bestätigen. (vgl. Abb.).
Dt.Bundespost H. v.Kleist
Abb. Briefmarke der Dt. Bundespost (allerdings: Kopfhaltung korrigiert)
Eine zusätzliche Klärung gestattet die Ausgabe der 24(2012) der “Heilbronner Kleist Blätter”: Den Übergang zwischen Nasenwurzel und Nasenrücken bis zu einer leichten Erhebung wird auf dem Titelblatt illustriert Die Stirn wurde jedoch zu flach und nicht, wie es richtig wäre, vorgebaut gezeichnet. Dies hat zur Folge, daß die für H.v.K. charakteristische Einkerbung an der Nasenwurzel nicht hervortreten konnte.
Diesen Porträts gesellt sich neuestens ein bislang unbekanntes Kleist-Bildnis hinzu (unbek. Künstler, Öl auf Leinwand, 55×46 cm, unbek. Prov. 14). Im Übergang von der Romantik zum Biedermeier erscheint es stärker von Realitätssinn geprägt. Eine sorgfältige kunsthistorische Untersuchung der verwendeten Materialien und des Malstils datiert es auf die Zeit um 1810. Vielleicht entstand es als Freundschaftsdienst im persönlichen Umkreis von Künstlern und Literaten, zu dem der berühmte Maler C.D. Friedrich gehörte. Denkbar wäre aber auch eine Auftragsarbeit für einen potenten Förderer (wie bei J.W.L. Gleim), einer hochgestellten Persönlichkeit oder eines Fürsten (Königin Christina von Dänemark, Friedrich II. v.Pr.) an einen Hofmaler, wie im Falle der mittellosen Dichter F.G. Klopstock, F. Schiller, A.L. Karsch, C.L. v.Klencke. Man pflegte ein Porträt anfertigen zu lassen, um sich von einer Person im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild zu machen. Schließlich waren Porträts von ordentlichen Künstlern seinerzeit nicht teuer, sie waren durchaus erschwinglich.
Die unvoreingenommene Sicht auf ein neues Kleistbild erfordert einen phänomenologischen Blick, der uns von altem Vorwissen entlastet, was offenbar das Schwierigste ist und zunächst lediglich feststellt, was da ist – auf der Basis von Erfahrung und nicht aufgrund vorgefasster Meinungen: Auf dem Bildnis tritt uns ein gereifter Mann mit einem markanten Gesicht, etwa Anfang der dreißig (wie im Gefangenschaftsbildnis) in schwarzgrünem Rock mit weißer Halsbinde, in militärisch aufrechter Haltung entgegen. Altersgemäß erscheint der Gesichtsausdruck natürlicher strenger oder härter als als in Jugendzeiten. Die Gesichtsform ist oval; die energische Nase mit dem breiten Nasenrücken wie auf jenem Gefangenschaftsbildnis (s.o.), die hervortretenden Wangenknochen, das kräftige Kinn mit den Grübchen lassen das Untergesicht dieses Mannes ausdrucksstärker als auf der Friedel´schen Miniatur von 1801 erscheinen. Deutlicher wird auch ein dunkler Bartschatten. Die Oberlippe ähnelt derjenigen auf den bekannten Bildern. Der Mund formt sich zu den für H. v.K. so charakteristischen, spöttisch oder verführerisch lächelnden Lippen. Typisch auch der mächtige Kopf, die aufstrebende, vorgewölbte Stirn über der tief eingekerbten Nasenwurzel, der zauberische Blick unter der ausladenden Schläfenstirn und die verwirbelten Haarfransen.
Heinrich v. Kleist
copyright artothek.de
Abb. Heinrich v. Kleist, um 1810, anonym, Öl auf Leinwand, wachsdoubliert, 55x 46 cm. Dunkle Übermalung der Haarfrisur, darunter kastanienbraune Haarfarbe; unrestaurierter Zustand, Privatbesitz, © artothek.de
Dem Gemälde ist es, so wie es uns erscheint, in den siebziger Jahren übel ergangen. Zahlreiche Retuschen zeigen sich dem Blick des Restaurators im Infrarot-Licht oder unter dem Mikroskop: Mit brutalem Eingriff wurde das kastanienbraune Haar des Dargestellten dunkel übermalt. Weitere gravierende Eingriffe wurden zum Glück nicht aufgefunden. Unverändert ist jedoch das leicht wellige Haupthaar sowie das füllige Nackenhaar, das man wie auf dem Gefangenschaftsbildnis erkennt. Im einzelnen gehen wir jetzt die Personenmerkmale der Reihe nach durch:
Die Ohren-Form gestaltet sich wie auf dem Gefangenschaftsbild und der Kreidezeichnung der W. v.Zenge. Die Ohrmuschel zeigt eine vollständige Rundung, die in jener Friedel-Miniatur noch durch ein Haarbüschel verdeckt war. Auch die Darstellung in jener Kopie (s.o.), weist jene Rundung auf, ebenso die zahlreichen posthumen Plaketten und Reliefs im Seitenprofil. Im NB (und anders als in jener Kopie) allerdings verläuft – wie bei P. Friedels Miniatur – die Rundung der Ohrmuschel zunächst fast steil, um sich dann in einer vergleichsweise spitzen Kehre wieder nach unten abzusenken. Das füllige Ohrläppchen im NB deckt sich gleichffalls mit den bekannten Bildnissen. Die gleiche Form und Stellung des Ohrs taucht, nebenbei bemerkt, in der Familie auf (E. Siebert, Bild 3). Allerdings ist die Darstellung der Ohren nicht überzubewerten, da viele Porträtkünstler der Zeit ihnen kaum Bedeutung beigemesssen und sie dementsprechend nachlässig behandelt haben.
Während der Dargestellte auf dem Friedel´schen Porträt uns seitlich aus dem Augenwinkel mit einem über die Schulter zurückgelegtem Kopf ein wenig nach oben anschaut, blickt dieser uns erstmals im Halbprofil direkt ins Gesicht. Eine helle Intelligenz unterstreicht die Lebendigkeit der Darstellung. Wieder zeigt sich am Rande der mächtigen Stirn die stark hervorgewölbte Schläfenstirn (vgl. Gefangenschaftsbildnis, W. v. Zenge). Eine breite Schläfenstirn bedingt zugleich einen breiten Schwung der Augenbrauen und überlängte Augenwinkel. Der eher mandelförmige Schnitt der Augen mit den charakteristischen Augenwinkeln gleicht den authentischen Bildern. Die breite Linienführung der Brauen (alterstypisch ein wenig dicker als in der Jugend) deckt sich mit jenen bei P. Friedel und W. v.Zenge; sie wölben sich zunächst flach, dann aber in weitem Schwung hin zu wuchtig überdachten Augenwinkeln. Der ein wenig spöttische Ausdruck eines wissenden, gereiften Mannes scheint jedoch, durch abgesenkte Mundwinkel betont, von Trauer überschattet.
Und nun fallen auch bestimmte individuelle Erkennungsmerkmale auf, die unzweifelhaft H. v.Kleist eigen sind – und niemand anderem ! Die linke Braue weist, wohl als Folge einer Verletzung, eine Narbe auf (Kahlstelle). An der Schläfenpartie wird eine deutlich ausgeprägte, charakteristische Wölbung sichtbar. Eine fein gefärbte Narbe (Scharte, Schmiß) zieht sich steil auf der linken Wange hin. Als Kadett bei Fechtübungen, wenn nicht als Soldat im Kriege, hatte der Porträtierte gewiß die eine oder andere Schramme hinzunehmen. Auf dem linken Nasenflügel ist eine fast pfenniggroße Hautveränderung (Warze, Narbe) zu bemerken. 15
Die breit auslaufende Nasenwurzel kommt den authentischen Bildnissen sehr nahe. Die am Übergang zwischen Nasenwurzel und – rücken in eine Einkerbung übergehende, leicht gebogene Nasenwand zeigt sich wie bei dem Gefangenschaftsbildnis; die gleiche Linienführung der Nase läßt aber auch das Porträt der W. v.Zenge erkennen: Eine vorspringende Nase läuft am Ende der Nasenwurzel in einem leichten Anstieg aus und geht in einer Vertiefung in einen breiten Nasenrücken über. Übrigens erscheint die Nase im Original des Bildes, das hier heranzuziehen wäre, weniger gebogen oder eher unauffällig: Der Grund dafür liegt natürlich in der kontrastverschärfenden Bearbeitung durch die Techniken des Fotografen. Verlauf und Rücken der Nase treten sehr ähnlich auch in der Familie auf (Siebert, Bild Nr. 2, 8, 12).
Die bei den Bildnissen P. Friedel, Gefangenschaftsbild und W. v. Zengen festgestellten Identifikationsmerkmale (u.a. runder Kopf, leicht spöttischer Gesichtsausdruck, mächtiger Stirnaufbau, auffallende Schläfenstirn, kräftiges Kinn, vorstehende Wangenknochen; überbreite Augenbrauen, überlängte Augenwinkel, breiter Nasenrücken leicht gebogen mit einer Einkerbung an der Nasenwurzel, Kahlstelle bzw. Narbe a.d.li. Augenbraue, Hautfleck a.li.Nasenflügel, Wangenschmiß, starker Bartschatten, kastanienbraune Haarfarbe) fügen sich zu einem neuen Gesamteindruck. Die Übereinstimmung der zahlreichen Erkennungsmerkmale auf dem neuen Bildnis mit den typischen Kennzeichen anerkannter Kleist-Darstellungen – sie kann kein Zufall sein! Schon die Anzahl der übereinstimmenden Identifikationsmerkmale beträgt mehr als auf jedem der anerkannten Bildnisse, ohne daß widersprechende Tatsachen erkennbar wären. Ohnehin geht die Zuschreibung aufgrund der objektiven Identifikationsmerkmale in ihrer zwingenden Stringenz über die Feststellung der bloßen Ähnlichkeit weit hinaus! Die Fakten rechtfertigen infolgedessen die Zuschreibung jenes Porträts – wir sehen Heinrich v. Kleist vor uns.
H. v.Kleist, Detail
Abb. H. v.Kleist, obiges Portrait NB, Ausschnitt, re. Augenpartie, unrestaurierter Zustand
Ungeklärt ist freilich immer noch die Augenfarbe: Denn in jungen Jahren (1801) scheint sie braun (P. Friedel) bzw. blau (Gefangenschaftsbild) gewesen zu sein, etwa zehn Jahre später tritt sie uns jedoch hellgrau-rötlichbraun entgegen. Welches war denn nun die Augenfarbe des Dichters um 1810, also zum Zeitpunkt der Entstehung des neuen Bildes NB – nicht etwa um 1801 oder 1803, war sie nun blaßblau oder hellgrau-rötlichbraun? Wenn wie im vorliegenden Fall eine totale Bildskepsis besteht, ist man auf zusätzliche Zeitzeugen angewiesen. Als Zeugen bieten sich hier die schriftlichen Berichte der beiden Ärzte an, die im November 1811 die Obduktion vorgenommen und sich auch zu Haar- und Augenfarbe geäußert haben.
Die beiden Ärzte, der Physikus Dr. Sternheim und der Chirurg H. Greiff, stellten, allerdings bei unzureichenden Lichtverhältnissen, gewisse anatomische Veränderungen fest. In ihrem Obduktionsbefund heißt es („. . .viel verdickte schwarze Galle“): „Nach diesen Anzeichen finden wir uns veranlaßt, gestützt auf Physiologischen Principia zu folgern, daß Denatus dem Temperamente nach ein Sanguino cholericus in Summo gradu gewesen, und gewiß harte hypochondrische Anfälle oft habe dulden müssen, (. . .). Wenn sich nun zu diesem excentrischen Gemüthszustand eine gemeinschaftliche Religionsschwärmerey gesellte, so läßt sich hieraus auf einen kranken Gemüthszustand des Denati von Kleist schließen.“
Laut Obduktionsbericht: zeigte der „Denatus“ Kleist zahlreiche braunrote Flecken auf dem Rücken und an den Lenden. Diese Exanthema weisen auf Symptome der Syphilis oder auf eine Vergiftung hin. Ferner fand sich eine widernatürliche große und harte Leber, wo der Körper bekanntlich die Medikamente abbaut. Auch war die Gehirn-Substanz, dem wichtigsten Zielort der Arzneimittelwirkung von Quecksilberpräparaten, viel fester als gewöhnlich. Das Metall hat die nämlich die Eigenschaft, sich bevorzugt im Gehirn und in der Leber abzulagern, in den Nieren hingegen nur selten. Dort waren denn auch keinerlei Veränderungen festzustellen.16 Die bei der Obduktion beobachteten Veränderungen im Körpergewebe lassen demnach Symptome einer chronischen Vergiftung durch Quecksilber erkennen. Dazu gehören zusätzlich weitere Kennzeichen, vornehmlich eine nach ca.5-6 Jahren erscheinende, hellgrau-rötlichbraune Verfärbung der Augeniris.
Nach Auskunft moderner Gerichtsmedizin 17 können Veränderungen der Augenfarbe bei den Toten schon nach kurzer Zeit auftreten. Dementsprechend ist die Augenfarbe nicht immer eindeutig festzustellen, und wenn, dann nur bei ausreichender Lichtquelle. Genaues läßt sich nicht immer aussagen. Unsicherheiten bleiben auch im vorliegenden Falle des „Denatus“ Kleist. Denn die Obduktion erfolgte im Dunkeln bei nur schwachem Kerzenlicht (S. 436). 18 Die Sichtverhältnisse waren so dürftig, daß der Bartwuchs und die Haarfarbe in den vorläufigen Obduktionsnotizen sogar mit „schwärzlich“ (statt kastanienbraun) angegeben wurde. Mit einiger Unsicherheit, es heißt in den ersten Berichtsnotizen „nach unserem Dafürhalten“ (S. 434), wurde auch die Augenfarbe, dem Licht und den Umständen entsprechend, hypothetisch nur vorläufig mit „blau“ angegeben, aber es könnte auch hellgrau-braun gewesen sein.
Der amtliche Obduktionsbericht läßt die Unsicherheit des Urteils allerdings nicht mehr erkennen. Jetzt erst (und nicht schon vorher) scheinen die Ärzte ihrer Sache sicher gewesen zu sein. Gewissenhaft hatten sie nämlich Erkundigungen eingezogen und ehemalige (nach zehn Jahren!) „Dienstkameraden“ (S. 438) befragt. Die Angaben der Ärzte beruhten also nicht, wie es korrekt gewesen wäre, auf eigener Anschauung, sondern auf dem Hörensagen aus dem Munde Dritter, die den “Denatus” H.v.K. aber seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Den aktuellen Stand der Augenfarbe, nach einer medizinischen Behandlung eines „Nervenleidens“, konnten diese daher nicht kennen. Immerhin glaubten die untersuchenden Ärzte sich nun berechtigt, die Augenfarbe gleichwohl amtlich festschreiben zu dürfen und notierten daher “blau”. Das amtliche Attest berechtigt infolgedessen keineswegs zu dem abschließenden Urteil, die Augenfarbe sei noch im Tode „blau“ gewesen. Hätten die untersuchenden Ärzte jedoch bei ausreichendem Licht gearbeitet, hätten sie auch eine andere, nämlich hellgrau-braune Augenfarbe feststellen können, wie sich noch erweisen wird.
Denn in H .v.Kleists Pathographie finden sich deutliche Hinweise auf eine Quecksilberbehandlung. Der Ablauf einer Quecksilber-Vergiftung kann, wenn die zentralnervöse Führung der Handmuskulatur nachläßt, am besten durch wiederholte Schriftproben einer mehr oder weniger ausgeprägten Zitterschrift erkannt und datiert werden. Jene Zitterschrift ist ein untrügliches Zeichen der Intoxikation. 19 Eine Schriftprobe der Unterschriften Kleists läßt eine typische Formauflösung seiner Unterschriften erkennen, die sich etwa seit 1806 verstärkt. Zu dieser Zeit befand sich Kleist bereits in ärztlicher Behandlung und reichte zur Wiederherstellung seiner Gesundheit bei seinem Dienstherrn, Hardenberg, am 18.08.1806 ein Gesuch zur Freistellung vom Dienst ein, da er „von einem chronischen Übel“ befallen sei. 19a
H. v.Kleist, Wandel der Handschrift
Abb. Unterschriften H.v.Kleists 20
Nach Aufenthalten in der Schweiz und in Paris wohnte Kleist von November 1803 bis Juni 1804 bei dem Arzt Dr. (Georg Christian) Wedekind in Mainz, der ihn wegen venerischer Krankheiten, im Dienste der Venus und wegen Gemütsleiden ärztlich betreute. Wedekind war ein Vertreter der “Mainzer Republik”, die den Anschluß an das revolutionäre Frankreich anstrebte; der Nachlass jenes Jakobiners, der die “falsche” Seite repräsentierte, dürfte seine Niederlage nicht vollständig überlebt haben. Ob heutzutage noch eine Krankenakte “H .v.Kleist” existiert, konnte nicht erwiesen werden. In der Literatur werden sowohl Syphilis als auch psychische Störungen berichtet. 21 Kleist selber betrachtete sich als „gemütskrank“ , zudem war er nach seinen eigenen Worten “von einem chronischen Übel” befallen (s.o.). Für die genannten Indikationen war nach dem Kenntnisstand der damaligen Medizin die Anwendung von Quecksilberpräparaten der allgemeine Standard! In seinen späten Stücken (Der zerbrochene Krug, Amphytrion, Hermannsschlacht) zeigte sich Kleist denn auch mit dem Quecksilber-Medikament „Kalomel“ durchaus vertraut.
Wenn sich nun auf dem Porträt eines gemütskranken Patienten um 1800 grau-braune Augen zeigen, so ist 22 die Farbveränderung der Augeniris dem Behandlungsverlauf entsprechend durch ein Quecksilber – Medikament 23 zu erklären. Eine Ablagerung von Quecksilber drückt sich aus in einer hellgrau-rötlichbraunen – bis dunkelrotbraunen Verfärbung der vorderen Augenlinsenkapsel (mercuria lentis). Diese verfestigt sich irreversibel ! 24 Eine leichte Rötung der Augenränder (wie auf dem Bild NB erkennbar), eine Schwellung der Schleimhäute und Lymphgefäße mit der Folge einer gewissen „Verkleinerung“ der Augen sind weitere Kennzeichen des Symptombildes. 25
Der chronischen Vergiftung geht oft eine lange Latenzperiode mit diffusen neurasthentischen Symptomen voraus. Die unspezifischen Allgemeinsymptome können wochen – monate- oder jahrelang anhalten, bevor weitere Vergiftungserscheinungen hinzukommen. 26 Der Prozeß der Vergiftung beginnt also schleichend. Frühsymptome sind Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme, die sich in vergleichsweise eingefallenen Wangen und einer Hagerkeit der Gesichtszüge (wie auf dem neuen Porträt) ausdrückt.
Nach etwa fünfjähriger Expositonsdauer tritt eine hellgrau-braune bis dunkelrotbraune Verfärbung der Augeniris auf. Diese Tatsache erklärt, warum die Augen des abgebildeten H.v.Kleist , das ihn im Alter von etwa dreißig Jahren darstellt, nicht mehr blau waren, sie können – aus medizinischen Gründen – im neuen Porträt nicht anders als hellgrau-rötlichbraun gewesen sein!
Außer in den gesicherten (s.o.) anatomisch-medizinischen Veränderungen drückt sich die Störung der Hirn-Funktionen (Enzephalopathie) infolge einer iatrogenen Quecksilberintoxikation auch in den Symptomen des manifesten Verhaltens aus, in Zitterschrift (s.o.), in verwaschener Sprache (wie vielfach berichtet), Stottern, Stammeln (Psellismus mercurialis), in Mundzuckungen. Man denke an den Besuch im Hause Rokoko-Dichters Martin Wieland. 26a
Im engeren Sinne der psychischen Veränderungen einer Quecksilberbehandlung zeigt der Patient Heinrich. v.Kleist folgende Symptome: Überhöhte Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Angstgefühle, Verlust des Selbstvertrauens, Unentschlossenheit und Persönlichkeitsschwund – bei im wesentlichen erhaltener intellektueller Leistungsfähigkeit. 27 Eine ähnliche Symptomatik zeigt sich übrigens im Schicksal des Dichters Charles Baudelaire. 28
Hinzu kommen folgende Symptome einer Quecksilber-Vergiftung bei H. v.Kleist: Der Patient fühlt sich gehetzt, nervöse Unruhe und ein erhöhtes Tempo bei allen Tätigkeiten (auch beim Schreiben) stellen sich ein. Besonders beeindruckend aber ist: Das Zeiterleben verändert sich! H. v.Kleist leidet an Depressionen (Erethismus mercurialis), er zieht sich aus menschlicher Gesellschaft zurück, flieht menschliche Nähe, wechselt die Aufenthaltsorte. Häufige Selbstmordgedanken stellen sich symptomatisch ein. Die Suizidgefährdung gehört zum Symptombild. Das Ende ist abzusehen. In zahlreichen Nöten verzweifelt Kleist am Leben; ihm sei „auf Erden nicht zu helfen“ und gibt sich am 21.Nov. 1811 die Kugel.
ANMERKUNGEN
4 Die Idealisierung setzt schon ein mit der Wahl der Perspektive, dem Blick auf den leicht nach schräg hinten geworfenen Kopf mit dem rückwärts gewendeten Blick. Spätestens seit der Delfter Maler Vermeer das “Mädchen mit der Perlenkette” gemalt hat, gilt diese Kopfhaltung – bis zum heutigen Tage übrigens – dem Porträtmaler (oder Fotografen) als “schön”. Im vorliegenden Falle des Kleist-Porträts hat diese Art der Momentaufnahme einer Kopfbewegung zusätzlich die meliorisierende Funktion, daß die Kontraste auf dem Nasenrücken (und damit der leichte Anstieg nach der Einkerbung an der Nasenwurzel) verschwinden. Weitere Stilisierungen sind den ein wenig verengten Augen und der Form des Mundes zu verdanken: Das geschürzte Mündchen mit den nach seitlich oben gezogenen Lippen lassen den Gesichtsausdruck lieblicher als etwa mit geraden oder gar mit herabgezogenen Mundwinkeln erscheinen. –
Als Maßstab des Bildvergleichs kommen nur die gesicherten, anerkannten und authentischen (!) Bildnisse in Frage. Eigentlich existieren nur zwei authentische Porträts des H.v.K. Wegen der Qualitätsunterschiede allerdings pflegt man häufig nur ein einziges, das Bildnis von P. Friedel (1801) heranzuziehen. Die vermeintlichen Kleist-Porträts von M. Slevogt, A. Graff und G. v.Kügelgen erfüllen nicht diese Vergleichs – Kriterien und sind daher auszuschließen.
6 Eberhard Siebert, Heinrich von Kleist. Eine Bildbiographie, Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2009 S. 11-20
7 In der Rubrik „Themen der Zeit“ widmet sich das Dt. Ärzteblatt den medizinischen Fallbeispielen und gängigen Behandlungsmethoden in Kleists Werk. Vgl. Sandra Krämer, Heinrich von Kleist (1777-1811): „O lieber tausend Tode, als ein einziges Leben wie dieses!“ in: Dtsch Arztebl 2011; 108(47): A-2539 / B-2126 / C-2098
8 Im Friedel´schen Bild nur angedeutet. Im vorliegenden Gefangenschaftsbild leider nur in der deutlich besseren Bildqualität des Originals erkennbar, das infolgedessen heranzuziehen wäre. Immerhin wird die nämliche Nasenform in der Zeichnung der W.v. Zenge bestätigt. Das Untersuchungsergebnis bleibt also festzuhalten.
9 aus: E. Siebert, a.a.O., S. 156. Siehe dazu Barbara Wilk-Mincu, Eine neue Kleist-Miniatur?, in: Heilbronner Kleist Blätter (HKB), 19 (2007), S. 139-152. Die Autorin behauptet jedoch eine „völlige“ Ähnlichkeit! Einerseits sei Übereinstimmung mit dem Friedel´schen Bild gegeben, obgleich H.v.K. doch gewiß keine Stülpnase und große Kulleraugen besaß. Ein schütteres Kopfhaar des Hv.K. ist bis dato nirgends belegt. Eine ausgedehnte Stirnglatze nach nur zwei Jahren (zwischen 1801 u. 1803) scheint möglicherweise auf medizinische Gründe (i.e. Symptome einer Quecksilber-Behandlung, s.u.) hinzuweisen. Auch ist über das eingeklappte linke Ohr gar nichts bekannt. Die Autorin räumt eine „unsichere Provenienz“ ein, gleichwohl hält sie „die neue Miniatur für ein authentisches Porträt“. Selbst wenn eine vollständige Identität mit dem Friedel´schen Bild nicht gegeben sein könnte, so müßten doch wichtige Merkmale nachweislich übereinstimmen; das ist aber nicht der Fall. Gleichwohl wird die „Berliner Miniatur“ von E. Siebert als „authentisch“ geführt.
10 in Berliner Privatbesitz, von Barbara Wilk-Mincu dem Dichter H.v.Kleist zugeschrieben, abgebildet in E. Siebert, a.a.O., S. 156, Bild Nr.216
11 faktenwidrig behauptet von der Autorin Wilk-Mincu. Der „Nachweis“ der Ähnlichkeit beansprucht jedoch kaum zehn Zeilen, Fehler eingeschlossen. B. Wilk-Mincu, ebenda, Vgl. S. 141
12 mündliche Überlieferung in der Familie des Besitzers, ebenda, S. 143
13 Starke Zweifel bleiben; so werden etwa die bei K.F.Wichmanns Skulptur erscheinende Sattelnase und die auffallend geblähten Nasenflügel nirgends erwähnt. Befremdlich muten auch die kleinen, eher stechenden Augen an. Das für Kleist so typische spöttische Lächeln paßt überhaupt nicht zu dem Gesichtsausdruck der marmornen Büste. Im Seitenprofil wird deutlich, daß weder die Kopfform, die Ohren, noch die Nase den authentischen Porträts entsprechen. Auch das Fehlen einer ausgeprägten Schläfenstirn weckt eher Zweifel.
14 Nicht alle Bilder zu dieser Zeit wurden vom Künstler auch signiert. Eine Signatur wurde erst um 1850 allgemeiner Standard. Auch läßt sich wie bei zahlreichen anderen Bildnissen nach zweihundert Jahren die Herkunft des Bildes nicht eindeutig klären. Ob die Rückseite der Leinwand hätte bestimmte Aufschlüsse geben können, läßt sich nach ihrer Doublierung nicht mehr klären. Und was die Person Kleists betrifft: Reisende pflegen wenig zu hinterlassen. Überhaupt neigte H.v.K. zur Verschleierung und Mystifizierung seines Lebenswandels. Aufwendige Nachforschungen zur Provenienz des Bildes verliefen daher leider ergebnislos. Genau besehen liefert jedoch die Provenienzrecherche, wenn sie nicht bis zur Modellsitzung führt, wegen der Zufälligkeiten der Traditionsbildung weder einen Beweis noch ihr Fehlen einen Gegenbeweis.
15 Siebert, a.a.O., S. 311
16 vgl. Daunderer, a.a.O., S. 47
17 Frau Prof.Dr. H. Pfeiffer, Dir. d. Inst. f.Gerichtsmedizin d. Universität Münster
18 H. Sembdner, Henrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Bd. 1, Frankfurt: Insel Vlg. 1992, S. 434 f.
19 siehe www.medhost.de
19a Sembdner , Lebensspuren, a.a.O., S. 122 – Es wäre lohnend, den Krankenberichten des Arztes Dr. Wedekind, der im Badischen ein bekannter Jakobiner war, nachzuforschen und – falls auffindbar – auf die Behandlung des Patienten H. .v.Kleist zu untersuchen. Offenbar ist dies bisher noch nicht geschehen. Zum Stand der Forschung siehe die medizinhistorische Dissertation von Martin Weber: Georg Christian Gottlieb Wedekind 1761–1831, Werdegang und Schicksal eines Arztes im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1988, mit einer umfangreichen Bibliographie im Anhang
20 Die zunehmende Formauflösung bei den Unterschriften des H. v. Kleist in seinen letzten Jahren sind ein klarer Hinweis auf die Symptome einer Quecksilber-Vergiftung. Anhand der Schriftzug-Atrophie läßt sich der Beginn der iatrogenen Enzephalopathie etwa auf die Zeit um 1806 terminieren. Eine Dokumentation des Wandels in den Unterschriften bei E. Siebert, der den Grund für diesen Wandel weder sucht noch erkennt, a.a.O. ,S. 323
21 Siehe dazu neuestens Anja Schonlau, Syphilis in der Literatur, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2005. Aus klinisch pychologischer Sicht fallen bei H.v.K. gewisse Symptome schizophrener Persönlichkeitsspaltung auf; so in der neuesten Biographie von Walter Hinderer, Vom Gesetz des Widerspruchs. Über Heinrich von Kleist“, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011; ders, Anläufe, sich von Heinrich von Kleist ein Bild zu machen, www.literaturkritik.de, Nr. 11, November 2011, Schwerpunkt: Kleist revisited, Essay. Aus psychiatrischer Sicht: Johann Glatzsch, Literatur und Schriftsteller in psychiatrischer Betrachtung, in. Ralph Langner (Hg.), Psychologie der Literatur: Weinheim: Beltz 1996; Hans-Ludwig Kröber, et al. (Hg.)l Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2011 Kap. 1 Psychopathologische Grundlagen forensischer Psychiatrie, zum querulatorischen Beziehungswahn im „Michael Kohlhaas“, S. 84. Aus psychoanalytischer Sicht: Emrich, H.M., Ein Krug-Zer-Bruch Buch. München: Imago 1991; Schlimme, J.E. . Verlust des Rettenden oder letzte Rettung. Freiburg i. Breisgau: Verlag Karl Alber 2010; Schmidtbauer, W., Kleists Narzissmus. Vortrag bei der Kleistgesellschaft 2008. Internet; Ortrud Gutjahr (Hg.), Heinrich v. Kleist, Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Würzburg, Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse Bd. 27, 2008.
22 Siebert, S. 310 Bild Nr. 485, S.. 311 Bild Nr.487. Ebenso auf der nach der Pose der Friedel´schen Miniatur angefertigten Kreidezeichnung der Wilhelmine von Zenge. „Die Züge auf der Zeichnung wirken gegenüber denen auf der Miniatur gereift; Wilhelmine hat eigene Beobachtungen und Erfahrungen verarbeitet.“ so Siebert a.a.O., s. 106.
23 chemisch: Quecksilber(I)-chlorid). Siehe dazu Wolfgang Schneider, Wörterbuch der Pharmazie, Bd. 4, Geschichte der Pharmazie, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1985, S. 221. Gabe u.a. bei Nervenleiden und Depressionen. Mit dem Medikament Kalomel war Kleist jedenfalls vertraut, er erwähnt es in „Amphytrion“, „Der zerbrochene Krug“ und „Hermannsschlacht“.
24 W. Forth et al., a.a.O., S. 1047; Mutschler, a.a.O., S. 1021. Bei der chronischen Qecksilbervergiftung hingegen steht eine Stomatitis im Vordergrund. Das Lockern und anschließende Ausfallen der Zähne führen zu typischen Veränderungen in der Form des Gesichts, vornehmlich Verzerrungen der Mundpartie, wie man es bei alten Leuten kennt.
25 In diesen Augen kann nicht mehr das Feuer der Jugend lodern, stattdessen erzählen sie von einer Lebensgeschichte. Die Frage, ob aus medizinischer Sicht eine „Vergiftung“ vorgelegen hat, kann offen bleiben. Die Symptome waren nur allzu bekannt, wurden aber nicht als „Vergiftung“, sondern als Nebenwirkung medikamentöser Behandlung wahrgenommen. In ähnlicher Weise wußte man zwar von den Begleiterscheinungen des Opiumkonsums, aber den medizinischen Tatbestand der „Sucht“ erkannte man erst nach dem dem deutsch-franzöischen Krieg von 1871. – Aus heutiger Sicht erscheint das Gesamtbild einer Quecksilbervergiftung freilich vielschichtig. Der Verlauf einer akuten Quecksilbervergiftung setzt ein mit einer Gastro-Enteritis, gefolgt von einem Nierenversagen (Polyurie, Oligurie, Anurie, Urämie) und in der dritten Phase eine von heftigsten Koliken begleitete Colitis mucomembranacea. Die zeitliche Abfolge der Organschäden und Symptome einer akuten Quecksilbervergiftung in Wochen zeigt ein typisches Verlaufsbild. Siehe dazu: W. Forth/ Henschler/ Rummel, Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, 8. Aufl., S.1046
26 Die Vergiftungserscheinungen resultieren hauptsächlich aus der Zerstörung der Neurone in Groß – und Kleinhirn. Vgl. Max Daunderer, Klinische Toxikologie, Landsberg: Ecomed Vlg. 1995-2006, 134. Erg.-Lfg. 12/98, S. 48
26a vgl. Brief von C.M. Wieland an den behandelnden Art G.C. Wedekind v. 10. Apr. 1804, in Sembdner, Lebenspuren, a.a.O.
27 In welchem Maße auch mögliche Sprachstörungen, Konzentrations- und Erinnerungsschwäche im Alltag auftreten, vermag erst eine ausführliche Untersuchung zu zeigen, die den gegebenen Rahmen sprengen würde.
28 Veränderungen im Antlitz des Ch. Baudelaire (1821-1867), 39, 156 (2014), publiz. i. März 2015
(Soweit nicht anders vermerkt, sind die Abbildungen gemeinfrei, aus dem Internet oder wikimedia commons entnommen)
Paul Ridder
PD DDr.phil.habil.
Emer. Universität Konstanz
p.ridder@t-online.de
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