27. Geisteswissenschaft und Urlaub

Ich war gerade im Urlaub. Ich weiß. Geisteswissenschaftliche Tätigkeit ist eigentlich keine Arbeit, deshalb braucht man auch eigentlich keinen Urlaub. Denn Arbeit ist nur das, was anstrengend und am besten körperlicher Natur ist. Sie ist nämlich dann besonders Arbeit, wenn man sich über sie beschwert und keine Lust darauf hat und wenn man dabei schwitzt und andere Leute sehen, dass man sich anstrengt. So wie Joggen eben nur mit Gehalt.

Aber lassen Sie doch mal Fünfe gerade sein und auch einen Geisteswissenschaftler, der nur selten bei der „Arbeit“ schwitzt und dem seine Tätigkeit Spaß macht, in den Urlaub gefahren sein. Um genau zu sein einmal mehr in das Land des Diderod, Dumas und Hugo. Bei meiner Reise an die atlantischen Pyrenäen sind mir drei Dinge aufgefallen, wovon nur eines relevant ist: 1. Das Wort Pyrenäen ist schwerer zu schreiben, als man denkt. 2. Deutsche Urlauber sind nicht mehr an ihrem Outfit von anderen Urlaubern zu unterscheiden. Denn Funktionskleidung, Dreistufenhose für alle Wetterlagen, weiße Sportsocken, Sturmfeste Jacken und Fahrradsonnenbrillen sieht man bei engagierten französischen Vätern neben Kindern in Schlappen und normal gekleideten Ehefrauen ebenso wie einst wohl vornehmlich bei Deutschen. Europa wächst eben zusammen. Und das mit gutem Recht, denn besonders wenn man den eleganten Aufstieg zum ca. 900m hohen Gipfel von La Rhune unternehmen möchte, ist es wichtig, dass ein einziges Familienmitglied auf alle Witterungen und unvorhersehbaren Launen der Natur vorbereitet ist. Zumindest bis es oben in der Hütte Cola, Burger, Fisch und Souvernirs aus der Gegend zu kaufen gibt. Ich glaube, ich habe sogar jemanden mit Kompass gesehen. Naja, jedenfalls habe ich mich auch dort irgendwie heimisch gefühlt.

Und drittens ist mit aufgefallen, dass es mir viel leichter fiel, Platon zu lesen als wenn ich in meiner Alltags-Routine bin. Warum? Tja, wenn ich das wüsste. Ich konnte aber einige Dialoge lesen, ohne dass ich am Ende den Eindruck hatte, nur einen Brei mit Informationsstücken aufgenommen zu haben, bei dem ich eigentlich im Nachhinein nichts mehr wiedergeben kann, als dass ich etwas gelesen habe, dessen Zusammenfassung eine andere Person im Internet veröffentlicht hat und die ich mir zum Verständnis holen muss. – Ich glaube, ich habe Muße gehabt. – Und dabei ist es mir ganz deutlich geworden, dass geisteswissenschaftliche Arbeit zwar einerseits aus Anstrengung und Verwaltung der Literatur, Recherche und Korrekturen besteht, dass der Hauptteil der Arbeit aber etwas von Hephaistos’ Netz hat. Denn wenn man ein Problem hat und sich mit aller Macht versucht herauszuwinden, wird es einfach unlösbarer und fester. Die Strategie muss dort genau andersherum laufen und zwar mit Lockerung und ohne heftigen Trotz mit Milde die Probleme zu lösen zu versuchen, ohne ihnen Gewalt antun zu wollen, sondern mit Feingefühl, Zeit und Eleganz. Fragen Sie mal Aphrodite und Ares, was diese jetzt im Nachhinein davon halten und auch Eros, den Landstreicher. Für mich ist es jedenfalls klar: Intellektuelle Arbeit lässt sich nicht durch Gewalt zu Ende bringen, sondern braucht immer seine Zeit, seine Muße.

Und übrigens heißt Muße oder Ruhe im Griechischen scholê (σχολή). Und von diesem Wort ist unsere Schule abgeleitet. Aristoteles schreibt, dass wir um der Muße willen arbeiten, nicht Erholungsurlaub nehmen, um arbeiten zu können, wie man meinen könnte, wenn man sich die Gesetzeslage anschaut. Aber damit das nicht missverstanden wird: Muße ist nicht die Zeit der Untätigkeit. Muße ist die Zeit, in der man zwanglos der wertvollsten Tätigkeit nachgehen kann. Welche die Wertvollste Tätigkeit ist? Na, das wissen Sie doch.

[Alternatives Ende:] Muße ist nich der Aufstieg zu La Rhune, sondern der Moment an dem man der Schönheit des Ausblickes über den Golf von Biskaya gewahr wird. (Jaja, ich weiß, was Sie denken: “Wenn ich den dat nächste Mal sehe, klatscht et. Aber nisch Beifall.”)

LG

D.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/361

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Wie kann ein Mythos „komisch“ werden?

von Francesco Paolo Bianchi

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Mythos und Komödie: Wie passt das zusammen? Denken wir an einen Mythos, den die meisten Menschen vielleicht aus der Schule, vielleicht aus Filmen kennen: das Urteil des Paris. Ein Held soll zwischen den drei Göttinnen Aphrodite, Athena und Hera wählen, welche die schönste ist und entscheidet sich für Aphrodite, die ihm dafür die Liebe der schönste Frau der Welt, Helena von Troja, verspricht. Die folgenschwere Entscheidung führt zum Trojanischen Krieg und daraus entsteht eine der wichtigsten Epengeschichte der Antike. In Dramen werden diese und andere Mythen oft aufgegriffen, da sie tragische Geschichten von Göttern und Helden erzählen. Aber wie tauchen sie in Komödien auf? Im antiken Griechenland waren  Komödien eine wichtige Erzählform. Ein Beispiel sind die Werke von Aristophanes, dem bekanntesten Dichter der sogenannten archaia, der alten griechischen Komödie (ca. V-IV Jh. v.Ch.). Was passierte aber, wenn nun Komiker versuchten, die Mythengeschichten in ihre Komödien einzubauen? Wie wurden sie „komisch“ dargestellt?

Die Antwort ist leider nicht in einem ausführlich studierten Text wie den Komödien des Aristophanes zu finden. In seinen vollständig erhaltenen Werken greift er nur selten Mythen auf. Doch in anderen Quellen aus derselben Zeit finden wir Hinweise darauf, auf welche Weise Mythen in der griechischen Komödie auftauchen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts haben zwei Papyrologen, Bernard Grenfell und Alexander Hunt, einen Papyrus gefunden, der eine Zusammenfassung einer Komödie von Kratinos enthält (ca. 490-420 v.Chr.). Dieser war ein Dichter, Zeitgenosse und Konkurrent des Aristophanes. Ihr Titel ist Dionysalexandros und sie beschreibt eine „komische“ Version des Urteils des Paris.

Der Zustand des Papyrus ist komplizierter, als wir Forscher es uns wünschen würden. Der Anfang der Zusammenfassung (1/3) ist ganz verloren. Was wir dennoch lesen können, ist oftmals schwierig zu deuten. Können wir aber unsere Frage zum „komischen“ Mythos anhand dieser Quelle beantworten? Wir finden zwar einen in einer Komödie aufgearbeiteten Mythos, aber zur genauen Verwirklichung des Prozesses bleiben viele Fragen offen. Insbesondere fällt es uns schwer, dieses Fragment mit weiteren überlieferten Fragmenten der Komödie, 13 insgesamt, zu verbinden.

Papyrustext einer Zusammenfassung der Komödie des Kratinos auf Alt-Griechisch: Abschrift von Francesco Bianchi.

Oxyrhynchus Papyri, iv. ( Grenfell und Hunt 1904) stellt eine Zusammenfassung der Komödie des Kratinos auf Alt-Griechisch dar: Abschrift von Francesco Paolo Bianchi.

Im Papyrus erhalten wir nur eine generelle Antwort auf unsere Forschungsfrage: Dionysus, der Gott des Theaters, nimmt die Rolle des Paris ein. Er beurteilt die Göttinnen, und entscheidet sich für Aphrodite. Daraufhin raubt er Helena aus Sparta. Die Griechen, aber, verbrennen das Land, auf dem er sich befindet, und er versteckt sich. Der echte Paris entdeckt ihn und übergibt ihn den Griechen. Helena aber behält Paris bei sich und heiratet sie. Die Zusammenfassung auf dem Papyrus erklärt auch, dass Perikles, einer der berühmtesten Politiker des fünften Jahrhunderts vor Christus, in der Komödie verspottet wurde: die Figur des Dionysus stellt in der Komödie Perikles dar. Wie jedoch die einzelnen Elemente der Komödie zusammenpassen, bleibt unklar.

Eine Lösung zu diesen und ähnlichen Problemen zu finden, ist einer der Schwerpunkte meiner Forschung bei dem KomFrag-Projekt. In einer freundlichen und anregenden Gruppe von Forscherinnen und Forschern stelle ich meine Ergebnisse in wöchentlichen Sitzungen vor. Ich diskutiere gerne mit den anderen Teilnehmern, und alle zusammen versuchen wir, diese und ähnliche komplexe Fragen zu beantworten. Es gelingt uns nicht immer, doch auch kleine Antworten können den Wissensdurst stillen und unser Verständnisse der antiken Komödie verbessern.

Quelle: http://komfrag.hypotheses.org/56

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28. Westliche Meditation, Ausgeglichenheit und Kalkül

Sollten Sie sich nicht in der komfortablen Lage befinden, ein hübsches Gesicht zu einer Rastafrisur präsentieren zu können, einen schicken Travelerrucksack aus wasserfestem Material zu besitzen und in einem Land zu leben, dessen Einkommensstandard es Ihnen erlaubt, ferne Länder so zu besuchen als spiele Geld keine Rolle, um dort Unzufriedenheit über die heimischen Einkommensstrukturen zu leben, seien Sie beruhigt, denn Anweisungen zur Meditation gibt es auch bei Ihnen zu Hause (wenn Sie sich als Westler verstehen und falls Sie Griechenland und Rom zum Westen zählen möchten).

Die antike Stoa zeigt Ihnen, wie es geht: Anders als das aristotelische Ziel der mesotes-Lehre, das ja besagte, man solle immer die gute Mitte zwischen zwei schlechten Affekten treffen, also weder feige noch tollkühn (verrückt) sein, wenn man bedroht werde, sondern eben mutig, und dadurch sehr unklar bleibt (denn was genau ist jetzt jeweils die Mitte?), erklären die Stoiker die Seelenruhe zum obersten Ziel. Um diese Seelenruhe in jeder Lage zu bewahren, müssen Sie sich darin üben, Übel zu antizipieren: Praemeditatio futuri mali nennt es der gute Seneca. Wenn Sie nämlich vorbereitet sind auf das, was auch immer kommen kann, trifft es Sie nicht so schlimm, wie auf unvorbereitete Weise.

In einer anderen Tradition finden wir zwar nicht dieselben Meditationsanweisungen (es gibt übrigens sehr viele davon und ich kann Ihnen nur Empfehlen, die römischen Stoiker zu lesen, Epiktet, Seneca, Marc Aurel), wohl aber denselben Begriff, den sie Stoa für die Seelenruhe verwenden: Apatheia, wieder: Bei den Neuplatonikern. Man soll sich von den Leidenschaften unabhängig machen. Nun gibt es bei Plutarch eine Szene, die einen möglichen Unterschied zwischen der stoischen und der neuplatonischen Apatheia formuliert. Es geht um die Passagen, in denen Plutarch schreibt, dass Perikles beim Tod seines Sohnes, seiner Schwester und vielen Verwandten aufgrund der Schwarzen Pest nicht einmal weinte. Später jedoch beim Tod seines letzten rechtmäßigen Sohnes Paralos übermannt vom Schmerz dem Anblick nicht mehr stand hielt und ausgiebig und lange weinte.

Worum geht es also bei der Apatheia? Geht es darum, abzustumpfen oder geht es darum, die Verbindung zwischen Gefühl und Reaktion zu unterbinden? Die Praemeditation futiri mali der Stoiker weist auf die Schleifung der Empfindung hin, die neuplatonische Apatheia hingegen auf die Entkoppelung der Reaktion. Ich glaube es ist Ihnen beides möglich, zu einem gewissen Grade zu erreichen. Ich denke aber, dass die erste Art der Apatheia von der Umgebung als Kälte wahrgenommen wird. Dass die zweite Art hingegen mit Zuspruch und Mitleid einhergeht. Der Unterschied ist deshalb von außen wahrzunehmen, weil die Entkoppelung der Reaktion vom Gefühl immer den Funken des inneren Kampfes hinausträgt.

Dennoch sollte man auch die Empfindungen der ersten Apatheia nicht unbearbeitet lassen. Geht man aber zu weit, müssen automatische und natürliche Reflexe durch überlegte Rationalität aufgewogen werden. Zwar behaupteten die Stoiker, dass die Philanthropie, die Liebe zu den Menschen, zu den guten Gefühlen gehöre, die nicht abgelegt werden sollen. Woher weiß aber der Meditierende, dass er durch seine Schleifung nicht bereits zu weit gegangen ist und die Grenze zwischen Apatheia und Stumpfsinn nicht schon längst überschritten hat – unter dem Mantel der Ausgeglichenheit zum kalkulierten Egoisten geworden ist?

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/349

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29. Die Schachmaschine

Es gibt eben diese Leute, die sich in den Kopf gesetzt haben, besonders rational sein zu wollen. Dabei bedeutet Rationalität für die meisten von ihnen die richtige Vorausschau dessen, was passieren wird. Eine besonders kluge Person ist für sie also eine, die zukünftige Geschehnisse aufgrund der eigenen scharfen Auffassungsgabe aktueller Gegebenheiten vorhersehen kann und so auch dazu fähig ist, korrigierend in zukünftige Geschehnisse einzugreifen. Manchmal zeichnen sich solche Leute dadurch aus, dass sie kurz warten, bevor sie eine Antwort geben, wenn man sie etwas fragt. Dies wirkt abwägend.

Ein besonders gutes Beispiel für das, was ich sagen möchte, war Themistokles (525 – 459 v. Chr.) der Stratege aus Athen mit poliertem Helm, der den persischen Angriff auf die griechische Flotte bei Salamis nicht nur mit Worten provozierte. Kennen Sie die Geschichte? Sie geht in etwa so: Die ollen Perser standen vor dem Angriff auf die versammelte griechische Flotte, die sich (erstaunlicherweise) nicht einig darüber war, was sie tun sollte. Zwist lähmte ihre Koordination und Gedanken an Flucht und Rettung unter einen gemeinsamen Schirm einer neuen Kolonie verbreiteten sich unter den Soldaten. Themistokles kannte das Problem und löste es durch eine List: Er schickte nämlich einen Boten zu Xerxes, dem er seinen Seitenwechsel anbot. Xerxes war misstrauisch und dachte sicher, Themistokles wolle lediglich erreichen, dass er ungehindert an den persischen Schiffen vorbeifahren und fliehen konnte, solange Xerxes eben denke, dass er die Seiten wechseln wolle. Genau deshalb schickte er also gleich Schiffe auf Themistokles zu, die ihn einfangen sollten. Hätten Sie sicher auch so gemacht, oder? Ich jedenfalls ganz bestimmt, solange der Feldherrenmantel richtig säße. Sie wissen ja, die B-Note zählt immer. Jedenfalls ging Themistokles’ versteckte Strategie in doppeltem Sinne auf. Die entmutigten Griechen, die dem Kampf mit den Persern ja eigentlich eher entkommen wollten, dachten, es handele sich beim Versuch der Perser, Themistokles’ Schiff einzufangen, nun um einen frühzeitigen Gesamtangriff. Für Flucht war es demnach natürlich zu spät. Was blieb, war also der Kampf mit bekanntem Ausgang: Xerxes wurde nass gemacht und Themistokles hat auf voller Linie gewonnen.

Und alle so „Wuuuaah, Themistokles, voll tapfer und so.“ „Buuah, der wollte alleine gegen die Perser kämpfen.“ Statue hier, Kranz da. Sie wissen ja, wie das geht.

Themistokles ist also rational an das Problem des Zwistes zwischen den Griechen ran gegangen, hat die Begebenheiten erkannt, gewusst, dass die Griechen gewinnen könnten, und klug gehandelt. Sein Ziel erreicht. Derselbe Themistokles hatte einige Zeit später aber eine ähnliche Idee: Als nämlich die Perser gänzlich zurückgeschlagen waren, haben die Griechen sich dafür entschieden, eine gemeinsame Flotte aufzubauen und sie in Athen zu stationieren. Quasi als sichere Anleihe gegen künftige Angriffe von Barbaren an Athen. Themistokles hatte nun den Einfall, einfach all nicht-athenischen Schiffe anzuzünden. Zack. Ich nenne das den Default Swap Trick. Das hätte bedeutet, dass Athen die absolute Übermacht gegenüber den anderen Stadtstaaten gewonnen hätte, da die Perser eben geschlagen waren und es damit auf lange Zeit auch keine innergriechischen Konkurrenten mehr gegeben hätte. In den Geschichtsbüchern hätte Themistokles für eine solche Tat den Titel „Asi“ erhalten. Themistokles, der Asi. Denn seine Tat wäre einfach ruchlos gewesen.

Was ist aber der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Kalkül? Danke, genau, die Ziele. Extremer ausgedrückt hätte Themistokles ja auch sehr kalkuliert oder mit einer funktionierenden List alles athenische Geld in die bretonische Keulen-Produktion investieren können. Wer aber ein solch hirnloses Investitionsziel verfolgt und erreicht, gleich wie, wird sicher nicht mehr als klug oder rational angesehen. Oder? Wäre die Verbrennung der anderen griechischen Schiffe klug gewesen? Das hängt eben davon ab, welche Ziele man als gut oder schlecht ausmacht. Sehen Sie, ich glaube nämlich, dass es ein großer Fehler ist, Rationalität einfach mit Kalkül gleichzusetzen. Kalkül gehört klarerweise irgendwie dazu. Aber was dem Kalkül natürlich vorausgeht, ist die Auswahl der richtigen Ziele auf welche das Kalkül hinarbeiten kann, oder? Themistokles wollte die Freiheit Griechenlands. Das war sein erstes Ziel. Und das hat er mit dem beschriebenen Kalkül erreicht. Deshalb gilt er als klug, rational und hat eine Statue bekommen. Bravo. Das freiwillig gewählte Ziel, schlechte Investitionen in die bretonische Keulen-Produktion zu tätigen, ist hingegen dumm, gleich wie kalkuliert man die Sache einfädelt. Rationalität und Klugheit hängt also selbstverständlich mit den Zielen zusammen, die man wählt. Welche Ziele haben Sie gewählt? Die eigene Durchsetzung? Fraglich, ob es ein gutes Ziel ist. Einen hohen sozialen Status zu erreichen? Reichtum? Eine hohe Publikationsdichte? Wissen? Sorglosigkeit? Ausgeglichenheit? Macht?

Was sind gute Ziele?

Es ist immer dasselbe. Man sucht nach einer Antwort und stößt auf weitere Fragen. Aber diese gibt es beim nächsten Mal. Denn bald macht die Börse in Rennes auf.

Gut geschrieben und interessant: Plutarchus: Die grossen Griechen und Römer.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/343

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Vor dem Archäologiestudium: Informieren und “hineinschnuppern” mit dem Studienscout Academicus der Universität Bonn

Wer von meinen FachkollegInnen kennt das nicht? Das Bild von ArchäologInnen, mit dem wir immer wieder konfrontiert sind, und mit dem auch viele Studierenden zu uns an die Universitäten kommen: ArchäologInnen, das sind die, die Mumien ausgraben, Scherben zusammenpuzzeln und griechische Statuen bewundern. Eine Differenzierung in unterschiedliche archäologische Fächer oder Schwerpunkte gibt es nicht; es wird alles in einen Topf geworfen. Und mal ehrlich: Ginge das uns ArchäologInnen nicht ähnlich mit anderen Fächern? Sind etwa ChemikerInnen für uns nicht auch einfach die, die im Labor stehen und Substanzen mischen, und die innerfachliche Differenzierung in organische Chemie, anorganische Chemie, Biochemie usw. findet in unseren Köpfen zunächst einmal nicht statt?

Mit diesem oder einem ähnlichen Bild und den damit verbundenen Erwartungen erreichen Studieninteressiente und Erstsemester dann auch oft die Universitäten. Idealerweise kommen sie zunächst in eine Studienberatung oder zu einem der vielerorts angebotenen Studieninformationstage, im nicht so idealen Fall sind sie bereits eingeschrieben, wenn sie sich mit den Inhalten eines Archäologiestudiums auseinandersetzen – und stellen dann fest, dass Archäologie zum einen ein weites Feld ist, in dem man sich im Studium schon früh auf die eine oder andere Richtung spezialisieren sollte, um sich dort innerhalb von 6 Semestern Regelstudienzeit im Bachelorstudium mehr als nur grundlegendes Wissen aneignen und einigermaßen in die Tiefe gehen zu können, zum anderen, dass sich das Archäologiestudium vorrangig in Hörsälen und Bibliotheken abspielt, und weniger auf Ausgrabungen und in exotischen Ländern.

Mit dem Studienscout Academicus hat die Universität Bonn für Studieninteressierte eine Möglichkeit geschaffen, in das Wunschstudienfach Archäologien hineinzuschnuppern, ohne hierfür eingeschrieben sein zu müssen. Das Online-Self-Assesment (OSA) dauert etwa 60 Minuten, und deckt in seinen exemplarischen Fragen alle Schwerpunkte des Bachelorstudiengangs Archäologien der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität ab, der sich aus den Schwerpunkten Ägyptologie, Christliche Archäologie, Klassische Archäologie und Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie zusammensetzt. Es findet sich unter folgendem Link: http://www3.uni-bonn.de/studium/studienangebot/studienscout-academicus/faecher/archaeologien/archaeologien

Gibt es ähnliche Angebote für das Archäologiestudium auch an anderen Universitäten? Über einen Hinweis in den Kommentaren, gerne mit einem Link, würde ich mich freuen! 

Quelle: http://archiskop.hypotheses.org/40

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Universität und Twitter: Gezwitscher in der Lehre?

Immer wieder lese ich in Portraits von ProfessorInnen, wenn Besonderheiten in deren Lehre herausgestellt werden sollen, dass sie in ihrer Lehre auch Twitter einsetzen. Leider wird diese Anmerkung in der Regel nicht weiter vertieft, und ich habe ich oft gefragt, wie man auf 140 Zeichen begrenztes Microblogging sinnvoll in der Hochschullehre einsetzen kann. 

In anderem Kontext – es ging in diesem Fall um eine Tagung – wurde ich auf die Twitterwall aufmerksam. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die sinnvoll in der Lehre nutzen lässt. (Für alle, die sich  – wie ich vor Kurzem noch – unter diesem Begriff nichts vorstellen können, sei zur kurzen Einführung auf einen Beitrag von Ulrike Langer verwiesen: “Gezwitscher auf Events” )

Einführende Sitzungen bei Seminaren und Übungen gestalte ich oft als Frontalunterricht, um die teilnehmenden Studierenden auf einen gleichmäßigen einheitlichen Wissenstand zu bringen. Diese Art des Unterrichts mag zwar effektiv sein, ist aber wenig interaktiv – und auch gelegentliches Fragen in die Runde bringt meist nur wenige Wortmeldungen, wenn überhaupt. Eine Twitterwall scheint mir hier eine gute Möglichkeit, die Studierenden einzubinden.

Eine Twitterwall mit Fragen und Kommentaren aus dem Auditorium parallel zur eigenen Vortragspräsentation anzuzeigen, wäre sicherlich sowohl für mich als auch für die Studierenden spannend, jedoch sind die meisten Unterrichtsräume mit nur einem Beamer ausgestattet und sind daher dafür nicht ausgelegt. Ein wirklich spontanes und zeitnahes Reagieren auf getwitterte Fragen und Anmerkungen ist damit also nicht möglich. Doch eine Twitterwall zu einer Veranstaltung könnte in regelmäßigen zeitlichen Abständen, oder beim Erreichen inhaltlicher Absätze, statt der Vortragspräsentation angezeigt werden, und die dort gestellten Fragen der Studierenden könnten besprochen werden. Vielleicht führt diese Möglichkeit, sich aktiv einzubringen, zu einer höheren Aufmerksamkeit im Auditorium? Und wie viele Fragen werden von den Studierenden auf diesem Weg wohl kommen? Handys und Smartphones haben die Studierenden in der Regel ohnehin immer in Griffweite.

Im kommenden Semester werde ich das in einer meiner Veranstaltungen einmal ausprobieren.

Quelle: http://archiskop.hypotheses.org/38

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30. Nachtflug nach Lissabon

Scharl gesprochen, Charles geschrieben, ist der Name, der mir zweimal begegnete auf meiner kurzen Reise in das schöne Lissabon. Wer diesen Namen verliehen bekommt, der steht bereits a priori in einer Reihe mit den Großen Europas. Der Vater unseres mittelalterlich-westlichen Kontinents, der Große, trug ihn und auch der französische General und Präsident. Manch ein Karl oder Karol kickt in den Gassen Jenas oder Warschaus den Fußball zu ehren seiner Vorfahren und zur Hoffnung seiner Großtanten. Als die Benennung des Pariser Flughafens, in dem ich nun zweimal umsteigen musste, anstand, gab es deshalb keine andere Möglichkeit, als ihn Charles zu nennen, de Gaulle, mit Bezug zur eigenen Geschichte, Paris vorne dran. – Ich habe mir deshalb ein Hemd angezogen und Lederschuhe, um in der Stadt der Städte nicht negativ aufzufallen, nicht unhöflich zu sein gegenüber den Reisenden, die aus St. Tropez kommen und weiter nach Las Vegas und Moskau fliegen. Ich war vorbereitet auf Jetset und hatte mir bereits die philosophischen Argumente für Mäßigung und gegen Gewinn- und Luxussucht zurechtgelegt, als ich mit der Wahrheit konfrontiert wurde.

Anspruch und Wahrheit divergieren nämlich an diesem Ort so weit voneinander, dass ich mich wundere, ob Einsteins Relativitätstheorie hier nicht eher als soziale Theorie Anwendung finden sollte. Die Kategorie der Relation zum Beispiel wird soweit gedehnt, dass sie eigentlich überhaupt keine Rolle mehr spielen kann. Sie möchten z. B. eine Kleinigkeit essen, weil Sie noch lange auf Ihren Weiterflug warten müssen? Suchen Sie sich ruhig etwas aus. Egal was. Es wird Sie einen Phantasiepreis kosten und auf keinen Fall satt machen ggf. auch so trocken sein, dass Ihnen danach die Kehle brennt. Und klar. Wer so viel für plastikables Nichts zahlt, der ist so was vom im Trend, dass er seinen nachhaltigen Pappbecher auch direkt selbst nachhaltig an die Theke zurückbringen kann. Kosten-Nutzen 2.0. Aber stopp, denn freie Marktwirtschaft gibt es hier ja auch. Wenn Sie nämlich in den nächsten Laden gehen, können Sie gleich erkennen, wie die Konkurrenz um Kunden den Preis gesenkt hat – könnte man denken, wenn Sie nicht auch hier wieder einen Phantasiepreis vorfinden würden. Aber Sekunde mal, denn das Gute an diesem Konzept ist nicht nur, dass man sich immer noch als teuerste Stadt der Welt behaupten zu können glaubt, sondern auch, dass die Einnahmen zu Feenstaub und Regenbogenfarbe verpuffen. Jedenfalls gibt es auch hier keine Korrelation (wohlgemerkt -relation) zwischen diesen und der Ausstattung sowie dem Knowhow, das man antrifft. Gangway, um aus dem Flugzeug steigen zu können? „Später“. Klo? „Benutzen Sie bitte das Damenklo, da dieses hier nun eine Stunde lang gereinigt wird.“ Boarding? „Ja, stellen Sie sich einfach auch in den Weg, damit hier niemand mehr durch kommt, weil wir das Terminal zu eng konzipiert haben.“ Flug nach Lissabon? „Klar, aber erst wenn der Streik vorbei ist, der genau so lange andauert wie das französische Fußballspiel.“ Jetzt Flug nach Lissabon? „Klar, benutzen Sie einfach denselben Eingang wie diejenige, die nach Malaga fliegen, aber ganz hinten bitte dann in das richtige Flugzeug steigen, hihihi.“ Hahahaha. „Hihihihi.“ Wo sind eigentlich die Franzosen, die die Concorde und so etwas vor 40 Jahren konzipiert haben? „…“.

Scharl, ich glaube, du warst der Grund dafür, dass es einmal eine Theorie des gerechten Preises gegeben hat, der richtigen Relation zwischen Waren. Erinnern Sie sich an die aristotelische Mitte? Nicht zu viel, nicht zu wenig, dann sind Sie tugendhaft? Es scheint im Mittelalter ein Konzept des Preises gegeben zu haben, das sich an dieser Idee ausgerichtet hat und die Preiskatastrophe des Pariser Flughafens vielleicht hätte abwenden können. Preisvariation gab es. Aber irgendwie konnte man wohl sagen: „Junge, ein Haus in Saint-Denis kostet etwa so viel wie Einhunderttausend kleine Salate mit Dressing.“ Und alle sagten: „Ja, irgendwie schon, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger, aber diese Relation stimmt schon, wenn wir gerade kein königliches Salatverbot oder so haben.“ Und nicht: „Ein Haus kostet genau so viel wie ein Salat, ein kleiner Salat ohne Dressing.“

Jetzt ist es so, dass diese Theorie des gerechten Preises wohl kaum erforscht ist. Und außerdem ist es so, dass jeder Ökonom mir an die Gurgel springen würde, da es diese genaue Relationsbestimmung zwischen Objekten nicht geben kann. Schließlich gibt es kein genaues und festes Maß, mit dem man messen kann. Außerdem macht das ja, wenn überhaupt, die „Invisible Hand“ schon. Hier am Flughafen herrschen nämlich, deshalb funktioniert es ja “ausnahmsweise” nicht, keine idealen Bedingungen etc., fünf gegen einen und so.

Aber dennoch ergibt sich irgendwie ein Gefühl in uns, das Unbehagen gegen ungerechte Preise verlautbart. Und damit meine ich nicht die immerwährende Abneigung, etwas vom eigenen Hab und Gut rauszugeben. Sondern ich meine die moralische Abwägung des Wertes von Gütern. Medikamentenpreise müssen doch einer anderen Bewertungsgrundlage standhalten als Luxusprodukte. Es gibt also schon einen gewissen Unterschied in der Bewertung des Preises verschiedener Waren, der nicht nur von der Nachfrage und dem Angebot abhängig ist, oder? Liebe Ökonomen, rettet mich vor diesem Flughafen und erklärt mir etwas über diese mittelalterliche Theorie des gerechten Preises, ohne Thomas von Aquin oder Benvenuto Olivieri oder wer sich damit beschäftigt hat, gleich zum Gespenst in Europa zu machen.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/339

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Erinnern an das Schicksal jüdischer Juristen in der NS-Zeit

Mitte Mai 2014 wurde im Lichthof des Münchner Justizpalastes eine Gedenktafel angebracht. Sie trägt insgesamt 216 Namen bayerischer jüdischer Richter, Staatsanwälte, Notare, Justizinspektoren, Rechtsreferendare und Angestellter, die in der NS-Zeit entrechtet, vertrieben, verfolgt oder ermordet wurden.

Ausführlich dokumentiert sind ihre Schicksale in der 2012 erschienenen Publikation des Historikers Dr. Reinhard Weber: “Rechtsnacht. Jüdische Justizbedienstete in Bayern nach 1933″ (Hrsg. Bayerisches Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. München. - ISBN 978-3-9813808-2-8). Vom gleichen Autor stammt die 2006 erschienene Veröffentlichung “Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933″.

Quelle: http://speyermemo.hypotheses.org/2126

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29. Was Sie schon immer mal über unkörperliche Dinge wissen wollten

Das klingt nach einer Frage, die man sich gerne vor Beginn der Fußball WM stellen möchte. Gibt es unkörperliche Dinge? Ich habe nicht viele Argumente dafür. Einige Philosophen haben sich aber intensiv damit auseinandergesetzt und behaupten tatsächlich, es müsse diese Art von Objekten geben. Der berühmteste von ihnen ist sicher Platon mit seinen Ideen. Die platonischen Ideen sind nämlich Ursachen für die körperlichen Dinge, ohne selbst körperlich zu sein. Ja. Und auch mein Autor möchte Beweise für diese Annahme bringen. Paradigmatisch erklärt er, dass die Seele etwas Unkörperliches sei. Warum fragen Sie? Ganz einfach: Wenn die Seele etwas Materielles wäre, schreibt er, müsste sie entweder identisch mit etwas aus unserem Körper sein, oder aber selbst Körper sein, ohne dasselbe wie unser Körper zu sein. Also etwas wie eine Art Nebel oder so. Wenn sie aber ein Teil unseres Körpers wäre, dann müsste jemand, der z. B. durch einen Unfall etwas davon verliert auch quantitativ weniger Seele haben, ebenso wie ein kleiner Mensch weniger Seele haben müsste. Quatsch. Wenn sie aber so etwas wie ein Nebel sein soll, dann, meint Michael Psellos, müsste man erklären, wie diese beiden Dinge, also Seele als eine Art Nebel (oder so) und der Körper zusammenhingen. Seiner Meinung nach müsste man dafür wieder einen unkörperlichen Grund angeben, etwas wie ein Magnetfeld (was auch immer das sein mag) oder etwas Ähnliches. Deshalb müsste die Seele ex negativo etwas Unkörperliches sein. Positiv hat er auch einige Argumente dafür. Oder um genau zu sein (meiner bisherigen Recherche nach) eines: Während körperliche Dinge keine Gegenteile annehmen können, während also ein Apfel zur selben Zeit und in der selben Hinsicht und am selben Ort nicht gleichzeitig rot und grün sein kann, kann die Seele Gegenteile annehmen: Denn das eine Wahrnehmungsvermögen kann eispielsweise sowohl schwarz als auch weiß durch die zwei Sinnesorgane Augen wahrnehmen. Was Gegenteile annehmen kann, darf aber nciht körperlich sein. Das Wahrnehmungsvermögen sei aber das “unterste” seelische Vermögen. Irgendwie würde ein skeptischer Nachwuchsnaturwissenschaftler jetzt ankommen und Psellos einen Chuck Norris Roundhousekick verpassen mit den Worten: “Es gibt nichts Unkörperliches und deshalb auch keine Seele”.

Aber bei einem weiteren Objekt sieht die Sache anders aus. Beim Punkt. Klar, wir malen den Punkt mit einem Stift auf. Aber in Wahrheit darf der Punkt aber keine Ausdehnung haben. Denn sonst wäre er ja mindestens eine Fläche, die aber aus unendlich vielen aneinandergereihten Punkten besteht. Hmm. Wenn der Punkt aber unkörperlich ist, dann besteht alles, was aus Körpern besteht aus Flächen und diese aus Linien und diese wieder aus Punkten, sodass alles Körperliche auf Unkörperlichkeit aufgebaut sein müsste. Hmm. Ich glaube, ich muss mir das alles noch einmal aufzeichnen und noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

In Wahrheit ist das alles übrigens nur eine Strategie, um Fußballergebnisse durch Verwirrung revidieren zu können.

Herzliche Grüße, adeus

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/328

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Emser Depesche: Der Überlieferungszusammenhang

Einleitung zu dieser Serie

Angenommen, wir möchten die Originale der Schriftstücke konsultieren, die zusammen als “Emser Depesche” berühmt geworden sind. Sie werden im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts verwahrt. Was uns im Lesesaal vorgelegt wird, ist ein dicker Aktenband. Er ist fadengeheftet, d. h. die Einzelschriftstücke wurden lagenweise eingenäht, und bietet den typischen Anblick preußischer Behördenakten des 19. Jahrhunderts.

(Natürlich haben wir dem Archiv vorher plausibel dargelegt, dass wir für unsere aktenkundlichen Studien zwingend auf das Original angewiesen sind. Sonst hätten wir aus konservatorischen Gründen zunächst nur einen Mikrofiche erhalten.)

Aus der Literatur kennen wir die moderne Archivsignatur, R 11674, und auch Blattzahlen: 209-214. Also könnten wir uns sofort auf Abekens Bericht aus Ems stürzen. Viele Forscher tun das auch und verzichten darauf, “ihre” Funde im Aktenzusammenhang zu kontextualisieren. Sie tun das auf eigene Gefahr.

Zwar ist auch die Aktenkunde – ein kleiner methodologischer Exkurs – auf Einzelschriftstücke ausgerichtet, aus deren Gestalt und Abfolge sie Entscheidungsprozesse inhaltlich rekonstruiert (Henning 1999: 120). Sie kommt aber, sozusagen als Vorspiel, nicht darum herum, die Einzelschriftstücke in der gesamten Überlieferung der aktenführenden Institution zu verorten, und muss sich dazu mit den Strukturen des Archivguts auseinandersetzen, in denen es heute vorliegt.

Kretzschmar (2011) hat am Beispiel der Gerichtsakten zu dem berüchtigten Prozess gegen Joseph Süß Oppenheimer demonstriert, dass diese ohne Kontextualisierung nur unter größten Mühen sachgerecht ausgewertet werden können. Die entscheidenden Informationen fand er auf den Aktendeckeln: Zeitgenössische Registratur- und neuere Archivvermerke.

Wir schließen den Aktenband wieder – vorsichtig, mit den Baumwollhandschuhen, die uns die Aufsicht gegeben hat – und sehen uns den Aktendeckel an.

Deckel des Aktenbandes PA AA, R 11674

Deckel des Aktenbandes PA AA, R 11674 

Wir bemerken, dass der Aktendeckel wegen des vorgedruckten “19″ für die Laufzeitangabe nicht original sein kann. Aktenzeichen und -titel wurden aber originalgetreu transkribiert. Mit Umlagerungen und Neueinbindungen zur Bestandserhaltung muss immer gerechnet werden. Auch die Schriftstücke im Inneren wurden in jüngster Zeit restauriert. Vielleicht hat dieses Detail aber dennoch etwas zu sagen. Wir merken es uns.

Es handelt sich um Akten des Auswärtigen Amts, “Abteilung A”. Haben wir damit die genaue Provenienzstelle innerhalb der Behörde gefunden, können also identifizieren, wo im Zuständigkeitsgefüge des Ministeriums die Akten entstanden sind? Noch nicht ganz. Im Auswärtigen Amt (des Norddeutschen Bundes, zu dieser Zeit) gab es keine Abteilung A, wie ein Blick in die Behördengeschichte (z. B. Conze 2013: 19) lehrt. Es gab eine politische Abteilung (römisch I), die ihre Akten in zwei Gruppen teilte: A-Akten zu politischen und B-Akten zu nichtpolitischen Betreffen; darunter fielen z. B. die Personalakten der Diplomaten.

Der Kopf des Deckels sagt uns in verkürzter Form, dass uns A-Akten der Abteilung I vorliegen, also ein politischer Betreff in der Zuständigkeit der Politischen Abteilung gegeben ist. Zeitgenössisch sprach man von IA-Akten. (1879 wurde dann die Politische Abteilung in die Abteilungen I A und I B gespalten; das muss uns hier aber nicht interessieren.)

Bei der “Berufung eines Prinzen von Hohenzollern auf den Spanischen Thron” als Betreff ist die politische Natur der Akten nicht zu bestreiten. Der Ort dieser Betreffakten in der Gesamtheit der IA-Akten ergibt sich aus dem Aktenzeichen: B o 32. “Aktenzeichen” ist hier noch nicht im heutigen Sinne als Teil eines umfassenden Aktenplans zu verstehen, der den Zuständigkeitsbereich einer Behörde vorausschauend aufteilt, auf die Gefahr hin, dass manche Aktenzeichen auf ewig unbelegt bleiben. In der klassischen Betreffsregistratur, wie sie auch im Auswärtigen Amt bestand, wurden neue Aktenzeichen ad hoc vergeben, wenn tatsächlich Schriftgut zu einem neuen Betreff anfiel. Innerhalb eines groben Gliederungsschemas wurden die Betreffe “chronologisch nach Anfall gereiht” (Enders 1968: 50).

Die IA-Akten des Auswärtigen Amt wurden nach Sachbetreffen in einer geografischen Gliederung geführt. Das entsprach den Bedürfnissen eines Außenministeriums. Bei den Innenbehörden war es in der Regel umgekehrt: übergeordnete Sachgliederung und geografische Betreffe an der Basis (Meisner 1935: 154). Geografisch befinden wir uns bei diesen Akten in

  • “B” = Europa und
  • “o” = Spanien,

was freundlicherweise auch noch einmal ausgeschrieben wurde. Innerhalb der IA-Europa-Spanien-Akten liegt uns der 32. Betreff vor, zu dem die Registratur Akten angelegt hat, eben die Spanische Kandidatur. Im Vergleich wird sofort deutlich, dass die Nummernfolge der Betreffe zufällig ist, so wie die Sachen gerade anfielen:

  • B o 30 “Verhältnisse der Insel Cuba”,
  • B o 31 “Innere Zustände und Verhältnisse Spaniens”,
  • B o 33 “Vereinigung Spaniens und Portugals zu einem Iberischen Reiche”.

Der Aufbau dieses Weymannschen Registraturplans wird von Philippi (1958) erläutert; man muss es mehrmals lesen und konkret anwenden, um es zu verstehen. Was bringt das nun? Zum einen durchschauen wir jetzt die älteren Angaben der Fundstelle in der Literatur, z. B. bei Walder (1972: 179), mit “IA Bo 32″. Die heutigen Archivsignaturen im Numerus Currens wurden erst 1990/91 eingeführt (Biewer 2005: 151 f.). Zum anderen ist es doch erwähnenswert, dass sich die zentrale Überlieferung zur Genese des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 bei den Spanienakten befindet – wenn auch aus der Registraturlogik heraus einfach zu erklären. Auf dieser Basis könnten wir jetzt methodisch sicher nach ergänzender Überlieferung in anderen Teilen der IA-Registratur suchen, wenn wir uns diplomatiegeschichtlich damit befassen wollten.

Nun wenden wir uns der Binnengliederung der Betreffakten B o 32 zu. Es handelt sich um eine mehrbändige Aktenserie, aus der uns der 4. Band vorliegt. Wir sehen, dass er trotz seines Umfangs Schriftgut eines einzigen Tages enthält, und bekommen so einen Eindruck von der Intensität der Diplomatie auf dem Höhepunkt der Krise. Wir wollen uns von der Vollständigkeit der Aktenserie überzeugen, prüfen den Anschluss an Band 3 – und bemerken gleich eine große Lücke. Band 3 endet mit der Blattnummer 89, Band 4 beginnt mit 116. Wir blättern jetzt den ganzen Band durch und sehen, dass auch die Blätter 134-136, 185-186 und 188-189 fehlen.

Glücklicherweise haben wir beim Aufschlagen bemerkt, dass sich auf der Rückseite des Aktendeckels ein Archivvermerk von 1958 befindet. Damals wurden die Akten aus britischen Gewahrsam zurückgegeben. Dieser Vermerk verweist uns für die fehlenden Seiten auf die parallelen Geheimakten. Dass es eine zweite Aktenserie I A B o 32 mit dem Zusatz “secr.” gibt, wussten wir natürlich schon aus unserer sorgfältigen Durchsicht des Findbuchs. Und in diesen Geheimakten (die längst nicht mehr geheim sind) finden sich, im Band 4, tatsächlich die fehlenden Seiten. Wir stellen fest, dass sich unsere Quellenbasis (Bl. 209-214 im “normalen” Band 4) dadurch nicht verändert.

Zur Überlieferungsgeschichte können wir jetzt postulieren, dass die “offenen” und die geheimen Schriftstücke zu I A B o 32 in der Registratur zunächst vermischt abgelegt wurden. Die durchgehende Blattzählung (Foliierung) ist der Beleg dafür. Später hat man beide Gruppen voneinander getrennt und in neue Aktendeckel eingebunden. “Serienspaltung durch Geheimhaltung” wäre ein Stichwort für die Archivwissenschaft, das vor allem für das 20. Jahrhundert einmal näher beleuchtet werden sollte.

Die Emser Depesche hielt man zu diesem unbestimmten Zeitpunkt offenbar nicht für geheimhaltungsbedürftig – da der Aktendeckel dieses vorgedruckte “19″ aufweist, fand die Umlagerung erst statt, nachdem Caprivi 1892 im Reichstag den unredigierten Depeschentext publik gemacht hat. Die Katze war also schon aus dem Sack.

Wir wiederholen die Prüfung nun für den Anschluss an Band 5, stoßen dort aber nur auf Wiedergaben des Depeschentexts, die wir für unser aktenkundliches Thema nicht brauchen. Soviel Aufwand für einen im Grunde negativen Befund? Ja, denn erst jetzt können wir uns sicher sein, dass wir in den Blättern 209-214 des Archivales mit der zeitgenössischen Registratursignatur I A B o 32 Bd. 4 und der archivischen Bestellnummer R 11674 aus dem Bestand R 201 (Abteilung I A, 1870-1920) des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts abschließend unsere Quellengrundlage identifiziert haben.

Wir können jetzt das vorgangsbegründende Schriftstück näher untersuchen: den Bericht Abekens über die Begegnung Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter auf der Kurpromenade von Bad Ems.

Literatur

Biewer, Ludwig 2005. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amts. Plädoyer für ein Ressortarchiv. Archivalische Zeitschrift, 87, S.137–164.

Conze, Eckart 2013. Das Auswärtige Amt. Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. München: Beck 2013.

Enders, Gerhart 1968. Archivverwaltungslehre. 3. Aufl. Berlin (Nachdruck Leipzig 2004).

Henning, Eckhart 1999. Wie die Aktenkunde entstand. Zur Disziplingenese einer Historischen Hilfswissenschaft und ihrer weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert, in: Ders. 2004. Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. 2. Aufl. Köln usw. S. 105-127.

Kretzschmar, Robert 2011. Der Kriminalprozess gegen Jud Süß Oppenheimer in archivwissenschaftlicher aus aktenkundlicher Sicht, in: Lorenz, Sönke und Molitor, Stephan Hg. 2011. Text und Kontext. Historische Hilfswissenschaften in ihrer Vielfalt. Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 18. Ostfildern. S. 489–523.

Philippi, Hans 1958. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Der Archivar, 11, Sp. 139–150.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/188

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