Wer hat die schönste … ?

Ein Plädoyer für die gewohnte Funktionalität einer digitalen Edition

Neulich hörte ich bei einem Workshop zu digitalen Editionen in der Wissenschaft, dass ihre beständig erforderliche Pflege vor allem in der Anpassung an die sich ständig verändernden Lesegewohnheiten der Leser bestünde. Das war keine zur Diskussion gestellte These, sondern klang eher nach einer allgemein akzeptierten Voraussetzung. Das regte mich auf, und auch manch anderer Teilnehmer murmelte etwas von begrenzten Drittmitteln ….

Wie soll ich das über Jahrzehnte gewährleisten? Wie soll ich der Flut von neuen “Devices” innerhalb wenige Jahre gerecht werden? Und will ich wirklich die Reihenfolge, Größe, Farbe und Anordnung der Buttons (darum ging es nämlich) dauernd “anpassen”? Gibt es denn nicht so etwas wie eine minimalistische Eleganz, gerade bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen?

Editionen haben nicht selten eine lange, komplizierte, von historischen Umbrüchen und wechselnden Herausgebern geprägte Geschichte. So dauerte die Herstellung vieler Editionen Jahrzehnte, die editorischen Prinzipien ihres Anfangs waren am Ende manchmal gar vergessen. Wenn sie aber fertig gestellt waren, freute sich die jeweilige Fachgemeinde, endlich eine gesicherte Überlieferung zu haben. Oft schwere Bände, Dünndruck, kaum Durchschuss, aber der Text, der war nun für den Forscher endlich adäquat greifbar. Er ging dann in die Bibliothek, ließ sich nicht ablenken, blind griff er nach dem Band, den er gerade brauchte, und wehe, die Bibliothekare hatten etwas umgestellt! So haben Editionen ihre eigene, nicht immer logische, aber lieb gewordene Anordnung.

Fast täglich lese ich in der digitalen Sammlung compactmemory, klicke blind durch, da die Finger schon selbst wissen, welche Zeitschrift wo ist, wo ich suchen, wie speichern kann. Und dann lese ich in den zusammengestellten Texten, und bin jedes Mal dankbar, dass es diese Zeitungen online gibt, da unsere judaistischen Bestände sonst so zerstreut sind.

Meine Edition der Universal-Kirchenzeitung hat auch ihre eigene Geschichte. Sie ist ein „Nebenprodukt“ eines 2007 vom Steinheim-Institut und DISS begonnenen Editionsprojektes, das vor allem Print-Ausgaben anstrebte. Die Texte, die zu umfangreich waren (wie die Universal-Kirchenzeitung), oder aus anderen Gründen für Print nicht geeignet schienen, sollten als Volltexte online präsentiert werden. Da man zunächst an Bücher dachte, übertrug man das analoge Prinzip der Konzentration auf die Darstellung der Texte auch auf die Onlineausgaben. Das uns so wichtige Kriterium der Langzeitarchivierung erleichterte die Entscheidung für das damals einzige dafür geeignete Format: PDF/A, und damit zusammenhängend, das URN-Verfahren der Deutschen Nationalbibliothek. Das Potenzial von Techniken wie Crossmedia  (oder noch besser: Single Source) Publishing hatte sich uns Geisteswissenschaftlern, die zunächst am Text interessiert waren, noch nicht erschlossen.

So war es 2007.

Die Edition der Universal Kirchenzeitung ist online, wird wahrgenommen und zitiert. Sie ist nicht besonders “schön”, und die damals gestaltete Webseite ist schlicht, dafür aber funktional, zuverlässig, stürzt nie ab und verlangte bisher nicht nach technischer Migration.

Was ist also zu tun?

Ich kann meine Edition nicht ständig verschönern, sie altert mit mir. Wir beide haben hoffentlich noch Interessantes zu sagen. Was für mich erstrebenswert ist, ist die Anpassung an technische Weiterentwicklungen. Für mich bedeutet das, nun endlich die Daten als TEI-Dokumente bereitzustellen, mit umfangreichen Metadaten und einer Schnittstelle wie etwa OAI-PMH (experimentell gibt es diese Schnittstelle schon im Zusammenhang mit dem DARIAH-DE Projekt).

So werden diejenigen, die Interesse, Zeit und Mittel haben, auf der Basis dieser Daten die Stylesheets immer wieder neu anpassen können.

Wer inhaltlich an dem ersten Versuch einer katholisch-protestantisch-jüdischen Zeitschrift  überhaupt interessiert ist, zum theologischen Diskurs des Vormärz forscht, wird mir die nicht mehr ganz moderne Oberfläche nachsehen.

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/100

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Noch einmal: Kritik der Verwaltungssprache um 1800

Zuletzt habe ich an dieser Stelle Klaus Margreiters HZ-Aufsatz zur Kritik der Aufklärung am Kanzleistil des Ancien Régime besprochen. Bei allem Lob habe ich angemerkt, dass die dort zitierte aktenkundliche Literatur nicht voll für dieses Thema ausgewertet wurde. Dazu jetzt mehr.

Beck (1997: 425-435) hat den Fall des neumärkischen Landrats v. Mülheim nachgezeichnet, der 1787 in seinen Berichten an die Kriegs- und Domänenkammer in Küstrin stillschweigend begann, die Kurialien fortzulassen, d. h. die auf den König gemünzte Anrede “Allerdurchlauchtigster großmächtiger König [...]” zu Beginn und
die Devotionsformel “Ich ersterbe [...]” zwischen Kontext und Unterschrift. Das wollte ihm die Kammer nicht durchgehen lassen, viel hatte sie aber nicht entgegenzusetzen, insbesondere nicht v. Mülheims Argument, wenn Friedrich der Große bei tatsächlich an ihn selbst gerichteten Immediatberichten auf die Kurialien verzichtet habe, könne eine Provinzialbehörde doch nicht darauf bestehen. Aber auch diese bestechende Logik half v. Mülheim nicht, weil die Sache durch eine Weisung des Generaldirektoriums zugunsten des Kurialienzwangs entschieden wurde.

Bemerkenswert sind die tieferen Überzeugungen hinter der beamtentypischen Formalargumentation des Landrats: Die altdeutschen Kurialien rühren an sein Stilempfinden. Sie seien pompös und geschmacklos. Ein Franzose schreibe seinen König einfach mit “Sire” an. Die aufgeklärte Verwaltungssprachkritik, die Margreiter behandelt, hat also bereits einen in der Lokalverwaltung tätigen märkischen Landadeligen erfasst. Dieser Landrat war entsprechend gebildet; gegenüber seinen Oberen in Küstrin führte er Homer, Melanchthon und hinduistische Gesetze ins Feld. Man müsste seine Sozialisation näher eruieren und als typisch oder atypisch für die Schicht kontextualisieren, aus der die untere Verwaltungsebene in Preußen zum Ende des 18. Jahrhunderts rekrutiert wurde. Dann könnten sich Aufschlüsse über die Breitenwirkung der Verwaltungssprachkritik ergeben.

Granier (1902) befasst sich mit dem 1800 trotz königlichen Wohlwollens gescheiterten Versuchung, die Kurialien in Preußen abzuschaffen oder wenigstens zu reduzieren. Die schroffe Ablehnung durch die Staatsminister (außer Hardenberg) ist in dem Kontext, in dem sie von Margreiter (2013: 678 f.) zitiert wird, nämlich hinsichtlich eines Glaubwürdigkeitsverlusts gegenüber den Untertanen, die gerade zu Staatsbürgern werden wollen, doch überzogen. Sie unterstricht aber, liest man die von Margreiter nur indirekt über Haß (1909) ausgewertete Miszelle ganz, eine andere Aussage (Margreiter 2013: 685): Das Kanzleizeremoniell wirkte sozialisierend und disziplinierend auf die Beamtenanwärter, gerade in revolutionärer Zeit:

Allerdings wird den schon gebildeten, fähigen, treuen Staatsdiener die Form des Styls, wenn sie heute verändert wird, nicht umwandeln [...]. Aber die Form wirkt in die ganze Zukunft hinein und trägt das ihrige bey zur Bildung künftiger Staatsdiener aller Classen.

Und da beim Beamtennachwuchs “ein ungewöhnlich starkes Maß von Selbstgefälligkeit, Eigendünkel, Anmaßungssucht und viele Keime zur Insubordination” festzustellen sein, müsse man zum einen diesen selbst Disziplin im Namen des Königs beibringen und sie zum anderen lehren, in dessen Namen zu sprechen, um “Würde und Ernst” zu gewinnen, so die Argumentation der Staatsminister (Granier 1902: 175) .

Wobei man hier allerdings auch einen aus konservativer Sicht vernünftigen Kern entdecken kann: Das umständliche Reskribieren im Namen des Landesherrn war im 17. Jahrhundert eine Innovation gewesen, um Verwaltungsakte zu legitimieren, die ohne dessen persönliche Beteiligung erlassen wurden – die “stellvertretenden Behördenverordnungen” waren entstanden (Haß 1909: 525; Meisner 1935: 35). Durch die Verwendung des Titels wurden die Beamten auf den Souverän verpflichtet und für ihre Handlungen in die Verantwortung genommen. Nur änderten sich die zugrunde liegenden politischen Vorstellungen in unserem Untersuchungszeitraum eben entscheidend.

Es bleibt noch zu erwähnen, dass erwartungsgemäß auch Hardenberg den von Margreiter heraus präparierten Diskurs der Verwaltungssprachkritik verinnerlicht hatte: Wieder begegnet der Topos der “barbarische[n] Schreibart ungebildeter Zeiten”. Die Umgangssprache habe sich weiterentwickelt, der “stilus curiae” sei stehengeblieben.

Margreiters Befunde werden also von dieser Seite her eindeutig bestätigt, wenn auch der aufklärerische Impetus gemischt ist mit dem profanen Überdruss  von Verwaltungspraktikern an umständlichen Formalitäten.

Literatur

Beck, Lorenz Friedrich 1997. Geschäftsverteilung, Bearbeitungsgänge und Aktenstilformen in der Kurmärkischen und in der Neumärkischen Kriegs- und Domänenkammer vor der Reform (1786-1806/08). In: Beck, Friedrich und Neitmann, Klaus, Hg. 1997. Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Lieselott Enders zum 70. Geburtstag. Weimar, S. 417–438.

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15, S. 168–180. (Online)

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521–575. (Online)

Margreiter, Klaus 2013. Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack. Verwaltungssprachkritik 1749-1839. Historische Zeitschrift 297, S. 657-688.

Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/151

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22. Etwas Gehaltvolleres – Geld

Es gibt eben manche Menschen, die sich im Leben das Ziel setzen, möglichst viel Geld zu machen. Wir stellen uns immer vor, sie tränken Cocktails in Wolkenkratzern. Aber vermutlich sind es Leute wie Sie und ich, die vielleicht gerade aus einem BWL Studium stolpern und den Fundus ihrer reichhaltigen Erfahrungen nun endlich mit Laptop und Bleistift bewaffnet ausnutzen wollen. Und wenn Sie ehrlich sind: Was spricht dagegen (außer ab und an die öffentliche Meinung)?

Aristoteles spricht dagegen. Sein Argument ist eigentlich ganz einfach: Er unterscheidet nämlich zwischen “Mitteln” und “Zielen”. Das können Sie in der Nikomachischen Ethik nachlesen. Geld ist seiner Meinung nach ganz klar ein Mittel. Denn man möchte Geld eben nur haben, um sich damit etwas kaufen zu können, oder um Sicherheit zu erlangen oder aber um einen höheren gesellschaftlichen Status zu bekommen. Geld ist also immer nur dazu da, um etwas anderes erlangen zu können und deshalb immer nur Mittel. Wer sich jetzt das Ziel setzt, möglichst viel Geld machen zu wollen, begeht den einfachen Fehler Mittel und Ziel miteinander zu verwechseln. Das Leben, das zum Ziel hat, möglichst viel Geld zu machen, ist eben ein Leben, das einen irgendwie fehlerhaften Gedankengang beinhaltet.

Und mit so etwas beschäftige ich mich, anstatt mein zweites Kapitel zuende zu schreiben. Ich sollte auch mal über andere Mittel-Ziel-Konstallationen nachdenken. Ziel: Diss beenden, Mittel: daran arbeiten.

Wenn Sie erfahren möchten, was Platon zu Reichtum und Geld sagt, kann ich Ihnen folgendes Buch empfehlen, das sich ausführlich damit beschäftigt: Schriefl, Anna (2013): Platons Kritik an Geld und Reichtum

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/255

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Denn wenn et Trömmelche jeiht…

dann stonn mer all parat. Davon zeugen gerade in der Zeit vor den närrischen Tagen zahlreiche Plakate, die Prunksitzungen, After-Zoch-Partys und von Vereinen organisierte Feiern in Festzelten oder -hallen bewerben. Ab dem 12. Februar 1711 kursierten in Regensburg derartige Aushänge. Die Drucke luden zu einer allgemeine Masquerade ein.

Auf gnaedigstes Begehren verschiedener hoher Gesandtschafften und vornehmen Stands-Persohnen sollte diese  am Rosenmontag und Faschingsdienstag, ab 6 Uhr abends, stattfinden, in einem der prominentesten städtischen Gebäude, der Neuen Waag. Zum Eintrittspreis von einem Gulden wurde den Gästen Tantzen / Spielen auch ander honnêten Divertissements geboten, Speisen und Getränke nicht inklusive, [w]er aber hernachmahls kalt Essen / Wein / Limonade oder andre gleichen Liqueurs und Getraenke verlangt / soll zwar auch damit nach Moeglichkeit bedinet werden / bezahlt es aber um billigen Preiß à parte. 

Es bestand Kostümzwang, [m]it dem eintzigen Unterscheid / was von hohen Stands=PErsohnen sich etwan nicht masquiren wollte / daß dieselbe auch unverkleidet dabey erscheinen können. Moenchens=Ordens= oder andere geistliche Habits / von was Religion dieselbige seyn moegen / vielweniger unehrbahre /scandaleuse Masquen, noch auch diejenigen / so mit Degen / Pistolen oder andern Gewehr versehen seyn sollten, waren allerdings nicht zugelassen.

Ob die Frankfurter Gesandten, die diese Ankündigung mit ihren Berichten an den Rat der Stadt übersandten, am Regensburger Karnevalstrubel teilgenommen haben, ist nicht überliefert. Dass sie den Druck überhaupt ihrer Post beilegten, zeugt davon, dass es ihnen wichtig war, ihren Stadtoberen einen Eindruck vom (gesellschaftlichen) Leben in Regensburg zu vermitteln – ob als Rechtfertigung ihres dortigen Verhaltens, als Vergleichsschablone für das städtische Leben und Reglement einer anderen Reichsstadt oder als umfassende Information über alle Belange des Reichstags als politischem Zentrum des Reichs (und Europas) muss dahingestellt bleiben.

 

 

 

 

Quelle: http://smdr.hypotheses.org/140

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Guarneri-Violine in Speyerer Besitz

Pressegespräch in Nürnberg, 31. Januar – Eine Violine sucht einen Erben

036247-Gilgenstr1-Hildesheimer-wohl 1930erFelix Hildesheimer, Besitzer der alteingesessenen jüdischen Musikalienhandlung im Eckanwesen Gilgenstraße 1, erwarb das 1706 gebaute Instrument im Frühjahr 1938. August 1939 nahm er sich auf der Bahnstrecke Speyer – Schifferstadt das Leben. Seine beiden Töchter Martha und Elisabeth hatten 1937/38 noch nach den USA bzw. Australien auswandern können, ihm und seiner Frau gelang es nicht mehr: Helene Hildesheimer, geb. Simon, 1940 nach Gurs deportiert, kann 1941 über Marseille dem NS-Regime nach den USA entkommen. Seit 1938 sind jegliche Besitzwechsel der Violine unbekannt, bis sie 1974 völlig legal von Sophie Hagermann erworben wird. Nach ihrem Tod geht das Instrument in den Besitz der von ihr gegründeten Franz Hoffmann und Sophie Hagemann-Stiftung über. Letztere möchte die noch stark restaurierungsbedürftige Guarneri Studierenden der Musikhochschule Nürnberg zur Verfügung stellen, zuvor jedoch müssen eventuelle Restitutionsansprüche geklärt werden. Bisher gelang keine Kontaktaufnahme mit Nachkommen der Familie Hildesheimer.

Weiterführende Artikel unter:

http://www.restauro.de/blog/wir-moechten-aufklaerung.html

http://www.nordbayern.de/region/in-nurnberg-provenienz-krimi-um-eine-geige-1.3429541

http://www.focus.de/kultur/diverses/kunst-raubkunstverdacht-geige-sucht-ex-eigentuemer_id_3584167.html

Quelle: http://speyermemo.hypotheses.org/1483

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Zur Verwaltungssprache der frühen Neuzeit (Literaturanzeige)

Klaus Margreiter, Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack: Verwaltungssprachkritik 1749-1839, Historische Zeitschrift 297 (2013) S. 657-688. (Abstract)

Am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer gibt es ein Forschungsprojekt mit dem Titel: “Geschichte der europäischen Verwaltungssprachen und ihrer Reformen, 1750-2000“. Aus diesem weiten Feld hat die HZ jetzt ein sehr konkretes und beachtenswertes Ergebnis veröffentlicht. Dass es ein verwaltungsgeschichtlicher Aufsatz in die HZ schafft, ist bemerkenswert genug. Margreiter schreibt brillant und liefert auch der Aktenkunde viel Bedenkenswertes aus einer originellen Perspektive.

Es geht um die “Verwaltungssprache [als] Abbild der Organisationskultur der Behörden, ihrer Werte und der Einstellungen der Angehörigen” (660). Der Einsatz dieser Fachsprache als Teil des Kanzleizeremoniells war ein Element, das die Verwaltungspraxis gegen Veränderungen stabilisierte. Auch durch gewollte Unverständlichkeit war sie ein Mittel zur symbolischen Vergegenwärtigung arkaner monarchischer Macht.

Im späten 18. Jahrhundert wollte die entstehende Bürgergesellschaft das nicht mehr hinnehmen. Margreiter beschreibt die bürgerlich-aufgeklärte Kritik am Kanzleistil überzeugend als Kampf um die kulturelle Hegemonie gegen die “Beamten als kryptisch säuselnde Priester der Herrschaft” (667), die tragenden Säulen der vormodernen Herrschaftsformen. Vorgebracht wurde eine ästhetisch ausgerichtete Kritik, die von einer intellektuellen Elite ausging, in abgeschwächter Form allerdings auch von den Autoren praktischer Lehrbücher des Kanzleistils (also von Insidern) aufgenommen wurde. Sich richtete sich im Einzelnen gegen

  • das unharmonische, oft aus Formularbüchern zusammengewürfelte und mit Fachbegriffen und umgangssprachlich überholten Ausdrücken durchsetzte Sprachbild,
  • die Neigung der Beamten zu Pleonasmen und verschachtelten Perioden,
  • die üblichen, als kriecherisch empfundenen Ergebenheitsbekundungen (Kurialien) und Titelhuberei im amtlichen Schriftverkehr.

Die Sprachreformer wollten der Obrigkeit auch auf dem Papier aufrecht gegenüberstehen und im Übrigen ohne Anstrengungen verstehen können, was Ihnen das Amt da schrieb. Was nicht nur verständlich, sondern auch immer noch aktuell sein mag.

Sicher hatte die Verwaltung auch ideologische Gründe zur Reformunlust. Die Arkansphäre wollte man sich bewahren. Margreiter präpariert aber säuberlich auch die systemimmanenten, unideologischen Motive heraus: Die Verwaltungssprache muss gerichtsfest sein. Deshalb ging man ungern von bewährten Formeln ab. Abgesehen davon sparte der Gebrauch von Formularbüchern Zeit und Mühe. Die Übernahme des Sprachgebrauchs durch Verwaltungsanwärter stellte (und stellt) außerdem eine wichtige Etappe ihrer Sozialisation dar und prägt den Korpsgeist der Beamtenschaft. – Soweit Margreiter.

Mit Formelbüchern, Kurialien und Titeln sind wir mitten im Gebiet der Analytischen Aktenkunde, die sich mit den inneren Merkmalen neuzeitlicher Schreiben befasst. Die aufgeklärte Sprachkritik zählt (neben äußeren Faktoren wie der Innovationskraft der napoleonischen Verwaltung) zu den Triebkräften hinter der Bereinigung des Kanzleizeremoniells zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die Aktenkundler als Entstehung des “Neuen Stils” bekannt ist. Die Geschichte der Verwaltungssprache dient der Aktenkunde darum wie die ganze Verwaltungsgeschichte als Hilfsdisziplin.

Umgekehrt könnte sich die Aktenkunde in die Erforschung der Verwaltungssprache produktiv einbringen. Margreiter hat auch aktenkundliche Arbeiten rezipiert, aber eher punktuell. Auf S. 678 entgeht dem Leser die Pointe der gescheiterten preußischen Reform von 1800: Nicht nur, dass Hardenberg Kernargumente der Sprachreformer explizit teilte – auch Friedrich Wilhelm III. zeigte sich aufgeschlossen. Wenn aber selbst der König keinen Autoritätsverlust durch die Abschaffung alter Zöpfe fürchtete, erscheint die Ablehnung durch die Mehrzahl der obersten Beamten doch wieder als “hysterische Überreaktion”. (Margreiter zitiert in Anm. 76 nur Haß 1909, übrigens mit falschen bibliographischen Daten; der locus classicus wäre Granier 1902).

Fruchtbringend könnte es sein, Reformeifer und -unlust gesondert für einzelne Sphären der Verwaltungsschriftlichkeit zu untersuchen. Die Kritik der Sprachreformer richtete sich in erster Linie natürlich auf die Korrespondenz zwischen der Obrigkeit und den Untertanen. Man könnte sich auch fragen, ob die Obrigkeit in dem Maße auf den Kurialien bestand, wie die Untertanen dies antizipierten. Auch das ist ein epochenübergreifendes Phänomen: Ich erhielt einmal einen Archivanfrage von einem Doktoranden unserer Tage, der ohne jede Spur von Ironie mit den Worten schloss: “In der Hoffnung, mit meinem Ansinnen keine Fehlbitte zu tun, bin ich mit vorzüglicher Hochachtung Ihr …” (Der Devotionsstrich fehlte, da per E-Mail suppliziert wurde.)

Man würde wohl sehen, dass Kurialien und Titel von der Verwaltung selbst und insbesondere im innerdienstlichen Schriftverkehr als Problem betrachtet wurden, da der Popanz die Aufgabenerledigung verzögerte (dazu u. a. Polley 1994, zit. in Anm. 62). Reformeifer speiste sich nicht allein aus dem Eindringen ideologischer Elemente des bürgerlichen Zeitalters in die Beamtenschaft, die in das Gewand der Sprachreform gehüllt waren, sondern auch aus pragmatischen Motiven.

Nun war dies nicht Margreiters Thema. Er behält konsequent den Blickwinkel eben dieser Sprachreformer bei und kommt damit zu einem erhellenden und anschlussfähigen Ergebnis. Auf weitere Beiträge dieser Art aus dem Speyerer Forschungsprojekt bleibt zu hoffen!

Literatur

Granier, Hermann 1902. Ein Reformversuch des preußischen Kanzleistils im Jahre 1800. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 15, S. 168–180. (Online)

Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521–575. (Online)

Polley, Rainer 1994. Standard und Reform des deutschen Kanzleistils im frühen 19. Jahrhundert: Eine Fallstudie. Archiv für Diplomatik 40, S. 335-357.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/147

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19. Platon über das Internet

Wenn Philosophen meinen, etwas Aktuelles zu einer gesellschaftlichen Diskussion beigetragen zu haben, bestätigt sich jedes Mal Einsteins Relativitätstheorie aufs Neue. Denn scheinbar vergeht philosophische Zeit anders als die common sense Weltzeit – was sicherlich etwas mit Masse oder Trägheit zu tun hat (deshalb haben Philosophen übrigens häufig Bärte, weil sie meinen, sich “einmal am Tag” rasiert zu haben). Tatsächlich sind machmal auch Zeitsprünge möglich, wissen Sie? So habe ich zu meinem Erstaunen einen Abschnitt in Platons Dialog Phaidros gefunden (- der auch etwas über die Liebe sagt, falls Sie gerade Liebeskummer haben sollten -), das mich zum Nachdenken gebracht hat. Platon lässt dort nämlich Sokrates etwas über das Internet sagen. Da die alten Griechen noch kein flächendeckendes Internet hatten, nutzten sie den Hilfsbegriff “gramma” (γράμμα) dafür und nicht das lateinisch-englische “Internet”. Wirklich. Und bevor Sie denken, ich würde Sie aufs Korn nehmen wollen, schauen Sie in den Text. Ich zitiere Phaidros ~ 274c-275c:

Sokrates [sagt zu Phaidros]: Ich habe also vernommen, zu Naukratis in Ägypten sei einer der dortigen alten Götter gewesen, dem auch der heilige Vogel, den sie ja Ibis nennen, eignete; der Dämon selbst aber habe den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Mathematik und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar auch das Internet. Weiter aber, da damals über ganz Ägypten Thamus König war in der großen Stadt des oberen Bezirks, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, wie sie den dortigen Gott Ammon nennen, – so kam der Theuth zu diesem und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe? Indem er’s nun auseinandersetzte, so wußte er, wie ihm jener etwas gut oder nicht gut zu sagen dünkte, es bald zu tadeln, bald zu loben. Vieles nun soll da Thamus dem Theuth über jede Kunst in beiderlei Richtung frei heraus gesagt haben, was durchzugehen viele Worte fordern würde.

Als er aber beim Internet war, sagte der Theuth: »Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen; denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist es erfunden.« Er aber erwiderte: »O du sehr kunstreicher Theuth! Ein anderer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, welchen Teil Schaden sowohl als Nutzen es denen bringe, die es gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater des Internets, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was seine Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die es kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Erinnerns, sofern sie nun im Vertrauen auf das Internet von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen.

Nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn Vielhörer sind sie dir nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise.«

Phaidros 274c-275c [übersetzt von Georgii, aufrufbar unter: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Platon/Phaidros. Georgii übersetzt gramma leider fälschlicherweise mit "Buchstabe"].

Verlieren wir etwa tatsächlich mehr, als wir gewinnen?

- Lassen Sie mich kurz nachdenken -

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/236

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Wie Adenauer einmal nicht gestört werden wollte

Konrad Adenauer wird von Zeitgenossen als geduldiger Zuhörer geschildert, solange es konzentriert um die Sache ging. “Eins aber haßte der Kanzler, nämlich Palaver” (Richard Stücklen in Schwarz 1991: 22).

Jede gute Vorzimmerkraft hat Mittel und Wege, den Chef aus endlosen Gesprächen zu befreien. Anneliese Poppinga, seit 1958 Adenauers Sekretärin, reichte ihm Nachrichten wie die folgende herein, die vor einigen Jahren in den Autographenhandel kam. Die Frankfurter Allgemeine berichtete seinerzeit über dieses Stück.

Anneliese Poppinga an Konrad Adenauer, um 1960

Notiz für Konrad Adenauer, um 1960

Was ist das – aktenkundlich gesehen? Innerdienstlicher Schriftverkehr des Palais Schaumburg, zweifellos. Solcher Schriftverkehr begegnet in zwei Stilformen (vgl. Meisner 1969: 194; Kloosterhuis 1999: 469):

  1. Als innerdienstliche Verkehrsschriftstücke, die sich an den Formen der an externe Empfänger gerichteten Schreiben orientieren,
  2. als Aufzeichnungen, die von der Form her eigentlich immobile Aktenvermerke sind, aber von der Funktion her als Verkehrsschriftstücke dienen; der Aktenvermerk bekommt Beine.

Die persönliche Anrede im vorliegenden Stück verweist eindeutig auf ein innerdienstliches Verkehrsschriftstück. In einer Aufzeichnung würde an ihre Stelle eine entsprechende Überschrift treten, und unter dem Text würde ein Vorlagevermerk in der damals noch üblichen Art stehen:

Hiermit
Herrn Bundeskanzler
ergebenst vorgelegt.

Und da hier von der Sekretärin an den Kanzler, also von “unten” nach “oben”, über einen Sachverhalt, nämlich die verflossene Zeit, berichtet wird, müsste es sich nach der klassischen aktenkundlichen Lehre um einen innerdienstlichen Bericht mit einer (impliziten) Bitte um Weisung handeln. Die Weisung, ihn nicht zu stören, hat Adenauer dann unmittelbar aufgesetzt.

An sich wurde und wird in der Ministerialbürokratie für diesen Kommunikationsweg die alternative Form der Aufzeichnung benutzt, die heute, in gewandelter Form, als Leitungsvorlage bezeichnet wird (vgl. meinen Artikel vom 29. August 2014). Für die Kommunikation zwischen Chef und Vorzimmer wäre dieses bürokratische Vehikel aber völlig überzogen.

Dann heißt es in der FAZ aber, der Text stünde auf einem Briefbogen des Bundeskanzlers. (Es ist nicht ersichtlich, wie der Ausschnitt der Abbildung gewählt wurde, und welcher Adressblock mit “Bonn am Rhein” sich da im rechten Viertel durchdrückt.) Ein Kopfbogen würde natürlich zu keiner Form innerdienstlichen Schriftverkehrs passen, selbst wenn man die persönliche Bezeichnung “Der Bundeskanzler” zugleich als Behördenbezeichnung nimmt, wie es bei den meisten Bundesministerien ja bis in die Neunzigerjahre offiziell der Fall war.

An diesem Punkt der Untersuchung muss sich die Aktenkunde die Sinnfrage gefallen lassen. Wir befinden uns außerhalb der Zone bürokratischer Standardisierung der Schriftlichkeit, von der die Systematische Aktenkunde, die ein Schriftstück nach Form und Funktion bestimmen soll, ausgeht (Beck 2000: 68). Die klassische Lehre scheint mir doch stark von normiert arbeitender Verwaltung im engeren Sinne geprägt zu sein. Im Umfeld der politischen Entscheidungsträger spielt die Form der produzierten Schriftstücke eine weit geringere Rolle.

Die Verfasserin hätte ihre kurze Nachricht, die sie dem Bundeskanzler verdeckt in einer Laufmape gebracht haben wird, im Grunde auch auf ein Formular für “Büronotizen” schreiben können – so würden Verwaltungspraktiker das Stück ansprechen.

Aktenkundlich reflektiert ist dieser Begriff nicht. Ein zu hohes Niveau begrifflicher Abstraktion leistet der Rezeption der Aktenkunde durch im Archiv arbeitende Historiker meiner Meinung nach aber einen Bärendienst.

Ich danke Dr. Peter Wiegand, Hauptstaatsarchiv Dresden, für den Hinweis auf dieses Stück und Frau Antje Winter, Stadtarchiv Troisdorf, für Informationen zum Gebrauch in Adenauers Büro.

Literatur

Beck, Lorenz Friedrich 2000. Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut. In: Brübach, Nils, Hg. 2000. Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 33. Marburg. S. 67–79.
Kloosterhuis, Jürgen 1999. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. In: Archiv für Diplomatik 45, S. 465–563 (Preprint).
Meisner, Heinrich Otto 1969. Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918. Leipzig.
Schwarz, Hans-Peter, Hg. 1991. Konrad Adenauers Regierungsstil. Rhöndorfer Gespräche 11. Bonn.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/132

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18. Eine Gefahr für die Philosophie?

Ich formuliere mal einen Gedanken, der wie so vieles nur teilweise zuende gedacht ist. Er bezieht sich auf eine Gefahr für die Philosophie oder besser für das Philosophieren, die sich mit dem stillen theoretischen und solitären Arbeiten einstellen könnte, wenn man nicht Acht gibt. Vielleicht einstellen könnte, muss ich sagen, wenn ich konsistent bleiben möchte.

Wissenschaftliche Probleme könnten sich von der eigenen Erfahrung ablösen und ein sekundärwissenschaftliches Eigenleben entwickeln. Die Sache mit der Erfahrung ist natürlich, je nach dem, wie ich diese verstehe, angreifbar. Was soll denn schon metaphysische Erfahrung bedeuten (außerhalb des Yoga-Vereins)? Was ich damit meine ist aber etwas anderes: Es ist nicht die subjektive Akkumulation von Konstanten der Funktion der Welt, sondern die intensive Prüfung von Theorien durch die eigene Vernunft. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Aristoteles’ Ethik behandelt die Charaktere der Akteure und ihre Tugenden. Ethische Tugenden sind Mitten zwischen zwei Extremen. – Jetzt können wir uns darüber unterhalten, wie eine Mitte genau definiert sein könnte. Wir könnten Artikel darüber schreiben und Positionen vertreten, was der ursprängliche Text genau sagen möchte. Diese Arbeit ist wichtig und schön, keine Frage. Aber wenn damit nicht auch die Einkehr in sich selbst einhergeht, sondern „Charakter“, „Mitte“ oder „Form“ zu bloß formalen Begriffen werden, mit denen man so hantieren kann, wie mit einer beliebigen Variable, dann könnte doch etwas fehlen, oder? Vielleicht ist das der Unterscheid zwischen “Wissen” und “Nachvollziehen” oder “Durchdringen”. Wenn ich „weiß“, dass die Seele für Platon drei Teile hat, dann bestehe ich sicher die kommende Prüfung. Wenn ich seine Argumente aber versuche intensiv nachzuvollziehen oder zu durchdringen, dann könnte ich das formale Wissen zugunsten einer Überzeugung aufgeben. Platon hat nicht nur deshalb recht oder unrecht, weil seine Drei-Seelenteile-Position derjenigen im Theaitetos wiederspricht. Sondern auch, weil ich Schwierigkeiten habe, mir die Seele als rein körperlichen und willenlosen Hunger vorzustellen. Das formale Wissen, könnte man argumetieren, reiche aus, um sich über verschiedenste Probleme zu unterhalten, sei aber nicht vollständig.

Naja, das klingt alles nicht nur unausgereift, sondern auch merkwürdig, wenn ich es noch eimal lese. Aber irgendwie scheint mir doch etwas wahres dabei zu sein, im Unterschied zwischen formalem und echtem Wissen. – Was ist eigentlich Bewegung? Raum durch Zeit? Oder was Aristoteles in seiner Physik schreibt?

Ich habe auch die Befürchtung, dass das, was ich sage, sich so anhört, wie die theurgische Phantasterei, die Fowden beschreibt. Schauen Sie doch einmal selbst nach und sagen mir Ihre Meinung: Fowden, Garth (1982): The Pagan Holy man in Late Antiquity Society. In: The Journal of Hellenic Studies 102, S. 33–59.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/231

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Smartphone-Web-App »Orte jüdischer Geschichte«

smartphone-app-orte-juedischer-geschichte-01Eine Gedenktafel für die 1938 zerstörte Synagoge, an deren einstigen Standort das Stadtbild längst nicht mehr erinnert, der alte jüdische Friedhof, unscheinbar und versteckt gelegen, ein ehemaliges ›KZ-Außenlager‹ mitten in der City – nur zu leicht läuft man, unwissend bleibend, daran vorbei. Das wäre es doch: Irgendwo aus dem Zug steigen, das Smartphone anschalten, und nachsehen: was gab es (und gibt es vielleicht noch) hier zur deutsch-jüdischen Geschichte? Das war meine Idee für die hier nun vorgestellte Web-App.

Doch woher die Daten nehmen? Wikipedia natürlich, die naheliegende (und für den digitalen Stand der Humanities vielleicht auch vielsagende) Antwort.

Iteriert man in der Wikipedia rekursiv über die Artikel, die dem Kategorienbaum Judentum in Deutschland angehören, so erhält man etliche Tausend Seiten als Ergebnis. Circa 1.500 davon sind georeferenziert. Die Smartphone-WebApp Orte jüdischer Geschichte1 erschließt und gruppiert diese mit Ortskoordinaten versehenen Wikipedia-Artikel zur deutsch-jüdischen Geschichte und zeigt sie (als Vorschau und mit Entfernungsangabe) im Umkreis eines gegebenen Ausgangspunktes an. Dieser »Point of View« lässt sich hier auf verschiedenen Wegen bestimmen. Der einfachste: Man startet die App im Browser des Smartphones, das ja die momentane geografische Position ermitteln kann (eventuell fragt der Browser nach, ob die Positionsbestimmung erlaubt wird). Alternativ lassen sich auch direkt Koordinaten eingeben. Besonders interessant aber wird es, wenn wir den praktischen DARIAH-DE-Service Getty Thesaurus of Geographic Names nutzen. Man gibt einen Ortsnamen ein, darauf wird dieser Dienst abgefragt und erlaubt, den von uns gemeinten Ort auszuwählen: Ein Klick (oder besser »Touch«) in die zurückgesendete Liste versetzt uns an einen beliebigen Ort, dessen Name bekannt ist, und lässt uns die Situation »vor Ort« erforschen.

Erfreulicherweise ist aber auch die Integration weiterer Datenquellen in Vorbereitung. Im Zusammenhang mit Projekten des Steinheim-Instituts ist das mit der Datenbank zur jüdischen Grabsteinepigraphik »epidat« (steinheim-institut.de) schon gelungen. Gespräche finden zudem statt im Rahmen des Netzwerks deutsch-jüdische Geschichte Nordrhein-Westfalen und Potenzial für Zusammenarbeit haben auch Angebote wie Stolpersteindatenbanken oder Webseiten wie »Orte jüdischer Geschichte und Gegenwart in Hamburg« (gis.hcu-hamburg.de). Ich selbst habe begonnen, einen Datensatz zu den NS-Bücherverbrennungen 1933 mit ihren brutalen antijüdischen Ausfällen zusammenzustellen.

Ebenfalls in Vorbereitung ist der naheliegende Zugang über eine Kartenvisualisierung. Entsprechend der ursprünglichen Idee ist die Anwendung für mobile Geräte konzipiert, sie funktioniert aber in jedem Webbrowser. Und tritt man einen Schritt zurück, zeichnet sich ja vielleicht eine generische Applikation ab, die für beliebige Wikipedia-Kategorien, etwa Kunst in Deutschland mit georeferenzierten Inhalten zu Kunst im öffentlichen Raum, Denkmalen, Skulpturen etc. funktionierte – oder darf es lieber Industriekultur oder Archäologischer Fundplatz sein?

Es gibt hier also etliche Aspekte, die demnächst eine genauere Betrachtung verdienen: Wikipedia und die Wissenschaft, das Potenzial generischer Schnittstellen, die zu (hoffentlich kreativer) Programmierung einladen, die jüngst angekündigte Linked-Open-Data-Zukunft der Getty Vocabularies (»Vocabularies as LOD«, getty.edu), die der App zugrunde liegende XML-Technik, die Frage nach dem geeigneten Datenmodell für weitere Datensätze, die infrastrukturellen Rahmenbedingungen, unter denen ein solches Angebot nachhaltig gedeihen kann, schließlich mobile first als vielleicht ein wenig provokante, aber wie mir scheint auch zeitgemäße Devise für Digital-Humanities-Anwendungen.

app-juedische-orte.de.dariah.euVielleicht ist es ja nicht nur mein Eindruck, dass eine solche Software eine neue, andere Perspektive auf verfügbare Daten erlaubt, die nicht nur aus fachlicher Sicht durchaus überraschen kann. Der schon recht zuverlässig funktionierende Prototyp hat gleichwohl noch unübersehbare Ecken und Kanten – über Feedback würde ich mich deshalb sehr freuen. Die App ist im Begriff, sich in die DARIAH-DE-Infrastruktur einzugliedern und ist erreichbar über die URL app-juedische-orte.de.dariah.eu/ sowie über den nebenstehenden QR-Code. Nur zu, Probieren geht über Studieren!

  1. Die Benennung gehört zu den anspruchsvolleren Aspekten des Projekts, und will zufriedenstellend nicht gelingen, geht es doch, je nach Sujet, hier vielleicht eher um »Kultur«, da eher um »deutsch«, dort um »deutsch-jüdisch«, um »mit«, um »gegen« … ein Smartphone-Display ist damit hoffnungslos überfordert.

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/36

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