Zur Aktenkunde der Emser Depesche

 

Einige Male wurde ich gefragt, ob das Bannerbild zu diesem Blog aus der Emser Depesche stamme. Das ist richtig. Genau gesagt: Es zeigt einen Ausschnitt des Kopfes der Entzifferung des telegrafischen Berichts Abekens aus Bad Ems.

Die Emser Depesche eignet sich gut, um den Erkenntnisgewinn einer aktenkundlichen Herangehensweise an die archivalischen Quellen zu demonstrieren. Dabei wird deutlich, wo die Unterschiede zu einer rein historisch-philologischen Textkritik liegen, die mit Texten und Textzeugen operiert, ohne die Natur von Aktenschriftstücken als Produkten von Verwaltungsprozessen zu berücksichtigen.

Walder (1972) ist die maßgebliche Edition der Depesche. Sie bietet einen zuverlässigen Text, zeugt aber auch von einer gewissen Ratlosigkeit im Umgang mit Überlieferungsverhältnissen, die aus aktenkundlicher Sicht eigentlich recht übersichtlich sind. Walder betrachtete Abekens Konzept des Telegramms und die Bismarck vorgelegte Entzifferung als unterschiedliche Dokumente und konnte auch die Ausfertigungen des Runderlasses mit dem redigierten Text begrifflich nicht treffend bezeichnen.

Walder (1972: 3) wollte “von der Depesche in den verschiedenen Stadien, die sie durchlaufen hat” jeweils “den genauen Text durch wortgetreuen Abdruck der erhaltenen Originale [...] geben”. Das ging soweit, das Originallayout im Drucksatz nachzubilden, andererseits aber Abkürzungen unaufgelöst zu lassen. Imitation also statt Edition, eine drucktechnische Variante der “paläographischen Abschrift” der klassischen Diplomatik. Zur an sich in der Tat gebotenen Differenzierung stellte Walder unglücklicherweise der “Emser Depesche” eine “Depesche aus Ems” gegenüber und perfektionierte damit die Verwirrung.

Die heute maßgebliche Quellensammlung zu den Ursprüngen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, Becker (2007: Nr. 854), übernimmt Walders Text, geht in der Fokussierung auf die Textgestalt aber noch weiter, indem die “Depesche aus Ems” der “Emser Depesche” im Paralleldruck gegenübergestellt wird – als wären es Original und interpolierte Verfälschung einer mittelalterlichen Urkunde in einem Diplomata-Band der MGH.

Einen Aktenvorgang, auch wenn er nur aus wenigen Stücken besteht, kann man in dieser Weise aber nicht aufbereiten, weil jedes einzelne Aktenschriftstück eben nicht bloß ein Textzeuge ist, sondern in seiner Materialität, mit unikalen Bearbeitungsspuren, eine räumlich und zeitlich definierte Momentaufnahme eines Entscheidungsprozesses markiert.

Dies zur Einleitung. Ich habe mir vorgenommen, an dieser Stelle in den nächsten Wochen fünf aktenkundliche Aspekte des als “Emser Depesche” bekannten Vorgangs zu behandeln:

  1. Der Überlieferungszusammenhang
  2. Abekens Telegramm I: Das Konzept
  3. Abekens Telegramm II: Die Entzifferung
  4. Bismarcks drei Teilrunderlasse
  5. Aktenkundliche Perspektiven

Der letzte Teil soll ein von Schäfer (2009: 98-101, 119) angemahntes Desiderat aufgreifen: Die Aktenkunde sollte sich, wie vor ihr schon die Urkundenlehre, stärker als umfassende Diplomatik begreifen, die “die Schriftlichkeit in Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie deren Produkte” zum Gegenstand hat. Hinzuzufügen ist die Regierungstätigkeit, die trotz Bürokratisierung keine Verwaltung im engeren Sinne ist. Das Telegramm in der Diplomatie ist dafür ein dankbares Demonstrationsobjekt.

Auf den Inhalt im Einzelnen und die historische Bedeutung der Emser Depesche muss hier wohl nicht eingegangen werden. Indem Bismarck den Bericht über die Begegnung Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter in Bad Ems in einer redigierten Fassung verbreitete, provozierte er Frankreich zur Kriegserklärung. In wie weit Bismarck dies planvoll betrieb oder die Entwicklung ihn vor sich hertrieb, ist in der Forschung bis heute umstritten (monographisch zuletzt Wetzel 2005: 176 f.). Man könnte den Eindruck haben, es würden mi dt dieser Sachfrage in der Hand auch jahrzehntealte Gelehrtenfehden um Imperialismus und den Primat der Innenpolitik fortgesetzt. Der Wikipedia-Artikel hinkt der Forschung hinterher.

Ich arbeite seit einigen Wochen an diesem Thema, an dem ich einmal das ganze Instrumentarium der Aktenkunde demonstrieren möchte. Es ist zwar für die Depesche nicht relevant, aber ein schöner Zufall, dass das Landesarchiv Baden-Württemberg jetzt eine wichtige, von Becker (2007) schon ausgewertete Parallelüberlieferung zu den Akten des Auswärtigen Amts zur spanischen Thronfolge digitalisiert und online gestellt hat (über Archivalia).

Ich bin froher Hoffnung, etwa wöchentlich bloggen zu können … Demnächst also mehr: gleiche Stelle, gleiche Welle.

Literatur

Becker, Josef 2007. Bismarcks spanische “Diversion” 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg: Quellen zur Vor- und Nachgeschichte der Hohenzollern-Kandidatur für den Thron in Madrid 1866-1932. Bd. 3: Spanische “Diversion”, “Emser Depesche” und Reichsgründungslegende bis zum Ende der Weimarer Republik: 12. Juli 1870-1. September 1932. Paderborn. (Eingeschränkte Vorschau bei Amazon. Wer sich einloggt und nach Nr. 854 sucht, kann den gesamten Editionstext der Depesche lesen.)

Schäfer, Udo 2009. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen. In: Uhde, Karsten Hg. 2009. Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 48. Marburg. S. 89-128.

Wetzel, David. 2005. Duell der Giganten: Bismarck, Napoleon III. und die Ursachen des Deutsch-Französischen Krieges 1870-71. Paderborn.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Auflage. Bern.

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/181

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“Ich interessiere mich für Geschichte, suche aber etwas praxisbezogenes, deshalb möchte ich Archäologie studieren”

Wenn ich Studieninteressierte berate, frage ich sie gerne einmal nach Ihrer Motivation, warum Sie Archäologie studieren möchten. Oft erhalte ich sinngemäß eine Antwort wie diese: “Ich interessiere mich für Geschichte. Ich wollte aber nicht so was theorielastiges wie Geschichtswissenschaft studieren, sondern mehr was praxisbezogeneres, wie Archäologie.”

Leider kommen viele Studierende mit dieser Vorannahme zur Studienberatung. Doch dies ist nicht der Unterschied zwischen Geschichtswissenschaft und Archäologie. Beides sind Disziplinen, die die Vergangenheit des bzw. der Menschen erforschen – mit den ihnen eigenen Quellen und Methoden. Die Quellen der Geschichtswissenschaft sind schriftliche Zeugnisse, die Quellen der Archäologie materielle Kultur. Um diese Quellen auswerten und interpretieren zu können, benötigen beide Wissenschaften Theorien und Methoden – ein Archäologiestudium ist daher nicht mehr und nicht weniger “theorielastig” als ein Geschichtsstudium.

Vielleicht ist das Archäologiestudium gerade in den ersten Semestern sogar noch theorielastiger als das Geschichtsstudium: Geschichte ist eine Disziplin, die zum Fächerkanon der schulischen Bildung zählt; Geschichtsstudierende können daher auf ein wenig Vorwissen zurückgreifen, wenn sie das Studium beginnen. Archäologie kennen die meisten StudienanfängerInnen nur aus den Medien, aus Büchern, Zeitschriften, Film und Fernsehen, und auch aus dem Web 2.0 – aber die wenigsten StudienanfängerInnen in den Archäologien haben tatsächlich schon einmal in diesem Fach gearbeitet. Von daher müssen zu Beginn des Studiums die gängigen Theorien und Methoden des bzw. der gewählten archäologischen Schwerpunkte bewältigt werden, zu denen in der Regel bei den Studierenden keinerlei Vorwissen vorhanden ist. Das macht ein Archäologiestudium gerade in den ersten Semesterwochen zu einem sehr arbeitsaufwändigen und einem sehr trockenen Studium.

Der Umgang mit den Quellen selbst – also das, was von Seiten der Studieninteressierten gerne als “praxisbezogen” empfunden wird – sollte aber auch in beiden Disziplinen ab einem gewissen Punkt im Studium vorhanden sein. Antike Papyri, mittelalterliche Folianten oder neuzeitliche Tagebücher als Schriftzeugnisse und damit Quellen der Geschichtswissenschaft können dabei jedoch ebenso faszinieren wie jungsteinzeitliche Keramikscherben, bronzezeitliche Stabdolche oder eisenzeitliche Fibeln als Zeugnisse materieller Kultur und damit als Quellen der Archäologie.

Quelle: http://archiskop.hypotheses.org/33

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ARBEITSPAPIER DER FORSCHUNGSGRUPPE SOZIALSTAAT // THÈME DU TRAVAIL DE LA GROUP DE RECHERCHE “ÉTAT SOCIAL”

Arbeitspapier der Forschungsgruppe Sozialstaat

Saisir l’Europe, April 2014

(Vorläufige Version von Karim Fertikh &  Heike Wieters)

Wissenschaftliche Thematik der Gruppe: Die Transformation des Sozialstaats seit 1945

Das thematische Netzwerk untersucht die Entwicklung der europäischen Wohlfahrtsstaaten nach 1945, wobei der Forschungsschwerpunkt vor allem auf Institutionalisierungsprozesse und konkrete Akteure auf der Mikroebene gelegt werden soll. Das Ende des Zweiten Weltkrieges, Beginn und Ende des Ost-West-Konfliktes, die europäische Integration sowie beschleunigter gesellschaftlich-institutioneller Wandel auf ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Ebene haben die europäischen Sozialstaaten erkennbar geprägt und beeinflusst (Kaelble 2004; Vogel 2013; Bezes 2009). Transformationen im Bereich der Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie der Alters- und Gesundheitsvorsorge (kurz, der kollektiven Übernahme von Risiken durch private oder öffentliche Institutionen, Castel 1995) hatten und haben weitreichende Konsequenzen für die Funktionsweise, öffentliche Wahrnehmung und Legitimität staatlicher und suprastaatlicher Institutionen (Streeck 2013; Gaxie, Hubé & Rowell 2011). Der Prozess der europäischen Wirtschaftsintegration verweist somit direkt auf die Frage nach einer «Europäisierung» sozialer Phänomene und institutioneller Dynamiken sowie auf die Ungleichzeitigkeit ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Wandels in Europa.

Im Fokus der Forschungsgruppe liegt jedoch nicht der Vergleich oder die Klassifizierung nationaler Wohlfahrtssysteme (Esping-Andersen 1999; Therborn 2000), sondern die Beschäftigung mit Akteursnetzwerken, sowie Verflechtungen und Transferprozessen über nationale oder systemische Grenzen hinweg (Rodgers 1998; Metzler & Letwin 2008; Zimmermann & Werner 2002). Mit dem Wandel nationaler und «europäischer» Wohlfahrtsinstitutionen verändern sich auch die Erwartungen und Handlungsoptionen der betroffenen Subjekte – sowohl die der Unionsbürger als auch die von «Nicht-Europäern». Institutioneller Wandel steht in einem direkten Verhältnis zu den Chancen der unterschiedlichen Subjekte auf soziale und politische Teilhabe, Selbstverwirklichung und ihrem Umgang mit den bürokratischen Instrumenten und Anrufungen staatlicher und suprastaatlicher Natur. Er lässt sich nicht ohne einen differenzierten Blick auf Akteure und ihr Handeln innerhalb (und außerhalb) dieser Institutionen erklären (Streeck & Thelen 2005:19). Es gilt daher, nicht nur die großen Bewegungen und langfristigen Prozesse zu verstehen und zu erklären, sondern auch die ganz konkreten «Bühnen» (Zimmermann 2006:15) auszumachen auf denen Akteure (neue) Kategorien des Handelns generieren, sie sich aneignen (Lüdtke 1997) und individuelle Chancen oder Beschränkungen verhandeln. Ein Schwerpunkt der Forschungsgruppe Sozialstaat liegt dementsprechend auf der Mikroebene systemübergreifender Institutionalisierungsprozesse aus wirtschafts-, sozial-, und geschichtswissenschaftlicher Perspektive. Mehr als für eine reine Bestandsaufnahme interessiert sich das Thematische Netzwerk für die Entstehungsprozesse dieser Institutionen, ihre alltägliche Aneignung durch und Wirkung auf die Individuen sowie für die Kompromisse und Spielregeln mit denen die beteiligten Akteure sie instituieren und beeinflussen. Die Arbeitsgruppe wird entsprechend Produktion, Verwendung und Effekte von Institutionen als Einheit untersuchen.

Dabei kann auf vorhandene Forschungsergebnisse aufgebaut werden. Sozialstaatliche Systeme in Europa sind bereits seit geraumer Zeit Gegenstand eines breiten interdisziplinären Forschungsinteresses – die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe, die aus zahlreichen renommierten Expertinnen und Experten im Bereich der Sozialstaatsforschung besteht, belegt diesen Befund eindrücklich. Aufbauend auf dieses Wissen ist es möglich, neue Verbindungslinien zu benennen, die im Rahmen des hier beantragten Thematischen Netzwerkes bearbeitet werden sollen.

Die Arbeitsgruppe wird sich daher mit vier inhaltlichen Themenkomplexen (Generationenbeziehungen & Demographie; (Un)gleichheiten; Wissen & Statistik; Arbeit), sowie drei dazu quer liegenden methodischen Arbeitsfeldern (Europäisierung; Socio-Histoire; Capability-Soziologie) befassen. Dabei kann auf vorangegangene Arbeiten zurückgegriffen werden, deren Themen und Fragestellungen jedoch hier erweitert und neu zueinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Bei allen sechs Bereichen handelt es sich um Themen und Ansätze, die vor allem in der Kombination dazu geeignet sind, forschungspraktische Synergieeffekte zu produzieren und so neue Erkenntnisse zu generieren. Die drei ausgewählten methodologischen Untersuchungsansätze liegen an der Schnittstelle zwischen den Disziplinen und ermöglichen somit den Dialog zwischen Institutionen, ÖkonomInnen, HistorikerInnen und SoziologInnen.  

Thematische Arbeitsfelder

Die oben genannten Felder sollen im Folgenden kurz skizziert und zueinander in Beziehung gesetzt werden, um das geplante Arbeitsprogramm des Thematischen Netzwerkes zu verdeutlichen:

1.     Generationenbeziehungen & Demographie : Während es in Deutschland bereits Studien zu strukturellen, normativen und kulturellen Dimensionen von Generationenbeziehungen in Wohlfahrtsstaatlichen (Sub)Systemen – vor allem in der Alterssicherung – gibt (vgl. Conrad 1994 ; Hardach 2004 ; Tremmel 2009; Blasche & Döring 1998; Parnes & Vedder 2008) ist dieser Themenkomplex in der französischen Forschung bisher tendenziell unterrepräsentiert. Gilt in Deutschland vor allem im Bereich umlagefinanzierter Alterssicherungsmodelle «Generation als Argument» (May 2010), geht es im französischen Kontext bislang eher um Fragen politischer Teilhabe und Repräsentation, die wiederum in der deutschen Debatte oft vernachlässigt werden. Obwohl auch in Frankreich strukturelle und normative Fragen einen Stellenwert haben (Chauvel 2010; Grosseries 2004), lassen sich die beiden Forschungstraditionen bisher nur schwer vergleichen. Entsprechend existiert kaum wissenschaftliche Kommunikation, geschweige denn gemeinsame Forschung im deutsch-französischen oder auch europäischen Kontext zum Thema intergenerationeller Beziehungen, Transfers oder normativer Konzepte. In Anbetracht des stetigen Wandels demographischer Trends in Europa, der zunehmend sichtbare Effekte für soziale und politische Institutionen zeitigt (Vogel, Kersten & Neu 2012, Lechevalier 2010) scheint eine Vertiefung der Forschungsdebatte um Generationenbeziehungen jedoch geboten. Sowohl der Wandel intergenerationeller Beziehung in und durch den Prozess der europäischen Integration auf der Ebene der gemeinsamen Alterssicherungs- und Bildungspolitik (s. Forschungsprojekt v. Heike Wieters), als auch die Etablierung von sozialen und politisch-administrativen Kategorien (wie beispielsweise die der «Pflegebedürftigkeit», s. Forschungsprojekt v. Karim Fertikh, s. auch Lechevalier & Ulmo 2001) im Bereich der Daseinsfürsorge sollen im Rahmen des Thematischen Netzwerkes prominent verhandelt werden. Vor allem sozio-historische Ansätze (s. Methoden Punkt 2), die nach Handlungskategorien, Akteuren und Orten, an denen diese Kategorien ausgehandelt werden, fragen (Zimmermann 2006a) sowie Forschungsperspektiven, die die Selbstverwirklichungschancen (s. auch Methodenpunkt 3) «alter» und «junger» Europäerinnen und Europäer innerhalb sozialstaatlicher Systeme im Wandel in den Mittelpunkt stellen, werden eine wichtige Rolle spielen.

2.     Gleichheit & Ungleichheit: Sozialstaatliche Maßnahmen und Institutionen werden erst vor dem Hintergrund einer Einbettung in ihre spezifischen rechts- und ordnungspolitischen sowie sozialreformerisch-normativen Kontexte zu einem tatsächlichen Forschungsgegenstand (Metzler 2003). Dennoch lässt sich als gemeinsames und grundlegendes Funktionsdispositiv staatlicher Wohlfahrt der gesellschaftliche Umgang mit sozio-ökonomischer, politischer, sowie normativer Gleichheit bzw. Ungleichheit beschreiben (Kaelble 2007; Rosanvallon 2013, Paugam 2010). Die Frage, welche Rolle (Un)gleichheit für die Wahrnehmung und Untersuchung von gesellschaftlicher Wirklichkeit spielt, ist dabei nicht voraussetzungsfrei. Ob Ungleichheit ein (auch durch Erforschung und Vermessung) zu überwindendes gesellschaftliches Übel, oder aber die Grundlage gesellschaftlicher Komplexität, Mobilität und Innovation ist, bleibt strittig (Mergel 2013). An diesen Befund lässt sich in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe anknüpfen. Denn der Wandel des Umgangs mit Gleichheit und Ungleichheit in Europa lässt sich sowohl auf normativ-politischer Ebene erfassen (Rosanvallon 2013), als auch in Bezug auf Strukturen, Verteilungsfragen (Offe 1969; Kaelble 1983, Wehler 2013), Zugangschancen oder Subjektivierungsweisen (s. Punkt 6) untersuchen. Die Fragen wo, wie und auf welchen Ebenen staatliche Strukturen und wohlfahrtsstaatliche Institutionen Ungleichheit nicht nur fortschreiben, sondern gar neu produzieren, ist für viele Bereiche (und gerade für den Bereich intergenerationeller Beziehungen im Kontext Europa) nach wie vor offen (Emmenegger, Häusermann & Palier 2012). Zudem lohnt es sich auf der Ebene der Subjekte und ihrer Praktiken genauer hinzuschauen und ihren Umgang mit ökonomischer, sozialer oder politischer Ungleichheit, bzw. Inklusions- und Exklusionsmechanismen zu betrachten. Die Frage, ob (und wenn ja wie und wo genau) «Europa» zum neuen Referenzraum wird, innerhalb dessen (Un)Gleichheiten im Bereich staatlicher Wohlfahrt verhandelt, verstärkt oder nivelliert werden, fällt daher in den unmittelbaren Fokus der Arbeitsgruppe.

3.     Wissen & Statistik: In den letzten Jahren sind verschiedene Arbeiten über Wissen(skulturen) im und vom Sozialstaat entstanden, die sowohl den Bereich öffentlicher Politik und Verwaltung als auch die Expansion und Professionalisierung von Experten(netzwerken) betreffen (Topalov 1994 & 1999; Zimmermann 2000; Serre 2009; Nützenadel 2005). Der Prozess der «Verwissenschaftlichung des Sozialen» ( Raphael 1996 ) ist im nationalen Kontext umfassend untersucht worden (Hockerts 1998; Etzemüller 2009; Engström, Thom & Hess 2005). Der Prozess der europäischen Integration stellt diesen methodologischen Nationalismus jedoch zunehmend in Frage (Raphael 2006) und zwingt dazu, die Entwicklung von Akteuren und Institutionen mehrdimensional, das heißt sowohl lokal, regional, national und europäisch zu erfassen (Büttner 2014). Hier soll das Thematische Netzwerk inhaltlich anknüpfen, indem es sich mit der Frage der «Europäisierung» von Wissen über den Sozialstaat und seine Institutionen beschäftigt. Vor allem die Herausbildung und Entwicklung europäischer Expertennetzwerke,  spezifisch europäischer Kapitale und Kompetenzen, sowie die Mobilisierung von «Europa» als (diskursive und materielle) Ressource für diese Experten soll dabei ins Zentrum gerückt werden (Delassalle & Georgakakis 2007; Georgakakis 2012). Der Aufbau suprastaatlicher Verwaltungsapparate geht einher mit dem Bedürfnis nach wissenschaftlicher Expertise und Politikberatung, sowohl durch staatliche Verwaltungsexperten als auch durch private Consultingfirmen, Think Tanks oder Lobbygruppen. Derartige Prozesse sind zentral für das Verständnis der räumlichen und zeitlichen Dimensionen sowie Konvergenzen  und Divergenzen wohlfahrtstaatlicher Reformen in Europa. «Europäisierung» von Sozialpolitik lässt sich daher hervorragend vermittels der Zirkulation von ExpertInnen und neuer Kategorien öffentlichen Handelns untersuchen. Gerade hier ist jedoch der Verweis auf nationale und internationale Expertenkulturen und die Suche nach den Transmissionsriemen von (Verwaltungs-)Wissen zwischen nationaler und europäischer Ebene zentral (Gheorghiu 2012; s. auch Forschungsprojekt von Hadrien Clouet zur Teilzeitbeschäftigung). Zudem sind gerade im Bereich öffentlicher Anerkennung und Kanonisierung von Wissensbeständen zahlreiche Fragen offen. Die Orte und Konfigurationen, die Sichtbarkeit und Hegemoniefähigkeit bestimmter Ideen und Praktiken fördern (Akademische Institutionen, besonders gut vernetzte Consultingfirmen/Think Tanks, oder Internationale Organisationen, etc.), stellen daher ein zentrales Forschungsgebiet der Gruppe dar (Colletis 2010, s. auch Projekte von Hugo Canihac und Mariette Fink). Doch Wissen wird in Europa nicht nur «konsumiert» und genutzt; die europäischen Institutionen produzieren auch neues Wissen. Organisationen wie Eurostat beispielsweise  (s. Forschungsprojekt von Anne Lammers) verwerten und strukturieren nationale statistische Daten und generieren so neues Wissen über Europa und seine Bürgerinnen (Michel 2009, Wagner 2012). Statistiken sowie die durch sie konstruierte soziale Wirklichkeit (Boltanski 1982; Desrosière 2004) sind daher ein weiteres zentrales Forschungsfeld der Arbeitsgruppe. Erhebung und Verwertung statistischer Daten begründen zahlreiche praktische Arrangements und Verwaltungstätigkeiten, die die europäische Sozialpolitik und die sie umsetzenden Institutionen massiv beeinflussen (Pénissat & Rowell 2012, s. auch Projekt von Alice Lavabre). Das Thematische Netzwerk soll hier anknüpfen und sowohl nach Konstruktion als auch Verwertung von statistischem Wissen über Europa fragen.

4.     Arbeit: Historisch betrachtet haben vor allem der massive gesellschaftliche Druck der Arbeiterbewegung und die aus der Gruppe der neuen Lohnabhängigen hervorgegangenen sozialen Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle für die Entstehung der europäischen Sozialstaaten gespielt (Castel 1995). Die zu jener Zeit entstehenden unterschiedlichen Solidarsysteme (oftmals zusammengefasst unter dem Begriff der Sozialversicherung(en)), die zumeist die Bereiche Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter abdeckten) stützten sich fast durchgängig auf eine partielle Absicherung von Risiken, die durch Arbeit oder den Verlust derselben zu Stande kamen. Die verschiedenen Sozialversicherungszweige basierten auf handlungs- und argumentationsbestimmenden Kategorien und Logiken, die sich im Laufe der Zeit verändern (Thompson 1964; Welskopp 2000; Wagner, Didry & Zimmermann 1999, siehe dazu auch das Forschungsprojekt von Sarah Haßdenteufel).

Die von Castel beschriebene „neue soziale Frage“ hat das bestehende Solidar-Modell ins Wanken gebracht und neue Handlungsspielräume entstehen lassen: Die individuelle Verantwortung für Karriereplanung ersetzt den kollektiven Beschäftigungsschutz, Anreize zur Arbeit den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Dadurch erwachsen neue Beziehungen und Herausforderungen für bestehende Formen sozialer Sicherheit: Die Zunahme prekärer Beschäftigung, ein wachsender Niedriglohnsektor und verschwimmende Grenzen zwischen „Arbeit“ und „Nicht-Arbeit“  haben zu neuen Begrifflichkeiten und neuen Kategorisierungen von  Arbeitslosen/Arbeitssuchenden in den Arbeitsagenturen/Jobcentern geführt (Castel 1995; Paugam 1996).  Die unterschiedlichen Spielarten „aktivierender“ arbeitspolitischer Maßnahmen und die Pluralisierung von Beschäftigungsformen (von Unterbeschäftigung bis hin zur Arbeitslosigkeit) in Europa erlauben einen Überblick über den Wandel der europäischen Gesellschaften und ihrer Solidarinstitutionen. Derartige neue Konfigurationen erweitern das Beziehungsgeflecht  zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern, den Empfängern von Arbeitslosengeld und den mit Arbeitsfragen befassten Sachbearbeitern in den öffentlichen Verwaltungen (Dubois 2007; siehe dazu außerdem die Forschungsprojekte von Hadrien Clouet und Francesco Laruffa). Sie werfen die Fragen nach den Möglichkeiten der aktiven Aneignung neuer „Rechte“  (z.B. Recht auf Bildung, Recht auf Gleichbehandlung, etc.) und den Reaktionen auf staatliche Anrufungen durch die Betroffenen auf (Wobbe 2009; Zimmermann 2001 & 2005). Entgegen der häufig dominierenden Untersuchung dieser Effekte und Entwicklungen im nationalen Entstehungskontext  erforscht die  Arbeitsgruppe Sozialstaat  „europäische“  Transfer- und Verflechtungsprozesse  institutionellen Wandels, „europäische“ Identitätsbildungsprozesse und  kategoriale Verschiebungen im Bereich der Arbeit und Arbeitslosigkeit auf  europäischer Ebene (vgl.Nicolas Briot und Hadrian Clouet). Zudem werden kollektive Aneignungsprozesse und Kämpfe um Gleichbehandlung, besonders im Kontext von Aktionsprogrammen gegen Geschlechtsdiskriminierung untersucht. (vgl. Forschungsprojekt von Mariette Fink). Die Arbeitsgruppe Sozialstaat befasst sich daher mit den komplexen Beziehungen zwischen den öffentlichen Institutionen und (Leistungs-)Empfängern, zwischen Arbeitnehmern, Arbeitgebern, Öffentlichkeit und Politik, sowie mit der Entstehung und Verwendung neuer Begriffe und Kategorisierungen und deren Aneignung durch die Individuen.

 

Methodische Zugänge

1.     Europäisierung: Der Begriff der Europäisierung hat eine lange Tradition in den Sozial- und Politikwissenschaften, wo er als analytisch-deskriptives Konzept zur Erfassung und Beschreibung neuer Formen genuin europäischer Governance- und Institutionalisierungsprozesse (vor allem ab den 1990er Jahren) verwendet wird. In den letzten Jahren ist der Begriff zunehmend auch in den Geschichtswissenschaften aufgegriffen worden, wobei bestimmte normativ-teleologische Konnotationen des sozialwissenschaftlichen Konzeptes hinterfragt und kritisiert wurden (Patel &Hirschhausen 2010). Europäisierung ist somit weder eine Einbahnstraße an dessen Ende notwendig ein geeintes Europa stehen muss, noch lassen sich problemlos prädestinierte Untersuchungsgegenstände oder -orte festlegen anhand derer sich eine gradlinig verlaufende Europäisierung untersuchen oder nachweisen ließe. Neue oder sich wandelnde europäische Formen der Bezugnahme, Vereinheitlichung oder Kompetenzübertragung lassen sich sowohl auf politischer, sozialer, kultureller, juristischer und ökonomischer Ebene nachweisen – jeweils in Hinblick auf Strukturen und Institutionen sowie Ideen, Konzepte und Alltagspraktiken. Auch Gegenbewegungen, Entflechtung oder Rückbezüge auf nationale oder regionale Traditionen, Institutionen oder Ressourcen werden immer sichtbarer (Patel 2014). Europäisierung muss daher notwendigerweise sowohl in räumlicher als auch zeitlicher Hinsicht mehrdimensional gedacht werden: Verschiedene Europäisierungsprozesse können parallel oder gegenläufig, sich überkreuzend/unterbrechend oder vollkommen ungleichzeitig verlaufen, wie die aktuelle Disparität zwischen wirtschaftlicher und politischer Integration innerhalb der EU zeigt. Dieser Befund gilt auch und gerade für die Institutionen sozialer Sicherheit in Europa. Während bestimmte wirtschaftsnahe Bereiche, wie beispielsweise die aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit folgende europäische Angleichung von Alterssicherungsbezügen, früh im Rahmen der EGKS harmonisiert und so vor allem institutionell und rechtlich europäisiert wurden, folgten andere Bereiche und Institutionen anderen Logiken. Die im Kern nach wie vor national überdeterminierten Wohlfahrtssysteme stehen gleichwohl zunehmend in einem institutionellen Wettbewerb, in dem die Europäische Union als (auch finanzielle) Ressource und Referenzraum fungiert und in dem langsam auch genuin europäische Sozialpolitiken entstehen (Lamping 2008). Der Fokus der Arbeitsgruppe wird hier vor allem auf den vielschichtigen Lern- und Transferprozessen liegen, die sowohl durch europäische Experten, Wirtschafts- und Politikberater (Büttner 2014; Nützenadel 2005) als auch über direkten institutionellen Austausch und zunehmend standardisierte (und oftmals eher «internationale» statt «europäische») Verfahren und Managementtechniken vorangetrieben wurden.

2.     Socio-Histoire: «Begriffe wie Gesellschaft, Solidargemeinschaft und Rechtskategorien wie Souveränität oder Gleichbehandlungsprinzip stehen historisch aber auch konzeptuell in einem Zusammenhang mit den Entwicklungen des Nationalstaats. […] Die Europäisierung gesellschaftlicher Beziehungen und politischer Prozesse führt jedoch zu veränderten Handlungsoptionen und Problemdefinitionen […und] verlangt nach einer Neubestimmung von Begriffen und Kategorien, die der Genese und Wirkung nationalstaatlich verankerter Handlungsoptionen und Problemdefinitionen Rechnung trägt» (Eigmüller & Tietze 2012). Dieser Befund gilt in besonderer Art und Weise für das Thema der Arbeitsgruppe und des hier beantragten Thematischen Netzwerks «Sozialstaat», dessen sich wandelnde Begrifflichkeiten und Instrumente für eine Untersuchung mittels des bereits in den 1980er Jahren in Frankreich entwickelten Ansatzes der «Socio-Histoire» wie gemacht erscheinen (Déloye 2007; Offerlé 2002; Noiriel 2006, Pollet 2012; Payre, Pollet 2013; Salais Baverez Reynaud 1986; Zimmermann 2006a). Diese Perspektive erlaubt es soziale Institutionen zu denaturalisieren und Objektivierungs- und Verdinglichungsprozesse in den konkreten Interaktionen der sie gestaltenden Akteure zu untersuchen (Berger & Luckmann 1966). Die Socio-Histoire versucht den Blick von großen Ideen oder Erzählungen auf der Makroebene in Richtung eher mikroperspektivischer Untersuchungen zu verschieben, um so Konflikte, Aushandlungsprozesse, und Bedeutungsverschiebungen im Bereich konkreter Handlungen und Begriffe zu untersuchen. Dabei rückt vor allem die Akteursebene, auch in prosopographischer Hinsicht, in den Mittelpunkt. Durch einen dezidiert historischen und soziologischen Fokus auf den Entstehungskontext, die Bedeutungsverschiebungen sowie die langfristigen Effekte neuer Praktiken und Kategorien in konkreten Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren (Bürokraten und Bürgern, «Arbeitsvermittlern» und «Leistungsempfängern», etc.) werden die Transformationsprozesse, die die europäischen Sozialstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger erfasst haben, erst konkret und sichtbar. Dahinter stehen mehrere methodologische Interessen: Erstens geht es darum, die Bedeutungen und Kategorisierungen sozialpolitischer Instrumente zum Zeitpunkt ihrer Entstehung sowie im zeitlichen Wandel zu erfassen; zweitens sollen diese Instrumente und Institutionen als Ergebnis von gesellschaftlichen Kompromissen und Aushandlungsprozessen in Erinnerung gebracht werden. Schließlich können derart auch der Einfluss und die Effekte dieser Kategorien und Institutionen auf den Alltag der Subjekte untersucht werden.

3.     Capability Soziologie: Der bereits in den frühen 1980er Jahren von Amartya Sen in Kooperation mit Martha Nussbaum entwickelte Capability Approach befasst sich mit der Erweiterung und Umgestaltung herkömmlicher Konzepte der Messung individueller sowie kollektiver Wohlfahrt (Sen 1980 &; Sen 1985; Sen & Nussbaum 1992). Indem Sen und Nussbaum auf die Eindimensionalität von Einkommensdaten und BIP als Indikatoren für «Well-being» und gesellschaftliche Entwicklung verwiesen und mit dem ausdifferenzierten Konzept der Capabilities oder «Selbstverwirklichungschancen» eine alternative und umfassendere Nomenklatur entwickelten, die schließlich unter anderem in den UN Development Index einfloss, erweiterten sie das Verständnis individuellen und gesellschaftlichen ökonomischen Handelns: Nicht allein Zweckrationalität und utilitaristische Motive, sondern auch soziale Bindungen, differenzierte Handlungsoptionen und (subjektive) Freiheitsgrade sind starke Kriterien für «gutes» Leben und Wirtschaften. Diese wirtschaftswissenschaftliche Konzeption ist von Mitgliedern der Arbeitsgruppe aufgegriffen und in der Folge neu ausgerichtet worden (Zimmermann 2006b; De Munck & Zimmermann 2008). Unsere Lesart des Konzepts unterscheidet sich von der ursprünglichen Verwendung durch Sen und Nussbaum und konzentriert sich stark auf Aneignungsprozesse sozialer Rechte durch ihre Träger in verschiedenen Alltagssituationen (Lüdtke 1997; Rowell 2006). Durch diese Verschiebung der Perspektive wird es möglich die Fähigkeiten individueller Akteure, soziale Rechte oder finanzielle Unterstützung durch öffentliche Einrichtungen auch gewinnbringend zu nutzen, einzuschätzen und somit Aussagen über die Effekte sozialpolitischer Maßnahmen zu treffen. Diese Verwendung des Begriffes der Capability erlaubt es, konkrete  Programme auf die Probe zu stellen und die Alltagstauglichkeit sozialpolitischer Instrumente (Recht auf Bildung, Elternzeit, etc.) für die Betroffenen zu überprüfen. Perpetuieren und akzentuieren aktuelle und vergangene Reformen wohlfahrtsstaatlicher Systeme tatsächlich Flexibilität und Individualität, oder schränken sie Handlungsoptionen und individuelle Freiheiten zusätzlich ein, indem sie etablierte Verfahren sozialer Sicherheit und intergenerationeller Transferbeziehungen in einem beschleunigten Prozess demontieren? (Gilbert 2002; s. auch Forschungsprojekt Francesco Laruffa zu «Zumutbarkeitskriterien» von Lohnarbeit). Die Arbeitsgruppe Sozialstaat wird den Blick vor allem auf die Akteure und ihren Umgang mit neuen bürokratischen Verfahren und Ordnungssystemen lenken. Eine pragmatisch-sozialwissenschaftliche Lesart des Capability Ansatzes verspricht hier neue Erkenntnisse sowohl über die Bedingungen als auch über die Effekte des Zusammenspiels von Bürokratie und Subjekten im Bereich der Wohlfahrt in Europa.

 

 

Les transformations de l’État social depuis 1945.

Un groupe de recherche de Saisir l’Europe

(Version provisoire par Karim Fertikh et Heike Wieters)

Le groupe étudie le développement des États-providence après 1945 en accordant une attention particulière aux processus d’institutionnalisation et aux acteurs sociaux de cette institutionnalisation. La fin de la Seconde Guerre mondiale, le début et la fin du conflit Est-Ouest, la Construction européenne tout comme les changements économiques, politiques, sociaux et culturels ont marqué les États sociaux européens de manière significative (Kaelble 2004 ; Vogel 2013 ; Bezes 2009). Les transformations dans le domaine des politiques sociales, de l’éducation et du marché du travail ainsi qu’en matière d’assurance vieillesse et santé (en résumé la prise en charge collective de risques considérés comme sociaux par des institutions privées ou publiques, Castel 1995) ont eu et ont encore des conséquences étendues sur le fonctionnement, sur la perception et la légitimité dans l’espace public des institutions étatiques et supra-étatiques (Streeck 2013 ; Gaxie, Hubé & Rowell 2011). Le processus de l’intégration économique européenne renvoie ainsi directement à la question d’une « européanisation » des phénomènes sociaux et des dynamiques institutionnelles et à la non-simultanéité des changements économiques, politiques, sociaux et culturels en Europe.

Ce n’est cependant pas une comparaison ou une classification des systèmes nationaux des États-providence européens (Esping-Andersen 1999 ; Therborn 2000) qui constitue le cœur du travail de recherche du groupe, mais l’étude des réseaux d’acteurs, des interdépendances et des processus de transfert au-delà des frontières nationales ou systémiques (Rodgers 1998 ; Metzler & Letwin 2008 ; Zimmermann & Werner 2002). Avec le changement des institutionsnationales et « européennes » de l’État-providence, les attentes et les possibilités d’action des sujets concernés se modifient elles aussi – que ce soit celles des citoyens de l’Union européenne ou celles des « Non-Européens ». Le changement institutionnel est directement corrélé aux chances de participation à la vie sociale et politique, aux chances de réalisation de soi des différents sujets et à leur comportement envers les instruments bureaucratiques et les injonctions de nature étatique et supra-étatique. Ce changement ne peut s’expliquer sans adopter un regard différencié sur les acteurs, et leurs actions à l’intérieur (et à l’extérieur) de ces institutions (Streeck & Thelen 2005 : 19). Il s’agit donc de comprendre et d’expliquer non seulement les grands mouvements et les processus à long terme mais aussi de repérer les « scènes » (Zimmermann 2006:15) tout à fait concrètes sur lesquelles les acteurs produisent de (nouvelles) catégories d’action ou se les approprient (Lüdtke 1997) et négocient les chances ou les limites de leur action individuelle. En adoptant une perspective issue des sciences économiques, sociales et historiques, le groupe de recherche « État social » porte par conséquent une attention particulière aux processus d’institutionnalisation dépassant les systèmes à l’échelle microsociale. Plus qu’à un état des lieux, le réseau thématique s’intéresse aux processus de construction de ces institutions, à leur appropriation quotidienne par les individus, à leurs effets sur ces derniers, ainsi qu’aux compromis et aux règles du jeu grâce auxquels les acteurs concernés peuvent instaurer et influencer ces institutions. Le groupe de travail analysera en conséquence la production, l’usage et les effets des institutions en tant qu’unité.

Pour ce faire, il est possible de poursuivre le travail à partir de résultats déjà existants. Les systèmes sociaux en Europe font déjà depuis longtemps l’objet d’un intérêt étendu et interdisciplinaire – la composition du groupe de travail qui comprend de nombreux experts renommés dans le domaine de la recherche sur l’État social le prouve. En se fondant sur ce savoir, il est possible d’identifier de nouveaux champs de relations, qui, dans le cadre du réseau thématique ici proposé, doivent être travaillés et, dans la mesure du possible, rendus productifs.

Le groupe de travail se penchera ainsi sur quatre complexes thématiques (relations intergénérationnelles et démographie ; (in)égalités ; savoir et statistique ; travail) en s’appuyant sur trois types de méthodologie transversale (européanisation ; socio-histoire ; sociologie et analyse des capabilités). Il pourra être fait recours à des travaux antérieurs dont les thèmes et les problématiques devront être cependant élargis et mis en rapport entre eux de manière innovante. Pour ces six domaines, il s’agit de thèmes et d’approches qui, en les combinant, sont propres à produire des effets de synergie de la recherche et à générer de nouveaux éléments de connaissance. Les trois approches méthodologiques se situent à la croisée des disciplines et rendent ainsi le dialogue possible entre économistes des institutions, historiens, politistes et sociologues.

 

Domaines thématiques

Les domaines cités ci-dessus vont être brièvement esquissés et mis en relation afin d’expliciter le programme de travail envisagé par le réseau thématique :

1.     Relations intergénérationnelles et démographie : Alors qu’il existe déjà en Allemagne des études sur les dimensions structurelles, normatives et culturelles des relations intergénérationnelles dans les (sub)systèmes de l’État-providence – surtout en ce qui concerne l’assurance vieillesse – (cf. Conrad 1994 ; Hardach 2004 ; Tremmel 2009; Blasche & Döring 1998; Parnes & Vedder 2008) ce complexe thématique à tendance jusqu’à présent à être sous représenté dans la recherche française. S’il est question en Allemagne, surtout en ce qui concerne les modèles d’assurance vieillesse par répartition, de la « génération comme argument » (May 2010), dans le contexte français les questions de participation et de représentation en politique dominent jusqu’à présent, points qui, inversement, sont souvent négligés dans le débat allemand. Même si, en France aussi, il est accordé une grande importance aux interrogations structurelles et normatives (Chauvel 2010 ; Grosseries 2004), les deux traditions de recherche ne se laissent jusqu’à présent que difficilement comparer. La communication scientifique, sans parler d’une recherche commune dans un contexte franco-allemand ou même européen, est par conséquent à peine existante au sujet des relations intergénérationnelles, des transferts et des concepts normatifs. Au vu du changement permanent des tendances démographiques en Europe qui engendre des effets de plus en plus visibles sur les institutions sociales et politiques (Vogel, Kersten & Neu 2012) un approfondissement du débat scientifique sur les relations intergénérationnelles semble s’imposer. Dans le cadre du réseau thématique doivent être discutés tout autant le changement des relations intergénérationnelles dans et au travers du processus d’intégration européenne au niveau des politiques communes de l’assurance vieillesse et de l’éducation (cf. projet de recherche de Heike Wieters), que l’établissement de catégories sociales et politico-administratives (comme par exemple celle de la « dépendance », cf. projet de recherche de Karim Fertikh, cf. Lechevalier & Ulmo 2001) en matière de service public. Les approches socio-historiques (cf. méthodes, point  2) qui interrogent les catégories d’action, les acteurs et les lieux où ces catégories sont négociées (Zimmermann 2006a) et les perspectives de recherche et qui font des chances de réalisation de soi (cf. méthodes, point 3) des « vieux » et des « jeunes » Européennes et Européens au sein de systèmes sociaux-étatiques en cours de transformation un point central, joueront un rôle important.

2.     Égalité & inégalité : Les institutions et les mesures sociales-étatiques prises ne deviennent un objet véritable de recherche qu’au vu de leur inscription dans leurs contextes spécifiques interventionnistes, de droit politique et normatif en matière de réforme sociale (Metzler 2003). Cependant, le rapport social à l’égalité et à l’inégalité socio-économiques, politiques et normatives se laisse décrire comme un dispositif fonctionnel commun et fondamental de l’État-providence. (Kaelble 2007; Rosanvallon 2013, Paugam 2010). La question de savoir quel rôle l‘(in)égalité joue pour la perception et l‘analyse de la réalité sociale ne va pas de soi. Déterminer si l’inégalité est un mal social à dépasser (par l’examen et la mesure) ou si elle se situe au fondement de la complexité de la société, de la mobilité et de l’innovation, reste une tâche sujette à discussion (Mergel 2013). Un groupe de travail interdisciplinaire peut partir d’un tel constat. En effet, le changement dans le rapport social à l’égalité et à l’inégalité en Europe se laisse appréhender sur un plan normatif et politique (Rosanvallon 2013) mais il se laisse aussi analyser en terme de structures, de questions de répartition (Offe 1969; Kaelble 1983, Wehler 2013), de chances d’accès, de manières de se subjectiver (cf. Point 6). Les questions où, comment et à quel niveau les structures étatiques et les institutions de l’État-providence ne font pas que maintenir l’inégalité mais en produisent aussi une nouvelle, restent dans beaucoup de domaines (et notamment dans le domaine des relations intergénérationnelles dans le contexte européen) toujours ouvertes (Emmenegger, Häusermann & Palier 2012). Cela vaut donc la peine d’observer plus précisément au niveau des sujets et de leurs pratiques et de considérer leur rapport à l’inégalité économique, sociale ou politique, leur rapport aux mécanismes d’inclusion et d’exclusion. La question de savoir si (et si oui comment et où exactement) l’ « Europe » devient le nouvel espace de référence à l’intérieur duquel les (in)égalités dans le domaine de l’État-providence sont discutées, renforcées ou nivelées, se situe donc directement au centre de l’attention du groupe de travail.

3.     Savoirs et statistiques: L’Etat social existe par le travail qu’accomplissent au quotidien ses agents pour formuler des catégories et pour convertir les situations singulières en pensée d’Etat nomenclaturée. Les interrogations sur les constructions savantes de l’État social, portant à la fois sur les catégories de politique publique et sur la professionnalisation des experts d’État, ont conduit à de nombreux travaux en sciences humaines et sociales (Topalov 1994, 1999 ; Zimmermann 2000 ; Serre 2009). Le mot d’ordre historiographique de la « scientifisation du social » (Raphael 1996) a montré sa fécondité heuristique sur les cas nationaux (Hockerts 1998 ; Etzemüller 2009 ; Engstrom Hess Thom 2005 ; Raphael 1998). L’intégration européenne met les sciences sociales au défi de sortir des « containers nationaux » (Raphael 2006) pour penser les diverses formes d’articulation des espaces locaux, nationaux et européens à partir d’une perspective centrée sur les acteurs et les processus d’institutionnalisation. Parmi les pistes de recherche de notre groupe de travail, trois interrogations méritent d’être ici évoquées. D’abord, la question de l’européanisation des savoirs d’État et la construction d’un espace européen de l’expertise peut être pensée sur le mode de la mobilisation de ressources proprement européennes (Delassalle, Georgakakis 2007 ; Georgakakis 2012) permise par la construction d’un faisceau d’organisations supra-étatiques. En effet, la constitution d’un ensemble d’institutions européennes est le vecteur de construction d’une demande publique d’expertise : à travers la commande de rapports ou d’expertises par les institutions européennes, à travers la mise en place d’administrations de production de savoirs sur l’Europe, à l’instar d’Eurostat (dont Anne Lammers est la première à proposer d’écrire l’histoire) ou à travers les stratégies d’influence appuyées sur l’expertise via les think tanks ou les lobbys obligeant à la production de savoirs et de savoir-faire européens (Michel 2009 ; Wagner 2012). Ces ressources proprement européennes ne peuvent être ignorées tant que l’optique est de comprendre la synchronisation des temporalités nationales des réformes de l’État social ou celle de leur convergence. Ensuite, l’européanisation des politiques sociales peut être explorée à travers la circulation des experts nationaux et des catégories d’action publique en Europe, notamment à travers les références aux “modèles” nationaux – danois, allemand, britannique etc. (Gheorghiu 2012 ; cf. : projet de thèse d’Hadrien Clouet sur le chômage partiel). Ce sont là les configurations d’acteurs qui permettent l’objectivation de savoirs européens, dont les effets en retour sur les champs politiques nationaux sont à analyser, qui sont visées par nos recherches. L’existence de ce phénomène n’est pas nouvelle, puisque la concurrence entre les États nationaux au 19e siècle avait déjà conduit à une circulation européenne des politiques sociales (Kott 1995) mais l’intensité des échanges et l’importance de leurs effets en matière de convergence des politiques sociales peuvent faire l’objet d’une étude. L’étude des experts européens doit mettre en évidence les sources du « crédit » social des experts. Les modalités de reconnaissance des experts et des ressources pertinentes (crédit universitaires positions institutionnelles nationales, participation à des organisations non gouvernementales internationales etc.) constituent l’une des questions qu’on se posera (cf. projet de thèse d’Hugo Canihac et deMariette Fink).

Les questions des statistiques, comme constitutives de la réalité sociale qu’elles décrivent (Boltanski 1982 ; Desrosière 2000) sont aussi centrales dans nos interrogations. Ces constructions statistiques obligent à mettre en place des arrangements pratiques permettant de décrire pour des fins de gestion administrative les populations européennes (Pénissat, Rowell 2012 ; cf. projets de recherche d’Anne Lammers et d’Alice Lavabre). La construction de cet outillage mental est donc un vecteur important dans l’européanisation de certains problèmes et de certains instruments de politique publique.

4.     Travail. Les mobilisations autour de la « question sociale », centralement l’ensemble des problèmes construits par les porte-parole du salariat en constitution, ont joué un rôle central dans l’émergence de l’État social en Europe (Castel, 1995). L’État providence prend appui sur les formes hétérogènes de solidarité et d’organisation collectives du travail pour assurer un champ de protection basé sur des catégories devenant génériques (accident du travail, maternité, retraite, maladie, chômage), qui se transforment au fil du temps (Thompson 1963, Wagner, Didry, Zimmermann, 1999, Welskopp 2000, cf. projet de recherche de Sarah Hasdenteufel). La couverture de ce qui se définit comme risque s’est donc construite dans le champ du travail à travers des logiques d’intervention et de catégorisation plurielles.

La « nouvelle question sociale » diagnostiquée par Castel a pour effet d’ébranler ce modèle de solidarité, et permettre à de nouvelles catégories d’intervention d’apparaître : la « sécurisation du parcours professionnel » individuel prend la place de la protection collective de et dans l’emploi, l’incitation au travail celle de la lutte contre le chômage. Ce faisant, de multiples rapports au travail se mettent en place, et mettent aux défis les formes instituées de sécurité sociale : les formes précaires d’emplois, les secteurs d’emploi à bas salaire, les effets de halo et les nouvelles pratiques de catégorisation des chômeurs dans les agences d’emploi (Castel 1995, Paugam 1996). Ces diverses formes d’« activation » des politiques d’emploi et la pluralisation des formes d’emploi, de sous-emploi et de chômage en Europe constituent dès lors un observatoire des transformations des sociétés européennes et des arrangements institutionnels de leurs systèmes de solidarité.

Elles complexifient les rapports que les bénéficiaires entretiennent avec les agents de l’État ou des agences publiques ou privées en charge de l’exécution des politiques relatives au travail (Dubois 2007, cf. projet de recherche d’Hadrien Clouet). Elles soulèvent les questions des capacités d’appropriation active des nouveaux « droits » (droits à la formation, politiques de lutte contre les discriminations, en particulier de genre) et des injonctions institutionnelles par les individus auxquels elles s’adressent (Wobbe 2009, Zimmermann 2001 et 2005). L’intérêt de notre groupe de recherche ne porte pas uniquement sur la comparaison des systèmes nationaux, considérés comme des ensembles, mais sur des processus de transferts et de croisement dans le développement des institutions et la construction du niveau européen comme échelle pertinente de l’action.. Loin de considérer ces éléments comme ressortissant de pures logiques individuelles, notre groupe de travail entend considérer les logiques collectives de formation des identités au travail et au chômage (cf. projets de recherche de Nicolas Briot et Hadrien Clouet), de fabrication/démantèlement et d’appropriations des droits. L’européanisation se fait particulièrement sentir dans la construction et la diffusion de politiques de lutte contre les discriminations, en particulier de genre et de gendermainstreaming (cf. projet de recherche de Mariette Fink). L’ensemble de ces interrelations complexes, entre agents et bénéficiaires, entre le salarié, son entreprise et les politiques publiques, ainsi que la fabrication et l’usage des catégories – avec leurs appropriations par les individus – constituent donc un des terrains de recherche de notre groupe.

 

Approches méthodologiques

1.     Européanisation : le concept d’européanisation a une longue tradition en sciences sociales et politiques. Dans ces disciplines, il est employé comme un concept à la fois descriptif et analytique qui permet d’appréhender et de décrire les nouvelles formes des processus de gouvernance et d’institutionnalisation purement européens (surtout à partir des années 1990). Ces dernières années, ce concept a de plus en plus été utilisé également en histoire, même si, en même temps les connotations à la fois normatives et téléologiques que pouvaient porter ce concept en sciences sociales étaient critiquées et remises en cause (Patel &Hirschhausen 2010). L’européanisation n’est donc ni une voie à sens unique qui mènerait nécessairement à une Europe unie, ni un concept qui permettrait de déterminer sans problème des objets ou des lieux d’analyse prédestinés qui rendraient possible une mise en évidence et une analyse de l’européanisation comme un processus se déroulant de manière linéaire. L’existence de formes européennes en transformation ou de nouvelles formes européennes de référence, d’unification ou de transmissions des compétences peut être prouvée aux niveaux tant politique, social et culturel que juridique et économique – à chaque fois en tenant compte des structures et des institutions tout comme des idées, des concepts et des pratiques quotidiennes. D’autre part, des mouvements opposés, une certaine dissociation ou un certain repliement sur les traditions nationales ou régionales, sur les institutions ou les ressources deviennent de plus en plus visibles (Patel 2014). Il est donc nécessaire de penser l’européanisation de manière multidimensionnelle tant dans une perspective spatiale que temporelle : différents processus d’européanisation peuvent se dérouler en parallèle ou à l’opposé, en se croisant voire s’interrompant ou de manière totalement asynchrone, comme le montre par exemple la disparité actuelle entre l’intégration économique et politique au sein de l’Union européenne. Cette constatation vaut aussi et surtout pour les institutions en charge de la sécurité sociale en Europe. Alors que certains domaines proches de l’économie ont été harmonisés dès l’époque de la CECA et ont été européanisés institutionnellement et juridiquement, comme par exemple le réajustement au niveau européen des montants de l’assurance vieillesse découlant de la libre circulation des travailleurs ; d’autres domaines et institutions sont soumis à d’autres logiques. Les systèmes de l’État-providence, toujours surdéterminés dans leur essence nationalement, se retrouvent néanmoins de plus en plus en compétition au niveau institutionnel. Dans cette compétition, où l’Union européenne fait office de ressource (aussi financière) et d’espace de référence, naissent lentement des politiques sociales purement européennes (Lamping 2008). Le groupe de travail placera ici surtout au centre de son travail les processus complexes d’apprentissage et de transfert que les experts, les conseillers économiques et politiques européens (Büttner 2014; Nützenadel 2005) tout comme les échanges institutionnels directs, les procédés de plus en plus standardisés (souvent plus « internationaux » qu’ « européens ») et les techniques de management ont fait progresser.

2.     Socio-histoire : « Les concepts de société, de communauté solidaire et les catégories juridiques de souveraineté ou de principe de l’égalité de traitement sont historiquement mais aussi conceptuellement en rapport avec les évolutions de l’État-nation. […] L’européanisation des relations sociales et des processus politiques mène cependant à des possibilités d’action et à des définitions des problèmes autres […et] exige une redéfinition des concepts et des catégories qui tienne compte de la genèse et des effets des possibilités d’actions et des définitions de problèmes ancrées au niveau de l’État-nation. » (Eigmüller & Tietze 2012). Ce constat est particulièrement valable pour le thème général du groupe de travail et pour le réseau thématique « État-social », pour lequel une aide est ici sollicitée, dont la terminologie changeante et les instruments semblent être faits pour une analyse adoptant l’approche de la socio-histoire, développée dès les années 1980 en France (Déloye 2007; Offerlé 2002; Noiriel 2006, Pollet 2012; Payre, Pollet 2013; Salais Baverez Reynaud 1986; Zimmermann 2006a). Cette perpective repose sur une volonté de dénaturaliser les institutions sociales telles qu’elles ont été objectivées et réifiées dans les interactions (Berger Luckmann 1966). La socio-histoire essaie de déplacer le regard des grandes idées et des grands récits macrosociaux vers des analyses des rapports sociaux concrets pour ainsi étudier conflits, processus de négociation et glissements de sens dans le domaine de l’action et des catégories sociales. Elle a, en ce sens, plusieurs intérêts méthodologiques : rappeler les significations que les catégorisations et les instruments de politique sociale ont dans les divers moments où ils sont forgés, rappeler que les politiques sociales sont le résultat de compromis et de rapports de force au sein des administrations et entre les administrations et divers secteurs de la société, rappeler que les appropriations de ces politiques peuvent en déplacer le sens et enfin montrer la manière dont « le mort saisit le vif » et le rôle des catégories vécues et des institutions dans la formation du monde vécu. De cette manière, le niveau des acteurs, y compris d’un point de vue prosopographique, est replacé au centre de l’intérêt. Par une attention résolument historique et sociologique portée sur le contexte de création, sur les glissements de sens comme sur les effets à long terme de nouvelles pratiques et catégories dans les interactions concrètes entre les différents acteurs (bureaucrates et citoyens, « conseillers pour l’emploi » et « bénéficiaires de prestations sociales », etc.) les processus de transformations, qui ont touché les États-sociaux européens et leurs citoyennes et citoyens, sont rendus alors concrets et visibles. Les intérêts méthodologiques sont divers : premièrement, il s’agit de saisir les significations et les catégorisations des instruments sociopolitiques au moment de leur création et pendant leur évolution au cours du temps ; deuxièmement il faut se souvenir de ces instruments et de ces institutions comme étant le résultat de compromis sociaux et de processus de négociation. En conclusion, l’influence et les effets de ces catégories et de ces institutions sur le quotidien des sujets peuvent être ainsi analysés.

3.     Sociologie et approche par les capabilités : l’approche par les capabilités, développée dès le début des années 1980 par Amartya Sen en coopération avec Martha Nussbaum, s’intéresse à l’élargissement et à la modification de concepts traditionnels mesurant le bien-être individuel et collectif (Sen 1980 &; Sen 1985; Sen & Nussbaum 1992).En critiquant l’unidimensionnalité du PIB et des données sur les revenus comme indicateurs de « Well-being » et de développement social et en développant avec le concept différencié de « capabilities » ou de « chances de réalisation de soi » une nomenclature alternative et plus complète qui finalement est entrée notamment dans l’index de développement des Nations unies, Sen et Nussbaum élargissent la compréhension des actions individuelles et sociales en matière d’économie : non seulement la rationalité finaliste et les motifs utilitaristes mais aussi les liens sociaux, les possibilités d’action différenciées et les degrés (subjectifs) de liberté sont des critères solides de « bonne » vie et d’économies. Cette conception issue des sciences économiques a été reprise par des membres du groupe de travail qui lui ont donné par la suite une nouvelle orientation (Zimmermann 2006b; De Munck & Zimmermann 2008). Cette intégration du concept de capabilité s’opère par un déplacement important de son usage initial par Sen ou Nussbaum, à travers un intérêt marqué pour les appropriations (Lüdtke 1997 ; Rowell 2006) des droits sociaux, telles qu’elles peuvent exister, ou non, dans les diverses situations dans lesquelles les acteurs évoluent. Une telle interrogation conceptuelle peut mettre en évidence le rôle des situations concrètes de vie et de travail dans lesquelles il est, ou non, possible pour les acteurs de percevoir et de mobiliser les actifs sociaux (droits sociaux, aides) mis à leur disposition par les institutions publiques. Cet usage du concept de capabilité permet de mettre à l’épreuve les institutions de l’État social, en particulier les instruments de responsabilisation en interrogeant sur les possibilités réelles des acteurs de faire usage des actifs sociaux, que cela soit un droit social (droit à la formation, droit au congé parental etc.) ou une ressource financière. Les réformes actuelles et passées du système de l’État-providence perpétuent-elles et accentuent-elles vraiment la flexibilité et l’individualité ou bien ne restreignent-elles pas encore plus les possibilités d’action et les libertés individuelles en démantelant dans un processus de plus en plus rapide les procédés établis en matière de sécurité sociale et de transferts intergénérationnels ? (Gilbert 2002; voir aussi le projet de recherche de Francesco Laruffa au sujet des «critères d’acceptabilité» du travail salarié). Le groupe de travail État-social portera son regard surtout sur les acteurs et leurs rapports aux nouveaux procédés et systèmes de classement bureaucratiques. Une lecture pragmatique issue des sciences sociales du concept de capabilité promet de faire progresser la connaissance tant sur les conditions que sur les effets de l’interaction entre bureaucratie et sujet en matière d’État-providence en Europe.

 

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Arbeitsgruppenpapier Sozialstaat April 2014

Thème du travail du group Avril 2014

Quelle: http://etatsocial.hypotheses.org/138

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Der archäologische Wanderpfad in der Fischbeker Heide

Wochenende und gutes Wetter waren am vergangenen Sonntag die idealen Voraussetzungen, um endlich einmal den Archäologischen Wanderpfad in der Fischbeker Heide zu besuchen. 

Zur Vorbereitung auf den Besuch habe ich nur die entsprechende Seite auf dem Webauftritt des Archäologischen Museums Hamburg besucht. Dort finden sich auch Angaben zur Anfahrt: Ich wähle die Anreise per Bus und Bahn, und bin mit der Linie 250 zum Fischbeker Heideweg gefahren. Eine Anreise mit dem Auto ist auch möglich; Parkmöglichkeiten sind am Naturschutz-Informationshaus „Schafstall“ reichlich vorhanden. Unmittelbar bei der Bushaltestelle findet sich auch ein Wegweiser zu diesem Informationszentrum.

Im Naturschutz-Informationshaus „Schafstall“ habe ich ein Faltblatt zum Archäologischen Wanderpfad erhalten. Hier sind auch in einigen kleinen Vitrinen Keramikfunde und Repliken von Funden, die bei den Fundstellen des archäologischen Wanderpfads zu Tage kamen, ausgestellt. Leider waren die Vitrinen etwas sehr eng zueinander gerückt, so dass manche Objekte nur aus der Distanz betrachtet werden konnten.

Der archäologische Wanderpfad selbst hat mir insgesamt gut gefallen. Die Stationen scheinen einer gewissen Dramaturgie zu folgen: Von Station zu Station gibt es – mit wenigen Ausnahmen – immer mehr zu sehen. Es sind jedoch auch Tafeln an Orten aufgestellt, wo zwar ein Bodendenkmal vorhanden ist, dieses im Gelände aber nicht zu sehen ist – etwa bei der Fundstelle eines bronze- und eisenzeitlichen Gräberfelds. Dass auch diese Fundstellen in den Wanderpfad integriert wurden, halte ich für sehr wichtig.

Leider waren nicht alle Stationen des Wanderpfads gut zu finden. Station 5 hätte ich ohne mein GPS-Gerät und ohne die Koordination, die zu dieser Station in dem Wikipedia-Artikel zum Archäologischen Wanderpfad hinterlegt sind, nicht gefunden. Ähnlich erging es mir am Ende des Rundgangs, bei Station 11. Auch diese Tafel habe ich nur dank GPS-Koordinaten entdeckt; der zugehörige Langgrabhügel konnte sich jedoch nicht lange verstecken.

Der Rundgang auf den Archäologischen Wanderpfad Fischbeker Heide dauerte ca. 2 Stunden. Bei Station 1 und bei den in Sichtweite zueinander liegenden Stationen 7-10 befinden sich Bänke und damit Möglichkeiten zum Rasten und Picknicken.

Ohne Ortskenntnis und nur mit der Karte auf den Faltblatt zum Archäologischen Wanderpfand sind einiger der 11 Stationen jedoch nur durch Zufall zu finden. Es empfiehlt sich daher, das Faltblatt entweder mit einer Wanderkarte der Gegend, auf der auch kleine Nebenpfade eingezeichnet sind, zu benutzen, oder die Koordinaten einzelner Stationen aus anderen Quellen zu beziehen und mit Hilfe von einen GPS-Gerät zu erwandern.

Ich würde auch empfehlen, die Vitrinen im Informationszentrum Schafstall nach dem Rundgang noch einmal zu besuchen: Dann nämlich kann man die dort ausgestellten Funde und Repliken von Funden den konkreten Fundstellen zuordnen, und bekommt noch einmal einen ganz anderen Einblick in die Archäologie dieser Region.

Tafel und Grabhügel auf dem Archäologischen Wanderpfad Fischbeker Heide

Tafel und Grabhügel auf dem Archäologischen Wanderpfad Fischbeker Heide (Photo: Doris Gutsmiedl-Schümann)

Ein kurzer Beitrag zum Archäologischen Wanderpfad Fischbeker Heide findet sich auch auf dem Webauftritt der “Archäologie in Deutschland”.

Quelle: http://archiskop.hypotheses.org/26

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27. Fleisch. Essen.

Bambi. Pfanne. Was diese zwei Substantive verbinden soll, bleibt Ihnen überlassen. Sie könnten “kommt in die” einfügen. Oder “ist eine” (was zugegebenermaßen eher in Richtung moderner Poesie tendiert). Peter Singer, ein Philosoph, der Kinder gerne auch bis zu 28 Tage nach der Geburt abtreiben lassen möchte (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/gespraech-mit-peter-singer-nicht-alles-leben-ist-heilig-a-169604.html, abg. 08.05.14), würde hingegen “darf nicht in die” einfügen. Warum er Babys gegenüber ziemlich streng, Bambies hingegen recht milde gestimmt ist? Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, dass er einige gute Gründe für das “kommt nicht in die”-Argument hat, die ich jedoch in elaborierter Form bereits bei einem Autor der Spätantike gefunden habe (bei meiner täglichen Lektüre spätantiker Autoren (ist mein Leben langweilig?(habe ich Freunde?(“kommt in die”)))). Porphyrios. Vier Bücher haben wir von ihm darüber, warum man sich vegetarisch ernähren sollte. Das bekannteste Argument finden wir auch bei Peter Singer wieder:

Den Pathozentrismus. Er behauptet, dass es tatsächlich eine Messlatte gebe, die uns sage, was wir anderen Lebewesen antun dürften und was nicht. Das sei deren Leidensfähigkeit. Scheren sei in Ordnung. Aber die Minimierung von Leid solle in jeder unserer Handlungen gegenüber anderen Lebewesen vertreten sein. Wer Tiere (Bambi) tötetetete, vergrößere das Leid auf der Welt. Das schlichte, utilitaristisch anmutende Kalkül ist ein leicht zu verstehender Indikator für erlaubte und unerlaubte Handlungen.

Das zweite Argument knüpft an die Frage an, welcher Unterschied zwischen Menschen und Tieren überhaupt existiert. Denn niemand würde Menschen in die Pfanne hauen wollen (außer metaphorisch in der Finanzbranche, könnte man denken). Gemeinsam mit Aristoteles und gegen andere philosophische Schulen meint Porphyrios nämlich, dass die Differenz nicht darin bestehe, dass jene Vernunft hätten, diese hingegen keine besäßen. Der Unterschied sei quantitativer Natur. Tiere besäßen einfach weniger Vernunft. Nun würden Sie aber auch keinen Menschen essen wollen, wenn dieser weniger vernünftig wäre als Sie. Menschen seien aber einfach vernünftige Tiere. (Auch eine Unterscheidung wegen Verwandtschaft wird seit Darwin schwieriger zu vertreten sein).

Und jetzt? Die meisten Argumente, die ich in meinen super häufigen Gesprächen über Ernährung höre, sind funktioneller Natur: “Dein Körper ist gar nicht darauf ausgerichtet, so viel Fleisch zu verarbeiten.” Der Apell an das Eigeninteresse zieht wohl immer noch am besten. Wenn mich jemand aber andersherum davon überzeugen wollte, dass Fleisch zu essen gut wäre, müsste er nur Fragen, wieviel weniger Schweine leben würden, wenn es diese exzessive Fleischproduktion nicht geben würde. Würde beispielsweise ein Verbot von viel Fleischkonsum nicht dazu führen, dass viel weniger Tiere in das Leben treten würden? Lieber also gar nicht Leben als leben und dann in die Pfanne? Hmm schwierig. Ich stehle mich aus der argumentativen Verantwortung durch ein Zitat zum Schluss aus Plutarchs Doppelbiographien: “Denn altgewordenen Pferden das Gnadenbrot zu geben und Hunden nicht nur, wenn sie jung sind, sondern auch im Alter Pflege angedeihen zu lassen, ist Ehrenpflicht eines guten Menschen.” (Plutarchus. 2008. Die grossen Griechen und Römer. Band I, S. 353) und Porphyrios über den Vegetarismus sogar online anrufbar unter: http://www.tertullian.org/fathers/porphyry_abstinence_01_book1.htm, abg. 09.05.14.

Guten Hunger.

D.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/296

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Ankündigung: Festival “Europe 14|14″ vom 7.-11. Mai in Berlin

Europe 1414 History Campus - Logo

Europe 14|14: 100 Jahre Erster Weltkrieg

Berlin wird zum europäischen Treffpunkt 

“Look back, think forward”: Anlässlich des 100. Jahrestags des Beginns des Ersten Weltkriegs findet im Mai 2014 die Veranstaltung “Europe 14I14″ in Berlin statt. Ziel der Organisatoren von Europe 14|14 ist es, neue Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg, seine Rezeption und seine Bedeutung für das heutige Europa zu eröffnen.

Zentraler Kern der Veranstaltung ist der “HistoryCampus”. 400 junge Menschen aus 40 Ländern stellen sich vom 7. bis 11. Mai 2014 der Frage: Erster Weltkrieg – was hat das mit mir zu tun? Bundeskanzlerin Angela Merkel wird die Teilnehmer aus ganz Europa zum Auftakt am 7. Mai 2014 im Maxim Gorki Theater begrüßen. Mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprechen die jungen Europäer am 9. Mai 2014 im Deutschen Historischen Museum.

Europe 14|14 ist ein gemeinsames Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, der Körber-Stiftung und der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater Berlin und zahlreichen weiteren Partnern. Gefördert wird Europe 14|14 durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).

22 interaktive, künstlerische und kreative Workshop-Formate eröffnen den jungen Teilnehmenden zwischen 18 und 25 Jahren beim HistoryCampus ungewöhnliche Bezüge zum Thema. Vorab wurden zusätzlich in einem Wettbewerb zum Campus unabhängige Projektideen Jugendlicher aus ganz Deutschland mit bis zu 1.500 Euro gefördert. Die Ergebnisse aus den Workshops und dem Projektwettbewerb werden am Samstag, den 10. Mai 2014, beim großen Abschlussfest im Maxim Gorki Theater in einer Werkschau präsentiert.

Eine zweite Programmstrecke, der “OpenCampus”, bietet das künstlerische Programm zum Festival für die Öffentlichkeit. In Zusammenarbeit mit namhaften Künstlern unter anderem aus Frankreich, Belgien, Israel, Serbien und Deutschland probiert das Maxim Gorki Theater eine radikal-subjektive Geschichtsschreibung der letzten 100 Jahre als Theater, Konzert, Ausstellung, Installation, Performance. Die Kulturstiftung des Bundes ist Kooperationspartner des OpenCampus.

“100 Jahre, vier Wochen, eine Stadt” – unter diesem Motto wird es auch abseits des HistoryCampus als dritten Schwerpunkt ein “Rahmenprogramm” geben. Zahlreiche Berliner Institutionen bieten die unterschiedlichsten Zugänge zum Thema Erster Weltkrieg und seiner Rezeption. Im Rahmen von Diskussionsrunden, Performances, Konzerten, Stadtrundgängen und Ausstellungen sind alle Bürger zur Teilnahme eingeladen.

Alle Informationen unter »www.europe1414.de«

 

Quelle: http://etatsocial.hypotheses.org/130

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Diplomatische Dokumente lesen: Hermann Meyers Aktenkunde der Julikrise

Mit der “Kanzlerakte” hat sich dieses Blog eine ganz ungewohnte Zahl von Likes und Tweets eingefangen. War zugegebenermaßen auch plakativ. Mit dem heutigen Beitrag kehre ich zur Spezialbloggerei zurück und traktiere nach Schmid einen weiteren vergessenen Klassiker des Fachs. Mal sehen, wie viele Besucher bis zum Like-Knopf durchhalten.

Titelseite

Titelseite

Der “Meyer” ist mein Vademecum als Archivar diplomatischer Akten. Auch für deren Benutzer sollte er es sein, scheint dort aber völlig unbekannt zu sein. Anlass, sich mit ihm zu beschäftigen, gibt auch das laufende “Supergedenkjahr” rund um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

“Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch” wurden 1919 auf Veranlassung des des sozialistischen Politikers Karl Kautsky aus den Akten des Auswärtigen Amts in einer vierbändigen Edition veröffentlicht und in den Zwanzigerjahren in gigantischen Auflagen bis in die Bücherschränke des Bildungsbürgertums verbreitet, als Quellengrundlage einer gesellschaftlichen Diskussion über die Kriegsursachen, die bald in den notorischen “Kampf gegen die Kriegsschuldlüge” ausartete (was den wissenschaftlichen Wert der heute auch digitalisiert vorliegenden Edition nicht mindert).

Wenn gewünscht wurde, dass weite Kreise der Bevölkerung eine wissenschaftliche Dokumentenedition zur Kenntnis nehmen sollten, dann musste dem “unbelasteten” Leser ein Lektüreschlüssel an die Hand gegeben werden. Zu diesem Zweck erschien 1920 bei Mohr/Siebeck in Tübingen “Das politische Schriftwesen im Deutschen Auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente” von Hermann Meyer.

Geboren 1883 in Soest, war Meyer nach der Promotion in den preußischen Archivdienst eingetreten. Nach Stationen am Geheimen Staatsarchiv, dem Staatsarchiv Magdeburg und der Kriegsteilnahme wurde et 1918/19 ans Auswärtige Amt abgeordnet, um Kautsky bei der Edition der “Deutschen Dokumente” zu unterstützen. In dieser Zeit erlangte er aus erster Hand, von den zuständigen Beamten, eine intime Kenntnis des Kanzlei- und Registraturwesens. 1920 wurde Meyer dann auch zum ersten Leiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts bestellt.

Einmal im Amt, reüssierte er schnell auch im diplomatischen Dienst. Seit 1923 leitete er in Personalunion mit dem Archiv zwei Referate der politischen Abteilungen; 1929 wechselte er nach Rom an die Botschaft beim Heiligen Stuhl, und 1931-1935 amtierte er als Generalkonsul in Marseille, bevor er unter dem Nazi-Regime zwangspensioniert wurde. Hermann Meyer starb 1943 in Bonn.

Die Aufbauarbeit im Politischen Archiv und der Wechsel in die Diplomatenlaufbahn führten dazu, dass “Das politische Schriftwesen” Meyers einziger Beitrag zur Akten- und Quellenkunde blieb, abgesehen von einer kleineren Studie zur Sprachwahl in den Depeschen preußischer Diplomaten (Friedrich der Große hatte Französisch verordnet; Meyer 1926). Leider.

Das Buch zeichnet sich durch Praxisnähe und Eingängigkeit aus, die seiner Rezipierbarkeit außerhalb des Archivs eigentlich zugute kommen sollte. Meyer beschränkt sich darauf, den Ist-Zustand des Aktenwesens zu vermitteln, und verbindet geschickt Aktenkunde im engeren Sinne, also die Untersuchung von Schriftstücken anhand formaler Merkmale, mit quellenkundlichen Einsichten, die er bei der Unterstützung der Edition gewonnen hatte.

Es beginnt mustergültig mit einem Abriss der Aufbauorganisation des Auswärtigen Amts im Kaiserreich, seiner Zentrale und der Auslandsvertretungen, und mit Grundzügen des Gesandtschaftsrechts (Kap. I). Weiter geht es mit der “Allgemeine[n] Organisation des politischen Schriftwesens” (Kap. II), in der eine systematische Aktenkunde der zwischen der Zentrale und den Auslandsvertretungen gewechselten Berichte und Erlasse (Depeschen) mit einer Beschreibung der Kanzlei- und Registraturorganisation in Gestalt des legendären, 1920 aufgelösten Zentral- und Depeschenbüros der Politischen Abteilung I A des Auswärtigen Amts verbunden ist, und zwar sehr umfassend. Meyer beschreibt auch die Registraturfindmittel (Journale, Register), was zum Verständnis der Edition wenig beiträgt, aber der Benutzbarkeit des im Werden begriffenen Archivs dient.

Genetische Aktenkunde

Genetische Aktenkunde

Der Hauptteil der Genetischen Aktenkunde findet sich etwas unerwartet in Kap. III unter dem Rubrum “Grundbegriffe des politischen und diplomatischen Schriftwesens”. Es ist wohl das zentrale Kapitel, weil es am unmittelbarsten der Quellenkritik der edierten Dokumente dient.

In Kapitel IV springt Meyer zurück zur Systematischen Aktenkunde und behandelt die Stilformen des diplomatischen Schriftverkehrs, die berühmten Noten, Verbalnoten und Aide-Mémoires. Auch hier geht er über den Rahmen der Edition, in die fast nur Aide-Mémoires aufgenommen wurden, hinaus. Hinsichtlich dieses aktenkundlichen Sondergebiets beruht praktisch die gesamte seitdem erschienene Literatur auf Meyers Ausführungen. Dabei wurde der Gebrauch dieser Stilformen im Auswärtigen Amt noch im Jahr des Erscheinens, 1920, grundlegend reformiert. Eine Veröffentlichung dazu bereite ich vor.

Einbindung des Kaisers in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts

Einbindung des Kaisers in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts

Mit der “Beteiligung des Staatsoberhaupts” (Kap. V) geht es noch einmal ans Eingemachte der edierten Dokumente und um die Fortsetzung der Geschäftsgangskunde aus Kapitel III. Eine Besonderheit der Edition ist die typographisch gefällig gemachte Wiedergabe der Randbemerkungen Wilhelms II. auf den vorgelegten Depeschen und Immediatberichten. Der Quellenwert dieser zwischen hellsichtig und kreuzdumm rangierenden Marginalien für die Rekonstruktion der Julikrise ist sehr hoch.

Den Abschluss bildet in Kap. VI eine quellenkritische Schatzkammer zum Kurier-, Telegrafen- und Chiffrierwesen des Auswärtigen Amts, in der man sich bediene, um zu rekonstruktion, welcher Entscheidungsträger in der Julikrise wann und wie auf welche vorliegenden Informationen reagiert hat. Wer sich dabei mit forensischer Genauigkeit versuchen und gleichzeitig vor Aktengläubigkeit schützen will, sollte lesen, was Meyer über sich kreuzende Telegramme, die Uneindeutigkeit von Abgangs- und Eingangsdatierungen und Textverlust durch Übertragungsfehler zu sagen hat. Ein ausführliches Register erschließt dieses dünne, aber gehaltvolle Buch.

Meyer also auch ein Klassiker der Aktenkunde? Woran es Meyer noch fehlte, waren die von Meisner entwickelten Konzeptionalisierungen, die helfen, vor lauter Bäumen den Wald sehen. So behandelt er in Kapitel III die Entstehung der in Schriftform ausgehenden Erlasse, in II die registraturtechnische Behandlung der eingehenden Berichte, wiederholt das Ganze in Kap. VI für Erlasse in Telegrammform uns schiebt in V die Anbindung des Kaisers an den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts nach. Das alles beschreibt Teilaspekte der Genetischen Aktenkunde, die sich mit den Bearbeitungsspuren befasst.

An Meisner geschult, würde man diese Aspekte zusammenziehen, um konzise den Geschäftsgang und seine Spuren auf den Unterlagen zu beschreiben. Ohne diese Konzeptionalisierung wird analytisches Potential vergeben. Meyer bleibt dem Praktizismus der Kanzleibeamten verhaftet; es gibt viele terminologische Unschärfen, die ebenfalls auf konzeptionelle Lücken hinweisen. So ist das Telegramm als solches kein Schriftstücktyp, sondern eine Übermittlungsform für verschiedenste Typen. Deshalb unterscheidet sich seine Entstehung im Geschäftsgang auch nicht grundsätzlich von der einer schriftlichen Depesche. Nur wurde die konventionelle Expedition per Post, Depeschenkasten oder Feldjäger eben durch den Weg über die Telegraphenämter ersetzt.

Natürlich kann man dem Wissenschaftler Hermann Meyer keinen Strick daraus trennen, dass er sich 1920 nicht an den aktenkundlichen Ariadnefäden orientiert hat, die Heinrich Otto Meisner erst 1935 gesponnen hat. Der “Meyer” ist ein Monument der aktenkundlichen Vorgeschichte, das man vielleicht mit Haß (1909) in eine Reihe stellen kann. Der Nutzen als praktische Fundgrube bleibt überragend groß.

Benutzer des Politischen Archivs, lest dieses Buch! Leider ist das Digitalisat bei Hathi-Trust mit einer deutschen IP-Adresse nicht abrufbar.

Literatur

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521-575 (online).

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen.

Ders. 1926. Der Sieg Der Deutschen Sprache in den politischen Depeschen Preußens und des Reichs. In: Görres-Gesellschaft, Hg. 1926. Festschrift, Felix Porsch zum 70. Geburtstag dargebracht. Görres-Gesellschaft zur Pfeleg der Wissenschaften im katholischen Deutschland, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaften 40. Paderborn.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/168

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Nachlese zur Tagung #gld14 | Geschichtsdidaktische Medienverständnisse

Auf dem Portal L.I.S.A. der Gerda Henkel Stiftung wurde heute ein Skype-Interview mit Christoph Pallaske zur Tagung #gld14 | Geschichtsdidaktische Medienverständnisse, die am 25. und 26. April 2014 am Historischen Institut der Universität zu Köln stattfand (gleichzeitig als erstes Arbeitstreffen des Arbeitskreises dWGd), veröffentlicht. Auch auf der Seite der Werkstatt_bpb findet sich ein kurzer Bericht zur Tagung.

Quelle: http://dwgd.hypotheses.org/214

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Neue Fotos online: Lageralltag Zwangsarbeiter

Unsere Rubrik “Fotos” haben wir um eine Dokumentation “Lageralltag Zwangsarbeiter” erweitert. Die Dokumentation weist einige Merkmale des Lageralltags von Zwangsarbeitern auf, z. B. die Arbeitskarte, das Lagergeld oder die Kennzeichnungspflicht durch den “OST”-Aufnäher.

Ein Beispiel für das behördliche Erfassungssystem in der NS-Zeit für die Zwangsarbeiter war die Arbeitskarte mit Foto, die in mehrfacher Ausfertigung den Behörden vorlag.

Die Wochenarbeitszeit von Zwangsarbeitern betrug im Durchschnitt 60 bis 70 Stunden, wobei für Überstunden und Sonntagsarbeit keine zusätzliche Entlohnung erfolgte. Die arbeitstägliche Entlohnung war hierbei ideologisch begründet und betrug für sowjetische Kriegsgefangene 0,20 RM. Der Lohn wurde in Lagergeld ausgezahlt. Dieses Zahlungsmittel konnte nur innerhalb des Lagers eingesetzt werden.

Gemäß eines Erlasses im Jahre 1942 wurde eine Kennzeichnungspflicht für Ostarbeiter erlassen, welches die Aufschrift „OST“ haben sollte. Alle Fremdarbeiter mussten sich den vorgeschriebenen Ausgangsbeschränkungen unterwerfen und Kontakte mit der Speyerer Bevölkerung wurde offiziell auf ein Mindesmaß reduziert.

Weitere Fotos unter Lageralltag Zwangsarbeiter.

Quelle: http://speyermemo.hypotheses.org/1968

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Demian Sant’Unione: Jeder schreibt für sich allein. Zur Dramatisierung für Romanen für die Bühne am Beispiel von Hans Falladas “Jeder stirbt für sich allein”


 
Daher ist das schönste Zeichen der Originalität,
wenn man einen empfangenen Gedanken dergestalt fruchtbar zu entwickeln weiß,
dass niemand leicht, wieviel in ihm verborgen liege, gefunden hätte.1

 

PROLOG

Ein Vortrag im Rahmen dieser Vorlesungsreihe hat seinen besonderen Reiz, denn im Grunde erleben wir hier einen Praxistext dessen, worüber ich nun sprechen möchte: Die Dramatisierung von Romanen für die Bühne. Denn auch hier geht es doch darum, einen Text, der eigentlich nur zum Lesen gedacht war, so zu verändern, dass er mündlich vorgetragen werden kann.

Veränderung ist für mich hier tatsächlich das Schlüsselwort, denn nur durch beherzte Eingriffe und eigene Akzente lässt sich eine neue, in sich geschlossene Adaption erschaffen, die ohne Kenntnis der Vorlage bestehen kann.

Um diese These nun zu fundieren, habe ich mich für einen Dreiakter entschieden:

I. Akt: Exposition und Rahmenbedingungen

Nach dieser kurzen Einleitung werde ich zunächst ein paar Überlegungen zum Verhältnis von Roman und Drama anschließen, bevor wir dann ganz konkret am Beispiel Falladas sehen werden, wie sich die Dramatisierung von ihrer Inspirationsquelle unterscheidet.

Zugrunde liegt hier die Bühnenfassung von Jens Groß, die er als leitender Dramaturg des Maxim Gorki Theater erstellt hat. Inszeniert wurde sie dann von Jorinde Dröse, die Premiere war im September 2011.

Ich habe die Dramatisierung nicht unter theaterwissenschaftlichen, sondern unter literaturwissenschaftlichen Aspekten untersucht. Die Basis der Arbeit bildet daher ein Textvergleich, die Aufführung habe ich nur am Rande berücksichtigen können und möchte sie in diesem Vortrag vorerst vernachlässigen. Es könnte die Frage entstehen, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, den Text als Grundlage für eine Analyse zu nehmen. Schließlich ist er ja ein Zwischenprodukt, das doch ohnehin nur zur Aufführung bestimmt ist. Ich behaupte natürlich: ja, das ist gerechtfertigt und zwar aus mehreren Gründen.

Der erste und entscheidende: Jede Inszenierung ist bereits eine persönliche Interpretation des zugrunde liegenden Textes. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass zwischen dem Roman und der Inszenierung zwei Adaptionen stattfinden. So wie die Dramatisierung des Romans eine intertextuelle Adaption ist, vollzieht sich in der Inszenierung eine weitere, intermediale Adaption. Das wird besonders deutlich, wenn man mal zwei verschiedene Inszenierungen des gleichen Textes gesehen hat. Es gibt Kürzungen, Veränderungen und Umdeutungen, die manchmal völlig von der Vorlage abweichen. Daher wäre es aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht schlüssig, die Aufführung als Grundlage zu nehmen. Was die Vergleichbarkeit angeht, ist es zudem ohnehin naheliegender, zwei Texte zu analysieren als Werke verschiedener Medien.

Der zweite Grund ist die Publikation der Dramatisierung. Oftmals entstehen Dramatisierungen explizit für eine Inszenierung, manchmal gar auf die Schauspieler gemünzt. Doch durch die Publikation im Felix Bloch Erben Verlag kann sich jedes Theater die Version von Jens Groß bestellen, die Möglichkeit weiterer Inszenierungen besteht also.2

Der dritte Grund führt uns schon in den nächsten Akt: Damit eine Inszenierung auf einer dramatisierten Textvorlage aufbauen kann, muss diese ein eigenständiges Werk sein, das als Interpretationsbasis dienen kann.

Es gibt bekanntermaßen viele Regisseure, die eher mit Textflächen oder Prosa arbeiten. Wenn der Schritt zur dramatischen Fassung allerdings gemacht wird, dann nur deshalb, weil sie sich deutlich vom Roman unterscheiden soll. Wo also hört Roman auf und fängt Drama an?

II. Akt: Roman vs. Drama

Ich bin natürlich nicht der Erste, der sich mit dieser Frage beschäftigt und werde sie hier auch nicht beantworten können. Deshalb geht es an dieser Stelle nur um einen Punkt dieser Thematik, den ich für grundlegend halte: Die Erzählinstanz im Drama. Goethe und Schiller haben sich damals in ihrem kleinen Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung“ auch schon Gedanken dazu gemacht und dabei festgestellt, dass der Dramatiker die Handlung als vollkommen gegenwärtig darstellt, der Epiker hingegen als vollkommen vergangen.3 Diese These hält sich seither mit verschiedenen Variationen in Dramentheorien ziemlich konstant, manchmal wird die „Gegenwärtigkeit“ dabei zur „Unmittelbarkeit“.4

Fazit bleibt meistens, dass das Drama stets im „Modus der Darstellung steht“ und dass nicht „der Dichter selbst spricht“.5

Wenn das aber der Fall ist: was ist dann mit all den Nebentexten, Rollenangaben und Regieanweisungen? Gibt es nicht auch im Drama eine Erzählinstanz, die ordnet und gestaltet, die vor allem aber vermittelt?

Wenn wir uns etwa eine Passage wie diese anschauen:

Hexenküche
 
Auf einem niedrigen Herde steht ein großer Kessel über dem Feuer. In dem Dampfe, der davon in die Höhe steigt, zeigen sich verschiedene Gestalten. Eine Meerkatze sitzt bei dem Kessel und schäumt ihn, und sorgt dass er nicht überläuft. Der Meerkater mit den Jungen sitzt darneben und wärmt sich, Wände und Decke sind mit dem seltsamsten Hexenhausrat ausgeschmückt.6
 

Das könnte auch der Beginn einer Erzählung oder einer Fabel sein. Es handelt sich hier um einen extradiegetischen Erzähler, der uns die Hexenküche aus Goethes Faust beschreibt. Dieser Erzähler ist nicht personalisiert und damit nicht auf Figurenebene angesiedelt.

Ein Gegenbeispiel sei dieses hier:

Geräumige, überdachte Terrasse einer großbürgerlichen Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende zwischen Bonn und Bad Godesberg, früh an einem Spätsommermorgen, Blick aufs gegenüberliegende Rheinufer, wo man hinter Auwäldchen und Gebüsch größere Villen sieht. Erika Wubler sitzt im Morgenrock am Frühstückstisch, neben sich die Zeitung, in der Hand ein Manuskript, in dem sie liest, als Katharina mit dem Kaffee kommt. Katharina stellt die Kaffeekanne hin.
ERIKA WUBLER blickt auf: Danke. Kein Ei für mich. Was macht mein Mann? Ist er auf? 
KATHARINA RICHTER       Er sitzt in der Badewanne und trinkt Kaffee. Herr… Ich Mann meint, ich sollte für Sie das graue Jackenkleid aus dem Schrank nehmen, es noch einmal aufbügeln… Er meint, Sie könnten dazu Korallen tragen.7
 

Es ist der Beginn von Heinrich Bölls Frauen vor Flusslandschaft. Ein Roman in Dialogen mit klassisch dramatischer Struktur.

Ich zeige diese (natürlich extremen) Beispiele, weil sie deutlich machen, dass sowohl das Drama, als auch die Erzählung aus einer Mischung von vermittelnder Berichterstattung einerseits und direkter, unvermittelter Rede andererseits bestehen und dass diese Mischung variabel ist. Die Gattungstheorie orientiert sich an Prototypen, die entstanden sind, weil das Verhältnis von Erzählertext und Dialog klassischerweise verschieden gewichtet ist. Notwendig ist diese Gewichtung aber nicht und damit auch kein hinreichendes Unterscheidungskriterium. Schaut man sich die vielen hybriden Texte der Postdramatik an, wird dieser Eindruck bestätigt.

Es bleibt letztendlich dem Regisseur überlassen, wie er mit den mehr oder weniger langen erzählerischen Passagen im Dramentext umgeht. Es ist die Tatsache, dass sie meistens auf der Bühne nicht ausgesprochen werden, die den Eindruck erweckt, es gebe keinen Erzähler oder man könne ihn vernachlässigen. Daher noch ein letztes Beispiel, wie entscheidend er ins Drama eingreift:

Wenn wir ein Drama lesen, vertrauen wir der Erzählinstanz in der Regel sogar mehr, als den Figuren. Das sehen wir etwa an diesem Minidrama:

JEMAND: Warst du vor deinem Vortrag eigentlich aufgeregt?
STUDENT (lügt): Nee, eigentlich gar nicht…
JEMAND: Echt? Wow!
 

Es geht hier natürlich um den kleinen kursiven Einschub „lügt“. Deutlich wird: Die Figurenrede kann durchaus falsch sein, der Nebentext in Klammern ist dagegen eine Instanz, der wir automatisch vertrauen, nicht zuletzt, weil sie außerhalb des Geschehens steht.

Wir müssten uns also bei der szenischen Umsetzung darauf verlassen, dass die Lüge, von der wir als Leser ja erfahren, auch dem Zuschauer in irgendeiner Form vermittelt wird.

Da die direkte Rede der Figuren unverändert übernommen werden kann, ist die entscheidende Frage also: Wie werden die erzählerischen Passagen des Romantextes umgewandelt?

Die einfachste Form einer Dramatisierung wäre schon erfolgt, wenn man dem gesamten Text die Figurenzuweisung „Erzähler“ beifügen würde. So entstünde quasi ein dramatischer Monolog. Die Entsprechung für diese Veranstaltung wäre, wenn ich hier einfach meine Bachelorarbeit vorlesen würde.

Das mag nach einem Konstrukt klingen, doch auf der Suche nach einem geeigneten Stück für meine Bachelorarbeit begegnete mir genau diese Form der Dramatisierung in Falladas Der Trinker am Maxim Gorki Theater: Andreas Leupold und Samuel Finzi saßen den größten Teil des Abends auf der Bühnenkante und haben eine Strichfassung des Romans erzählt, ohne dass dabei bestimmte Rollen zugewiesen wurden. Nur in den Szenen des Alkoholrausches gab es ein wenig Bewegung auf der Bühne.

Anders war es dann bei der nächsten Fallada-Inszenierung. Für Jeder stirbt für sich allein wurde eine Dramatisierung angefertigt.

III. Akt: Die Fallada-Dramatisierung

Eine der großen Stärken von Falladas Roman ist die Nähe, die der Leser zu den Figuren aufbauen kann. Auf knapp 700 Seiten berichtet der Erzähler mit vielen Perspektivwechseln von Anna und Otto Quangel, die nach dem Tod ihres Sohnes eine eigene Form des Protestes gegen das Nazi-Regime suchen. Sie fangen an, aufrührerische Postkarten zu schreiben und sie in Berliner Treppenhäusern zu verteilen. Nach einigen Jahren werden sie dabei erwischt und bezahlen mit ihrem Leben, obwohl diese Karten nie jemanden erreichen und bekehren – bis auf den zuständigen Kommissar Escherich. Das ganze basiert auf einer wahren Geschichte.

Ich werde versuchen, die Methoden der Dramatisierung mit möglichst vielen Beispielen zu illustrieren und dabei erfolgreiche und missglückte Beispiele gleichermaßen zu nennen.

Bei der Analyse werde ich in Anlehnung an die formalistische Trennung zwischen histoire und discours unterscheiden zwischen den Änderungen auf Handlungsebene (das wäre zum Beispiel der Verzicht auf eine Information) und den Änderungen auf der Darstellungsebene (wenn die Information also beibehalten wird, die Darstellung sich aber ändert). Manchmal lassen sich Eingriffe natürlich nicht nur einer dieser Ebenen zuordnen, da Form und Inhalt letztendlich nicht voneinander zu lösen sind.

Rein formal kürzt Jens Groß den Roman, der aus 4 Teilen mit insgesamt 73 Kapiteln besteht, zu einem Drama aus drei Teilen und 31 Szenen plus einem Epilog. Der gesamte vierte Teil des Romans, der das Leben im Gefängnis und die Gerichtsverhandlungen beschreibt, wird im Drama übersprungen, nur die Todesumstände der Hauptrollen werden im Epilog zusammengefasst.

Abgesehen von dieser großen Kürzung verzichtet die Adaption auf einige kleinere Handlungsstränge. Es wird etwa nicht berichtet, wie die erste Karte ihren Weg zur Gestapo findet, der Kommissar hält sie gleich zu Beginn des zweiten Teils in den Händen.

Verzichtet wird auch auf bestimmte Figuren. Damit meine ich nicht die, die durch die Streichung von Handlungssträngen oder Szenen wegfallen (wie etwa der Schauspieler Max Harteisen, der die erste Karte findet). Es gibt auch Figuren, die wegfallen, obwohl die Szene erhalten blieb. Dies ist etwa in vielen Szenen, die im Kommissariat spielen, der Fall.

Gleichermaßen wird auf Orte verzichtet, an denen sich eine Handlung vollzieht. Es gibt beispielsweise ein Treffen einer geheimen kommunistischen Zelle, das im Rahmen einer Nazi-Feier stattfindet und dadurch besonders gefährlich wird. Im Drama findet das Treffen in einem anderen Kontext statt und verliert an Brisanz.

Zuletzt entfallen natürlich viele Hintergrundinformationen, Gedanken und Beschreibungen, das ist sicherlich die häufigste Form der Kürzung.

Hin und wieder werden auch verschiedene Kapitel zu einem montiert oder Aussagen eines Kapitels in verschiedene andere verteilt. Diese Art der Ausdünnung führt manchmal dazu, dass die Bedeutung sich verändert oder verloren geht, so etwa bei Kuno-Dieter. Von dem weiß der Leser und Zuschauer ungefähr genauso viel wie Sie jetzt gerade. Es ist der Sohn eines anderen Bewohners aus Quangels’ Haus, er flieht aufs Land und kommt bei Eva Kluge unter, die die Stadt verlassen hat.

Fallada beendet seinen Roman später mit ihm – mit einiger Moraldidaktik und Programmatik:

Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von neuem über Schmach und Elend und Tod triumphierenden Leben.8
 

Dies ist der Beginn des letzten Kapitels, das Kuno-Dieter als Hoffnungsträger darstellt.

Da der ganze letzte Teil wie erwähnt gestrichen ist, fehlt auch diese letzte Szene. Kuno-Dieter kommt zuvor zwei Mal vor, ohne dass klar ist, wer dieser Junge überhaupt ist. Seine Rolle als Hoffnungsträger oder Repräsentant der Folgegeneration hat er verloren. Seine Funktion im Drama bleibt unklar und geht gegen Null.

Gehen wir über zu den Änderungen auf Darstellungsebene, die meines Erachtens sowieso die spannendere und entscheidende ist.

Vergleichen wir den Beginn von Roman und Drama, so finden wir direkt ein Beispiel für die vorhin erklärte simpelste Form der Dramatisierung. Der Erzählertext wird einer Figur zugeordnet (Eva Kluge), die damit Erzählerfunktion bekommt. Der Text unterscheidet sich bis auf ein eingefügtes „nein!“ gar nicht. Im weiteren Verlauf der ersten Szene findet sich Rollentext, einmal vom Hausbewohner Persicke, einmal von Eva. Diese Rollen befinden sich nun auf der metadiegetischen Ebene. Das lässt sich unterscheiden, weil der Erzählertext kursiv gedruckt ist. Die Nebentexte sind zwar auch kursiv gedruckt, aber in einer anderen Schriftart. Damit gibt es drei Textarten: Kursive Nebentexte mit Handlungsanweisungen von der externen Erzählinstanz; Kursive Erzählertexte, die einer Figur zugeordnet sind und schließlich: die Rollentexte.

Im Spiel macht sich der Sprung zwischen den Erzählebenen dann durch einen Adressatenwechsel bemerkbar. Erzählertexte richten sich ans Publikum, Figurentexte an die anderen Figuren auf Spielebene.

Auf diese Weise kann die Postbotin ihren Weg durchs Haus beschreiben und alle Bewohner kurz vorstellen – eine klassische Exposition also. Auch im weiteren Verlauf des Dramas wird Eva Kluge immer wieder die Erzählerposition einnehmen und auch einige andere Figuren auf gleiche Weise. So etwa Hete Häberle, die sich um Evas Ex Enno kümmert.

Frau Hete beschließt, stark für zwei zu sein. Frau Hete beschließt, ihn vor allen von der Gestapo drohenden Gefahren zu behüten [...] Frau Hete beschließt, in dieses Leben da, das nun bei ihr liegt, Ordnung und Sauberkeit zu bringen.
Und Frau Hete hat keine Ahnung, dass dieser schwache Mann an ihrer Seite stark genug sein wird, Unordnung, Leid, Selbstvorwürfe, Tränen, Gefahr in ihr Leben zu bringen. Frau Hete hat keine Ahnung, dass all ihre Stärke zu nichts wurde im gleichen Augenblick, als sie beschloss, diesen Enno Kluge bei sich zu behalten.9
 

Im Drama endet dieser Text allerdings nach dem ersten Absatz und das nicht nur, um zu kürzen, denn im Roman mischt sich der allwissende Erzähler mit einer Vorausdeutung plötzlich in Hetes Gedanken ein – darauf verzichtet das Drama, wahrscheinlich um unfreiwillige Komik durch diese hellseherische Gabe zu vermeiden.

Erzählertexte können natürlich auch übernommen werden, ohne sie einer Figur zuzuweisen. Das geschieht zum Beispiel bei Szeneneinführungen. Der Romanauszug:

Kommissar Escherich, ein langer schlenkriger Mann mit einem losen, sandfarbenen Schnurrbart, in einem hellgrauen Anzug – alles an diesem Menschen war so farblos, dass man ihn gut für eine Ausgeburt des Aktenstaubes halten konnte –, also, Kommissar Escherich drehte die Karte zwischen den Händen hin und her.10
 

wird zu einem schlichten „Escherich drehte eine Karte zwischen seinen Händen hin und her“.11

Escherich hat die Karte in der Hand, auf die ausführliche Beschreibung wird sinnvollerweise verzichtet.

Es gibt noch eine weitere Umwandlungsmethode von Erzähltexten – leider eine, die häufig missglückt. So etwa, wenn der Inhalt durch die Veränderung nicht mehr glaubwürdig ist. Wo der Roman berichtet: „Nun steht er [Otto] ihr gegenüber; er hat die dünne Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und wartet auf das freudige Erglänzen ihres Gesichtes. Er liebt in seiner wortkargen, stillen, ganz unzärtlichen Art diese Frau sehr“12 findet sich in der Adaption die Aussage Ottos „Gleich wird sie vor Freude strahlen. Ich liebe diese Frau sehr“ (Fallada; Groß, S. 2), die so wenig zu seiner „wortkargen, stillen, ganz unzärtlichen Art“ passen will. Otto muss durch die Verbalisierung mit seinem eigentlichen Charakter brechen.

Werden Figuren aus dem Roman gestrichen, ohne dass die Szene gestrichen wird (wie vorhin beschrieben), bedeutet das nicht unbedingt, dass ihr Text mit ihnen verschwinden muss. So werden Texte manchmal anderen Figuren zugeordnet, die eine ähnliche Gesinnung haben oder, wie im Falle des Kommissars, wird aus einem Dialog einfach ein Monolog:

„Eine neue Platte“ meinte er dann. „Die habe ich noch nicht in meiner Sammlung. Schwere Hand, hat nicht viel geschrieben in seinem Leben, immer mit der Hand gearbeitet.“
„Ein Kapediste?“, fragte das Füchslein.
Der Kommissar Escherich kicherte: „Machen Sie doch keine Witze, Herr! So was und ein Kapediste! Sehen Sie, wenn wir eine richtige Polizei hätten und die Sache wäre es wert, so wäre der Schreiber da in vierundzwanzig Stunden hinter Schloss und Riegel.“
„Und wie würden Sie das machen?“
„Das ist doch ganz einfach! Ich ließe überall in Berlin recherchieren, wem in den letzten zwei, drei Wochen ein Sohn gefallen ist.“13
 

Die Dramatisierung bündelt diese Informationen folgendermaßen:

ESCHERICH           Schwere Hand, hat nicht viel geschrieben in seinem Leben, immer mit der Hand gearbeitet. Wenn wir eine richtige Polizei hätten und die Sache wäre es wert, so wäre der Schreiber da in vierundzwanzig Stunden hinter Schloss und Riegel. Ich ließe überall in Berlin recherchieren, wem in den letzten zwei, drei Wochen ein Sohn gefallen ist.14
 

Dieses Vorgehen birgt natürlich die Gefahr, einzig zur Informationsvermittlung zu dienen. Es ist nicht ganz klar, warum Escherich diesen langen Text vor sich hin monologisieren sollte. Es handelt sich ja um Rollentext, nicht um Erzählertext. Noch einmal sei hier betont: Natürlich betreffen diese Änderungen nicht nur die Darstellungsebene. Mir geht es hier aber vor allem darum, wie mit dem Text umgegangen wird, der im Drama behalten wird. Der Inhalt schien Jens Groß an dieser Stelle offenbar übertragenswert, der Kollege jedoch nicht, also stellt sich die Frage, was er daraus macht.

Als Verfasser einer Dramatisierung muss man sich natürlich nicht auf das Textmaterial beschränken, was man mit dem Roman vorfindet. Eine weitere Möglichkeit der Adaption ist es, andere oder eigene Texte einzubringen.

Eine gewaltige Jagd nach Enno Kluge, der eine Weile lang für den Schreiber der Karten gehalten wird, erspart sich das Drama durch die einfache Regieanweisung „Escherich findet Enno Kluge“.15 Eine sehr pragmatische Einfügung eines Nebentextes also, die das 31. und 32. Kapitel des Romans zusammenfasst. Missglückt ist hingegen dieses Beispiel eigener Texteinfügung:

Der Roman berichtet an einer Stelle vom Ehepaar Quangel: „Aber sosehr sie sich jetzt auch anschauten, sie hatten einander kein Wort zu sagen.“16 Daraus wird im Drama die Regieanweisung „Die Quangels still nebeneinander. Beide sehen in verschiedene Richtungen“.17

Der hilflose, beklemmende Blick wird hier durch demonstratives Abgewendetsein ersetzt – für mich ein deutlicher Verlust an Intensität.

Es gibt zwei Stellen, an denen Jens Groß sich entschieden hat, fremde Texte ins Spiel zu bringen. Einerseits fügt er beim Treffen der vorhin schon einmal erwähnten geheimen kommunistischen Zelle einen Teil aus Albert Ostermaiers Drama Aufstand ein. Dieses Drama basiert auf der Flugschrift Der kommende Aufstand des Comité Invisible ein. Jens Groß bedient sich in diesem Fall bei Ostermaier und unterstreicht damit die revolutionäre, aufrührerische Stimmung.

Die zweite, weitaus interessantere Stelle ist ein Absatz aus einer Hitler-Rede an die deutsche Reichsjugend. Sie stammt vom Nürnberger Parteitag 1934 und wird im Drama Baldur Persicke, den wir schon vom Anfang kennen, zugeschrieben:

BALDUR Ich möchte beinahe die beiden Kerle laufenlassen. Sie tun mir leid, Herr Kammergerichtsrat, es sind doch bloß kleine Kläffer.
Wir wollen ein Volk sein. Wir wollen, dass dieses Volk einst gehorsam ist und ihr müsst euch in diesem Gehorsam üben. Wir wollen, dass dieses Volk einst friedliebend und aber auch tapfer ist, und ihr müsst friedfertig sein und mutig zugleich. Wir wollen, dass dies Volk einst nicht verweichlicht wird, sondern dass es hart sein kann. Und ihr müsst euch in der Jugend dafür stählen. [...].18
 

Im Raum sind nur der betagte Kammergerichtsrat Fromm und Otto Quangel. Die können also eigentlich nicht als Adressat dieser Ausführungen gemeint sein. Zudem vollzieht sich hier natürlich ein Stilwechsel. Wenn man dann noch den Kontext bedenkt (Baldur wurde gerade bei einem Einbruch erwischt und wollte eigentlich im letzten Absatz noch die Verantwortung abgeben), wirkt dieser plötzliche Umschwung in der Haltung doch sehr befremdlich.  Die Unterstreichung der Nazi-Gesinnung Baldurs (ein anderer Grund für diesen Text ist mir zumindest nicht ersichtlich geworden), hätte man vielleicht auch subtiler gestalten können. Auch Jorinde Dröse hat in ihrer Inszenierung auf diesen Einschub verzichtet.

Ein letztes Beispiel zum Schluss. Ich habe gesagt, eigene Setzungen seien wichtig. Die ergeben sich einerseits ja daraus, für welche Episoden, Figuren und Texte man sich entscheidet. Auch die Hinzufügung einer Hitler-Rede kann man durchaus als eine persönliche Interpretation sehen. Ich könnte aber auch noch ein für meine Begriffe geglücktes Beispiel nennen: In der Einbruchsszene, die mit dem Hitler-Zitat endet, stehen zuvor schon Enno und sein Kumpane Emil in der Wohnung und wollen sie ausräumen. Währenddessen entdecken sie das Schnapsregal und kommen deshalb mit ihrem Beutezug nicht so wirklich voran. Jens Groß fügt hier geschlagene zwanzig Mal die Zeile „Prost Emil. Prost Enno.“19 ein und ironisiert die Szene damit sehr. Es entsteht ein eigener Schwerpunkt.

Dies sind natürlich nicht alle Methoden der Dramatisierung, doch gewisse Strategien lassen sich schon erkennen und ermöglichen das folgende Fazit.

Durch die Erhaltung eines heterodiegetischen Erzählers, der von verschiedenen Figuren übernommen wird, sichert sich die Dramatisierung die Möglichkeiten der Kommentierung, der Raffung, vor allem aber der Übertragung des ursprünglichen Erzählertextes.

Wenn man sich anschaut, was entstanden ist, als der Erzählertext in anderer Weise umgewandelt wurde, ist das wohl eine sehr gute Entscheidung.

Es ergibt sich daraus aber noch ein Nebeneffekt: Die Figuren, die die Erzähltexte sprechen, bleiben in ihrer Rolle erkennbar und damit ist der Erzähltext stets mit einer Figur verbunden. Auf diese Weise ist der Leser und Zuschauer näher an den Figuren.  Diese Nähe zu den Figuren erzeugt der Roman durch den intern fokalisierten Erzähler – Jens Groß hat dafür eine passende Entsprechung gefunden.

Während diese Umwandlung gut gelungen ist, macht die dramatische Version deutliche Abstriche bei der Gestaltung der Figuren. Die Charaktere wirken flach und konturlos, von den Persönlichkeiten wird wenig übertragen. Einige Figuren bleiben so blass, dass man sie vielleicht besser weggelassen hätte, wie das Beispiel von Kuno-Dieter gezeigt hat.

Es sind diese logischen Schwächen, die dazu führen, dass man der Handlung manchmal nicht folgen kann und die Fassung nur versteht, wenn man den Roman kennt. Die Dramatisierung wird kein eigenes Werk, sondern bleibt ihrer Vorlage verpflichtet. Dabei geht durch missglückte Umwandlungen an vielen Stellen die authentische Atmosphäre und die Persönlichkeit einiger Figuren verloren.

Eine Dramatisierung, die unbedingt dem Roman gerecht werden will, wird das nicht schaffen – sie wird doch gerade erstellt, um sich zu unterscheiden. Solange der dramatische Text nicht in sich schlüssig ist, solange er nicht ohne Kenntnis des Originals zu verstehen ist, kann er auch nicht als eigenständige Vorlage für eine Inszenierung dienen.

In diesem Sinne kann ich nur hoffen, dass ich mich mit diesen Ausführungen halbwegs von meiner wissenschaftlichen Arbeit emanzipieren konnte und eine Adaption erstellt habe, die ohne Kenntnis des Originals zu verstehen war.

  1. Goethe: Maximen und Reflexionen
  2. Dass geglückte Dramatisierungen anschließend von vielen anderen Theatern verwendet werden lässt sich etwa an John von Düffels Buddenbrooks-Adaption beobachten oder – noch aktueller – an der Robert Koalls Bühnenfassung von Tschick, die derzeit landauf, landab nachgespielt wird.
  3. vgl. Goethe, Johann Wolfgang; Schiller, Friedrich: Über epische und dramatische Dichtung. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Band 12. München: Beck, 1998, S. 249-251.
  4. vgl. Szóndi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt: 1963, hier S. 15.
  5. Pfister, Manfred: Das Drama. München: 2001, hier S. 23.
  6. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil
  7. Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft
  8. Fallada, Hans: Jeder stirbt für sich allein. Berlin: 2012, hier S. 662
  9. Fallada, S. 285
  10. Fallada, S. 211
  11. Fallada, Hans; Groß, Jens: Jeder stirbt für sich allein. Berlin: Felix Bloch Erben, 2011, hier S. 29
  12. Fallada, S. 12
  13. Fallada, S. 211 f.
  14. Fallada; Groß, S. 29
  15. Fallada; Groß, S. 43
  16. Fallada, S. 16
  17. Fallada; Groß, S. 3
  18. Fallada; Groß, S. 14
  19. Fallada; Groß, S. 11ff.

Quelle: http://schubladen.hypotheses.org/133

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