Bildnis Heinrich v.Kleist

 

Paul Ridder

Ein Bildnis des unbekannten Heinrich v. Kleist

 

Wie der Dichter Heinrich v.Kleist (1777-1811) tatsächlich ausgesehen hat, ließ sich bisher kaum sagen. Die bekannte Miniatur von P. Friedel erscheint für die Identifizierung seiner Person in vielerlei Hinsicht unzureichend, wie wir sogleich weiter unten erkennen werden. Nur ein zusätzliches, bisher unbekanntes Porträt könnte hier Abhilfe schaffen. Allerdings müßte man sich zuvor über die methodische Vorgehensweise einigen. Denn selbst ein Dichter mag daran verzweifeln, die Welt, in der man seinen Augen nicht trauen kann, für andere nachvollziehbar werden zu lassen. Erst der Vergleich unterschiedlicher „Sehepunkte“, wie man  die Blickwinkel um 1800 nannte, ermöglicht im Kontext biographischer Veränderungen eine Annäherung an das reale Aussehen dieses Mannes.

Mit diesem Grundproblem schlägt Kleist sich sein ganzes Leben lang herum. Ständig suchen seine Figuren Haltepunkte, die sich aber aus anderen Blickwinkeln immer wieder auflösen. In seinem Schauspiel „Der zerbrochende Krug“ jammert Frau Marthe weniger über den entstandenen Schaden als über die vielen Scherben. Folglich liefert sie dem Richter nur eine fragmentierte Bildgeschichte: Dem Gericht wird sie durch die in zahlreichen Bildausschnitten erzählte Handlung  den zerfallenen Krug stückweise vor Augen stellen – und dadurch wieder zusammenfügen. In ähnlicher Weise muß man sich auch Kleists Antlitz aus zahlreichen  Blickrichtungen sorgfältig zusammensetzen, um einen Eindruck von seiner Person im Lebensverlauf zu erhalten.

Ein liebevoll gewidmetes Bildnis schenkte Kleist 1801 im Alter von 23 Jahren seiner Braut Wilhelmine v. Zenge zur Verlobung. Der Künstler Peter Friedel malte die Miniatur, etwa von der Größe eines Hühnereis (ca. 5,5 cm), in der Technik des Pastellbildes  auf Elfenbein.1 Unter stark verblaßten Farben erkennt man ein ovales Gesicht mit alterstypisch ausgeprägtem Schmelz, bekränzt von kastanienbraunen Haaren, unter denen braune (nicht etwa blaue) Augen verliebt hervorschauen. 2   Als Perspektive wählte er  –  für einen preußischen Offizier im aktiven Militärdienst mit straff aufrechter Haltung eher ungewohnt  – eine Blickrichtung von schräg oben, den Kopf ein wenig vorgezeigt, beziehungsweise über die Schulter nach hinten zurückgeworfen, wie man an der Stellung der Halswirbelsäule leicht erkennt. Dieselbe Kopfhaltung ist in dem nachfolgenden Bildnis der W. v.Zenge (s.u.) noch  deutlicher zu sehen. Auf eine dritte Blickrichtung neben dem Halbseiten-Profil und der Kopfneigung weist uns eine zwischen 1831 und 1837 entstandene  Kopie der Friedel´schen-Miniatur hin. (s.u.) Warum  diese sehr ungewöhnliche Haltung des Kopfes? Der Maler hatte sich doch wohl etwas dabei gedacht! Aber was nur kann es gewesen sein, das ihn dazu bewogen hat?

 

In der mehrfach “gewinkelten” Draufsicht von vorn, das war die Folge, verschwanden, anders als es bei einem Seitenprofil möglich gewesen wäre, die Konturen des Nasenrückens im Lichtglanz und entzogen sich damit dem Blick des Betrachters! Die damit hergestellte optische Täuschung ließ den Eindruck entstehen, als wäre der Nasenverlauf ein wenig abgeflacht oder fast gerade. (Von dieser optischen Täuschung beeinflußt, hatte der Skulpteur Georg Elster i.J. 1910 ein Tondo mit dem Bildnis H.v.Kleists geschaffen, am Postament des Kleist-Denkmals in Frankfurt/Oder,  das den Dichter im Seitenprofil mit einer zart eingesenkten Nasenlinie zeigte. Aber im Unterschied dazu stellte ein im letzten Kriege verlorenes Relief an seinem Geburtshaus aus dem 19. Jhdt. den Dichter H.v.K. im Seitenprofil mit einem deutlich  gebogenen Nasenrücken bzw. – höcker  dar.) 

Die zurückgeneigte Haltung des Kopfes sowie die Wahl von Seiten- oder Vorderprofil vermitteln durchaus unterschiedliche Eindrücke von der dargestellten Person. Dies sieht man besonders deutlich an zwei berühmten Schiller-Porträts, die hier zur gefälligen  Illustration herangezogen werden sollen, allerdings nur um die Sache zur erläutern: Bei der Silberstift – Zeichnung von  D. Stock   erkennt man im Seitenprofil F. Schillers gebogene Nase; bei der Schiller – Büste von H.H. Dannecker  jedoch scheint die kräftig gebogene Nase Schillers dank der Vorderansicht  “gerade” zu sein. Was lernt man daraus? Der für den Betrachter  erkennbare, gerade Nasenverlauf ist  der Wahl des Blickwinkels zu verdanken! Zu den Auswirkungen  der vom Künstler gewählten Perspektive auf unsere Vorstellung von F. Schiller vergleiche man die beiden folgenden Abbildungen.

 

Dora Stock, F. Schiller,1787

Dorothea Stock, Schiller, 1787, wikimedia commons

 

Abb. Blickwinkel auf F. Schiller, D. Stock,, Silberstift- Zeichnung, 1787

Standort: Dt. Literaturmuseum Marbach

Standort: Dt. Literaturmuseum Marbach 

H.H. Dannecker, F. Schiller 1794, wikimedia commons

 

Abb. Blickwinkel zu F. Schiller von H.H. Dannecker, Schiller- Büste, 1794

 

Die Parallelen in den Profil-Ansichten der Kleist-Bildnisse liegen auf der Hand; auch hier vermitteln Vorder-, Halb- und Seitenprofil einen durchaus unterschiedlichen Eindruck. Das Seitenprofil läßt eine gebogene Nase hervortreten, das Vorderprofil hingegen täuscht einen geraden Verlauf vor. Übertragen auf die Friedel´sche Miniatur des H.v.K. bedeutet dies: Der zurückgelegte Kopf im halben Vorder- oder halben Seitenprofil bringt den wahren Verlauf der Nasenlinie zum Verschwinden! Unterstützt von der Wahl der Blickwinkels auf das zurückgekippte Halbvorder- oder Halbseiten-Profil überblendet der Lichtstrahl die obere Nasenhälfte, so daß vorhandene Kontraste zurücktreten, infolgedessen eine durchgehende Linienführung zwischen Nasenwurzel und -Spitze aufscheint und der kleine Anstieg im Anschluß an die Einkerbung in Höhe der Nasenwurzel – unsichtbar wird! Die Wahl der Perspektive also suggeriert eine Linienführung in der Darstellung des Nasenverlaufs, bei der offenbleibt, ob es sich tatsächlich um eine gerade, griechisch-römische handelt, wie es dem Schönheitsideal der Zeit entspricht oder nur um eine Camouflage.

Im 18.Jhdt. und noch um 1800 war eine ungeschönte, streng realitätstreue Darstellung generell nicht zu erwarten. Denn in den Jahren nach 1750 ff. setzte im Gesellschaftsleben Mitteleuropas eine große Selbstinszenierungswelle ein, der sich auch die Porträtkunst zu fügen hatte mit dem Ergebnis einer Ästhetisierung der Bildnisse, in der etwa die Nasen schön, aber nicht wirklichkeitsgetreu zu sein hatten. Und in der Tat, H.v.K. hatte ja bereits kritisiert, das Bild sei ihm nicht ganz ähnlich, und der Maler hätte ihn „ehrlicher“ malen sollen.

An dieser Stelle zeigen andere Bilder des H.v.K. im Seitenblick eine Schattierung der Nasenwand als wäre sie – bildlich gesprochen von dem Nasenkneifer einer Brille etwa in Höhe des Augenwinkels – ein wenig eingedrückt. Der Nasenrücken erscheint dadurch rein optisch ein wenig gebogen. (An nämlicher Stelle erscheint in der Familiengeschichte nicht selten ein leichter Nasenhöcker.) 6   Nach der Einkerbung an der Nasenwurzel und dem sich anschließenden Anstieg (nach einer Einkerbung an der Nasenwurzel oder einer Vertiefung muß offenbar auch wieder irgendeine Erhöhung folgen, sofern sie nicht eingedrückt erscheinen soll – was aber nicht der Fall ist.) verläuft die Nase mit dem breiten Rücken nun leicht gebogen, fast gerade, um in einer Kuppe zu enden, nicht etwa in einer Spitze.

Dem Malstil der Zeit entsprechend war die Miniatur a.d.J. 1801 also weniger realistisch als gefällig angelegt. P. Friedel wollte den verliebten Jüngling schöner erscheinen lassen, als er tatsächlich war. Kleist mochte das Bild aber nicht und schrieb seiner Verlobten: „Mögest Du es ähnlicher finden als ich… ich wollte er hätte mich ehrlicher gemalt.“ 3   Dabei habe er, um ihr zu gefallen, „fleißig während des Malens gelächelt“, und so wenig er auch dazu gestimmt gewesen, „so gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte.“ Heinrich v. Kleist hat nach seinen eigenen Worten demnach nicht so ausgesehen, wie P. Friedel ihn dargestellt hatte. 

Es hieße die Enttäuschung des Dichters sträflich zu mißachten, würde man P. Friedels Miniatur, obgleich sie doch nicht “ehrlich“ war, dennoch zum absoluten Maßstab eines Bildvergleichs nehmen. Aus diesem Grunde, dem ungültigen Maßstab, verbietet sich auch die rein mechanische Deutung des Bildvergleichs, etwa bei der Anwendung technischer Verfahren der Bilderkennung. Hinzu kommt die biographische Insensibilität, die eine unreflektierte Bildbetrachtung nicht ratsam erscheinen läßt. Wäre es nicht etwa vermessen, den großen Mann unter das Joch eines unglaubwürdigen Kinderbildnisses zwingen zu wollen? Dieses Porträt war offenbar kein getreues Abbild der Natur, es war  idealisiert und  psychologisch gedeutet. 4  Die Miniatur von der Hand des P. Friedel ist dem Dichter  H.v.K. nach dessen eigenem Urteil keineswegs ähnlich oder nicht ähnlich genug, sie hilft uns nicht unbedingt weiter, wenn wir uns eine realistische Vorstellung von seinem Äußeren verschaffen wollen. Uns bleibt daher weiterhin die Aufgabe der Klärung: Wie hat Heinrich v.Kleist  denn nun wirklich ausgesehen?

 

H. v.K., Peter Friedel,

H. v.K., Peter Friedel, 

H. v.K., Peter Friedel, Staatsbibiliothek Berlin

 

 Abb. Peter Friedel, Verlobungsbildnis H. v.Kleist, 1801,  Miniatur  5,5 cm, Staatsbibliothek Berllin. Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Kleist-Augenfarbe

Kleist-Augenfarbe 

Ausschnitt: Kleist-Augenfarbe

 

Abb. Peter Friedel, braune (!) Augenfarbe H. v.Kleist, 1801, anderenorts jedoch mit “blau” angegeben

Bei genauem Hinsehen erkennt man – von dem gewählten Blickwinkel, wie auch von dem lieblichen Gesichtsausdruck, nahezu unkenntlich gemacht – unter jugendlichem Schmelz ein kräftiges Kinn und „leicht vorstehende Backenknochen“ 5 in einem markanten, fast dreieckigen Untergesicht. Die jugendlichen Weichteile in dem jungenhaften Gesicht werden erwartungsgemäß im Laufe der Zeit verschwinden. Schon gar nicht wird auf anderen Bildnissen wieder der gleiche verliebte Blick erscheinen oder die geschürzten Lippen oder die nach oben verzogenen Mundwinkel. Das Jünglingsgesicht wird sich wohl kaum mit dem des gereiften Mannes decken und das Feststellen von Ähnlichkeiten infolgedessen nicht einfach werden.

Vergleiche mit dem frühen Bildnis sind demnach unter dem Vorbehalt von Reifungsprozessen zu  stellen. Ähnlichkeit alleine genügt also nicht ! Folglich darf man nicht ohne weiteres eine vollständige Übereinstimmung mit jener Miniatur von P. Friedel erwarten, man muß gewissermaßen “Übersetzungsarbeit” leisten, aber auch auf Überraschungen gefaßt sein. Die Frage ist nur: Was bleibt angesichts erwartbarer  Veränderungen im Laufe seines Lebens identisch? Man ist hier – wie in der Rechtsmedizin oder in der Kriminologie – zur Personenerkennung auf sogenannte unveränderliche Kennzeichen angewiesen. Vornehmlich die anthropologisch-medizinischen Merkmale also eröffnen eine Chance zur  Identifizierung; sie sind es, die dazu beitragen könnten, das Bildnis des unbekannten Heinrich v. Kleist  zu rekonstruieren. 7

Das soeben angedeutete Phänomen des Übergangs zwischen (mindestens) zwei gesonderten Zuständen des Lebens wirft grundsätzliche Probleme  der Prozeßanalyse biographischer Prozesse auf. Goethe hat sie für uns am Beispiel der Wolkenkunde (Nephologie) illustriert: Zunächst erblickt der unbefangene Betrachter die Komplexität wandelbarer „Atmosphäre“: „Die Welt, ist so groß und breit,/ Der Himmel auch so hehr und weit,/ Ich muß das alles mit Augen fassen,/ Will sich aber nicht recht denken lassen.“ Der für Goethe so typische Rat lautet: „Dich im Unendlichen zu finden,/ Mußt unterscheiden und dann verbinden;“

Im zweiten Teil seiner Trilogie „Howards Ehrengedächtnis“ skizziert Goethe die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit einer Wissenschaft des Vorübergehenden, um festzuhalten, was „sich nicht halten“ läßt, und zwar nur scheinbar paradox durch Unveränderliches, durch bestimmte Begriffe. Nachdem sich der Betrachter am Wechsel der Gestalten erfreut hat, regt sich in ihm „des eigenen Bildens Kraft,/ Die Unbestimmtes zu Bestimmtem schafft.“  „Mit reinem Sinn“ gelingt ihm das Kunststück, das eigentlich Unberechenbare in seine Rechnungen aufzunehmen, er „bestimmt das Unbestimmte, schränkt es ein,/ Benennt es treffend!“ Allein, es fehlt das einigende Band  zwischen den Zuständen, die Dynamik des Übergangs.

Goethe kommt am Schluß zu dem Ergebnis: „Wohl zu merken: Und wenn wir unterschieden haben,/ Dann müssen wir lebendige Gaben/ Dem Abgesonderten wieder verleihen/ Und uns eines Folgelebens erfreuen.// So wenn der Maler, der Poet/ Mit Howards Sondrung wohl vertraut/ … die Atmosphäre prüfend schaut.// Da läßt er den Charakter gelten,/ Doch ihm erteilen luftige Welten/ Das Übergängliche, das Milde,/ Daß er es fasse, fühle, bilde.“ Aber wo der Poet als roten Faden „Der Erde tätig leidendes Geschick” vor Augen hat, da orientiert sich der Wissenschaftler an gewissen unveränderlichen Kennzeichen, die von Veränderlichem absehen und die abstrakter sind als die bloß oberflächliche Ähnlichkeit der Bilder. Klare Begriffe knüpfen zweckmäßig beim “Charakter” an und bei den im Verlauf des Lebens unveränderlichen Kennzeichen. Die methodisch sorgfältige, die wissenschaftliche Vorgehensweise muß  von den medizinisch-anthropologischen Identifikationsmerkmalen ausgehen, am besten von präzisen, unveränderlichen Kennzeichen. Mit  solchem Rüstzeug zur Analyse biographischer Prozesse nähern wir uns dem nächsten Porträt.

Ein zweites Bildnis entstand in französischer Haft von der Hand eines Mitgefangenen, offenbar ein guter Beobachter, wenn auch kein Künstler. Immerhin vermag das sog. “Gefangenschaftsbild” uns den Eindruck, den P. Friedel übermittelt hat, deutlich zu korrigieren. Das Gefangenschaftsbild präsentiert den Dichter im schwarzgrünen Rock mit kastanienbraunem, sogar gelocktem Haar und zwar merklich dunkler als auf jenem Jugendbildnis. Anders als auf jener Miniatur des P. Friedel erscheinen die Augen jetzt auch nicht mehr in brauner, sondern in überraschend hellblauer Färbung. Wieder treten kräftige Wangenknochen und ein markantes Kinn hervor; außerdem erkennt man die Form des linken Ohres, den breiten Schwung der Augenbrauen, mandelförmige Augen mit nach außen hin vertieften Augenwinkeln. Die  überlängten Augenwinkel unter ausgeprägter Schläfe, als wären sie Lachfalten am Augenrand,  tragen zum Charme des Dargestellten nicht wenig bei.  Abzulesen an einer Kahlstelle verläuft in den Augenbrauen, etwa in Höhe des linken Augenwinkels, eine Narbe!

Unbeeinflußt von jenem „unehrlichen“  Bildnis gewährt uns das Gefangenschaftsbild erstmals einen unbefangenen Eindruck auf den Poeten. Ganz anders als bei P. Friedel – selbst bei der gewählten Perspektive von vorn, in der das Seitenprofil unserem Blick entzogen wird – wird eine  kräftige Nase  nicht mehr verschwiegen. In der Perspektive von vorn, also in der Draufsicht, sieht man einen vergleichsweise breiten Nasenrücken. Jetzt erscheint auch die Nasenlinie nur scheinbar gerade, im Seitenprofil erst oder in der Seitenansicht zeigt sie uns ihre wahre Gestalt ! Deutlicher als zuvor wird die seitliche Nasenwand sichtbar, linksseitig die gebogene Nasenlinie, die Nasenkuppe am Ende, ein breiter Nasenrücken und mit dem Beginn einer Abschattierung die Andeutung eines Nasenanstiegs  etwa in Höhe des linken Augenwinkels. 8 Diese Nasenform wird im Friedel´schen Bild nur zart angedeutet, im Gefangenschaftsbild – bei besserer als der hier lieferbaren Bildqualität – jedoch deutlich erkennbar. Die soeben identifizierte Nasenform wird schließlich in der Zeichnung der W. .v.Zenge bestätigt: Dieses Untersuchungsergebnis, eine mit einen kleinen Anstieg leicht gebogene Nasenlinie, bleibt  also festzuhalten.

Wenn es nicht rechts auf dem Bild vermerkt wäre, “poète prussien”, würde man eine Gemeinsamkeit mit jener Miniatur von P. Friedel wohl kaum vermuten; gewöhnlich auch wird das Gefangenschaftsbildnis unseren Blicken vorenthalten. Anders als auf dem idealisierenden Jugendbildnis mit dem friseurkundig geglätteten Haarschopf wird der Dichter jetzt mit rundum gelockten Haaren dargestellt. Von Haarfransen überdeckt macht sich ferner eine stark ausgebildete Schläfenstirn bemerkbar, deren Wölbung so ausgeprägt ist, daß sie die Augenwinkel zur Seite hin zu dehnen und zu längen scheint,  sogar die Haarfransen seitwärts abzulenken vermag! Vor allem aber bedeutet die Wahl des Blickwinkels bei P. Friedel (Perspektive, Halb-Seitenprofil, zurückgelegter Kopf), daß der Kopf des H..v.K. uns flacher oder runder erscheint (s.u. die Kopie jener Miniatur a.d.J. 1831) als er in Wirklichkeit war, wie man erst auf dem vorliegenden Gefangenschaftsbild erkennt, das uns stattdessen eine hochaufstrebende Stirn präsentiert. Nun wird auch das Untergesicht mit den dicken Pustebacken alterstypisch von dem Schatten eines kräftigen Bartwuchses abgedunkelt. Vergleichsweise zu den Porträts von P. Friedel und W.v.Zenge (s.u.), die den Dichter eher romantisch, fast schwächlich darstellen, tritt uns H v.Kleist in militärisch aufrechter Haltung deutlich maskulin entgegen.

H. v.Kleist, Kleist-Gefangenschaftsbildnis

H. v.Kleist, Kleist-Gefangenschaftsbildnis 

H. v.Kleist, Kleist-Gefangenschaftsbildnis

 

Abb. Gefangenschaftsbildnis, 1807, aufrechte Kopfhaltung

 

Eine drittes Bildnis („Berliner Miniatur“) ist zu erwähnen, vermag aber eher zu befremden, wird in einer neuen Monographie zum Thema jedoch ebenfalls als authentisch anerkannt 9 Man könnte es nur eingeschränkt für einen Bildvergleich heranziehen,  sofern gewisse Anforderungen erfüllt werden. 10  Denn eine Ähnlichkeit mit der Miniatur von Friedel ebenso wie seine Authentizität sind keineswegs gesichert. Der Beitrag  idealisierender Veränderung im Vergleich zur Friedelschen Miniatur bleibt ungeklärt. 11  Selbst die Provenienz ist eigentlich unbekannt. 12  Immerhin sind einige wichtige Merkmale zu erwähnen, die bei bestimmten Kennern offenbar Anerkennung gefunden haben: Denn bei der Zuschreibung des Bildes an H.v.K. findet nachweislich ein kleiner Nasenhöcker  die Zustimmung der Kleist-Gemeinde, ebenso eine Warze am linken Nasenflügel. Auffallend erscheint ferner eine weit fortgeschrittene Stirnglatze; auch eine eingefallene Oberlippe ist zu bemerken. (Diese Merkmale könnten als Hinweise auf eine medizinische Behandlung mit bestimmten Arzneimitteln gelten, als deren Nebenwirkung die Haare und  Zähne ausfallen. s.u.)  Diese von der Kleistgemeinde als gültig anerkannten Kennzeichen wären also, eine Idealisierung vorausgesetzt, dem Merkmalskatalog hinzuzufügen. Bei einer Identifizierung des H.v.K. wäre demnach zusätzlich zu prüfen, ob ein bisher noch unbekanntes Kleist-Porträt einen kleinen Nasenhöcker erkennen läßt, ob eine stark  gewölbte Schläfenstirn beobachtet werden kann und eine Warze am li. Nasenflügel erkennbar sind. Ein starker Bartwuchs wäre ebenfalls zu nennen, wie bei P. Friedel schon angedeutet wurde.

Berliner Miniatur v.1803

Berliner Miniatur v.1803 

Berliner Miniatur v.1803

 

Abb. Berliner Miniatur (1803/ 04,   ?? )

 

Gelegentlich wird auch eine Marmorbüste, die Karl Friedrich Wichmann posthum 1816 erstellt hat, dem Dichter H.v.K. zugeschrieben. Die Authenzität der Büste ist aber nicht gesichert; ihren Platz im Arbeitszimmer des Bundespräsidenten im Schloß Bellevue, wohin sie ausgeliehen ist, verdient sie wohl nicht. An der Basis liest man nicht – wie man erwarten könnte – den Namen „v.Kleist“, sondern lediglich auf der Rückseite am Büstenansatz links nur „Carl Wichmann fecit 1816“. Schriftliche Zeugnisse liegen nicht vor; es ist nicht einmal gewiß, ob der Künstler den Dichter überhaupt persönlich gekannt hat, geschweige denn, daß er ihn porträtiert hätte. Eine Beauftragung durch den verarmten H.v.Kleist muß ausgeschlossen werden. 13 Die Wichmann-Büste besitzt die Kennzeichen einer verlässlichen Quelle nicht.

Ganz anders liegen die Verhältnisse bei dem bekanntesten Bildnis, das Wilhelmine v.Zenge (Abb.),  die das Friedel´sche Bildnis 1801 als Verlobungsgeschenk erhalten und nach der Trennung an Kleists Schweizer Adresse zurückgeschickt hatte, wo es Jahre später wieder aufttauchte. W. v.Zenge konnte Kleists Bildnis  also nur aus der Erinnerung zeichnen, nach etwa zwanzig Jahren. Wenn  das zugrundeliegende Porträt von P. Friedel (1801) schon nicht „ehrlich“ ( H.v.K.) war, so kann erst recht nicht die Kohlezeichnung der ehemaligen Verlobten ein getreues Abbild „nach der Natur“ darstellen. Immerhin zählt persönliche Vertrautheit zu seinen Vorzügen, so daß man gut beraten ist, bei einem Bildvergleich weniger die Ähnlichkeit als die objektiven Merkmale in den Vordergrund zu stellen. Infolge lebensgeschichtlicher Veränderungen ist man zur Wiedererkennung ohnehin auf jene unveränderlichen Kennzeichen angewiesen, die in dem Bildnis von der Hand der W. v. Zenge (vgl. Abb.)   wie in einem Merkmalskatalog erscheinen.

Wir erblicken wieder jenen zurückgelegten Kopf mit seitlichem Blick nach oben, die überlängten Augenwinkel, jenen leicht spöttischen Gesichtsausdruck, den dunklen Bartschatten, mehrere Narben (: eine unnatürlich verlaufende, scharf geschnittene Scharte („Schmiß“) unterhalb des Jochbeins, eine etwa pfenniggroße Hautveränderung (Narbe, Warze?) am linken Nasenflügel, eine fast waagerecht sich hinziehende Kahlstelle (Narbe) an der linken Augenbraue oberhalb des äußeren Augenwinkels), eine charakteristische Nase (breit auslaufende Nasenwurzel, breiter Nasenrücken, leicht gebogene Nasenlinie, eine Nasenwand mit markanter Einbuchtung etwa in Höhe des inneren Augenwinkels (wie Gefangenschaftsbild), eine kuppenförmig auslaufende, durch ein Glanzlicht bezeichnete Nasenendung und jene eingebogene Nasenwand, die am Übergang zwischen der breiten Nasenwurzel und dem Nasenrücken eine, durch einen Lichtfleck beleuchtete Erhebung („Anstieg“, „Höcker“) vermuten läßt (wie Gefangenschaftsbildnis, Berliner Miniatur). Der Verlauf der Nase ist erkennbar leicht gebogen und nicht etwa gerade oder gar scheinbar einfallend wie bei P. Friedel.  Schließlich fallen die hervortretenden Wangenknochen auf sowie ein kräftiges Kinn mit starkem Bartwuchs und ein kleines Kinngrübchen.

Heinr. v. Kleist, W. v. Zenge

Heinr. v. Kleist, W. v. Zenge 

Heinr. v. Kleist, W. v. Zenge

 

Abb.  Wilhelmine. v.Zenge, Kreidezeichnung des H. v.Kleist,  um 1831, Nachschöpfung auf der Grundlage von P. Friedel, 1801, Körperhaltung vom Fotografen wohl ein wenig  “nachgebessert”.

 

Eine Kopie jener Miniatur von P. Friedel , entstanden zwischen 1831 und 1837 unter der Patronage und vermutlich der Auskunftsbereitschaft der Familie v.Kleist und von offensichtlich geringerer Qualität, ist es uns behilflich, unsere Vorstellung über das Aussehen des H.v.K. ein wenig zu ergänzen. Sie zeigt wieder den zurückgeneigten Kopf, diesmal sogar mit einer leichten Neigung zum Betrachter hin, worauf Lage der Augen- bzw. Augenbrauen-Achse hinweist. Mit dieser feinen Wendung kann perspektivisch auch der letzte Anschein eines Nasenhöckers bei H.v.K. zum Verschwinden gebracht werden. Die von dem Kopisten in der vorangegangenen Miniatur von P. Friedel erkannte Zuwendung des Kopfes zum Betrachter, der dritte Blickwinkel (“Sehepunkte” s.o.) nach Zurückwendung und Halbseiten-Profil, diente  dazu, im Bilde die Zuneigung zu der Verlobten W. v.Zenge sichtbar werden zu lassen. Außerdem zeigt sich der Rand der Ohrmuschel, in der Miniatur von 1801 durch ein Haarbüschel verdeckt, in der vollständigen Rundung. Die Gestalt des Ohrläppchens ist in beiden Bildern gleich. Aber die Nase erscheint kräftiger und massiger als bei P. Friedel.

 

heinrich-von-kleist, Kopie der Miniatur v. P. Friedel

heinrich-von-kleist, Kopie der Miniatur v. P. Friedel 

Heinrich-von-kleist, Kopie der Miniatur v. P. Friedel, Kleist-Museum Frankfurt/ O

 

Abb. Unbek. Künstler, Kopie der Miniatur von P. Friedel, (vgl. E. Siebert, a.a.O., Bild-Nr. 132, S. 105,  im Besitz des Kleist-Museums, Frankfurt/ Oder).

 

Den beobachteten Verlauf der Nasenlinie ebenso wie  die Ohrenform oder die ausgeprägte Schläfenstirn (vgl. NB) scheint auch der Künstler, der im Auftrag der Dt. Bundespost die Briefmarke (s.u.) gestochen hat, offensichtlich nach genauem Studium zu bestätigen. (vgl. Abb.).

Dt.Bundespost H. v.Kleist

Dt.Bundespost H. v.Kleist 

Dt.Bundespost H. v.Kleist

 

Abb. Briefmarke der Dt. Bundespost (allerdings: Kopfhaltung korrigiert)

 

Eine zusätzliche Klärung gestattet die Ausgabe der 24(2012) der “Heilbronner Kleist Blätter”: Den Übergang zwischen Nasenwurzel und Nasenrücken bis zu einer leichten Erhebung wird auf dem Titelblatt illustriert Die Stirn wurde jedoch zu flach und nicht, wie es richtig wäre, vorgebaut gezeichnet. Dies hat zur Folge, daß die für H.v.K. charakteristische Einkerbung an der Nasenwurzel nicht hervortreten konnte.

 

Diesen Porträts gesellt sich neuestens ein bislang unbekanntes Kleist-Bildnis  hinzu (unbek. Künstler, Öl auf Leinwand, 55×46 cm, unbek. Prov. 14). Im Übergang von der Romantik zum Biedermeier erscheint es stärker von Realitätssinn geprägt. Eine sorgfältige kunsthistorische Untersuchung der verwendeten Materialien und des Malstils datiert es  auf die Zeit um 1810. Vielleicht entstand es als Freundschaftsdienst im persönlichen Umkreis von Künstlern und Literaten, zu dem der berühmte Maler C.D. Friedrich gehörte. Denkbar wäre aber auch eine Auftragsarbeit für einen potenten Förderer (wie bei J.W.L. Gleim), einer hochgestellten Persönlichkeit oder eines Fürsten (Königin Christina von Dänemark, Friedrich II. v.Pr.) an einen Hofmaler, wie im Falle der mittellosen Dichter F.G. Klopstock, F. Schiller, A.L. Karsch, C.L. v.Klencke. Man pflegte ein Porträt anfertigen zu lassen, um sich von einer Person im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild zu machen. Schließlich waren Porträts von ordentlichen Künstlern seinerzeit  nicht teuer, sie  waren durchaus erschwinglich.

Die unvoreingenommene Sicht auf ein neues Kleistbild erfordert einen phänomenologischen Blick, der uns von altem Vorwissen entlastet, was offenbar das Schwierigste ist und zunächst lediglich feststellt, was  da  ist – auf der Basis von Erfahrung und nicht aufgrund vorgefasster Meinungen:  Auf dem Bildnis tritt uns ein gereifter Mann mit einem markanten Gesicht, etwa Anfang der dreißig (wie im Gefangenschaftsbildnis) in schwarzgrünem Rock mit weißer Halsbinde, in militärisch aufrechter Haltung entgegen. Altersgemäß erscheint der Gesichtsausdruck natürlicher strenger oder härter als  als in Jugendzeiten. Die Gesichtsform ist oval; die energische Nase mit dem breiten Nasenrücken wie auf jenem Gefangenschaftsbildnis (s.o.), die hervortretenden Wangenknochen, das kräftige Kinn mit den Grübchen lassen das Untergesicht dieses Mannes ausdrucksstärker als auf der Friedel´schen Miniatur von 1801 erscheinen. Deutlicher wird auch ein dunkler Bartschatten. Die Oberlippe ähnelt derjenigen auf den bekannten Bildern. Der Mund formt sich zu den für H. v.K. so charakteristischen, spöttisch oder verführerisch lächelnden Lippen. Typisch auch der mächtige Kopf,  die aufstrebende, vorgewölbte Stirn über der tief eingekerbten Nasenwurzel, der zauberische Blick unter der ausladenden Schläfenstirn und die verwirbelten Haarfransen.

H. v.Kleist

H. v.Kleist

Heinrich v. Kleist

copyright artothek.de

Abb. Heinrich v. Kleist, um 1810, anonym, Öl auf Leinwand, wachsdoubliert, 55x 46 cm. Dunkle Übermalung der Haarfrisur, darunter kastanienbraune Haarfarbe;  unrestaurierter Zustand, Privatbesitz,  ©  artothek.de    

 Dem Gemälde ist es, so wie es uns erscheint, in den siebziger Jahren übel ergangen. Zahlreiche Retuschen  zeigen sich dem Blick des Restaurators im Infrarot-Licht oder unter dem Mikroskop: Mit brutalem Eingriff wurde das kastanienbraune Haar des Dargestellten dunkel übermalt. Weitere gravierende Eingriffe wurden zum Glück nicht aufgefunden. Unverändert ist jedoch das leicht wellige Haupthaar sowie das füllige Nackenhaar, das man wie auf dem Gefangenschaftsbildnis erkennt. Im einzelnen gehen wir  jetzt die Personenmerkmale der Reihe nach durch:

Die Ohren-Form gestaltet sich wie auf dem Gefangenschaftsbild und der Kreidezeichnung der W. v.Zenge. Die Ohrmuschel zeigt eine vollständige Rundung, die in jener Friedel-Miniatur noch durch ein Haarbüschel verdeckt war. Auch die Darstellung in jener Kopie (s.o.),  weist jene Rundung auf, ebenso die zahlreichen posthumen Plaketten und Reliefs im Seitenprofil. Im NB (und anders als in jener Kopie) allerdings verläuft – wie bei P. Friedels Miniatur – die Rundung der Ohrmuschel zunächst fast steil, um sich dann in einer vergleichsweise spitzen Kehre wieder nach unten abzusenken. Das füllige Ohrläppchen  im NB deckt sich gleichffalls  mit den bekannten Bildnissen. Die gleiche Form und Stellung des Ohrs taucht, nebenbei bemerkt, in der Familie auf  (E. Siebert, Bild 3). Allerdings ist die Darstellung der Ohren nicht überzubewerten, da viele Porträtkünstler der Zeit ihnen kaum Bedeutung beigemesssen und sie dementsprechend nachlässig behandelt haben.

Während der Dargestellte auf dem Friedel´schen Porträt uns seitlich aus dem Augenwinkel mit einem über die Schulter zurückgelegtem Kopf ein wenig nach oben anschaut, blickt dieser uns erstmals im Halbprofil direkt ins Gesicht. Eine helle Intelligenz unterstreicht die Lebendigkeit der Darstellung.  Wieder zeigt sich am Rande der mächtigen Stirn die stark hervorgewölbte Schläfenstirn (vgl. Gefangenschaftsbildnis, W. v. Zenge). Eine breite Schläfenstirn bedingt zugleich einen breiten Schwung der Augenbrauen und überlängte Augenwinkel. Der eher mandelförmige Schnitt der Augen mit den charakteristischen Augenwinkeln gleicht den authentischen Bildern. Die breite Linienführung der Brauen (alterstypisch ein wenig  dicker als in der Jugend) deckt sich mit jenen bei P. Friedel und W. v.Zenge; sie wölben sich zunächst flach, dann aber in weitem Schwung hin zu wuchtig überdachten Augenwinkeln. Der ein wenig spöttische Ausdruck eines wissenden, gereiften Mannes scheint jedoch, durch abgesenkte Mundwinkel betont, von Trauer überschattet.

Und nun fallen auch bestimmte individuelle Erkennungsmerkmale auf, die unzweifelhaft H. v.Kleist eigen sind – und niemand anderem ! Die linke Braue weist, wohl  als Folge einer Verletzung, eine Narbe auf (Kahlstelle). An der Schläfenpartie wird eine deutlich ausgeprägte, charakteristische  Wölbung sichtbar. Eine fein gefärbte Narbe (Scharte, Schmiß) zieht sich steil auf der linken Wange hin. Als Kadett bei Fechtübungen, wenn nicht als Soldat im Kriege, hatte der Porträtierte gewiß die eine oder andere Schramme hinzunehmen. Auf dem linken Nasenflügel ist eine  fast pfenniggroße Hautveränderung (Warze, Narbe) zu bemerken. 15

Die breit auslaufende Nasenwurzel kommt den authentischen Bildnissen sehr nahe. Die am Übergang zwischen Nasenwurzel und – rücken in eine Einkerbung übergehende, leicht gebogene Nasenwand zeigt sich wie bei dem Gefangenschaftsbildnis; die gleiche Linienführung der Nase läßt aber auch das Porträt der W. v.Zenge erkennen: Eine vorspringende Nase läuft am Ende der Nasenwurzel in einem leichten Anstieg aus und geht in einer Vertiefung in einen breiten Nasenrücken über. Übrigens erscheint die Nase im Original des Bildes, das hier heranzuziehen wäre, weniger gebogen oder eher unauffällig: Der Grund dafür liegt natürlich in der kontrastverschärfenden Bearbeitung durch die Techniken des Fotografen. Verlauf und Rücken der Nase treten sehr ähnlich auch in der Familie auf (Siebert, Bild Nr. 2, 8, 12).

Die bei den Bildnissen P. Friedel, Gefangenschaftsbild und W. v. Zengen festgestellten Identifikationsmerkmale (u.a. runder Kopf, leicht spöttischer Gesichtsausdruck, mächtiger Stirnaufbau, auffallende Schläfenstirn, kräftiges Kinn,  vorstehende Wangenknochen; überbreite Augenbrauen, überlängte Augenwinkel, breiter Nasenrücken leicht gebogen mit einer Einkerbung an der Nasenwurzel, Kahlstelle  bzw. Narbe a.d.li. Augenbraue, Hautfleck a.li.Nasenflügel, Wangenschmiß, starker Bartschatten, kastanienbraune Haarfarbe) fügen sich zu einem neuen Gesamteindruck. Die Übereinstimmung der zahlreichen Erkennungsmerkmale auf dem neuen Bildnis mit den typischen Kennzeichen anerkannter Kleist-Darstellungen – sie kann kein Zufall sein! Schon die Anzahl der übereinstimmenden  Identifikationsmerkmale beträgt mehr als auf jedem der anerkannten Bildnisse, ohne daß widersprechende Tatsachen erkennbar wären. Ohnehin geht die Zuschreibung aufgrund der objektiven Identifikationsmerkmale in ihrer zwingenden Stringenz über die Feststellung der bloßen Ähnlichkeit weit hinaus! Die Fakten rechtfertigen infolgedessen die Zuschreibung jenes Porträts –  wir sehen Heinrich v. Kleist vor uns.

H. v.Kleist, Detail

H. v.Kleist, Detail 

H. v.Kleist, Detail

 

Abb. H. v.Kleist, obiges Portrait NB, Ausschnitt, re. Augenpartie, unrestaurierter Zustand

 

Ungeklärt ist freilich immer noch die Augenfarbe: Denn in jungen Jahren (1801) scheint sie braun (P. Friedel) bzw. blau (Gefangenschaftsbild) gewesen zu sein, etwa zehn Jahre später tritt sie uns jedoch hellgrau-rötlichbraun entgegen. Welches war denn nun die Augenfarbe des Dichters um 1810, also  zum Zeitpunkt der Entstehung des neuen Bildes NB – nicht etwa um 1801 oder 1803, war sie nun blaßblau oder hellgrau-rötlichbraun?  Wenn wie im vorliegenden Fall eine totale Bildskepsis besteht, ist man auf zusätzliche  Zeitzeugen angewiesen. Als  Zeugen bieten sich hier die schriftlichen Berichte der beiden Ärzte an, die im November 1811 die Obduktion vorgenommen und sich auch zu Haar- und Augenfarbe geäußert haben.

Die beiden Ärzte, der Physikus Dr. Sternheim und der Chirurg H. Greiff,  stellten, allerdings bei unzureichenden Lichtverhältnissen, gewisse anatomische Veränderungen fest. In ihrem Obduktionsbefund heißt es („. . .viel verdickte schwarze Galle“): „Nach diesen Anzeichen finden wir uns veranlaßt, gestützt auf Physiologischen Principia zu folgern, daß Denatus dem Temperamente nach ein Sanguino cholericus in Summo gradu gewesen, und gewiß harte hypochondrische Anfälle oft habe dulden müssen, (. . .). Wenn sich nun zu diesem excentrischen Gemüthszustand eine gemeinschaftliche Religionsschwärmerey gesellte, so läßt sich hieraus auf einen kranken Gemüthszustand des Denati von Kleist schließen.“

Laut Obduktionsbericht: zeigte der „Denatus“  Kleist zahlreiche braunrote Flecken auf dem Rücken und an den Lenden. Diese  Exanthema weisen auf Symptome der Syphilis oder auf eine Vergiftung hin. Ferner fand sich eine widernatürliche große und harte Leber, wo der Körper bekanntlich die Medikamente abbaut. Auch war die Gehirn-Substanz, dem wichtigsten Zielort der Arzneimittelwirkung von Quecksilberpräparaten, viel fester als gewöhnlich. Das Metall hat die nämlich die Eigenschaft, sich bevorzugt im  Gehirn und in der Leber abzulagern, in den Nieren hingegen nur selten. Dort waren denn auch keinerlei Veränderungen festzustellen.16 Die bei der Obduktion beobachteten Veränderungen im Körpergewebe lassen demnach Symptome  einer chronischen Vergiftung durch Quecksilber erkennen.  Dazu gehören zusätzlich weitere Kennzeichen, vornehmlich eine nach ca.5-6 Jahren erscheinende, hellgrau-rötlichbraune Verfärbung der Augeniris.

Nach Auskunft moderner Gerichtsmedizin 17 können Veränderungen der Augenfarbe bei den Toten schon nach kurzer Zeit auftreten. Dementsprechend ist die Augenfarbe nicht immer eindeutig festzustellen, und wenn, dann nur bei ausreichender Lichtquelle. Genaues läßt sich nicht immer aussagen. Unsicherheiten bleiben auch im vorliegenden Falle des „Denatus“ Kleist. Denn die Obduktion erfolgte im Dunkeln bei nur schwachem Kerzenlicht (S. 436). 18 Die Sichtverhältnisse waren so dürftig, daß der Bartwuchs und die Haarfarbe in den vorläufigen Obduktionsnotizen sogar mit „schwärzlich“ (statt kastanienbraun) angegeben wurde. Mit einiger Unsicherheit, es heißt in den ersten Berichtsnotizen „nach unserem Dafürhalten“ (S. 434), wurde auch die Augenfarbe, dem Licht und den Umständen entsprechend, hypothetisch nur vorläufig mit „blau“ angegeben, aber es könnte auch hellgrau-braun gewesen sein.

Der amtliche Obduktionsbericht läßt die Unsicherheit des Urteils allerdings nicht mehr erkennen. Jetzt erst (und nicht schon vorher) scheinen die Ärzte ihrer Sache sicher gewesen zu sein. Gewissenhaft hatten sie nämlich Erkundigungen eingezogen und ehemalige (nach zehn Jahren!) „Dienstkameraden“ (S. 438) befragt. Die Angaben der Ärzte beruhten also nicht, wie es korrekt gewesen wäre, auf eigener Anschauung, sondern auf dem Hörensagen aus dem Munde Dritter, die den “Denatus” H.v.K. aber seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Den aktuellen Stand der Augenfarbe, nach einer medizinischen Behandlung eines „Nervenleidens“, konnten diese daher nicht kennen. Immerhin glaubten die untersuchenden Ärzte sich nun berechtigt, die Augenfarbe gleichwohl amtlich festschreiben zu dürfen und notierten daher  “blau”. Das amtliche  Attest berechtigt infolgedessen keineswegs zu dem abschließenden Urteil, die Augenfarbe sei noch im Tode „blau“ gewesen. Hätten die untersuchenden Ärzte jedoch bei ausreichendem Licht gearbeitet, hätten sie auch eine andere, nämlich hellgrau-braune Augenfarbe feststellen können, wie sich noch erweisen wird.

Denn in H .v.Kleists Pathographie finden sich deutliche Hinweise auf eine Quecksilberbehandlung. Der Ablauf einer Quecksilber-Vergiftung kann, wenn die zentralnervöse Führung der Handmuskulatur nachläßt, am besten durch wiederholte Schriftproben einer mehr oder weniger ausgeprägten Zitterschrift erkannt und datiert werden. Jene Zitterschrift ist ein untrügliches Zeichen der Intoxikation. 19 Eine Schriftprobe der Unterschriften Kleists läßt eine typische Formauflösung seiner Unterschriften erkennen, die sich etwa seit 1806 verstärkt. Zu dieser Zeit befand sich Kleist bereits  in ärztlicher Behandlung und reichte zur Wiederherstellung seiner Gesundheit bei seinem Dienstherrn, Hardenberg, am 18.08.1806 ein Gesuch zur Freistellung vom Dienst ein, da er „von einem chronischen Übel“ befallen sei. 19a

H. v.Kleist, Wandel der Handschrift

H. v.Kleist, Wandel der Handschrift 

H. v.Kleist, Wandel der Handschrift

 

Abb. Unterschriften H.v.Kleists 20

 

Nach Aufenthalten in der Schweiz und in Paris wohnte Kleist von November 1803 bis Juni 1804 bei dem Arzt Dr. (Georg Christian) Wedekind in Mainz, der ihn wegen venerischer Krankheiten, im Dienste der Venus und wegen Gemütsleiden ärztlich betreute. Wedekind war ein Vertreter der “Mainzer Republik”, die den Anschluß an das revolutionäre Frankreich anstrebte; der Nachlass jenes Jakobiners, der  die “falsche” Seite repräsentierte, dürfte seine Niederlage nicht vollständig überlebt haben. Ob  heutzutage noch eine Krankenakte “H .v.Kleist” existiert, konnte nicht erwiesen werden. In der Literatur werden sowohl Syphilis als auch psychische Störungen berichtet. 21   Kleist  selber betrachtete sich als „gemütskrank“ , zudem war er nach seinen eigenen Worten “von einem chronischen Übel” befallen (s.o.). Für die genannten Indikationen war nach dem Kenntnisstand der damaligen Medizin die Anwendung von Quecksilberpräparaten der allgemeine Standard! In seinen späten Stücken (Der zerbrochene Krug, Amphytrion, Hermannsschlacht)  zeigte sich Kleist denn auch mit dem Quecksilber-Medikament „Kalomel“ durchaus vertraut.

Wenn sich nun auf dem Porträt eines gemütskranken Patienten um 1800  grau-braune  Augen zeigen, so ist 22  die Farbveränderung der Augeniris dem Behandlungsverlauf entsprechend durch ein Quecksilber – Medikament  23  zu erklären. Eine Ablagerung von Quecksilber drückt sich aus in einer hellgrau-rötlichbraunen – bis dunkelrotbraunen Verfärbung der vorderen Augenlinsenkapsel (mercuria lentis). Diese verfestigt sich irreversibel ! 24  Eine leichte Rötung der Augenränder (wie auf dem Bild NB erkennbar), eine Schwellung der Schleimhäute und Lymphgefäße mit der Folge einer gewissen „Verkleinerung“ der Augen sind weitere Kennzeichen des Symptombildes. 25

Der chronischen Vergiftung geht oft eine lange Latenzperiode mit diffusen neurasthentischen Symptomen voraus. Die unspezifischen Allgemeinsymptome können wochen –  monate- oder jahrelang anhalten, bevor weitere Vergiftungserscheinungen hinzukommen. 26 Der Prozeß der Vergiftung beginnt also schleichend. Frühsymptome sind Appetitlosigkeit und Gewichtsabnahme, die sich  in vergleichsweise eingefallenen Wangen und einer Hagerkeit der Gesichtszüge (wie auf dem neuen Porträt) ausdrückt.

Nach etwa fünfjähriger Expositonsdauer tritt eine hellgrau-braune bis dunkelrotbraune Verfärbung der Augeniris auf.  Diese Tatsache erklärt, warum die Augen des abgebildeten H.v.Kleist , das ihn im Alter von etwa dreißig Jahren darstellt, nicht mehr blau waren, sie können  – aus medizinischen Gründen – im neuen Porträt nicht anders als hellgrau-rötlichbraun gewesen sein!

Außer in den gesicherten (s.o.) anatomisch-medizinischen Veränderungen drückt sich die Störung der Hirn-Funktionen (Enzephalopathie) infolge einer iatrogenen Quecksilberintoxikation auch in den Symptomen des manifesten Verhaltens aus, in Zitterschrift (s.o.), in verwaschener Sprache (wie vielfach berichtet), Stottern, Stammeln  (Psellismus mercurialis), in Mundzuckungen. Man denke an den Besuch im Hause Rokoko-Dichters Martin Wieland. 26a

 

Im engeren Sinne der psychischen Veränderungen einer Quecksilberbehandlung zeigt der Patient Heinrich. v.Kleist folgende Symptome:   Überhöhte Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Angstgefühle, Verlust des Selbstvertrauens, Unentschlossenheit und Persönlichkeitsschwund – bei im wesentlichen erhaltener intellektueller Leistungsfähigkeit. 27 Eine ähnliche Symptomatik zeigt sich übrigens im Schicksal des Dichters Charles Baudelaire. 28

Hinzu kommen folgende Symptome einer Quecksilber-Vergiftung bei H. v.Kleist: Der Patient fühlt sich gehetzt, nervöse Unruhe und ein erhöhtes Tempo bei allen Tätigkeiten (auch beim Schreiben) stellen sich ein. Besonders beeindruckend aber ist: Das Zeiterleben verändert sich! H. v.Kleist leidet an Depressionen (Erethismus mercurialis), er zieht sich aus menschlicher Gesellschaft zurück, flieht menschliche Nähe, wechselt die Aufenthaltsorte. Häufige Selbstmordgedanken stellen sich symptomatisch ein. Die Suizidgefährdung gehört zum Symptombild. Das Ende ist abzusehen. In zahlreichen Nöten verzweifelt Kleist  am Leben; ihm  sei „auf Erden nicht zu helfen“ und gibt sich am 21.Nov. 1811 die Kugel.

 

ANMERKUNGEN

4 Die Idealisierung setzt schon ein mit der Wahl der Perspektive, dem Blick auf den leicht nach schräg hinten geworfenen Kopf mit dem rückwärts gewendeten Blick. Spätestens seit der Delfter Maler Vermeer das “Mädchen mit der Perlenkette” gemalt hat, gilt  diese Kopfhaltung – bis zum heutigen Tage übrigens – dem Porträtmaler (oder Fotografen) als “schön”. Im vorliegenden Falle des Kleist-Porträts hat diese Art der Momentaufnahme einer Kopfbewegung zusätzlich die meliorisierende Funktion, daß die Kontraste auf dem Nasenrücken (und damit der leichte Anstieg nach der Einkerbung an der Nasenwurzel) verschwinden. Weitere Stilisierungen sind den ein wenig verengten Augen und der Form des Mundes zu verdanken: Das geschürzte Mündchen mit den nach seitlich oben gezogenen Lippen lassen den Gesichtsausdruck lieblicher als etwa mit geraden oder gar mit herabgezogenen Mundwinkeln erscheinen. – 


Als Maßstab des Bildvergleichs kommen nur die gesicherten, anerkannten  und authentischen (!) Bildnisse in Frage. Eigentlich existieren nur zwei authentische Porträts des H.v.K. Wegen der Qualitätsunterschiede allerdings pflegt man häufig nur ein einziges, das Bildnis von P. Friedel (1801) heranzuziehen. Die vermeintlichen Kleist-Porträts von M. Slevogt, A. Graff und G. v.Kügelgen erfüllen nicht diese Vergleichs – Kriterien und sind daher auszuschließen.

 

6  Eberhard Siebert, Heinrich von Kleist. Eine Bildbiographie, Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2009 S. 11-20

7  In der Rubrik „Themen der Zeit“ widmet sich das Dt. Ärzteblatt den medizinischen Fallbeispielen und gängigen Behandlungsmethoden in Kleists Werk. Vgl. Sandra Krämer, Heinrich von Kleist (1777-1811): „O lieber tausend Tode, als ein einziges Leben wie dieses!“ in: Dtsch Arztebl 2011; 108(47): A-2539 / B-2126 / C-2098

8 Im Friedel´schen Bild nur angedeutet. Im vorliegenden Gefangenschaftsbild  leider nur in der deutlich besseren Bildqualität des Originals erkennbar, das infolgedessen heranzuziehen wäre. Immerhin wird die nämliche Nasenform  in der Zeichnung der W.v. Zenge bestätigt. Das Untersuchungsergebnis bleibt also festzuhalten.

9 aus: E. Siebert, a.a.O., S. 156. Siehe dazu Barbara Wilk-Mincu, Eine neue Kleist-Miniatur?, in: Heilbronner Kleist Blätter (HKB), 19 (2007), S. 139-152. Die Autorin behauptet jedoch  eine „völlige“ Ähnlichkeit!   Einerseits sei Übereinstimmung mit dem Friedel´schen Bild gegeben, obgleich H.v.K. doch gewiß keine Stülpnase und große Kulleraugen besaß. Ein schütteres Kopfhaar des Hv.K. ist bis dato nirgends belegt. Eine ausgedehnte Stirnglatze nach nur zwei Jahren (zwischen 1801 u. 1803)  scheint möglicherweise auf medizinische Gründe  (i.e. Symptome einer Quecksilber-Behandlung, s.u.) hinzuweisen. Auch ist über das eingeklappte linke Ohr gar nichts bekannt.  Die Autorin räumt eine „unsichere Provenienz“ ein, gleichwohl hält sie „die neue Miniatur für ein authentisches Porträt“. Selbst wenn eine vollständige  Identität mit dem Friedel´schen Bild nicht gegeben sein könnte, so müßten doch wichtige Merkmale nachweislich übereinstimmen; das ist aber nicht der Fall. Gleichwohl wird die „Berliner Miniatur“  von E. Siebert als „authentisch“ geführt.

10  in Berliner Privatbesitz, von Barbara Wilk-Mincu dem Dichter H.v.Kleist zugeschrieben, abgebildet in E. Siebert, a.a.O., S. 156, Bild Nr.216

11 faktenwidrig behauptet von der Autorin Wilk-Mincu. Der  „Nachweis“ der Ähnlichkeit beansprucht jedoch kaum zehn Zeilen, Fehler eingeschlossen. B. Wilk-Mincu, ebenda, Vgl. S. 141

12 mündliche Überlieferung in der Familie des Besitzers, ebenda, S. 143

13 Starke Zweifel bleiben; so werden etwa die bei K.F.Wichmanns Skulptur erscheinende Sattelnase und die auffallend geblähten Nasenflügel nirgends erwähnt. Befremdlich muten auch die kleinen, eher stechenden Augen an. Das für Kleist so typische spöttische Lächeln paßt überhaupt nicht zu dem Gesichtsausdruck der marmornen Büste. Im Seitenprofil wird deutlich, daß weder die Kopfform, die Ohren, noch die Nase den authentischen Porträts entsprechen. Auch das Fehlen einer  ausgeprägten Schläfenstirn weckt eher Zweifel.

14 Nicht alle Bilder zu dieser Zeit wurden vom Künstler auch signiert. Eine Signatur wurde erst um 1850 allgemeiner Standard. Auch läßt sich wie bei zahlreichen anderen Bildnissen nach zweihundert Jahren die Herkunft des Bildes nicht eindeutig klären. Ob die Rückseite der Leinwand hätte bestimmte Aufschlüsse geben können, läßt sich nach ihrer Doublierung nicht mehr klären.  Und was die Person Kleists betrifft: Reisende pflegen wenig zu hinterlassen. Überhaupt neigte H.v.K. zur Verschleierung und Mystifizierung seines Lebenswandels. Aufwendige Nachforschungen zur Provenienz des Bildes verliefen daher leider ergebnislos. Genau besehen liefert jedoch die Provenienzrecherche, wenn sie nicht bis zur Modellsitzung führt, wegen der Zufälligkeiten der Traditionsbildung weder einen Beweis noch ihr Fehlen einen Gegenbeweis.

15 Siebert, a.a.O., S. 311

16 vgl. Daunderer, a.a.O., S. 47

17 Frau Prof.Dr. H. Pfeiffer, Dir. d. Inst. f.Gerichtsmedizin d. Universität Münster

18  H. Sembdner, Henrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Bd. 1, Frankfurt: Insel Vlg. 1992, S. 434 f.

19 siehe www.medhost.de

19a Sembdner , Lebensspuren, a.a.O., S. 122 – Es wäre lohnend, den Krankenberichten des Arztes Dr. Wedekind, der im Badischen ein bekannter Jakobiner war, nachzuforschen und – falls auffindbar – auf die Behandlung des Patienten H. .v.Kleist zu untersuchen. Offenbar ist dies bisher noch nicht geschehen. Zum Stand der Forschung siehe die medizinhistorische Dissertation von Martin Weber: Georg Christian Gottlieb Wedekind 1761–1831, Werdegang und Schicksal eines Arztes im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1988, mit einer umfangreichen Bibliographie im Anhang

20 Die zunehmende Formauflösung bei den Unterschriften des H. v. Kleist in seinen letzten Jahren sind ein klarer  Hinweis auf die Symptome einer Quecksilber-Vergiftung. Anhand der Schriftzug-Atrophie läßt sich der Beginn der iatrogenen Enzephalopathie etwa auf die Zeit um 1806 terminieren. Eine Dokumentation des Wandels in den Unterschriften  bei E. Siebert, der den Grund für  diesen Wandel weder sucht noch erkennt, a.a.O. ,S. 323

21 Siehe dazu neuestens Anja Schonlau, Syphilis in der Literatur, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2005. Aus klinisch pychologischer Sicht fallen bei H.v.K. gewisse Symptome  schizophrener Persönlichkeitsspaltung auf; so in der neuesten Biographie  von Walter Hinderer, Vom Gesetz des Widerspruchs. Über Heinrich von Kleist“, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011; ders, Anläufe, sich von Heinrich von Kleist ein Bild zu machen, www.literaturkritik.de,  Nr. 11, November 2011, Schwerpunkt: Kleist revisited, Essay. Aus psychiatrischer Sicht: Johann Glatzsch, Literatur und Schriftsteller in psychiatrischer Betrachtung, in. Ralph Langner (Hg.), Psychologie  der Literatur: Weinheim: Beltz 1996; Hans-Ludwig Kröber, et al. (Hg.)l Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd. 2, 2011 Kap. 1 Psychopathologische Grundlagen forensischer Psychiatrie, zum querulatorischen Beziehungswahn im „Michael Kohlhaas“, S. 84. Aus psychoanalytischer Sicht: Emrich, H.M.,  Ein Krug-Zer-Bruch Buch. München: Imago 1991; Schlimme, J.E. . Verlust des Rettenden oder letzte Rettung. Freiburg i. Breisgau: Verlag Karl Alber 2010; Schmidtbauer, W., Kleists Narzissmus. Vortrag bei der Kleistgesellschaft 2008. Internet; Ortrud Gutjahr (Hg.), Heinrich v. Kleist, Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Würzburg, Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse Bd. 27, 2008.

22 Siebert, S. 310 Bild Nr. 485, S.. 311 Bild Nr.487. Ebenso auf der nach der Pose der Friedel´schen Miniatur angefertigten Kreidezeichnung der Wilhelmine von Zenge. „Die Züge auf der Zeichnung wirken gegenüber denen auf der Miniatur gereift; Wilhelmine hat eigene Beobachtungen und Erfahrungen verarbeitet.“ so Siebert a.a.O., s. 106.

23 chemisch: Quecksilber(I)-chlorid). Siehe dazu Wolfgang Schneider, Wörterbuch der Pharmazie, Bd. 4, Geschichte der Pharmazie, Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1985, S. 221. Gabe u.a. bei  Nervenleiden und Depressionen. Mit dem Medikament Kalomel war Kleist jedenfalls vertraut, er erwähnt es in „Amphytrion“, „Der zerbrochene Krug“ und „Hermannsschlacht“.

24 W. Forth et al., a.a.O., S. 1047; Mutschler, a.a.O., S. 1021. Bei der chronischen  Qecksilbervergiftung hingegen steht eine Stomatitis im Vordergrund. Das Lockern und anschließende Ausfallen der Zähne führen zu typischen Veränderungen in der Form des Gesichts, vornehmlich Verzerrungen der Mundpartie, wie man es bei alten Leuten kennt.

25  In diesen Augen kann nicht mehr das Feuer der Jugend lodern, stattdessen erzählen sie von einer Lebensgeschichte. Die Frage, ob aus medizinischer Sicht eine „Vergiftung“ vorgelegen hat, kann offen bleiben. Die Symptome waren nur allzu bekannt, wurden aber nicht als „Vergiftung“, sondern als Nebenwirkung medikamentöser Behandlung wahrgenommen. In ähnlicher Weise wußte man zwar von den Begleiterscheinungen des Opiumkonsums, aber den medizinischen Tatbestand der „Sucht“  erkannte man erst nach dem dem deutsch-franzöischen Krieg von 1871. – Aus heutiger Sicht erscheint das Gesamtbild einer Quecksilbervergiftung  freilich vielschichtig. Der Verlauf einer akuten  Quecksilbervergiftung setzt ein mit einer Gastro-Enteritis, gefolgt von einem Nierenversagen (Polyurie, Oligurie, Anurie, Urämie) und in der dritten Phase eine von heftigsten Koliken begleitete Colitis mucomembranacea. Die zeitliche Abfolge der Organschäden und Symptome einer akuten Quecksilbervergiftung in Wochen zeigt ein typisches Verlaufsbild. Siehe dazu:  W. Forth/ Henschler/ Rummel, Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, 8. Aufl., S.1046

26 Die Vergiftungserscheinungen resultieren hauptsächlich aus der Zerstörung der Neurone in Groß – und Kleinhirn. Vgl. Max Daunderer, Klinische Toxikologie, Landsberg: Ecomed Vlg. 1995-2006, 134. Erg.-Lfg. 12/98, S. 48

26a vgl. Brief von C.M. Wieland an den behandelnden Art G.C. Wedekind v. 10. Apr. 1804, in Sembdner, Lebenspuren, a.a.O.

27 In welchem Maße auch mögliche Sprachstörungen, Konzentrations- und Erinnerungsschwäche im Alltag auftreten, vermag erst eine ausführliche Untersuchung zu zeigen, die den gegebenen Rahmen sprengen würde.

28  Veränderungen im Antlitz des Ch. Baudelaire (1821-1867), 39, 156 (2014), publiz. i. März 2015

 

    (Soweit nicht anders vermerkt, sind die Abbildungen gemeinfrei, aus dem Internet oder wikimedia commons entnommen)

 

Paul Ridder

PD DDr.phil.habil.

Emer. Universität Konstanz

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Quelle: http://bilddetek.hypotheses.org/498

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17. Eine Lanze für die Antike („Was uns fremd scheint, ist so nah“) brechen.

Ich möchte eine Replik auf einen Artikel schreiben, den ich vor einigen Tagen gelesen habe, und der für die Beschäftigung mit der Antike eintritt, besonders für die klassischen Sprachen. Dem möchte ich noch einige eigene Gedanken beipflichten. Ob es plausibel ist, was ich schreibe, können Sie gerne selbst entscheiden und sich dann freuen, dass Sie für Ihre Kleinen doch Englisch, Französisch oder Spanisch gewählt haben (oder hui Chinesisch)! Was ich natürlich noch schöner fände ist aber, wenn Sie ihre Argumente pro und contra ebenfalls hinzufügen würden! Aber ich weiß ja, Sie haben keine Zeit. Niemand hat Zeit. Außer die antiken Texte, diese haben nämlich immer gemächlich gewartet; Darauf, dass sie entdeckt oder wiederentdeckt werden und vor allem darauf, dass sie gelesen werden und entzünden. Entzünden? „In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst”, meinen einige, habe Augustinus gesagt. Können tote Sprachen dies noch? Entzünden?

Der Artkel, um den es geht, heißt „Was uns fremd scheint, ist so nah“ (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/die-bedeutung-alter-sprachen-fuer-modernes-denken-13524589.html, 09.04,15), und die Autorin präsentiert Ihnen (ja „Ihnen“, da ich ja schon überzeugt bin) folgende Argumente dafür, dass die klassischen Sprachen und Inhalte auch im Schulunterricht nicht fehlen sollten: Denn die Antike sei der Grundstein unserer Identität, die Beschäftigung mit den Texten schulten das Denken und Fühlen, ließen Phantasie und kulturelle Kompetenz entwickeln und seien ganz einfach schön (ein Augenzwinkern von Seiten des Neuplatonismus: Einfach Schön).

Entzündet Sie das bereits? Oder würden Sie immer noch sagen, wird bräuchten lieber Wirtschaftsunterricht ab der 2. Klasse (Taschengeldkompetenzmodul), als die Zeit, von der wir so wenig haben, mit toten Sprachen zu verschwenden? Ja, ich bin polemisch, aber schauen Sie: Interessanterweise hat jede Beschäftigung mit der Antike zu einem geistigen, sozialen und kulturellen Feuerwerk geführt. Stichwort: Renaissance, Stichwort: Byzantinischer Humanismus, Stichwort: Hellenistisches Christentum (oder ist das selbst noch Antike?), Stichwort: Zweite Sophistik, Stichwort: Avicenna, Stichwort: Aufklärung, Stichwort: Milindapañha in Indien, Stichwort: Thomas von Aquin, Stichwort: Humanismus, Stichwort: Klassizismus in Architektur und Kunst. Stichwort: Die Liste könnte beliebig verlängert werden. Was würden Sie über einen „Gelehrten“ sagen, der im 14. Jahrhundert vor der Renaissance gesagt hätte, „die Beschäftigung mit der Antike ist Zeitverschwendung“, oder vor der Aufklärung „die Antike ist tot“ oder vor Thomas von Aquin, „Aristoteles ist Vergangenheit“? Sie würden diese Person gehässig auslachen („Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ (angeblich von Wilhelm II.)) . Aber was wird man in Zukunft über Sie sagen? Über uns? Wird man sagen, wir seien teil einer weitsichtigen Generation gewesen?

Die Antike hat lange gewartet und wurde ohne eigenes Zutun immer wieder entdeckt. Unsere heutige Abneigung gegen sie ist drei Dingen geschuldet: Wir fühlen uns allen anderen Epochen gegenüber überlegen (und sind es natürlich auch in gewissen Bereichen, in anderen aber wiederum nicht). Zweitens glauben wir an den Fortschritt (den es ebenfalls offenkundig in vielen Bereichen gibt, aber natürlich nicht in allen und auch nicht absolut). Klarerweise gelten beide Aussagen jedoch nur für einige Teilbereiche des Lebens und einige Wissenschaften. Und drittens haben wir ein “Gustav-Schwab-Bild” der Antike, in dem es nur darum ging, wie sich ein paar (ganz lustige, aber ansonsten fragwürdige) Götter verkleideten. Dem ist aber natürlich nicht so. Inspiriert durch einen lüsternen Zeus und einen betrunkenen Dionysos errichten Sie keine Renaissance: Wir finden kaum in sonst einer Epoche so scharfe Argumente, so pointierte Aussagen über den Menschen und die Welt, so objektive Umzeichnungen wie in den antiken Texten. Kaum irgendwo so sachliche Auseinandersetzungen, so klare Gedanken und so tragische Dilemmata, nirgends so inspirierenden Zweideutigkeiten, Witz, Größe. Nirgends die Eloquenz und Beredsamkeit, die in vielen Bereichen (aber auch hier gilt: natürlich nicht in allen) Standards gesetzt hat. Und nirgends die notwendige Entfernung und gleichzeitige Ähnlichkeit, die uns den reinen Spiegel vorhalten kann.

Wieso sich also eher mit der Antike beschäftigen oder sich von ihr inspirieren lassen und sich damit in die großen Epochen der Weltgeschichte einreihen als noch ein Kompetenzmodul für den unmittelbaren Nutzen zu belegen? Sehen Sie, es geht doch nicht um das Entweder-Oder. Es geht um die gute Balance. Und da müssen wir uns fragen: Sind wir heute weitsichtig? Weitsichtiger als unsereiner in anderen Epochen, wenn wir so viel Wert auf Lehre und Bildung nur als Mittel legen und nicht als Ziel? Thomas Morus sagt wohl: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ Ja, das gilt auch für die Beschäftigkung mit der Antike. Wenn Sie mir nicht glauben und sagen, ich sei voreingenommen, weil es mein Fach sei, lade ich Sie herzlich ein, sich ein genaues Bild zu machen, das über Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums hinausgeht und die gedankliche und gefühlsmäßige Größe dieser Sprachen in den Blick nimmt. Wollen Sie dem Dilemma zwischen menschlichem Recht und göttlichem Gebot auf den Grund gehen? Lassen Sie sich von Aischylos’ Orestie inspirieren. Wollen Sie wissen, wie man neutrale Distanz zwischen verschiedenen Parteien negativ nutzen kann? Lassen Sie sich vom Melierdialog aus dem Peloponnesischen Krieg des Thukydides inspirieren. Brauchen sie Stütze im Alltag? Lassen Sie sich von Seneca inspirieren und bauen Sie auf diesen Fundamenten, was Sie möchten, übertreffen Sie die Standards, wenn Sie wollen.

Niemand soll müssen, aber irgendjemandem diese gedanklichen und gefühlsmäßigen Schätze gänzlich zu verwehren, die Möglichkeit zu nehmen, und damit möglicherweise auch die Inspiration für die Zukunft zu ersticken, wäre eine Schande. Befreien Sie sich vom „Gustav Schwab Bild“ der Antike und prüfen Sie, ob mein Argument mit der Weitsichtigkeit stichhaltig ist oder nicht. Die konstruktive und fruchtvolle Auseinandersetzung ist schließlich wunderbar in den platonsichen Dialogen in Vollendung zu betrachten.

Wenn es Sie also interessiert: Twitter: @philophiso

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/483

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Commodification of everything – das Ende der Rechte?

Alles wird zur Ware, und was Ware ist, ist (ver)handelbar – auch grundlegende Rechte. Der Blog Klima der Gerechtigkeit der Heinrich-Böll-Stiftung verweist auf ein neues Gesetz zur Nachhaltigkeit in Ghana (Sustainable Development Law, SDL), das die Regierung dort am 1. August 2014 beschlossen hat. Dieses sieht vor, einen Markt für Nachhaltigkeitskredite zu schaffen  – Firmen, die etwa bei der Rohstoffförderung natürliche Resourcen zerstören oder Ökosysteme verändern, können dies dann durch Maßnahmen an anderen Orten oder anderen Feldern “ausgleichen”. Diese Art der (äußerst umstrittenen) Ausgleichsmaßnahmen gibt es bereits in vielen westlichen und südlichen Staaten, insbesondere im Bereich Biodiversität und Klimaschutz, sie sind Teil der Maßnahmen, mit denen die Umweltgesetzgebung seit den 1990er Jahren “flexibilisiert” wurde. So verwundert es auch nicht,  dass von der Europäischen Kommission finanzierte Experten an der Ausarbeitung der Details und der Umsetzung in Ghana beteiligt sind.

Bemerkenswert ist jedoch, dass sich das Gesetz nicht auf mehr auf Umweltgesetze beschränkt – in den neu zu schaffenden Kreditmarkt werden auch Menschen- und Gemeinschaftsrechte einbezogen.

Neben carbon credits, biodiversity credits und ecosystem credits sollen durch Projekte, die der Nachhaltigkeit dienen, auch community capital credits geschaffen werden können, definiert, wie eine Analyse der NGO FERN zitiert, als die “sum of
the natural and cultural assets belonging to a
community.” Ein jährliche Studie soll den Gesamtbestand an Nachhaltigkeitskapital erfassen und in einem nationalen Register mit dem zugehörigen Wert verzeichnen, und die darauf basierenden Kredite (generiert durch soziale oder Umweltprojekte) sind dann frei handelbar – und können etwa von anderen Firmen, im In- oder Ausland, gekauft werden, etwa um die Zerstörung von Ressourcen oder negative Effekte auf lokale Gemeinschaften “auszugleichen”.

Dies widerspricht geltenden Auffassungen von Recht, wonach Rechte eben nicht “veräußerbar” sind – aber es ist auch in anderer Hinsicht bedeutsam:

1) Die Austauschbarkeit verschiedener neu geschaffener (immatrieller) Waren, die  bereits im Bereich “natürlicher” und “systemischer” Komponenten zu beobachten ist, erreicht damit eine ganz neue Dimension – und damit die Frage, wie und durch wen diese Austauschbarkeit konkret hergestellt wird. Das Gesetz enthält noch keine Details, wie genau der Wert der einzelnen Kredite berechnet werden soll. Dennoch ist bereits klar, dass dies die “Be-Wertung” kultureller, natürlicher oder menschlicher Eigenschaften verschiebt: Der Wert, den ein Ort wie ein Wald für eine ansässige Gemeinschaft hat, die von seinen Ressourcen lebt oder ihm eine bestimmte spirituelle Bedeutung zuschreibt, mag sich eklatant unterscheiden von dem Wert, den ihm eine nationale Agentur im Zuge ihrer Berechnung des Nachhaltigkeitskapitals zuweist – und dieser wird wiederum, bei einer Integration in internationale Märkte, von den höchst abstrakten und schwankenden Bewertungen internationaler Finanzmärkte abhängen. Dies gilt aber, im Fall von Ghana, dann nicht mehr nur für Tierarten oder seltene Ökosysteme, sondern auch für den “Wert” von Bildung, medizinischer Versorgung oder dem Recht vor Enteignung. Diese sind nicht mehr von der Perzeption der Träger der Rechte oder nationalem Recht abhängig, sondern werden ebenfalls in die Bewertungs-Maschinerie globaler Märkte einbezogen – mit der Folge, das sie sozusagen “zerbrechen” in jene kapitalisierbaren Aspekte, die der Markt bewerten kann, und diejenigen Aspekte von (Menschen)Recht, die dabei ausgeschlossen werden.

2) In letzten Zeit wurde vielfach über die Auflösung bzw. die Verschiebungen diskutiert, die eine assemblage oder more than human-Perspektiven auf den Rechtsbegriff haben. Traditionell unterscheidet das liberale, westliche Recht strikt zwischen Menschen, die unveräußerliche Rechte haben, und nicht-menschlichen Entitäten, die diese nicht (im gleichen Maß) besitzen, auch wenn diese starre Trennung durch die Entstehung von Umweltgesetzen, aber auch durch kritische Betrachtung des Begriffs der Menschenrechte faktisch, diese Trennung bereits über die letzten Jahrzehnte aufgeweicht wurde (bzw. gezeigt wurde, dass diese nie wirklich in dieser Form bestanden hat). Während aber die theoretischen Diskussionen in Richtung einer möglichen Ausweitung von Rechten auf nicht-menschliche Wesen zielen, zeigt sich faktisch eine ganz andere Tendenz: nämlich eine Integration des Humanen in die (marktförmigen) Netzwerke nicht-menschlicher Waren, eine Auflösung der Grenze, die das Mensch-Sein der Verwertung in Teilen noch geboten hat.

Quelle: http://gclf.hypotheses.org/121

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18. Der Durchkreuzer Darwin – Ideenlehre läuft bei dir (nicht)

Es könnte alles so einfach sein. Es war alles so einfach, bis 1809, dem Geburtsjahr des Traumschiff-Superstars und Forschers Charles Robert Darwin, dem unangepasstesten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, dem Kopernikus der Biologie. Robert entwickelte nämlich eine Theorie, die die gesamte Wissenschaft auf den Kopf stellten sollte, auch die Philosophie (ja, Philosophie ist eine Wissenschaft (ja, sie ist die Wissenschaft schlechthin)). Aber was hat er angestellt, um in die Geschichtsbücher einzugehen? Warum waren seine Beobachtungen so wichtig, dass Sie sie leicht verändert auch heute noch lehren? Wie konnten Tagebücher über Korallenriffe und Forschungen an Tieren am anderen Ende der Welt zu den bedeutendsten Werken der Wissenschaft führen?

Die Antwort ist: „The survival of the fittest“. Das müsste Ihnen ein Begriff sein. Und hier trennt sich nun die Spreu vom Weizen: Sind Sie nämlich im Investmentbanking oder im Finanzsektor tätig, dann verstehen Sie unter fittest „Bester“. Nur die Besten kommen weiter. Und Sie gehören zu den Besten, weil Sie besonders durchsetzungsstark sind. Keine Teilnehmerurkunde, eine Siegerurkunde oder gar nichts ist die Lehre, die Sie aus der Natur schöpfen können. “Du bes ne ganz welde Tiger”. Sind Sie hingegen Absolvent eines Englischstudiums oder besitzen ein Wörterbuch, wissen Sie, fittest bedeutet Angepasstester. Die Angepasstesten überleben also. Ein Hurra auf die kommende Generation!

Und warum ist das jetzt eine Revolution? Empedokles (philosophierte von 492 v. Chr. – 432 v. Chr.) hatte doch schon vor 2300 Jahren eine Evolutionstheorie entwickelt. Was hat Darwin also, was Empedokles nicht hatte? – Ich sage es Ihnen. Robert hat die platonisch-aristotelische Philosophie im Hintergrund. Anders als Empedokles hatte er die etablierte Einsicht der platonisch-aristotelsichen Ideen und Formenlehre evolviert (super passendes Wort, ne?).

Trotz der gravierenden Unterschiede der Ontologien (der Lehren vom Sein) unserer beiden zentralen Büsten waren Sie sich in einem Punkt sicher einig. Die Arten, also Mensch, Hund, Pferd, Baum, Gras, Moos waren ewig. Sie manifestierten sich in immer neuen Individuen, waren aber an sich wesentlich unveränderbar und kamen schlichtweg immer wieder auf immer gleiche Weise immer hervor. Die kleinen Unterschiede haben eine andere Erklärung (auf die wir vielleicht im nächsten Eintrag eingehen können). Dafür dass es so ist spricht zwar einiges, Darwin hat aber gezeigt, dass diese Annahmen falsch sind. Und damit hat er eine Einsicht auf den Kopf gestellt, die sich sehr lange Zeit gehalten hat. Diese Leistung kann Empedokles nicht vorweisen. Er war offenbar angepasster an seine Zeit.

Nun, wäre jemand altra-antik eingestellt, könnte er mit zwei Strategien doch noch versuchen die Ideenlehre zu retten. Nein, nicht indem er hirnlos gegen Darwin poltert. Aber wäre es nicht möglich, die Entwicklung einer Art, sagen wir des Menschen aus dem Affen als Realisierung der Idee des Menschen zu begreifen? Die antiken Mittelbüsten meinten, dass jedes Individuum zuerst wachse und dann vergehe. Die Realisierung einer Idee oder Form in einem Individuum geschehe ja nicht plötzlich, sondern bedürfe der Zeit. Wenn jemand diese Ansicht nicht auf das Individuum, sondern auf die Art als Ganze anwendet, könnte er irgendwie die Ideenlehre mit dem Darwinismus zu vereinbaren suchen. Sicherlich ein schwieriges Unterfangen.

Leichter ist der andere Versuch. Denn laut Platon gibt es über den Ideen eine weitere Stufe von „Ideen“. Diese sind die sogenannten höchsten Gattungen (Obacht, auf Griechisch: megista genê). Alle fünf höchsten Gattungen sind notwendige Bedingungen für jede andere Existenz. Es handelt sich dabei um: Sein, Identität, Differenz, Bewegung, Stillstand. Diese höchsten Gattungen (lesen Sie mal den Dialog Sophistês) gehen allem anderen voraus, jeder Existenz, jedem Lebewesen, jedem Naturgesetz. Ohne diese höchsten Gattungen kann man keine Mathematik formulieren, keinen Urknall annehmen, keine Existenz begründen. Sie sind notwendig und plausibler Weise immer da. Könnte man so eine Teilvereinbarung zwischen Darwin und den Antiken bewerkstelligen? Möchten Sie sich nicht dieser Aufgabe annehmen?

Fällt Ihnen noch eine andere Weise ein, die Ideen und Formenlehre mit dem Darwinismus zu vereinigen? Es müsste sicher Tonnen an Literatur geben, oder?

Einen guten Start in die Woche.

D.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/470

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19. Das Wichtigste liegt natürlich immer in der Mitte

Die Beiträge werden seltener, die Schreibarbeit an meiner Doktorarbeit nimmt nämlich eigentlich die ganze Zeit weg. Aber das kann ich mir nicht entgehen lassen. Endlich kann ich nämlich mal mit erhobenem Zeigefinger auf unsere Büsten zugehen:

Das, was in der Mitte ist, ist immer wichtiger als das, was außen steht. Offensichtlich ging das geozentrische Weltbild genau von diesem Gedanken aus. So ist natürlich beim Menschen der Bauchnabel besonders wichtig, auf der Tastatur der Buchstabe H, für die Europäische Union die Gemeinde Westerngrund und in der Gleichung „Zwei plus Vier gleich Sechs“ die zweite Vier. Natürlich ist bei all diesen Beispielen der Ort zweitrangig und tritt hinter eine andere Struktur zurück, welche die Mitte in einer anderen Weise konstituiert.

Jetzt könnte man sagen, die Leute in der Antike hätten einfach nicht richtig hingeschaut. Schließlich sieht es ja so aus, als würde sich alles um uns drehen, wenn man einmal in den Nachthimmel blickt. Wissen sie aber, was ich merkwürdig finde? Seit den Platonikern gab es eigentlich keinen Grund mehr, die Erde konzeptionell in die Mitte des Kosmos zu setzen. Wenn man nicht banaler Weise die Mittigkeit des Ortes als Korrelat für seine Wichtigkeit  versteht, sondern beispielsweise den wichtigsten Ort für die Funktionalität der Sache metaphorisch als Mitte bezeichnet, beispielsweise für den Menschen das Hirn, das Herz oder das Zwerchfell, ist doch vieles gewonnen. Die Erde war für die Platoniker nur ein Abbild einer höheren Wirklichkeit, der platonischen Ideenwelt. Klar, die Ideenwelt hat keinen Ort. Aber dennoch: Die Unwichtigkeit der wahrnehmbaren Welt in den Augen der Platoniker nimmt doch auch die Notwendigkeit, diese in die Mitte zu setzen. Naja, das ist alles Spekulation. Aber auch Aristoteles hat die supralunare Welt, also alles, was über dem Mond ist, für beständiger gehalten, ohne sie in die Mitte zu setzen oder den unbewegten Beweger, die Ursache des Kosmos. Wieso also dabei bleiben, so einen Ort in die Mitte des Kosmos zu setzen, wenn es ein heliozentrisches Weltbild zu Lebzeiten des Sokrates schon gab? Ein gewisser Philolaos soll es als Erster vorgeschlagen haben.

Anders als unsere Büsten, gehen Sie davon aus, dass die unbedeutende Erde in zufälligerweise glücklicher Entfernung von der Sonne, in einem Seitenarm der Galaxie, in einem Teil eines Galaxienhaufens, eines Teiles eines Superhaufens in einem unwichtigen Filament des unkonzipierbar großen Unversums liegt, sodass sie zur Bedeutungslosigkeit verschwindet. Ein hauch Nihilismus macht sich breit. Auf der anderen Seite ist das Wenigste immer am wertvollsten. Wie wertvoll sind Sie also im Angesicht des riesigen Universums?

Lesen Sie doch mal Platons Dialog Timaios mit einer uralten Erzählung über die Entstehung der Welt, der Elemente und der Geschöpfe.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/463

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(6) Münz- und Hoffaktoren im Dienste Preußens

Bis zum 18. Jahrhundert gab es an den europäischen Höfen „Hofjuden“ oder auch „Münzjuden“, die zum einen Luxusgüter für den Hof und wichtige Waren für das Heer beschafften, zum anderen Silber für die Münze und wichtige ausländische Münzen besorgten (vgl. Battenberg 2001, S. 32; ebenso Scheiger 1990, S.  173). So konnte sich ein historisch bedingtes Spezialwissen ausprägen, das die Tür zu Berufen im Geldhandel sowie in der Kapital- und Kreditwirtschaft öffnen sollten und half, Schutz- und Handelsrechte zu erwerben (vgl. Scheiger 1990, S. 208). Jüdische Münz- und Hoffaktoren an den verschiedenen Hofstaaten hatten zudem die wichtige Funktion in Krisenzeiten für ausreichend Vermögen zu sorgen, in dem sie wertvolle Münzen beschafften oder auch Münzverschlechterungen durch Ausprägungen von Silber vornahmen (vgl. Jersch-Wenzel 1978, S. 183f.). Dabei hatten sie den Vorteil, dass sie für ihre Geld- und Warenbeschaffung auf ein europaweites Netz aus Händlern und Gemeinden zurückgreifen konnten, zu denen jedoch immer auch besondere Machtbeziehungen bestanden, da der „Hofjude“ über jüdische Neuansiedlungen und die Höhe der Abgaben der jüdischen Gemeinden meist mitbestimmen durfte (vgl. Battenberg 2001, S. 41f.).

Auch wenn es unter Friedrich II. keinen umfangreichen Hofstaat mehr gab, machte er sich die Kompetenzen von jüdischen Münz- und Hoffaktoren zu Nutzen (vgl. Stern 1971a, S. 233): Im Rahmen seiner Inflationspolitik während des 7-jährigen Krieg spielten jüdische Münzfaktoren für den preußischen Staat eine besondere Rolle. Sie halfen diesem durch Münzmanipulationen dabei, die Staatskasse aufzubessern und so den Krieg überhaupt finanzieren zu können (vgl. Schenk 2010, S. 97). Christlichen Kaufleuten war oftmals das Risiko dabei zu hoch, sodass sie ihre Mitarbeit verweigerten. Die Münzmanipulationen sollen dabei nach Schenk und Jersch-Wenzel rund 17 Prozent, nach Kunisch 20,5 Prozent und nach Stern mit bis zu 25 Prozent an den Gesamtkosten für den Krieg eingebracht haben (vgl. Stern 1971a, S. 252; vgl. ebenso Schenk 2010, S. 99).

Zu den Währungsmanipulationen gehörte das Nachprägen sächsischen, russischer, österreichischer und anderer Münzsorten der Kriegsgegner sowie die Fälschung von Münzen des neutralen Polens (vgl. Schenk 2010, S. 98). Dazu beschlagnahmte Preußen nach der Besetzung Sachsens die Münzstätten in Dresden und Leipzig und konnte damit den sächsischen Prägestempel nutzen.

In den neuen Münzen wurde der Silberanteil entfernt und durch minderwertige Metalle vermischt, ohne dass der Nennwert geändert wurde. Diese Münzen wurden auch als „Scheidemünzen“ bezeichnet (vgl. Stern 1971a, S. 228; vgl. dazu Jersch-Wenzel 1978, S. 184). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es zum einen kein einheitliches Münzsystem und somit viele Währungen gab, zum anderen aber gleiche Münzen ganz unterschiedliche Qualitäten der Ausprägung haben konnten und sich ihr Nenn- vom Verkehrswert unterschieden.

Der Anteil des Silbers in einer Münze war dabei staatlich reguliert und wurde je nach Finanzbedarf verringert. So wurde in einem Vertrag von 1756 für den Staat erst einmal nur ein Bedarf in Höhe von 200.000 Reichstalern, 1759 schon in Höhe 5,65 Millionen und 1760 sogar von rund 9 Millionen Reichstalern gefordert. Dabei wurde auch beschlossen, dass die manipulierten Münzen in Preußen selbst nicht vertrieben werden durften (vgl. Stern 1971a, S. 239 und S. 241).

Der 7-jährige Krieg wurde durch britische Subsidien, die Kontributionen besetzter Staaten, wie beispielsweise aus Sachsen, den eigenen Staatsreserven und regulären Einnahmen finanziert. Das reichte jedoch nicht aus um die Heereszüge zur finanzieren und hätte die vorzeitige Kapitulation bedeutet (vgl. Kunisch 2004, S. 355). Die Inflationspolitik während des Krieges war verantwortlich für die Finanzkrise und Bankrottwelle in den 1760er Jahren, die Banken und Unternehmen in ganz Europa erfasste und eine große Arbeitslosigkeit bis in die 1770er Jahren bewirkte.(vgl. Schenk 2010, S. 109). Nach dem Krieg wurde sogar versucht, die Münzen wieder aufzuwerten, was wiederum zu Deflationskrisen führte.

Für Preußen standen im 7-jährigen Krieg die jüdischen Unternehmer Daniel itzig, Moses Isaac und Herz Moses Gumperts auf der einen Seite sowie Veitel Ephraim & Söhne auf der anderen Seite als Pächter einzelner Münzstätten sowie als Münz- und Hoffaktoren im Dienst des Staates, die dadurch zu wohlhabenden Unternehmerfamilien aufstiegen. Außerdem erhielten sie umfangreiche Generalprivilegien, die einer Gleichstellung mit christlichen Unternehmern gleichkam und die Übertragung des Schutzes auf die gesamte Familie ermöglichte, wofür sie aber auch ihre Gewinne aus den Münzmanipulationen in Manufakturen einbringen mussten. (Vgl. Stern 1971a, S. 101f.)

Die Münzen wurden von jüdischen Händler und Zwischenhändlern, die mit den Münz- und Hoffaktoren in Beziehung standen, in Umlauf gebracht und erhielten dafür anteilige Gewinne und befristete Geleitbriefe, zogen aber auch den Hass der Bevölkerung auf sich (vgl. Stern 1971a, S. 244; dazu Schenk 2010, S. 98).

Der Schaden für die Bevölkerung war sehr hoch und betraf vor allem Handwerker, Kleinkrämer, Angestellte, Beamte und Geistliche, die ein festes Einkommen erhielten (vgl. Stern 1971a, S. 299). Die Geldentwertung führt zu Preiserhöhungen und Unsicherheiten im Gebrauch der Münzen, zumal staatliche Steuern und Abgaben in den alten, hochwertigeren Münzen oder in ihrem Preis eingefordert wurden (vgl. Jersch-Wenzel 1978, S. 186). So stiegen zwischen 1758 und 1762 die Preise für Brot bei gleichbleibendem Lohn um das 5-fache, was zu Hunger und hoher Säuglingssterblichkeit, aber auch zu Tumulten, beispielsweise 1761 in Ostfriesland gegen jüdische Händler führte.

Aber auch die preußischen Gegner und Nachbarn hatten mit hohen Finanzeinbußen zu kämpfen und wurden ökonomisch geschwächt. Beispielsweise soll das neutrale Polen in einer Höhe von 20-25 Millionen Reichstalern geschädigt worden sein (vgl. Schenk 2010, S. 98). Zum Vergleich lagen die Staatseinnahmen für Polen 1764 bei nur rund einer Million Reichstaler. Andere Nachbarn hingegen, wie Anhalt-Zerbst, Mecklenburg-Schwerin, Neuwied oder Anhalt-Bernburg, ahmten die preußischen Münzmanipulationen nach (vgl. Stern 1971a, S. 242ff.).

Literatur- und Quellen:

Battenberg, J. Friedrich (2001): Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Enzyklopädie Deutscher Geschichte. Bd. 60. München.

Jersch-Wenzel, Stefi; John, Barbara (1990): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin. Berlin.

Jersch-Wenzel, Stefi (1978): Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus. Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin. Bd. 23. Berlin.

Kunisch, Johannes (2004): Friedrich der Grosse. Der König und seine Zeit. München.

Scheiger, Brigitte (1990): Juden in Berlin. In: Jersch-Wenzel, Stefi; John, Barbara (Hrsg.): Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin. Berlin. S. 153-491.

Stern, Selma (1971a): Der Preussische Staat und die Juden. Dritter Teil/Die Zeit Friedrichs des Großen. 1. Abteilung: Darstellung. Tübingen.

Schenk, Tobias (2010): Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763-1812). Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Bd. 39. Berlin.

Quelle: http://germanjews.hypotheses.org/75

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20. Die zähe Schreibarbeit am Anfang der Schlussphase

Manchmal ist es zäh, ein Doktorand zu sein. Man mischt und knetet und wenn man die rohe Mixtur zu Papier bringen will, ist man die einzige Person im Universum, die versteht, was da eigentlich steht. Deshalb möchte ich in weiser Voraussicht und im Sinne einer Jobgarantie für künftige Psychologinnen und Psychologen, die meine ständigen Vergleiche der Doktorarbeit mit italienischen Gerichten untersuchen werden, dieselbe als einen Pizzateig verstehen. Immer dann wenn man gerade denkt, der Inhalt sei verträglich, merkt man eigentlich, dass er noch zu dick ist, um als Pizza durchzugehen und dass der potenzielle Genießer sich im rohen Teil festbeißen und bestenfalls seine Dritten dort parken würde. Deshalb muss man mit dem Nudelholz der Klarheit immer und immer wieder drübergehen, bis sie für jedermann genießbar wird.

Genau das fiel mir gerade auf, als ich einen Vergleich zwischen den Ansichten meines Autors über die christliche Trinität und Iamblichs Trinität zum Hauptgang des ersten Kapitels zaubern wollte. Eigentlich ist nämlich nur klar, dass nichts darüber klar ist, was Iamblich damals meinte. Iamblich, der Philosoph des 3. und 4. Jhs. (aus Chalkis) ist so etwas wie Pizzawürze für fade Neuplatoniker. Er bringt mit seinen Aussagen über Theurgie und Mathematik (tatsächlich) etwas Schwung in den Ofen der intelligiblen Gerichte. Und man verwendet ihn zwar, um dem Ganzen etwas Geschmack zu geben, aber richtig natürlich ist er nicht. Das ist so einer, der die ganzen “E” auf der Zutatenliste präsentiert und dennoch das Label “ohne künstliche Zusatzstoffe” bekommt. Was ich damit sagen möchte? Bleibt unklar wie Iamblichs Mathematik und neuplatonische Trinitätslehre. Was ich aber damit meine, ist hingegen ganz einfach: Der Autor, den ich bearbeite, hatte im 11. Jahrhundert großes Interesse an neuplatonischen Zutaten und erhielt uns als einziger die Texte dieses Iamblich aus der Spätantike über die pythagoreische Mathematik. Das muss in meiner Darstellung klarer werden. Sehen Sie, wir haben nämlich durch meine Bearbeitung des Psellos ganze vier Lagen von Zutaten übereinander! Nämlich seine eigenen Ansichten, dann die des Iamblich und diejenigen, welche Iamblich auslegte, also die der pythagoreischen Schule. Über diese drei ergießt sich in aller Gemächlichkeit der Käse, den ich produziere zu einem einzigartigen Gericht. Was für eine Freude für mich und mein Kapitel. Für die richtige Mischung muss ich allerdings selbst jetzt genauer verstehen, was in der zweiten Lage so steht. Diese Erkenntnis habe ich besser zu spät (also jetzt) als nie, sodass ich mich noch einmal an´s Lesen machen muss. Juhuu!..

Sollten Sie das inhaltslose Geplänkel also auch leid sein und sich endlich wieder mit Inhalten auseinandersetzen wollen, dann nehmen Sie beherzt Gabel, Messer und folgendes Buch in die Hand und sagen sie mir, was Iamblich da so erzählt. Da mein Autor sich mit ihm auseinandergesetzt hat, bleibt mir nichts übrig, als auch genau zu verstehen, was er so verstanden hat. Grüße nach einem langen Arbeitsteig am Schreibtisch:

Dominic J. O'Meara: Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Antiquity. Clarendon Press, Oxford 1997

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/449

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20. Die zähe Schreibarbeit am Anfang der Schlussphase

Manchmal ist es zäh, ein Doktorand zu sein. Man mischt und knetet und wenn man die rohe Mixtur zu Papier bringen will, ist man die einzige Person im Universum, die versteht, was da eigentlich steht. Deshalb möchte ich in weiser Voraussicht und im Sinne einer Jobgarantie für künftige Psychologinnen und Psychologen, die meine ständigen Vergleiche der Doktorarbeit mit italienischen Gerichten untersuchen werden, dieselbe als einen Pizzateig verstehen. Immer dann wenn man gerade denkt, der Inhalt sei verträglich, merkt man eigentlich, dass er noch zu dick ist, um als Pizza durchzugehen und dass der potenzielle Genießer sich im rohen Teil festbeißen und bestenfalls seine Dritten dort parken würde. Deshalb muss man mit dem Nudelholz der Klarheit immer und immer wieder drübergehen, bis sie für jedermann genießbar wird.

Genau das fiel mir gerade auf, als ich einen Vergleich zwischen den Ansichten meines Autors über die christliche Trinität und Iamblichs Trinität zum Hauptgang des ersten Kapitels zaubern wollte. Eigentlich ist nämlich nur klar, dass nichts darüber klar ist, was Iamblich damals meinte. Iamblich, der Philosoph des 3. und 4. Jhs. (aus Chalkis) ist so etwas wie Pizzawürze für fade Neuplatoniker. Er bringt mit seinen Aussagen über Theurgie und Mathematik (tatsächlich) etwas Schwung in den Ofen der intelligiblen Gerichte. Und man verwendet ihn zwar, um dem Ganzen etwas Geschmack zu geben, aber richtig natürlich ist er nicht. Das ist so einer, der die ganzen “E” auf der Zutatenliste präsentiert und dennoch das Label “ohne künstliche Zusatzstoffe” bekommt. Was ich damit sagen möchte? Bleibt unklar wie Iamblichs Mathematik und neuplatonische Trinitätslehre. Was ich aber damit meine, ist hingegen ganz einfach: Der Autor, den ich bearbeite, hatte im 11. Jahrhundert großes Interesse an neuplatonischen Zutaten und erhielt uns als einziger einige wichtige Texte dieses Iamblich aus der Spätantike über die pythagoreische Mathematik. Das muss in meiner Darstellung klarer werden. Sehen Sie, wir haben nämlich durch meine Bearbeitung des Psellos ganze vier Lagen von Zutaten übereinander! Nämlich seine eigenen Ansichten, dann die des Iamblich und diejenigen, welche Iamblich auslegte, also die der pythagoreischen Schule. Über diese drei ergießt sich in aller Gemächlichkeit der Käse, den ich produziere zu einem einzigartigen Gericht. Was für eine Freude für mich und mein Kapitel. Für die richtige Mischung muss ich allerdings selbst jetzt genauer verstehen, was in der zweiten Lage so steht. Diese Erkenntnis habe ich besser zu spät (also jetzt) als nie, sodass ich mich noch einmal an´s Lesen machen muss. Juhuu!..

Sollten Sie das inhaltslose Geplänkel also auch leid sein und sich endlich wieder mit Inhalten auseinandersetzen wollen, dann nehmen Sie beherzt Gabel, Messer und folgendes Buch in die Hand und sagen sie mir, was Iamblich da so erzählt. Da mein Autor sich mit ihm auseinandergesetzt hat, bleibt mir nichts übrig, als auch genau zu verstehen, was er so verstanden hat. Grüße nach einem langen Arbeitsteig am Schreibtisch:

Dominic J. O’Meara: Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Antiquity. Clarendon Press, Oxford 1997

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/449

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21. Auf einen Espresso mit Lucius Arrianus (Über das Bloggen)

Phi: Herr Arrianus, sie gelten gemeinhin als der Erfinder des Bloggens. Auch heute diskutiert man noch darüber, ob es sinnvoll ist, komplizierte, wissenschaftliche Inhalte in gekürzter und teilweise verfälschter Form in die Öffentlichkeit zu tragen. Schadet das Bloggen nicht eigentlich der Wissenschaft?

Arrianus: Zunächst einmal ist allen Lesern klar, dass wissenschaftliches Bloggen nicht gleich wissenschaftliches Bloggen ist. Man verweist mit dieser Bezeichung einmal auf die Präsentationsform, andererseits aber auch eine bestimmte Art der Inhalte. Wir reden nun aber hauptsächlich über die Inhalte. - Offenbar unterscheiden sich aber auch diese so stark von einander, dass sie eigentlich keine gemeinsame Gattung bilden können. Manche Blogs beinhalten die Ergebnisse von Forschung, die man auch in „peer-reviewten“ Fachzeitschriften finden könnte, andere sind starke Vereinfachungen verschiedenster Thesen. Wenn Blogs kritisiert werden, meint man offenbar die vereinfachenden Texten. Man hat Angst, dass diese Form die Qualität der anderen Blogs und langfristig auch des ganzen wissenschaftlichen "Outputs" mindert. Und das alles passiert, weil man alle als eine gemeinsame Gattung versteht.

Phi: Schaden die „einfachen“ Blogs also der Wissenschaft?

Arrianus: Man könnte dieselbe Frage an Schulbücher der Klasse 5 stellen. Schaden sie der Wissenschaft, weil die komplizierte Inhalte auf ein einfacheres Maß hinunter brechen? Klarerweise nein. Die Klasse „einfacher“ Blogs hat verschiedene Zwecke: Sie (wie ein kluger Lehrer aus der Nähe von Colonia Claudia Ara Agrippinensium sagte) nehmen erstens die Distanz zum jeweiligen Fach. Wer keine Zeit hat, einen Satz von Hegel zu Ende zu lesen – wie die meisten Menschen – wird nach der Lektüre einer Vereinfachung ein Bild von dem haben, was er da so dahinargumentiert und sehen, dass es gar nicht nötig war, es zu Ende zu lesen. Und wer die Beschäftigung mit antiker Philosophie infrage stellt, weil er von Hegel beeinflusst ist und denkt, wir seien heute viel weiter, kann einen Blick in das Fach werfen und sehen, was dort so passiert.

Phi: Sie denken also, dass der Nutzen überwiegt?

Arrianus: Es kommt drauf an. Die Schreibenden haben offensichtlich den Nutzen, dass sie beispielsweise während der Promotion, die zu 4/5 aus Lesen besteht, ihre Schreibtätigkeit nicht verstauben lassen müssen. Den Lesenden wird, wie gesagt, die Distanz zum vorgestellten Projekt oder Fach genommen. Und Interessierten wird außerdem die Möglichkeit geboten, einmal hineinzuschauen, was denn dort so passiert. Ich würde deshalb eine Unterteilung vorschlagen, die die Spannung aus der Diskussion etwas hinaus nimmt: Man könnte einerseits wissenschaftliche Blogs, die wissenschaftliche Ergebnisse mit vollständiger Begründung und Integration in den Forschungszusammenhang präsentieren, und andererseits wissenschaftsaffine Blogs, die eher der Darstellung der eigenen Wissenschaft dienen und mit Unterhaltung gepaart sind, wie Ihr Blog hier, unterscheiden.

Phi: Sie finden philophiso unterhaltsam?

Arrianus: Müsste ich eine Bewertung schreiben, würde ich mich für die Formulierung „Sie haben sich stets bemüht“ entscheiden.

Phi:...

Arrianus: Obwohl Wissenschaft durch das Zugucken nicht besser wird, dürfen Sie die Wirkung schön und einfach präsentierter Inhalte für Nicht-Spezialistinnen und Spezialisten nicht unterschätzen. Meine Lehrgespräche und das Handbüchlein sind der Gattung „Protreptikos“ zuzuordnen. Selbst Aristoteles, wie auch unzählige andere, haben solche Protreptiken geschrieben, um Werbung zu machen, oder die Neugierde ihrer Mitbürger zu wecken. Wissenschaft wurde außerdem selten argumentationslos vom Staat finanziert. Eigentlich nur kurz in Rom, Konstantinopel und eben heute wieder. Im geschichtlichen Zusammenhang ist das eine wundervolle Ausnahmeerscheinung. Unterschätzen Sie also nie das Bild, das von Ihrem Fach oder Projekt ausgeht.

Phi: Es geht also auch um Akzeptanz in der Gesellschaft?

Arrianus: Offensichtlich. Und besonders für Inhalte, die keinen materiellen Nutzen produzieren, sowie um die Befriedigung der Neugier, die – wie schon Aristoteles sagt – uns allen innewohnt.

Phi: Was meinen Sie genau damit „keinen materiellen Nutzen“ zu haben?

Arrianus: Beispielsweise der alte Topos, sich selbst kennen zu lernen (Γνῶθι σεαυτόν). – Jedenfalls beinhaltet ein wissenschaftsaffiner Blog natürlich nicht unbedingt die wissenschaftliche Meinung des Autors, sondern ähnelt den französischen Essays, den Versuchen, etwas über ein Thema zu schreiben ohne finale Recherche.

Phi: Wieso sind wisseschaftsaffine Blogs oder Essays oder ein "Protreptikos" nicht dazu in der Lage?

Arranus: Weil Wissen wahre Meinung mit Begründung is, wie schon Platon es definierte. Die Begründung einer wissenschaftlichen Meinung werden Sie ausreichend aber nur in langen Auseinandersetzungen finden können, die für Nicht-Spezialisten aber häufig langweilig und unverständlich sind, wie die Quantentheorie.

Phi: Sie vergleichen die Quantentheorie mit der Philosophie?

Arrianus: Sicher. Was wissen wir heute in der Öffenltichkeit als Nicht-Spezialisten von der Quantentheorie? Erstens, dass sie sehr fortschrittlich ist, obwohl sie seit fast 100 Jahren auf dem Markt ist, zweitens, dass wir dadurch heute Laser haben, drittens, dass man nie genau wissen kann, wo ein Teilchen ist und viertens, dass der Mikrokosmos wahnsinnig mysteriös und deshalb spannend ist. All das ist absolut gefährliches Halbwissen, das uns aber durch verkürzende Artikel in Zeitschriften und allerlei Dokus unterhaltsam präsentiert wurde. Dennoch weiß ich lieber so wenig darüber, als nichts darüber zu wissen. Lieber lasse ich meine Phantasie durch diese leckeren Krümel beflügeln, als zum 100. Mal auf meinem Handy, ich meine, meinem Smart Phone die Uhrzeit zu prüfen. Ich danke allen, die einen Protreptikos geschrieben haben, wie Hawkins in seiner kurzen Geschichte der Zeit. Eigentlich brauchen wir mehr davon.

Phi: Herr Arrianus, danke für das Gespräch.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/419

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Exkurs: Zu jüdischen Ansiedlungen im brandenburgischen Barnim

Mit der askanischen Eroberung und deutschen Besiedlung ehemals slawischer Gebiete seit dem 11. Jahrhundert siedelten sich auch jüdische Familien im Barnim an. Letztere waren jedoch immer der Gunst und dem Schutz des jeweiligen Herrschers ausgesetzt und konnten jederzeit vertrieben werden. Jüdische Familien waren aufgrund zahlreicher Berufsverbote auf den Handel beschränkt. Dazu gehörte auch der Geldhandel und die Kreditvergabe. So ist überliefert, dass der damalige Kurfürst anwies, dass Christen ihre Schulden an Christen zurückzahlen sollten und am 28.10.1461 den Rat von Bernau darum bat, ein Verzeichnis der Summen aufzustellen, die die Bürger der Stadt den Juden schuldeten. Dabei fanden sich rund 60 christliche Schuldner bei nur drei jüdischen Gläubigern. Die Zurückzahlung war auch in Sachgütern, in Form von Pferden, Kühen, Bier oder Grundbesitz möglich. (Vgl. Heise 1932: 167)

1510 wurden alle Juden in Brandenburg vertrieben - übrigens in Folge eines unter Folter erfolgten Geständnisse des Bernauer Kesselschmieds Paul Fromm, der aussagte, dass er Hostien klaute und an Juden verkaufte (vgl. Heise 1932: 212). Die Ausweisung hatte für viele Christen den Vorteil, dass sie ihre Schulden nicht mehr begleichen mussten und sie in freigewordene Wohnungen ziehen konnten (vgl. Heise 1932: 224f.). Der Nachteil für den Kurfürsten lag darin, dass Abgaben und Steuereinnahmen fehlten, sodass jüdische Händler ab 1539 wieder zu gelassen wurden (vgl. Heise 1932: 232).

Im 17. Jahrhundert avancierte Biesenthal zur 5. größten jüdischen Stadt in der Mark Brandenburg. Im Jahr 1692 konnten 64 jüdische Personen unter Schutz des Kurfürsten, davon 16 Männer, 15 Frauen, 29 Kinder und 4 Knechte, gezählt werden. Es ist allerdings davon auszugehen, das weit aus mehr jüdische Familien ohne Schutzprivileg sich ansiedelten (vgl. Stern 1925a: 142; Jersch-Wenzel 1978: 43f.). In Bernau wohnten im gleichen Jahr nur eine Familie, bestehend aus einem Mann, einer Frau, drei Kinder und 3 Knechte und die unter kurfürstlichen Schutz standen. Zum Vergleich sind 1692 für Freienwalde 10, für Joachimsthal 9, für Oranienburg 21, für Liebenwalde 11, für Oderberg 6, für Zehdenick 10, für Templin, für Prenzlau 6, für Lychen 6 und für Schwedt 8 jüdische Personen gezählt worden. (Vgl. Stern 1925b: 528)

Brandenburg lebte zu der damaligen Zeit von Einwanderungen, sodass es völlig normal war, dass selbst amtierende Magistratsmitglieder unterschiedlicher Herkunft waren. So waren in Bernau 1707 der Bürgermeister aus Berlin, sein Stellvertreter aus Frankreich, ein Kämmerer aus Kursachsen und andere Mitglieder aus Anhalt, Vorpommern und der Neumark. (Vgl. Göse 2002: 128)

1724 haben sich durch die restriktive Bevölkerungspolitik des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I., die jüdischen Einwohnerzahlen deutlich verringert, sodass beispielsweise für Freienwalde nur noch 4, für Oderberg nur noch 4 oder Joachimsthal nur noch 2 jüdische Personen, namentlich Israel David und Levin Salomon, genannt werden. Bernau wurde dabei gar nicht mehr aufgezählt. Jedoch findet sich aus dem Jahr 1716 noch ein Hinweis, dass Joachim Isaac aus Bernau ausgewiesen werden soll, weil er das fällige Schutzgeld nicht aufbringen kann. (Vgl. Stern 1925a: 192ff.)

1728 finden sich für Biesenthal folgende Namen: Joseph Salomon, Elias Israel, Israel Elias, Marcus Witwe, Isaac David, Israel Marcus, Schmol Salomon, Marcus Samuel, Herschel Jecob, Manasse Isaac, Jacob Salomon, Samuel Berend, Isaak Salomon, Abraham Moses, Marcus Jacob, Levin Israel, Henschel Bendix (vgl. Stern 1925a: 269). Jüdische Ansiedlungen fanden sich zu dieser Zeit aber auch in Strausberg, Landsberg, Neustadt-Eberswalde. Die jüdischen Familien waren vor allem in der Viehzucht und im Handel mit Wolle und Schaffelle tätig.

1765 lebten in Bernau 6 jüdische Familien, einer Stadt, für die 1772 1564 Einwohner gezählt werden konnten (vgl. Stern 1925b: 423). Bekannt geworden ist Manasse Jacob, der nicht in der Lage war die durch Friedrich II. geforderten neuen Abgaben zu leisten und 1771 wegen Zahlungsunfähigkeit mit dem Bernauer Rat in Konflikt geriet und 1778 daher außer Landes verwiesen wurde. Um seinen Schutz aufrecht zu erhalten wurde Jacob verpflichtet, Manufakturwaren in großem Umfang abzukaufen und zu exportieren. (Vgl. Schenk 2010: 175ff.)

Ende des 18. Jahrhunderts, im Jahr 1777, eröffnete Isaak Benjamin Wulff gemeinsam mit dem Unternehmer Moses Daniel Itzig auf ausdrücklichen Wunsch Friedrich II. in Bernau eine Seidenmanufaktur. Da David Hirsch es in Potsdam mit seiner Manufaktur nicht schaffte, die Nachfrage nach Samt zu befriedigen, sollte Wulff auch gestattet werden, Samt in Bernau herzustellen. (Vgl. Meier 2007: 60f.; Schenk 2010: 176; Thekla 2011: 92, 152).

Später, im Jahr 1785, übernahm Markus Israel diese Fabrik gezwungenermaßen, damit er eine Generalprivileg erhielt, dass ihn rechtlich allen anderen Bürgern fast gleichstellte (vgl. Meier 2007: 204). Schon 1714 sollte Bernau den Seidenbau fördern, wogegen andere Städte aufgrund der neuen Konkurrenz intervenierten (vgl. Meier 2007: 76). Auch der Unternehmer und Philosoph Moses Mendelsohn hatte zwei Geschäftspartner in Bernau (vgl. Meier 2007: 200).

 

Literatur- und Quellen:

Göse, Frank (2002): Im Schatten der Krone. Die Mark Brandenburg um 1700. Potsdam.

Heise, Werner (1932): Die Juden in der Mark Brandenburg bis zum Jahre 1571. Historische Studien. Berlin.

Jersch-Wenzel, Stefi: Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin/Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus. Berlin 1978. Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin. Bd. 23.

Keuck, Thekla (2011): Hofjuden und Kulturbürger. Die Geschichte der Familie Itzig in Berlin. Göttingen.

Meier, Brigitte (2007): Jüdische Seidenunternehmer und die soziale Ordnung zur Zeit Friedrich II. Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs. Bd. 52, Neitmann, Klaus (Hrsg.) Berlin.

Schenk, Tobias (2010): Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763-1812). In: Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Bd. 39, Duncker & Humblot. Berlin.

Stern, Selma (1925a): Der Preußische Staat und die Juden. Die Zeit Friedrich Wilhelm I. Teil 2. 2. Abteilung: Akten. Tübingen.

Stern, Selma (1925b): Der Preußische Staat und die Juden. Die Zeit des Großen Kurfürsten und Friedrich I. Berlin.

Quelle: http://germanjews.hypotheses.org/51

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