Li Hongzhang in New York: Meeting the “The Yellow Kid” (1896)

Li Hongzhang 李鴻章  (1823-1901), einer der bedeutensten Staatsmänner der späten Qing-Zeit, nahm 1896 an der Krönung von Zar Nikolaus II. teil und reiste dann durch mehrere europäische Staaten – unter anderem besuchte er Bismarck in Friedrichsruh – und in die USA. Alle Phasen dieser Reise wurde von den Medien genauestens beobachtet, jeder Schritt des Gastes aus China wurde ausführlich beschrieben, manche sonderbar wirkenden Elemente dem Publikum erläutert. Die Zeitungen waren voll mit Berichten und Analysen; und auch in satirischen Blättern und Comic Strips taucht der Besuch aus China immer wieder auf. Auf 井底之蛙 erinnert Alan Baumler in dem Beitrag Yellow Kid an einen Comic von Richard F. Outcault (1863-1928) aus dem Jahr 1896.

Li Hung-Chang Visits Hogan's Alley

Li Hung Chang Visits Hogan’s Alley (6.9.1896)  [Quelle: SFCGA - San Francisco Academy of Comic Art Collection, The Ohio State University Billy Ireland Cartoon Library & Museum]

Der one-pager “Li Hung Chang Visits Hogan’s Alley” (6.9.1896 | → full size/zoomable image) gehört zu den bekanntesten Yellow-Kid-Seiten [1] und taucht in den unterschiedlichsten Kontexten auf. In Darstellungen zur Comic-Geschichte im Zusammenhang mit Copyright-Fragen. Baumler findet die Qualität der Schrifzeichen beachtenswert. Wolfgang Höhne [2] sieht das Bild als Beispiel für “die Welt vor 1945″ und sieht “eines der vielen ärmlichen Einwandererviertel mit seinen viergeschossigen Backsteinbauten und den offenbar schon damals obligatirischen [sic!] Feuerleitern.” [3]Dabei unterbleibt eine Auseinandersetzung mit dem Entstehungskontext und die sich daraus ergebende Deutung – der Witz geht damit verloren …

Li Hongzhang kam Ende August nach New York, er reiste nach Philadelphia und Washington und traf mit dem US-Präsidenten Stephen Grover Cleveland (1837-1908, Präsident 1885-1889 und 1893-1897). Die New York Times berichtete im August 1896 ausführlich über die Vorbereitungen und dann Ende August und Anfang September ausführlich über den Verlauf des Besuchs. Am 28. August 1896 wurde ausführlich über die Vorbereitungen für den Empfang und das Programm des Besuchs in New York berichtet: “Awaiting the Viceroy [...] ‘Chinatown’ to Celebrate with Fireworks. [4] Genauso ausführlich wurde über Lis Besuch am Grab von Gen. Grant (31.8.1896) [5] und Lis andere Aktivitäten berichtet. Der Besuch wurde in mehreren Filmen dokumentiert. [6]

Richard Felton Outcault (1863-1928) gilt mit Hogan’s Alley als ‘Erfinder’ des modernen Comic Strips. Seine Arbeiten erschienen in den Sonntagsbeilagen großer Tageszeitungen The Yellow Kid ist eine Schlüsselfigur in Hogan’s Alley, einer Seire, die zwischen 1895 und 1898 (zunächst in der New York World, später im New York Journal) erschien. Die one-pager greifen in der Regel aktuelle Themen der vergangenen Woche auf und bewegen sich an der Grenze zwischen Comic und Karikatur – so auch “Li Hung Chang Visits Hogan’s Alley” (New York World, 6. September 1896):

Das Bild zeigt die typische Straßen-Szene der Hogan’s Alley, die – dem Anlass entsprechend – mit zahlreichen chinesischen Lampions geschmückt ist. Die explodierende Feuerwerkskörper erleuchten die Szenerie. Im Zentrum des Bildes sitzt eine männliche, als Chinese markierte Gestalt auf einem etwas merkwürdigen Karren, der von einem Ziegenbock gezogen wird. Der Bock wird vom Yellow Kid am Bart geführt. Wie in jedem Yellow Kid-Comic erzählt der (wie üblich mit zahlreichen orthographischen Fehlern behaftete) Text auf dem gelben Kleid die Geschichte: “Me & LI has made a big hit with each oter. Say! He tinks I’m a Chinaman – don’t say a woid. I’m goin ter give a yellow tea fer him – I know my Q.”
Rechts spielen “The Hogan’s Alley Guards” für den Gast, links und im Hintergrund sieht man zahlreiches Publikum – mit Lampions an Stangen, Klapp- und Faltfächern, mit Stars & Stripes und einer “chinesischen” Fahne
[7]- eine eigentlich recht idyllische Szene …

Liest man die Texte auf Plakaten, Fächern, Wimpeln, Transparenten etc., ergibt sich ein ganz anderes Bild.

  • Einer der Sänger, die vor der Kapelle marschieren singt nach anderen Noten
  • An dem Bretterzaun hängt ein Plakat “The new song / Did you  ever get the money that you loaned? / Or / Where are all your Friends? – A Park Row Ballad.”
  • Das Mädchen vorne links trägt einen Blattfächer mit der Aufschrift: “HURRAH! FER LIE-HANG-CHUNK.
  • Darüber sieht man ein großes Plakat “Quiet Corner Club Picnic fer Li-Hung-Chang in Ryan’s Vacant Lot next Thursday – Gents 50 cents, Ladies 25 [cents], real Ladies free”, in der Ecke das Schriftzeichen 李 [Li].
  • Der Hund im Vordergrund rechts balanciert auf seinem Schwanz, am Halsband ein Etikett “I am leading an upright life. We are all at our best Today”
  • Links vorne steht ein “gepinseltes” Banner: “Bee Gee!” Nothing so much fun as lots of noise”
  • Rechts vorne: “Quit yer kiiddiin.”

Die dargestellte Szene mit all ihren Widersprüchlichkeiten lässt sich durch die Sprechblase bei der kleinen Ziege am Dach des Hauses deuten: “They are giving him some genuine Chinese music.”

In die Neugierde, mit der man dem seltenen Gast begegnete, mischen sich gängige Klischees und Vorurteile und Anspielungen auf die aktuelle politische Lage – u.a. die schwierige finanzielle Lage Chinas, der Umgang mit chinesischen MigrantInnen in den USA (der Chinese Exclusion Act von 1882, der 1892 erneuert worden war, beschränkte deren Einwanderung) massiv. Lampions, Feuerwerke und (dissonante) Musik evozieren das Leben in den Chinatowns – obwohl auf dem Bild außer Li niemand als Chinese oder Chinesin markiert ist.

Li Hongzhang (der durch die Überschrift und den Text auf dem gelben Kleid zusätzlich identifiziert wird) selbst ist eine Mischung aus Fakt und Phantasie, aber durchaus erkennbar, wie ein Vergleich mit einer Photographie aus dem Jahr 1896 zeigt. Zwei Elemente erscheinen merkwürdig: die gelbe Kleidung – die im Qing-zeitlichen China den Angehörigen des Kaiserhauses vorbehalten war – und die Pfauenfedern, die an Lis Hut steil hochstehen. Diese Pfauenfedern sind ein Element, das in Karikaturen mit China-Bezug häufig auftaucht, aber nur selten so, wie sie tatsächlich getragen wurden: Die Federn – Auszeichnungen, die Beamten für ihre Verdienste verliehen werden konnten (lingzhi 翎枝) – wurden tatsächlich mit einer Öse am Rangsknopf befestigt und hingen nach unten. [8]

Yellow Kid gilt zwar als Urform des modernen Comic Stips, steht aber in Form und Inhalt an William Hogarths Beer Street and Gin Lane (1751) [9], wo sich hinter einer vordergründig heiteren Szene beißende Ironie und Satire verbergen, die dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleiben …

[1] Zu “The Yellow Kid” vgl. Mary Wood: The Yellow Kid on the Paper Stage.

[2] So u.a. bei Wolfgang Höhne: Technikdarstellung im Comic. Der Comic als Spiegel technischer Wünsche und Utopien der modernen Industriegesellschaft [online] (Diss, Univ. Karlsruhe 2003).

[3] Wolfgang Höhne: Technikdarstellungen im Comic (2003) – Bildteil online: http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/volltexte/2003/geist-soz/1/html-1/3-welt/fr-w-02.html.

[4] U.a.:  The Arrival of Li Huang Chang (imdb), Li Hung Chang Driving Through 4th St. and Broadway(imdb), und Li Hung Chang at Grants Tomb (imdb).

[5] New York Times, 28. Augst 1896.

[6] New York Times, 31. August 1896.

[7] Die “chinesische” Fahne ist hier dreieckig mit gezacktem/geflammtem Rand. Sie zeigt eine art von Drachen oder Fabelwesen und erinnert an die dreieckige Variante der “Gelbe-Drachen-Flagge” [huanglongqi 黃龍旗], die zwischen 1862 und 1889 von der Marine und von “offiziellen” Schiffen verwendet worden war, bevor die viereckige Form in Gebrauch kam.

[8] Zu den Abstufungen: Present day political organization of China. By H.S. Brunnert and V.V. Hagelstrom; rev. by N. Th. Kolessoff ; tr. from the Russian by A. Beltchenko and E.E. Moran (New York : Paragon [s. d., Foreword dated Foochow, 1911] Nr. 950 (p. 498).

[9] William Hogarth, Beer Street and Gin Lane (1751) – Kurzbeschreibung und kurze Erläuterung → The British Museum.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/270

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Imaginationen des Anderen: Dr. Fu Manchu, ein chinesischer (?) Gangster

Chinesische Gangster waren ‘die Bösen’ in zahllosen Groschenromanen und Dime Novels [1] im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In diesen Geschichten wie Hop Lee, The Chinese Slave Dealer; or, Old and Young King Brady and the Opium Fiends. A story of San Francisco (1899) oder The Bradys and Hi-Lo-Jak; or, Dark Deeds in Chinatown (1903) oder The Bradys and the Yellow Crooks(1910) erscheinen Chinesen als betrügerische Händler, Betreiber von Opiumhöhlen und sonstigen zwielichtigen Etablissements und Chinesinnen als ihre besonders listige Gehilfinnen in Verbrechersyndikaten. Die Verbrecher werden von (in der Regel weißen) Polizisten oder Privatdetektiven gejagt und letzhin dingfest gemacht.

The Adventures of Dr. Fu Manchu S1E1

Glen Gordon (Fu Manchu) in “Prisoner of Fu Manchu” (air date: Sept 3 1956) -

Eine neue Dimension erreicht der Topos vom chinesische Gangster mit der Figur des Dr. Fu Manchu aus den Romanen des Briten Sax Rohmer (egentlich Arthur Henry Sarsfield Ward, 1883-1959). Der erste Fu-Manchu-Roman, The Mystery of Dr. Fu-Manchu [2] erschien zwischen Oktober 1912 und Juni 1913 als Fortsetzungsroman, bis 1917 folgten zwei weitere Roman. Ab 1931 nahme Rohmer die Serie mit The Daughter of Fu Manchu wieder auf. Insgesamt gibt es dreizehn Fu Manchu-Romane von Sax Rohmer, dazu eine posthum veröffentlichte Sammlung von kürzeren Geschichten, The Wrath of Fu Manchu.

Die Romane erzählen in Varianten eine immer gleiche Geschichte: Der chinesische Super-Gangster Dr. Fu Manchu will die Weltherrschaft an sich reißen. Dies wird von (Sir) Denis Nayland Smith und dessen Assistent Dr. Petrie (der – ähnlich wie bei Sherlock Holmes und Dr. Watson – die Geschichte erzählt) im allerletzten Moment vereitelt. Die Ideen Fu Manchus werden immer abstruser, die Verbrechen monströser, die Foltermethoden immer perfider – speziell in den zahlreichen Filmen und TV-Produktionen, die mit Stummfilmen in den 1920ern begann.

Das Bild, das der Name Fu Manchu evoziert, ist das eines Mannes in ‘chinesischen’ Gewändern, mit einer schwarzen Kappe auf dem Kopf – und mit dem typischen Fu-Manchu-Bart, einem dünnen Schnurrbart, der das Philtrum freilässt, aber außen bis unter Kinnhöhe reicht (ein Attribut, das in den Romanen nicht auftaucht). In den Filmen wurde Fu Manchu von eine Reihe von Schauspielern verkörpert, u.a. Harry Agar Lyons (1878-1944), Warner Oland (1879-1938,  auch bekannt als Darsteller des chinesischen Meisterdetektivs Charlie Chan), Boris Karloff (1887-1969) und Christopher Lee (*1922). Keiner der Darsteller ist Asiate, ihr ‘chinesisches’ Aussehen verdanken sie der Maske. Hollywood hielt es lange Zeit für unmöglich, asiatischen Darstellerinnen und Darstellern Hauptrollen zu überlassen [3].

Unter den Filmen, deren (mitunter zweifelhafte) künstlerische Bedeutung hier nicht thematisiert werden soll, erscheint einer besonders bemerkenswert: The Mask of Fu Manchu [4], ein Pre-Code-Film aus dem Jahr 1932 (Uraufführung: 5.11.1932) mit Boris Karloff als Fu Manchu und Myrna Loy (1905-1993) als Fah Lo See. Der Film, gegen den China bei seinem Erscheinen heftig protestierte, geriet bald in Vergessenheit, wurde aber seit den 1970ern quasi ‘wiederentdeckt’ und kritisch neu betrachtet. Die Fu-Manchu-Filme, die auf den Romanen von Sax Rohmer basierten, arbeiteten mit dem Bild des geheimnisvollen Orientalen, dessen rätselhaftes Tun mit ‘westlichen’ Moralvorstellungen nur schwer in Einklang zu bringen ist.

Das in Fu Manchu manifestierte Stereotpy vom bösen asiatischen Genie, das nach der Weltherrschaft strebt, kann eine Variante, der seit dem späten 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA latentem Angst vor der Gelben Gefahr Ausdruck zu verleihen, gesehen werden [5]. Als diese ihren Schrecken verlor, wurde die Figur des Fu Manchu in Filmen etc. mehr und mehr zur Karikatur und mithin Parodie ihrer selbst [6] Während Dr. Fu Manchu nun zunehmend als eher lächerliche Figur erschien, wurde der von Rohmer kreierte Typ ‘chinesischer’ Super-Gangster zum Vorbild für zahlreiche ‘orientalische’/'asiatische’ Bösewichte in Romanen, Graphic Novels/Comics und Filmen. [7]

 

[1] Zu Dime Novels allgemein vgl. die Informationen der Dime Novel and Story Paper Collection der Stanford University Library.

[2] US-Ausgabe unter dem Titel The Insidious Dr. Fu Manchu (Volltext: Project Gutenberg)

[3] Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für diese Praxis ist The Good Earth (USA 1937), ein Film nach einem Drama, das auf dem gleichnamigen Roman von Pearl S. Buck aus dem Jahr 1931 basiert. Im Film spielte Paul Muni den Bauern Wang Lung, seine Frau O-Lan wurde von Luise Rainer dargestellt, die dafür den Oscar (beste Schauspielerin) erhielt. – Ähnlich auch The Inn of the Sixth Happiness (USA 1958), ein ‘biopic’, das das Leben der Gladys Aylward beschreibt: Hier spielte Curt Jrgens den chinesischen Offizier Lin Nan und Robert Donat den Mandarin/Ortsvorsteher des Dorfes, in dem sich die Missionarin niederließ.

[4] Zum Plot vgl. The Mask of Fu Manchu in der IMDb 

[5] Dazu ua. Urmila Seshagiri: “Modernity’s (Yellow) Perils: Dr. Fu-Manchu and English Race Paranoia.” In: Cultural Critique, No. 62 (Winter, 2006), pp. 162-194; John Seed: “Limehouse Blues: Looking for Chinatown in the London Docks, 1900-40.” In: History Workshop Journal, No. 62 (Autumn, 2006), pp. 58-85; David Shih: The Color of Fu-Manchu: “Orientalist Method in the Novels of Sax Rohmer.” In: The Journal of Popular Culture, Volume 42, Issue 2, April 2009, Pages: 304–317.

[6] Vgl. dazu u.a. die TV-Serie The Adventures of Dr. Fu Manchu  aus den 1950ern (einige Episoden im Internet Archive: S1E1: The Prisoer of Fu Manchu (1956), The Aventures of Dr. Fu Manchu S1E9: The Death Ships of Fu Manchu (1956), The Adventures of Dr. Fu Manchu S1E11: The Masterplan of Fu Manchu (1956)) oder Pieter Sellars’ The Fiendish Plot of Dr. Fu Manchu (USA/GB 1980)

[7]U.a.: Pao Tcheou, der Meister des Unsichtbaren, Ming the Merciless [dt. 'Ming der Grausame'] aus den Flash Gordon-Comics,  oder Lo Pan in “Big Trouble in Little China”.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/254

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Transfer und Dissemination von Wissen im 17. Jahrhundert

Erasmus Finx, genannt Erasmus Francisci (1627–1694) war ein überaus produktiver – und zu seiner Zeit viel gelesener – Autor, der als Polyhistor betrachtet wurde [1] Der Vielschreiber wurde im 19. Jahrhundert eher kritisch gesehen, wie die Kurzcharakterisierung von Jakob Franck in der Allgemeinen Deutschen Biographie zeigt:

[Francisci] war der erste deutsche Büchermacher von Profession, aber so wie seine Schriften meist an der Tagesordnung waren, so sind sie jetzt fast alle vergessen und verschollen, weil er eben nur darauf ausging, Bücher zu machen und dabei vor allem darauf bedacht war, der neugierigen Menge zu gefallen, für sie Merkwürdigkeiten aus allen Weltgegenden zusammen zu schleppen und diese geschmacklos durch breite moralische Gespräche oder einen fortlaufenden Geschichtsfaden, so gut es eben gehen wollte, mit einander zu verbinden. [2]

Einer der umfangreichsten Texte war Franciscis Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten(1668), [3] In Form von Gesprächen, die sich über mehrere Tage hinziehen, werden “die Wunder der neuen Welt, die tropische Natur und alle Märchen [...] die damals über sie im Schwange gingen” [4] abgehandelt – und mit mehr als 60 Tafeln illustriert. Darin findet sich Alltägliches, Überraschendes, Skurriles und Phantastisches in einer nachgerade überwältigenden Fülle, die schon der vollständige Titel des Werks andeutet (s. Abb.):

Erasmus Francisci: Ost- und West-Indianischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten

Erasmus Francisci: Ost- und West-Indianischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten (1668)

Erasmi Francisici Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Stats-Garten. Mit einem Vorgespräch Von mancherley lustigen Discursen ; In Drey Haupt-Theile unterschieden.
Der Erste Theil Begreifft in sich die edelsten Blumen/ Kräuter/ Bäume/ Meel- Wasser- Wein- Artzney- und Gifft-gebende Wurtzeln/ Früchte/ Gewürtze/ und Specereyen/ in Ost-Indien/ Sina und America:
Der Ander Theil Das Temperament der Lufft und Landschafften daselbst ; die Beschaffenheit der Felder / Wälder / Wüsteneyen; die berühmten natür- und Künstliche Berge / Thäler / Hölen; imgleichen die innerlichen Schätze der Erden und Gewässer; als Mineralien / Bergwercke / Metallen / Edelgesteine / Perlen und Perl-Fischereyen; folgends unterschiedliche wundersame Brunnen / Flüsse / Bäche / lust-reiche Seen / schau-würdige Brücken; allerley Meer-Wasser / abentherliche Meer-Wunder; Luft- Spatzier- Zier- Kauff- und Kriegs-Schiffe:
Der Dritte Theil Das Stats-Wesen/ Policey-Ordnungen/ Hofstäte/ Paläse / denckwürdige Kriege / Belägerungen/ Feldschalchten / fröliche und klägliche Fälle / Geist- und weltliche Ceremonien / merckwürdige Thaten und Reden der Könige und Republicken daselbst. Wobey auch sont viel leswürdige Geschichte / sinnreiche Erfindungen / verwunderliche Thiere / Vögel und Fische / hin und wieder mit eingeführet werden.
Aus den fürnemsten / alten und neuen / Indianischen Geschicht- Land- und Reisbeschreibungen / mit Fleiß zusammengezogen / und auf annehmliche Unterredungs-Art eingerichtet.

Sieht man über die dem Leser des 21. Jahrhunderts doch sehr fremde Sprache  hinweg und ignoriert die im Gespräch immer wieder erhobenen Zeigefinger, so schnell klar, dass der Lust- und Stats-Garten eine bisher kaum beachtete Fundgrube ist, wenn es darum geht, (Wissens-)Transferprozesse näher zu beleuchten. Francisci schöpft aus einer Fülle von Material, das er, wohl um die Verlässlichkeit seiner Ausführungen zu untermauern, dem Leser vorstellt. Das Literaturverzeichnis überschreibt er mit:

“Was für ·Authores· bey diesem Werkce angezogen seyn / weiset nachgesetzter ·Catalogus· Darinn auch / denen zu Liebe / die eines oder andres irgend nachzushclagen begehrten / die ·Editio·nen (etliche wenige ausgenommen) beygefüget worden.” [5]

Der “Catalogus” enthält rund 270 Titel, die zwischen der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts und 1668, dem Jahr, in dem der Stats-Garten erschien, veröffentlicht worden waren. Bei etwa 60 Prozent der Titel wird das Erscheinungsjahr genannt, beim Rest fehlt das Datum. Das älteste der aufgelisteten Werke ist aus dem Jahr 1524 [6]); das jüngste Georg Horns Orbis Imperans … aus dem Jahr 1668 [7].

Beschränkt man sich auf die Literatur, die Francisci heranzieht, um über China und ‘Chinesisches’ im weitesten Sinne zu berichten, gewinnt man den Eindruck, er habe stets die ‘aktuellsten’ Titel benützt – von Mendoza abgesehen, finden sich vor allem Titel aus den 1650er und 1660er Jahren. Doch dieser Schluss ist vorschnell, betrachtet man den “Catalogus” genauer, wird erkennbar, dass Francisci Zugriff auf eine gut bestückte Bibliothek gehabt haben dürfte – ob die vorhandene Ausgabe die jeweils aktuellste war, spielte dabei keine Rolle …

Die derzeit in Arbeit befindliche Auswertung des “Catalogus” verspricht interessante Einblicke in Prozesse der Wissensdissemination – wird im Stats-Garten doch der Versuch unternommen, Wissen, das bis dahin (aus einer Reihe von Gründen) der res publica literaria vorbehalten war, einem interessierten allgemeineren Publikum zugänglich zu machen.

[1] Zur Biographie: Friedrich Wilhelm Bautz: Finx, Erasmus, genannt Francisci. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Band 2. (Hamm: Bautz 1990) Sp. 35 f.; Gerhard Dünnhaupt: “Erasmus Francisci.” In: Philobiblon 19 (1975), 272-303; zum Werk: Gerhard Dünnhaupt: “Erasmus Francisci.” In: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Band 2. (Stuttgart: Hiersemann1990) 1514–1549.

[2] Franck, Jakob, „Francisci, Erasmus“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 7 (1878), 207 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118534629.html?anchor=adb.

[3] Bibliographische Daten: VD 17 23:231724G.

[4] Franck, Jakob, „Francisci, Erasmus“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 7 (1878), 207 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118534629.html?anchor=adb.

[5] Francisci, Stats-Garten (1668) Catalogus [unpaginiert]

[6] Hernán Cortés: Praeclara de nova maris Oceani Hyspania narratio, Carolo Romanorum imperatori anno D. 1520. transmissa etc. per Petrum Savorgnanum ex hyspano idiomate in latinum versa (Norimbergae: Frideribus Peypus 1524), bibliographische Daten: VD16 C 5309 / VD16 A 2839

[7] Bibliographische Daten: VD17 3:308871V.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/234

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China in Comics, Manga, Graphic Novels | Bibliographie (I)

Comics_Regal

China in Comics, Graphic Novels & Co.

Comics, Graphic Novels, Manga, manhua etc. zeichnen sehr spezielle Bilder von China – zwischen Exotik und Dämonisierung, zwischen Geschichtsdarstellung und Fantasy-Abenteuern mit Drachen und Dämonen.   Die graphischen Erzählungen spiegeln das Chinabild ihrer Entstehungszeit und master narratives der Wahrnehmung Chinas von außen und sind Indikatoren für veränderte Wahrnehmungen. Gleichzeitig zeigen die Darstellungen, wie nachhaltig einzelne Elemente sind und wie fest deren Verbindung mit China ist.

Fast jede länger laufende Comic-Serie hat eine China-Folge oder ein China-Abenteuer. Dazu kommen zahlreiche ‘one shot’-Alben, die in China (im weitesten Sinn) spielen oder ‘Chinesisches’ (im weitesten Sinn) thematisieren. Viele der Einzelalben erscheinen mit relativ kleinen Auflagen und sind schwer zu finden – was die Auseinandersetzung mit dieser Quelle zu einer Herausforderung macht.

Diese erste Sammlung fasst vorwiegend franko-belgische Comics zusammen.

  • 1934/35 | 1946: Hergé: Le Lotus Bleu
  • 1957 Melliès: Dynamic (2e série) 59. Mission en chine
  • 1960 Francquin: Spirou + Fantasio: Le Prisonnier du Bouddha
  • 1968 Pif Poche 181. En chine
  • 1973 Morris/Goscinny: Lucky Luke: L’héritage de Ran-Tan-Plan
  • 1974 Boka/Chénier: Patof 2. Patof en Chine.
  • 1975 Gino D’Antonio: Pirates 60. Les pirates de la mer de Chine
  • [1975] Sleen: Les aventures de Néron et Cie. 44. La disparition du vase de Chine
  • 1977 Charlier/Hubinon: Buck Denny 39. Requins en mer de chine
  • 1978 Gillon/Lécureux: Fils de Chine [repr. 2007]
  • 1982 Franc: Histoires immobiles et récits inachevés 4. Nuits de Chine
  • 1983 Hugo Pratt: La Jeunesse de Corto
  • 1983 Jacques Martin: Alix. t. 17. L’empereur de Chine
  • 1986 Caniff/Smolderen: Images de Chine
  • 1989 Schetter: Cargo 6. Le judas de Shanghaï
  • 1990 Jack Staller: The Black Hawk Line. La route de Chine
  • ca. 1990: Petzi in China (DK: Rasmus Klump i Kina)
  • 1991 Mosaik 1/91, 2/91, 3/91, 4/93 [Nachdruck: Mosaik Sammelband 46: Im Reich der Mitte]
    • Sturz in neue Abenteuer
    • Das Orakel
    • Im Glanz der Hauptstadt
    • Rauhe Sitten
  • 1991-1996 Thierry Robin: Rouge de Chine
    • Ville Dragon
    • Masques
    • Zhan Zheng
    • Chute
  • 1995 Bardet/Stalner: Le Boche. 6. Nuit de Chine…
  • 1997 Durieux/Dellisse: Foudre 3. Hong Kong machine
  • 2000 Guy Delisle: Shenzhen
  • 2000 Pierre-Antoine Donnet: Cabu en Chine
  • 2002 Loustal/Coatalem: Jolie mer de Chine
  • 2004 Wong/Moench: Batman -  Hong Kong
  • 2005-2010  La Tigresse Blanche
    • Yann/Conrad: Au service secret du Grand Timonier
    • Yann/Conrad: Peau de pêche et cravate de soie
    • Conrad/Wilbur: L’Art du cinquième bonheur
    • Conrad/Wilbur: Une espionne sur le toit
    • Conrad/Wilbur: L’Année du phénix
    • Conrad/Wilbur: La Théorie du Mikado
    • Conrad/Wilbur: Voir Paris et mourir
  • 2006 Cardona/Mariolle: Foot 2 rue. 3. Les dragons de Shanghaï
  • 2007 Gene Luen Yang: American Born Chinese
  • 2007/2008
    • t. 15 Les trois yeux des gardiens du Tao
    • t. 16 La voie et la vertu
  • 2008 Jean und Philippe Graton: Michel Vaillant: China Moon
  • 2008 Jacques Martin/Erwin Drèze: Les voyages d’Alix 27. La Chine
  • 2008 Leloup: Yoko Tsuno 5. Sous le ciel de Chine
  • 2009 Chaiko/Cheng: La fille de Shanghai
  • 2010- Tisseron/Mariolle: Shanghaï
    • Shanghaï 1.  L’enfant de la pluie
    • Shanghaï 2. Les Promesses de l’aube
  • 2011 Zong/Meylaender: Nankin
  • 2012 Brrémaud/Renieri: Aya Tsu. L’Invasion de la Chine

Fortsetzung folgt …

 

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/223

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Der Kaiser von China — ein Bild aus dem 17. Jahrhundert

Die Rubrik “Splitter” notiert in loser Folge erste Beobachtungen, Überlegungen, “Angedachtes”, Geistesblitze aus laufenden Projekten/Arbeiten, um lose Enden festzuhalten, Ideen wachsen zu lassen … und neue Antworten zu finden.

Martino Martini: Histori von dem Tartarischen Kriege ... (1654)
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verdrängten die Mandschu und ihre Verbündeten die Ming-Dynastie (1368-1644), die Qing-Dynastie übernahm die Kontrolle über das Reich. Dieser bewaffnete Konflikt ist eines der ersten Ereignisse der Geschichte Chinas, für das Berichte von Europäern, die sich zu der Zeit in China befanden, nach Europa kamen. [1]

Der Jesuit Martino Martini (1614-1661), der ab 1643 in China arbeitete, berichtet in De bello tartarico historia (Antwerpen 1654), dt. Histori von dem Tartarischen Kriege wieder die Sineser (Amsterdam 1654) bzw. Historische Beschreibung des Tartarischen Kriegs in Sina (s. l. 1654) über die Ereignisse. [2] Die einzelnen Ausgaben unterscheiden sich beträchtlich, einige sind mit zahlreichen Illustrationen und einem illustrierten Titelblatt (s. Abb. links) ausgestattet, andere kommen ohne Illustrationen – gemeinsam ist allen das kleine Format (12°).

Das Titelblatt bleibt zunächst unverständlich: Der Titel ist von vier Feldern umgeben: oben ein Kopf mit zwei liegenden Gestalten, links eine stehende Figur in ‘exotischer’ Kleidung, rechts die stehende Figur eines Kriegers/Soldaten mit Pfeil und Bogen; unten eine ‘orientalische’ Stadtansicht. Blättert man in den Band hinein, wird die Figur links als chinesischer Kaiser identifizierbar, der in den unterschiedlichsten Situationen dargestellt wird. (vgl. u.a. die Illustration zu S. 26).

Der ‘Kaiser von China’ erscheint in Gestalt einer eher beleibten Figur mit schwarzer Kappe und wallenden Gewändern, über der Brust ein kreisförmiges Emblem mit zwei stehenden Vögeln – er erinnert an die ‘offiziellen Porträts der Ming-Kaiser, z.B. ein Porträt des Yongle 永樂 Kaisers (1360-1424, r. 1402-1424).

Dieser ‘Kaiser von China’ taucht nach De bello tartarico historia in zahlreichen Publikationen immer wieder auf:

  • In Martinis Novus Atlas Sinensis (1655) in der Titelvignette der Karte “Pecheli [i.e. BeiZhili 北直隶] sive Peking imperii sinarum provincia prima” sitzt ‘der Dicke’ unter einem Sonnenschirm [3]:
  • Nicht ganz so fein ausgearbeitet wie im Novus Atlas Sinensis, aber in gleicher Pose findet sich die Figur auf dem Titelblatt von De re litteraria sinensium commentarius (16660) von Theophil Spitzel:[4]
  • Unter dem Titel “Der alte Kayser von China” findet sich die Figur auch im Thesaurus Exoticorum
    Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer : Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser/ Indianer/ Sinesen/ Tartarn/ Egypter/ ... Nach ihren Königreichen.../ Eberhard Werner Happel. - [Online-Ausg.]. - Hamburg : Wiering, 1688

    E. W. Happel: Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer : Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser/ Indianer/ Sinesen/ Tartarn/ Egypter/ … Nach ihren Königreichen… (Hamburg : Wiering, 1688) http://diglib.hab.de/drucke/gv-2f-26/start.htm

In De bello tartarico historia wird nur aus dem Zusammenhang angedeutet, wer gezeigt wird, im Novus Atlas Sinensis und bei Spitzel bleibt die Figur ohne Erläuterungen und somit weitgehend Dekoration.
Happels Bezeichnung – “Der alte Kayser von China” – gibt Aufschluss darüber, wer hier dargestellt werden soll: Ein (nicht näher bezeichneter) Herrscher der (eben untergegangenen) Ming-Dynastie – den Herrscher der neuen Dynastie, den Shunzhi Kaiser, stellt er ganz anders dar [6].

 

Ein Beispiel von vielen, das zahlreiche Fragen aufwirft:

  • Fragen nach dem “Ursprung” und den “Vorlagen” europäischer China-Bilder
  • Fragen nach Original und Verfremdung
  • Fragen nach der Grenze zwischen Dekoration und Illustration


[1] Edwin J. Van Kley: “News from China; Seventeenth-Century European Notices of the Manchu Conquest”. In: The Journal of Modern History Vol. 45, No. 4 (Dec., 1973), pp. 561-582.

[2] Zu den Ausgaben von De bello tartarico historia und diversen Übersetzungen aus dem 17. Jh. s. Bibliotheca Sinica 2.0.

[3] “Pecheli sive Peking imperii sinarum provincia prima (Amsterdam: Blaeu 1655), Quelle: gallica.

[4] Gottlieb Spitzel: De re litteraria Sinensium commentarius (Lugd. Batavorum: ex officina Petri Hackii 1660), Titel.

[5] [Eberhard Werner Happel:] Thesaurus exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / Barbarn / Libyer / Nigriten / Guineer / Hottentotten / Abyssiner / Canadenser / Virgenier / Floridaner / Mexikaner / Peruaner / Chilenser / Magellanier und Brasilianer etc. Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst. Darauff folget eine Umständliche von Türckey Beschreibung: [...] Alles mit Mühe und Fleiß aus den berühmtesten Scribenten zusammen getragen / mit schönen Kupfern und Landkarten / auch andern Figuren in sehr grosser Anzahl außgezieret / und denen Liebhabern zur Ergetzligkeit heraußgegeben Von Everhardo Guernero Happelio (Hamburg: Wiering, 1688) p. 19.

[6] [Eberhard Werner Happel:] Thesaurus exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / Barbarn / Libyer / Nigriten / Guineer / Hottentotten / Abyssiner / Canadenser / Virgenier / Floridaner / Mexikaner / Peruaner / Chilenser / Magellanier und Brasilianer etc. Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst. Darauff folget eine Umständliche von Türckey Beschreibung: [...] Alles mit Mühe und Fleiß aus den berühmtesten Scribenten zusammen getragen / mit schönen Kupfern und Landkarten / auch andern Figuren in sehr grosser Anzahl außgezieret / und denen Liebhabern zur Ergetzligkeit heraußgegeben Von Everhardo Guernero Happelio (Hamburg: Wiering, 1688) p. 27.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/193

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Fachchinesisch?

In einem “Belehrende[n] Stammtischvortrag” eines (imaginären) “Original-Geographen”) im Kikeriki vom 16.11.1911 findet sich eine kurze Passage zur Chinesishcen Schrift:

[… ] Das Allerkurioseste ist die chinesische Schrift. Ein Baum zum Beispiel heißt Tam. Will man das schreiben, zeichnet man einen Baum auf. Zwei Bäume heißen Tam=Tam, da zeichnet man zwei Bäume, und der Wald heißt Tam tatatam tatatam Tam=Tam; da muß man also eine ganze Seite voller Bäume zeichnen. […] (Kikeriki Nr. 92, 16.11.1911, S. 2).

Der “Original-Geograph” kombiniert Fakten-Wissen zur Schrift, das in Büchern über China wiederholt präsentiert wurde, und Phantasien zur Wortbildung in exotischen Sprachen. Das Bedeutungsspektrum Holz – Baum – Wald ergibt sich tatsächlich durch Wiederholung, allerdings nicht in der Aussprache, sondern durch Wiederholung eines Elements im Schriftzeichen: Das Schriftzeichen 木 [shu], das einen stilisierten Baum darstellt, bedeutet „Holz, Baum, hölzern (im Sinne von: aus Holz gemacht)“. Wird dieses Element zweimal nebeneinander gestellt zu  林 [lin], bedeutet das Schriftzeichen „Wald, Hain“ (es gibt im Chinesischen keinen Dual). Wird 木dreimal genommen und zu 森 [sen] arrangiert, bedeutet dieses Zeichen „Wald, Forst“, aber auch „dicht (bewachsen), üppig“.

So sehr die chinesische Schrift die ‘Außenwelt’ fasziniert hat, so sehr stellte und stellt der Druck nichtlateinischer Schriften im allgemeinen und chinesischer Zeichen im Speziellen Buchgestalter und Buchdrucker vor immer neue Herausforderungen. Auch vielfältige technische Neuerungen scheinen daran nur wenig geändert zu haben …

Wie es begann

Einer der ersten China-Bestseller war die Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres del gran reyno de la China… des Juan González de Mendoza (um 1540–1617) , die 1585 in Rom bei Grassi erschien. Mendozas Beschreibung des Landes und seiner Bewohner verbreitete sich durch Übersetzungen ins Italienische, Deutsche, Französische, Englische und Lateinische innerhab weniger Jahre in ganz Europa [1] In den Ausgaben, die bei Andrea Muschio (fl. nach 1560) [2] gedruckt wurden, finden sich auf den Seiten 114 und 115 – in den Fließtext eingefügt – drei Zeichen:

Das dürften die wohl ersten in Europa gedruckten chinesischen Schriftzeichen sein [3]. In den Jahrhunderten danach wetteiferten europäische Druckereien um die ‘schönsten’ (d.h. ästhetisch ansprechendsten) Schriftzeichen, die Leistungsfähigkeit der Druckereien erreichte – wie Georg Lehner (2004) gezeigt hat, ein sehr hohes Niveau.

Neue Anläufe (?)

Die Beschäftigung mit chinesischen Typen und der Typographie des Chinesischen blieb ein Randthema der Typographie, der Satz chinesischer Zeichen ein ewiger Knackpunkt … bis sich Susanne Zippel 2011 des Themas annahm.[4] – als Hilfsmittel, den boomenden Markt China zu erobern [Rückentext]. Das Buch soll die modernen Klassikern der Typographie im Verlagsprogramm ergänzen: Die Lesetypografie von Willberg/Forssman [5] und die Detailtypografie von Forssman/De Jong [6]. Der Anspruch, der erhoben wird, ist hoch:

“Eine solide Einführung in die Welt der chinesischen (sowie der japanischen und koreanischen) Schriftsysteme, eine analytische Gegenüberstellung des lateinischen und des CJK-Schriftsystems” [Zippel (2011) Rückentext].

Der Titel wurde in Typografie- und Grafik-Kreisen bejubelt [7] und in eine Reihe mit Anatomie der Buchstaben von Karen Chang [8] und Decode Unicode [9] gestellt. Das passt vielleicht für die Ausstattung, die – Halbleineneinband, Folienprägung, zwei Lesebändchen. zahlreiche Abbildungen, amgenehme Haptik – so ist, wie vom Hermann-Schmidt-Verlag erwartet werden darf. Inhalt und Buchgestaltung kommen da nicht heran.

Am Beginn steht ein “Auftakt” (S. 1-17), der vier Beispiele multilingualer Unternehmenskommunikation vorstellt und so einen Problemaufriss gibt. Die ersten drei Kapitel sind eine tour de force durch die Geschichte der chinesischen Schrift (“Funktion und Geschichte”, S. 18-97), die Unterschiede zwischen (lateinischem) Alphabet und Schriftzeichen (“Buchstaben und Schrifzeichen”, S. 98-133) und Anforderungen an Zeichensätze und Fonts, Schriftfamilien und Schriftgeschichte (“Zeichensatz und Font”, S. 134-177).  Diese Abschnitte sind quasi Vorbereitung zum umfangreichsten Kapitel, das Empfehlungen zur CJK-Typografie und zur multilinguale Typografie gibt (“Typografie – aber wie?”, S. 178-277).

Die erste Karte – “Die chinesischen Sprachen oder Dialektbünde und ihre Ausdehnung in China” (S. 28 f.) nährt erste Bedenken. Auf einer Karte mit vegleichsweise wenig Text finden sich zahlreiche Transkriptionsfehler bei chinesischen Toponymen, u.a. “Shaangxi” [i.e. Shǎnxī 陕西 bzw. Shaanxi], “Shangxi” [i.e. Shānxī  山西],”Shangdong”  [i.e. Shāndōng 山東], “Jiling” [i.e. Jílín 吉林], “Tianjing” [i.e. Tiānjīn 天津]; Peking, Hongkong und Macao sind nicht der Pinyin-Transkription angepasst, für koreanische und japanische Toponyme wird keines der üblichen Transkriptionssysteme verwendet.

Beim ersten Reinlesen stößt der mit dem Chinesischen vertraute Leser auf einige irritierende Eigenheiten und vermeintliche Kleinigkeiten, die sich schnell summieren: Schriftzeichen im Fließtext sind rot gesetzt – wohl damit sie sich vom Rest schön abheben und ihre Exotik unterstrichen wird. Zu jedem Schrifzeichen wird die Transkription (die konsequent als “Umschreibung” bezeichnet wird) angegeben, die Regeln für die Pinyin-Transkription [10] werden nicht eingehalten: Transkribierten Wörter sind in Kapitälchen oder kursiven Kapitälchen gesetzt.

Ziel der ersten beiden Kapitel dürfte es sein, dem mit dem Chinesischen (und – in kleinerem Umfang – dem Japanischen und dem Koreanischen) nicht vertrauten Publikum dessen Mysterien näherzubringen. Im Text gibt es keine Angaben, woher Informationen bezogen wurden – die Auflistung im Quellenverzeichnis (S. 280 f.) wirkt eher beliebig. Mitunter scheinen Informationen einfach aus Wikipedia übernommen zu sein, so u.a. “Die Völker der Volksrepublik China” (S. 30), die die “Liste der 70 als Nationalitäten anerkannten Völker der VR China” mit der Auflistung “List of ethnic groups inChina” oder die Aufstellung “Die Dialekte der ethnischen Han-Chinesen” (S. 31), die die “Liste der chinesischen Dialekte” übernimmt (weshalb hier die Markierung der Töne fehlt, deren (ansonsten außer in Lehrbüchern übliches) Fehlen die Autorin als “Manko” empfindet [S.7]). Die verwendete (?) Literatur ist eher älteren Datums, einschlägige aktuelle Titel zur chinesischen Schrift fehlen.

Insgesamt hinterlassen die ersten beiden Kapitel einen zwiespältigen Eindruck.Die gegebenen Erklärungen reichen nicht aus, dem Laien das jeweils beschriebene Phänomen der chinesischen Sprache oder der chinesischen Schrift verständlich zu machen – trotz vieler Abbildungen, Übersichten und Tabellen. Diese bringen für den, der sich mit der chinesischen Sprache beschäftigt hat, wenig Neues.Es darf bezweifelt werden, ob mit der Anleiung (S. 132 f.) ein unbekanntes Schriftzeichen in einem Wörterbuch gefunden werden kann. Die Beispiele, die das Chinesische charakterisieren sollen, geistern zum Teil seit Jahrhunderten durch die Literatur. Schon Athanasius Kircher brachte in China monumentis illustrata(S. 233 f.) die Reihe [一] 十 土 王 玉 als Beispiel dafür, dass es auf jeden Strich ankommt – ohne das ins Lächerliche zu ziehen (“Pünktchen, Pünktchen, Komma …” [Zippel, S. 116]).

Die Kapitel zur Typographie wiederholen zunächst in Kurzfassung die Grundgesetze der Typographie, die in den oben angeführten Werken wesentlich ausführlicher und präziser abgehandelt werden. Sie scheinen dann den Versuch zu machen, Chinesisches an europäische Seh- und Lesegewohnheiten anzupassen – anders sind manche Vorschläge/Regeln nicht zu verstehen. Die Kritik, die an chinesischen typographischen Konventionen geübt wird, zeugt von wenig Verständnis für Kulturspezifisches  (Beispiel: Zwei-Geviert-Einzug am Beginn eines Absatzes (S. 239)). Viele der technischen Angaben zu bestimmten Software-Produkten sind für den, der damit arbeitet, vermutlich selbstverständlich. Als Referenz zum schnellen Nachschlagen ist Fachchinesisch wohl nicht gedacht, die spärlichen Praxistipps sind gut versteckt.

Wozu also das Ganze? Ist es ein Katalog mehr oder weniger ‘schöner’ oder ‘brauchbarer’ CJK-Fonts (die Satzmuster ziehen sich durch den ganzen Band)? Eine bebilderte Einführung ins Chinesische? Oder doch eher gut platzierte Self-PR? Dass sich ein renommierter Verlag für diese wenig verschleierte Marketing-Aktion hergibt, wirkt denn doch befremdlich.


[1] Vgl. den Beitrag zur Historia des González de Mendoza in der Bibliotheca Sinica 2.0.

[2] Ennio Sandal: MUSCHIO, Andrea. In: Dizionario Biografico degli Italiani – Volume 77 (2012) | (Online-Version)

[3] Georg Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa. Entwicklungen im 19. Jahrhundert (Wiesbaden Harrassowitz 2004) 13.

[4] Susanne Zippel: 中日韩字体编排指南 Fachchinesisch Typografie. Chinesische Schrift verstehen und anwenden. Grundlagen multilingualen Erfolges in den Märkten des Fernen Ostens. Mit einem Vorwort von Frank Sieren (Mainz: Verlag Hermann Schmidt Mainz 2011)

[5] Hans Peter Willberg/Friedrich Forssman: Lesetypografie (5., revidierte Aufl.; Mainz. Verlag Hermann Schmidt Mainz 2010)

[6] Friedrich Forssman/Ralf De Jong: Detailtypografie. Nachschlagewerk für alle Fragen zu Schrift und Satz. Vierte, wiederum verb. Auflage (Mainz: Hermann Schmidt Verlag 2008)

[7] Rezensionen u.a.: Fontblog (Sabine Gruppe, 6.9.2011), Linotype Blog (6.10.2011), DesignerBusiness (Joachim Kobus, Mai 2012), Margrit Manz: “Chinesich – Magic Cube der Sprachen” (2012) [auch über typografie.de].

[8] Karen Cheng/Hennig Krause (Übers.): Anatomie der Buchstaben. Basiswissen für Schriftgestalter. Designing Type. (Mainz: Hermann Schmidt Verlag 2006)

[9] Johannes Bergerhausen/Siri Poarangan: Decodeunicode (Mainz: Hermann Schmidt Verlag 2012).

[10] GB/T 16159-1996 – National Standard of the People’s Republic of China (ICS 01.140.10). Approved and issued by the State Technology Supervision Bureau on January 22, 1996; effective on July 1, 1996.|《中文拼音正词法基本规则》 中华人民共和国国家标准GB/T 16159—1996 中文拼音正词法基本规则 1996-01-22发布 1996-07-01实施 国家技术监督局发布 (pinyin.info)

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/159

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Mind the gap(s): Raum und Zeit

Der visuelle Kanon, der ‘China’ und ‘Chinesisch-Sein’ markiert, ist äußerst langlebig. China-Bilder (im Wortsinn), die von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung längst überholt sind, bleiben lange im kollektiven Bewusstsein hängen, wie etwa die nebelverhangenen Bilder von den Schluchten des Changjiang 長江 (die durch den Drei-Schluchten-Staudamm überflutet wurden) und viele andere.

Ein Grund für die nur zögernde Aktualisierung dieser Bilder dürfte der Nimbus des Exotischen sein, der allem Chinesischen anzuhaften scheint und der unabhängig von der medialen Präsentationsform ist. Dieses rätselhafte China wird in Text und Bild dargestellt, in Dokumetationen ebenso wie in rein fiktionalen Darstellungen.

Fast alle ‘klassischen’ Comics-Serien haben zumindest eine China-Episode. [1]auch unter Les aventures de Tintin [dt. Tim & Struppi] gibt es mit Le lotus bleu [dt. Der blaue Lotus] einen China-Band. Le lotus bleu, das 5. Album der Reihe, erschien zunächst im Petit Vingtième, einer Beilage zur konservativen Zeitung  Le Vingtième Siècle, in einer Schwarz-Weiß-Fassung. Die einzelnen Abschnitte der  Serie – unter dem Titel “Tintin en Extrême-Orient” – erschienen zwischen 9. August 1934 und 17. Oktober 1934.  Als Album (in Farbe) erschien die Geschichte in stark überarbeiteter Form 1946.

Der blaue Lotus wird häufig als Wendepunkt in der Arbeit Herge’s bezeichnet – in mehrfacher Hinsicht: Häufig genannt wird  die Abkehr von der Reproduktion populärer Vorurteile [2] und die Hinwendung zu einer differenzierteren Darstellung. Dieser Aspekt wird explizit thematisiert: In einer Szene rettet Tim einen chinesischen Jungen aus einem reißenden Fluss – und der Junge frage, warum Tim ihn gerettet habe.[3] Tim antwortet “Tous les blancs sont pas mauvais, mais les peuples se connaissent mal.”  .[4]

Hergé greift ein Anfang der 1930er sehr aktuelles Thema – die Mandschurei-Krise – auf und ergreift für die chinesische Seite Partei. Das China, für das er Partei ergreift, ist allerdings nicht das China der 1930er, sondern das China der späten Qing-Zeit. Das China, das gezeigt wird, ist nicht das mondäne Shanghai der 1930er Jahre mit all seinen Widersprüchlichkeiten (das Mao Dun 矛盾 (1896-1981) in Ziye (1933, dt. “Shanghai im Zwielicht”) so einprägsam dargestellt hat), sondern ein sehr traditionelles/traditionalistisches China: Tim erwacht in traditionellen Gebäude [四合院 sìhéyuàn] mit Gitterwerk an den Fenstern und Rollbildern an den Wänden. Die Möbel sind vorwiegend an den Wänden entlang aufgestellt, zahlreiche ‘chinesische Vasen’ in allen Größen schmücken die Räume (Petit Vingtième n°47 du 22 novembre 1934/Album S. 18 f.). Sein Gastgeber, Wang Jen-Chie erscheint in der Kleidung eines chinesischen Gelehrten (Petit Vingtième n°48 du 29 novembre 1934/Album S. 19) – in einem knöchellangen Kleid, darüber eine ärmellose Weste mit Stehkragen und Knebelverschlüssen, das Haar unter einer kleinen schwarzen Kappe, weiße Socken und schwarze Stoffschuhe an den Füßen.

Die Shanghaier Straßenszenen, die Hergé entwirft, entsprechen dem Bild, das von frühen Bildpostkarten und frühen Fotografien vertraut ist – und diese Bilder sind durchaus langlebig: sehr belebte Straßen, von Läden gesäumt, die mit auffälligen Aufschriften und Fahnen Werbung machen, mächtige Stadtmauern mit wuchtigen Tortürmen, deren Dächer apotropäische Figuren (yánshòu 檐獸) tragen.

Dossier: La Chine, lointaine et proche - Sur fr.tintin.com

Quelle: http://fr.tintin.com/news/index/rub/100/id/3711/0/la-chine-lointaine-et-proche

Die elektrische Beleuchtung und die zahlreichen Strommasten und elektrischen Leitungen erscheint vor diesem Hintergrund besonders auffällig, gehörten aber seit den 1880ern zum Stadtbild in Shanghai. [5] In den 1930ern standen die Stadtmauern von Shanghai , die in Le Lotus Bleu immer wieder auftauchen,lange  nicht mehr, diese waren 1912 unter Gouverneur Chen Qimei zerstört worden. [6]

Dass Hergé zwischen dem Modernen und dem Alten schwankt, erscheint wenig verwunderlich – hatte er doch nur eingeschränkt Zugang zu dokumentarischem Bildmaterial und musste mit Informationen aus zweiter oder dritter Hand auskommen.

Umso verwunderlicher erscheint es, dass Versatzstücke aus Le Lotus Bleu fast siebzig Jahre später wieder verwendet werden. Der Kanadier Guy Delisle (*1966) verarbeitet in der Graphic Novel Shenzhen (2000, dt. 2006) seinen Aufenthalt in Shenzhen 深圳市. Delisle kam Ende 1997 für drei Monate in die Sonderwirtschaftszone im Süden Chinas, um für ein Trickfilmstudio Arbeiten zu überwachen. In tagebuchartigen Szenen beschreibt Delisle seine Wahrnehmung des ‘chinesischen Alltags’, den Umgang mit kulturellen Besonderheiten und interkulturellen Missverständnissen.

Guy Delisle: Shenzhen

Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
Comic Salon Erlangen 2008 | Delisle_ShenzhenS103Reprodukt.jpg
- Ausstellung: Guy Delisle – Lost in Translation
Copyright: Guy Delisle: Shenzhen. Seite 103 – Reprodukt

In einem ganzseitigen Panel (p. 103) werden Versatzstücke aus Le Lotus Bleu kombiniert zu einer Staßenszene: das Werbebanner und das Geschäftsschild aus dem oben besprochenen Panel [7], ein Rikschaläufer (vgl. Le Lotus Bleu Petit vingtième n°36 du 6 septembre 1934 [Panel unten rechts]/Album S. 7) und ein Lastenträger, der an einer langen Schulterstange schwere Lasten transportiert.

Die Banner über Geschäftseingängen gehören weiter zum Straßenbild [8], Rikschaläufer allerdings weniger und alte Männer in langen Gewändern sieht man ebenfalls selten …

Mind the gap(s) …

  • wenn ein Comic der 1930er mit Elementen aus dem China der 1900er/1910er Jahre arbeitet und
  • eine Graphic Novel im Jahr 2000 die Boomtown Shenzhen mit dem visuellen Vokabular der 1930er darstellen will.


[1] Die große Ausnahme ist Asterix, der kleine Gallier kam nie nach China.

[2] Die ersten Bände, vor allem ‘Tim & Struppi. Im Kongo’ erzählen von rassistischen Vorurteilen geprägte Geschichten, die den westlichen Imperialismus und Kolonialismus positiv herausstreichen.

[3] Erstfassung: Le petit vingtième No. 22 du 30 mai 1935 und Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 44 f.

[4] Erstfassung: Le petit vingtième n°22 du 30 mai 1935, Album S. 45 f.

[5] S. dazu: Frank Dikötter, Exotic Commodities: Modern Objects and Everyday Life in China (Columbia University Press, 2007) 133 und 135.

[6] Heute steht nur ein kleiner Rest, der als Museum genutzt wird [Dàjìng Gé Pavillon 上海古城墙和大境阁).

[7] Der Bezug ist eindeutig, Form (farblich abesetzter Rand mit Bogenkante) und Aufschrift des Banners sind identisch.

[8] Vgl. Moving Cities | Shenzhen

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/128

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Wenn Bilder wandern …. Oder: Von der Schwierigkeit, Karikaturen zu übersetzen

MIT Visualizing Cultures (Screenshot)

MIT Visualizing Cultures (Screenshot)

Seit mehr als 10 Jahren präsentiert das am Massachusetts Institute of Technology angesiedelte Projekt Visualizing Cultures, das in die Open Courseware-Initiative eingebettet ist, Module zur Geschichte Ostasiens und fördert bei regelmäßigen Konferenzen die Vernetzung von ForscherInnen unterschiedlichster Disziplinen, die mit Bildquellen arbeiten.

Visualizing Cultures was launched at MIT in 2002 to explore the potential of the Web for developing innovative image-driven scholarship and learning. The VC mission is to use new technology and hitherto inaccessible visual materials to reconstruct the past as people of the time visualized the world (or imagined it to be). [Quelle: http://ocw.mit.edu/ans7870/21f/21f.027/home/index.html]

Jedes Modul stellt Bildmaterial zu einem bestimmten Ereignis in den Mittelpunkt – wobei die Bildmaterialien, die vorgestellt werden, von Gemälden und Zeichnungen über Landkarten und Pläne zu Photographien, von Plakaten über Propoaganda-Postkarten zu Karikaturen reichen – wie beispielsweise:

Eines der Module beschäftigt sich mit der Kaiserinwitwe Cixi (Cixi 慈禧, 1835-1908). In The Empress Dowager and the Camera. Photographing Cixi, 1903-1904 bespricht David Hogge im Abschnitt Cixi’s Image Problem einige Karikaturen, um die Wahrnehmung der Kaiserinwitwe zu veranschaulichen. Unter diesen Karikaturen finden sich auch Beispiele aus österreichisch-ungarischen satirisch-humoristischen Periodika, so aus dem “Floh”, der “Germany” zugerechnet wird und aus dem “Kikeriki”.

Aus den verwendeten Karikaturen und deren Präsentation wird ersichtlich, wie komplex der Umgang mit der Quellengattung Karikatur ist – und warum es mitunter unumgänglich ist, auf das Original zurückzugreifen.

MIT Visualizing Cultures | Karikatur aus dem 'Kikeriki'Eine Karikatur (s. Abbildung links) aus dem “Kikeriki” [Bild cx235 (mit Quellenangabe, Vergrößerung])  ist besonders interessant. Thema das Schicksal der ausländischen Diplomaten in Beijing 北京 während der Yihetuan-Bewegung (義和團運動 Yihetuan Yundong, Boxer-Krieg, häufig auch “Boxer-Aufstand”) im Sommer 1900.

Die Karikatur hat hier keinen Titel, der Blocktext ist in französischer Sprache:

“Kikeriki, No. 97 June 12, 1900 (Austria)  “Cette bonne impératrice de Chine garde soigneusement dans le plus intime de son palais, les représentants des puissances. Alors! que signifie?”

In der Präsentationwird eine englische Übersetzung beigefügt:

“This good empress of China carefully guards in the innermost part of the palace the representatives of the Powers. So! what does that mean?”

Die Frage ist nicht unberechtigt – denn die ganze Sache erschein bei genauer Betrachtung durchaus mysteriös …

Als Quelle wird lediglich “Kikeriki, No. 97 June 12, 1900 (Austria) angegeben.  Das kann nicht sein, denn der 12. Juni 1900 war ein Dienstag. Der “Kikeriki”, eines der bedeutendsten satirisch-humoristischen Periodika des späten 19./frühen 20. Jahrhunderts, erschien wöchentlich am Dienstag und am Sonntag (s. Jahresübersicht Kikeriki 1900) – allerdings liegt der ‘Fehler’ schon in der Vorlage, die wohl einem französischen Sammelband mit China-Karikaturen oder Karikaturen zu ‘la guerre de Boxeurs’ entnommen wurde, das allerdings im Quellenverzeichnis nicht genannt wird.

ANNO | Kikeriki, 5.8.1900, S. 4 Das Original (s. Abb. rechts) findet sich auch in der Nummer  62 vom 5. August 1900 auf Seite 4 – dort mit einem deutschen Text:

Neuesten Nachrichten zufolge befinden sich die europäischen Gesandten unter dem Schutz der Kaiserin Tsu-tsi [i.e. Cixi] derzeit sehr wohl. [oberhalb der Karikatur]
- Aber so! [unterhalb der Karikatur]

Die Karikatur ist die sehr drastische Umsetzung der Interpretation der sehr widersprüchlichen Nachrichten aus China, denn einerseits gab es die offizielle Mitteilung, dass es den Gesandten gut geht, andererseits kamen zahllose Gerüchte darüber, dass die Gesandtschaften niedergebrannt und alle Gesandten gefangen genommen oder gar ermordet worden wären. Im Zentrum thront eine weibliche Figur, die durch Kleidung, Frisur und (über)lange Fingernägel als ‘Chinesin’ markiert und durch den Blocktext als Cixi identifiziert wird. Sie ‘bewacht’ einen Käfig mit der Aufschrift “Gesandtschafts-Palais”. In diesem Käfig sind eine ganze Reihe von Figuren gefangen, die durch Kleidung/Uniform, Kopfbedeckungen und Frisuren als Ausländer markiert und durch den Text als diplomatische Vertreter identifiziert sind. Zu erkennen sind (v. l. n. r.) Russland, Spanien, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien und das Deutsche Reich. Rechts neben dem Käfig ist ein rauchender Ofen mit der Aufschrift “Englische Gesandtschaft” zu sehen. Im Bildhintergrund links ist ein als chinesisch markiertes Gebäude mit der Aufschrift “Kaiserpalast” zu sehen.

Ohne den Text wäre das eines von vielen [1] kaum verhüllt rassistischen und Chinesen-feindlichen Bildern (Karikaturen und Bildwitzen) des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der Blocktext erlaubt eine Einordnung, er setzt einen Rahmen, der zwar am in der manifesten Feindbild nichts ändert, für die Deutung der Karikatur aber zwingend notwendig ist. Durch die Übersetzung und die damit verbundene Verfremdung in der im Visualizing-Cultures-Modul präsentierten Version (die allem Anschein nach aus einem französischen Sammelband von Karikaturen stammt) wird die Bedeutung verändert, die Pointe ist verloren. Aus einer pointierten Karikatur wird eine platte Feindbilder verstärkende Zeichnung von begrenzter künstlerischer Qualität …

[1] Die Karikatur ist eine von mehr als dreihundert zum Thema China, die zwischen 1894 und 1917 im Figaro, im Kikeriki, im Floh, in den Humoristischen Blättern und in den (N)euen Glühlichtern erschienen.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/68

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