“Groß-Peking” (1892): Ein Bilderbogen im “Floh”

Das Gschnas der Genossenschaft der Bildenden Künstler Wiens bildete einen der Höhepunkte des Wiener Faschings und wurde dadurch auch Thema in satirisch-humoristischen Periodika. Der größte Teil beschränkt sich auf kurze Wortspiele und Anspielungen auf die ‘Chineser’ in Wien. Eine Ausnahme gibt es:  Der Floh widmete dem Gschnas die Doppelseite “Skizzen vom Künstlerfest 1892″[1] – eine Collage aus ‘chinesischen’ Typen und Karikaturen der Attraktionen des “Fests in Groß-Peking”.

Der Floh (6.3.1892)

http://mindthegaps.hypotheses.org/wp-admin/post.php?post=1704&action=edit&message=10 Der Floh Nr. 10 (6.3.1892) 4-5. Quelle: ANNO

Betrachtet man die Seite ohne Wissen um den Kontext wirken die einzelnen Elemente wie wenig originelle Versatzstücke zeittypischer China-Karikaturen: kleine Männchen in merkwürdigen Kleidern, Zöpfe in allen Längen, Faltschirmchen, Pfauenfedern, Palmen, chinesische Dächer und gepinselte Schriftzüge. Kombiniert mit Informationen aus den Tageszeitungen von Ende Februar/Anfang März 1892 ergibt sich ein gaz anderes Bild.

 

Floh - Bilderbogen | Schema

Floh – Bilderbogen | Schema

Der Titel (1)  läuft in zwei Bändern von oben nach unten. Wie in den meisten gepinselten Schrifzügen, die asiatisch wirken sollen, sind die ‘Pinselstriche’ sehr gleichförmig, hier fangen die Striche fein an und werden zum Ende des Strichs breiter – die dabei gebildeten Buchstaben wirken plump und wenig ästhetisch. Die Verbindung gepinselt = asiatisch ist jedoch dauerhaft und fix im visuellen Vokabular verankert.[2]

Die in einem farbig angelegten Feld tanzenden Figuren (2) illustrieren den Typus des ‘Chinesen’ in satirisch-humoristischen Periodika der Zeit: eher beleibte Figuren, meist in wadenlangen Röcken/Kleidern und Jacken mit weiten Ärmeln, an den Füßen Schuhe mit weißen (Stoff-)Sohlen.

“Theyer’s Raritätenkabinett” (3) und “Panneaux v. Petrowiz” (4) gehörten zu den Höhepunkten der Ausstattung. Der Architekt Leopold Theyer (1851-1937)[3] gestaltete für sein “Raritäten-Kabinett” aus Sperrholz, Papier und Farbe ‘asiatische’ Gegenstände, auch Waffen mit “Kaffeemühlenantrieb”:

Der sehr complicirte Mechanismus dieser ungefährlichen Mord-Instrumente ist meist auf dem Kaffeemühlen-Systeme aufgebaut.[4]

 

Im Bilderbogen verarbeitet sind zwei Kästchen mit Einlegearbeit, das Pfalnzgefäp mit den Drachen (die aus Rebwurzeln gemacht waren), ein Gewehr mit Kaffeemühle – und “eine zweigeschwänzte grüne Löwin mit rothen Augen” ((“Local-Anzeiger” der Presse Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.))

Von der anderen Seite aus betritt man ein reizendes chinesisches Interieur. Hier haben Maler Petrovits und Architekt Theyer ein geradezu blendendes chinesisches Museum zusammengestellt. Porzellanarbeiten und japanische Lackkästen, phantastische Musik-InsTrumente, und zahlreiche, theils aus Tapetenstoffen und kartenblättern zusammengearbeitete, theils gemalte, theils plastisch gearbeitete Bilder, lauter chinesische Volkstypen darstellend, Möbel mit Perlmutter und Metall eingelegt – Alles blutigster “Gschnas”, aber von täuschender Wirkung.[5]

Der Maler Ladislaus Eugen Petrovits (1839-1907)[6] gestaltete für sein Panneau ‘chinesische’ Volkstypen – die in der Karikatur sehr wienerisch wirken:

Da ist ein prächtiger Fiaker, ein urgrober Hausknecht [d.i. die Figur ganz rechts]- in chinesischen Lettern hat dieses Bild die Aufschrift: “A Blick, a Watschen, a Leich!” [7], dann der Sonntagsreiter, das Stubenmädchen, der Sicherheitswachter mit dem Fiakertarif in der Tasche und vor allem die elegante junge Dame [d. i. die Figur ganz links], der das Unglück passieren mußte, sich in die Leine, an der sie den kleinen Mops spazieren geführt, zu verwickeln. Das arme Thierchen pendelt an der grünen Schnur weitab aus dem Bilde heraushängend.”[8]

Eine Attraktion des Festes waren die  “Pagoden” (5), rund 150 Figuren in Form von ‘Wackelpagoden’, die Schauspielerinnen und Schauspieler, Politiker und Beamte darstellten. Der größte Teil dieser Figuren war mit einem Mechanismus ausgestattet, der den Kopf in Bewegung setzte:

[...] die “Pagodln”, der mit unterschlagenen Beinen und auf dem Dickbauch verschlungenen Armen gebildete bekannte Typ des kopfnickendne Chinesen [...] Die Mehrzahl der Köpfe ist nicht carikirt sondern bei aller Flüchtigkeit der improvisirten Arbeit von frappirender Porträt-Aehnlichkeit.[9]

Die Bilder  “Aus d. geistigen Groß-Peking” (6) zeigen bekannte Persönlichkeiten im ‘chinesischen’ Gewand. Die Darstellungen sind  vereinfachte (und stark verkleinerte) Auszüge aus Das geistige Großpeking ((Das geistige Großpeking (Wien: Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens [ohne Datum]), Der Band präsentiert Porträtkarikaturen, die die Mitglieder der Gesellschaft bildender Künstler und andere Kulturschaffende der Zeit in ‘asiatischen’ Gewändern darstellen. Ergänzt werden diese durch Kurzbiographien dieser “Pekinger”: (obere Reihe, von links): Felix ((D.i. der Maler Eugen Felix (1836-1906) – zur Biographie: “Felix, Eugen, Maler” In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 1 (1957) 296).)) (S. 19 in “Das geistige Großpeking”)  , Maireder[10] (S. 33) und Trentin A. (ungebildet)[11] (S. 61); (untere Reihe, von links): Notsch[12] (S. 37), Girardi[13] (S. 15), Udel[14] (S. 63) und Roth[15] (S. 45). Wenzel Noltsch wirkt einigermaßen ‘chinesisch’, er trägt die Kappe mit Rangknopf und herabhängender Pfauenfeder, Mayreder hat ein Zöpfchen, doch insgesamt beschränkt sich das ‘asiatische’ auf geblümte/gemusterte Gewänder, die an Haus- oder Morgenmäntel erinnern.

Die “Typen” in der Mitte (7 und 8)und in der linken unteren Ecke (10) zeigen Figuren in ‘asiatischen’ Kostümen, wobei sich zu phantasievollen Elementen (wie den Kopfbedeckungen der beiden Figuren in den Karierten Gewändern) und den allgemein üblichen Zöpfen vor allem bei den weiblichen Figuren chinesische und japanische Elemente mischen. Die beiden nur teilweise dargestellten Figuren (7) sind in Kimono-ähnliche Gewänder mit breiten Bindegürteln gehüllt, die vollständig dargestellte Figur mit dem Blattfächer trägt Kleidung, die an chinesische Vorbilder erinnert.

Das ‘chinesische’ Tor (9) karikiert den Eingang zu den Festräumen – die mit allen Arten von Ankündigugne beklebte Mauer und das Tor mit dem geschwungenen Dach wird in Zeitungsberichten wiederholt beschrieben:

Den Eingang in die chinesische Riesenstadt wehrt die berühmte chinesische Mauer, reich mit bunten Plakaten und vielfältigen Anschlagzetteln beklebt.[16]

Vor dem Tor sitzt unter einem Schirm eine dickbäuchige Figur, die den so genannten “lachenden Buddha” [xiàofó 笑佛 oder bùdài 布袋 (=japanisch: hotei) erinnert.

"Prix fix nix" (9) zeigt eine der zentralen Installationen beim Fest: eine Statue des Wiener Bürgermeisters Dr. Johann Nepomuk Prix (1836-1894)[17]. Am Fuß dieses Standbildes sitzen zwei Wiener Gemeinderäte: links Karl Lueger (1844-1910),  rechts Ferdinand Dehm (1846-1923):

In der Mitte des Oberlichtsaales auf dem Ehrenplatze steht das Porcelan[sic]-Monument des Bürgermeisters von Groß-Peking. Wie ein alter Heiliger Hält Bürgermeister D. Prix, dessen Kopf von sprechender Porträtähnlichkeit ist, in der einen Hand ein Modell des Rathhauses, in der andern den eisernen Mann desselben[18] Sein faltiger Mantel zeigt auf weißem Grunde in blauem Email den großen chinesischen Drachen und anderes Fabelgethier aus dem Reich der Mitte. [...] Seitwärts flankirt wird das Monument durch einen Vertreter der Opposition und einen der Mehrheit. Zu ersterem ist der böse Lueger gesessen, dessen Kopf, wenn man an der Figur rührt, “Nein” schüttelt; sein Gegenstück ist Gemeinderath Dehm. Die Gestalt sagt, “warum denn nicht, mir ist’s recht”, der Kopf nickt Ja. Die weiße Porcelanfigur Lueger’s hat das Zwiebel- und Knoblauchmuster des alten Meißnerstyls als Allegorie seiner antisemitischen Richtung, der brave Dehm ein schönes Vergißmeinnichtmuster. Der Meister dieses Bürgermeister Standbildes und seiner Nebenfiguren ist Professor König. [19]

Lueger und Dehm sind so eindeutig dargestellt, dass es keiner Zusatzinformation bedarf, Prix wird durch die inschrift am Sockel identifiziert. Auch die im Bilderbogen dargestellten “Pagoden” (5) dürften für das Publikum erkennbare Karikaturen gewesen sein.

An diesem Beispiel zeigen sich die Herausforderungen der Arbeit mit historischen Karikaturen sehr deutlich, denn beim genaueren Hinsehen erweisen sich die (aus der Distanz wenig witzigen, manchmal fast plumpen) Zeichnungen als überaus vielschichtig.

 

Teil 1: Ein ‘chinesisches’ Wien
Teil 2: Die Medaille zum Fest
Teil 3: “Seine Umgebung und Groß-Peking. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892″
Teil 4: Das Fest im Spiegel satirisch-humoristischer Periodika
Teil 5: Das Chinabild in “Groß-Peking”

  1. Der Floh Nr. 10 (6.3.1892) 4-5.  Online: ANNO – Anmerkung: Das Digitalisat ist leider nur Schwarz-Weiß, was gerade beim Floh, dem ersten Wiener Blatt, das farbige Karikaturen und Zeichnungen brachte, sehr bedauerlich ist. Das Original konnte nicht eingesehen werden.
  2. Es sei hier auf Firmenschilder asiatischer Läden, Vor-/Nachspann asiatischer Filme in Fassungen für den Westen und ähnliches verwiesen.
  3. Zur Biographie: “Theyer, Leopold (1851–1937), Architekt, Kunsthandwerker und Lehrer” In: Österreichisches Biographisches Lexikon Bd. 14 (2014) 294 f.
  4. Wiener Zeitung Nr. 49 (1.3.1892) 4. Online → ANNO.
  5. Wiener Zeitung Nr. 49 (1.3.1892) 4 – online: ANNO.
  6. Zur Biographie: “Petrovits, Ladislaus Eugen (1839-1907), Maler und Illustrator” In: Österreichisches Biographisches Lexikon Bd. 8 (1979) 7.
  7. “Ein Blick, eine Ohrfeige, eine Leiche!”
  8. “Local-Anzeiger” der Presse Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.
  9. “Local-Anzeiger” der Presse. Beilage zu Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.
  10. D.i. der Architekt Carl Mayreder.
  11. D.i. der Maler Angelo Trentin (1850-1912).
  12. D. i. der Maler Wenzel Ottokar Noltsch (1835-1908).
  13. D.i. der Schauspieler Alexander Girardi (1850-1918).
  14. D. i. der Musiker und Sänger Karl Udel [Udl] (1844-1927).
  15. D. i.  der Architekt Franz Roth (1841-1909), der 1890-92 Präsident der Gesellschaft bildender Künstler war.
  16. Wiener Zeitung Nr. 49 (1.3.1892) 3 – online: ANNO.
  17. Zur Biographie: “Prix, Johann Nep. (1836-1894), Jurist und Kommunalpolitiker”. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 8 (1981), 287.
  18. Gemeint ist der “Rathausmann“, die Figur eines Ritter mit Standarte, die auf der Spitze des mittleren Turms des Wiener Rathauses steht. Im Bilderbogen fehlt der Rathausmann, Prix scheint eher auf etwas zu deuten.
  19. “Local-Anzeiger” der Presse. Beilage zu Nr. 59 (28.2.1892) 14 – online: ANNO.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1704

Weiterlesen

“Groß-Peking” (1892): Ein Handbuch für Reisende

Für ihr Gschnas am 29. 2. 1892 gab die Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens das Motto “Groß-Peking” aus – das Künstlerhaus verwandelte sich in ‘chinesische’ Festräume, als Rahmen, um die Verhältnisse in Wien heiter und satirisch zu kommentieren. Neben einer Medaille zum Fest gab es auch ein ‘Handbuch’ für Reisende unter dem Titel Seine Umgebung und Gross-Peking. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892. Hrsg. von dem Verein für interessirten Fremdenverkehr. Das Bändchen entspricht in der Aufmachung den Baedeker-Reiseführern des späten neunzehnten Jahrhunderts: roter Leinenband mit charakteristischen Prägelinien, der Titel des Bandes in Goldschnitt. Der Titel macht deutlich, dass damit die so beliebten Reiseführer persifliert werden sollen – denn es heißt eben nicht ‘Gross-Peking und seine Umgebung’ (wie es die Baedeker-Leserinnen und -Leser erwartet hätten), auch wenn das mancher Berichterstatter einfach umdreht, wie in der Tageszeitung Die Presse, die am Tag nach dem Fest Auszüge aus diesem Reisehandbuch für alle “[j]ene unserer Leser, welche heute Nachts nicht den Massenausflug der wiener nach Groß-Peking mitgemacht haben [...]”[1]

Ein fiktiver Baedeker

Der direkte Vergleich mit zeitnah erschienen Baedeker-Bänden wie Berlin und Umgebungen. Handbuch für Reisende (7. Aufl. 1891) oder Palästina und Syrien. Handbuch für Reisende (3. verb. und erw. Aufl., 1891) zeigt, wie geschickt das gut eingeführte Format der Reiseführer hier persifliert wurde

  • Einbandgestaltung und Layout
  • Untertitel:
    • Gross-Peking: “Mit vielen Tarokkarten für die Reise, Zugrundrissen, Zukunfts- und anderen Plänen”
    • Palästina und Syrien (3. Aufl.): “Mit [...] Karten, [...] Plänen und vielen Grundrissen”,
  • Das Sternchen * zur Kennzeichnung besonderer Sehenswürdigkeiten:
    • Gross-Peking: “Beachtenswerthes ist mit einem * bezeichnet; ebenso narülich, was besonders gut oder schlecht ist, um die Reisenden von Vorneherein vor jeder Täuschung und jedem Schaden zu bewahren.” (S. 8)
    • Palästina und Syrien (3. Aufl.): “Vorzugsweise Beachtenswertes ist durch Sternchen (*) hervorgehoben.” (S. VI)
  • Kapitelüberschriften

Das ausführliche Inhaltsverzeichnis von Seine Umgebung und Gross-Peking geht bis Seite 159 “Diverses”, tatsächlich umfasst der Band (inklusive der Anhänge und der am Schluss angefügten Bildtafeln) 96 Seiten, dazu drei Karten und Pläne (s.u.), die wohl als ausklappbare Falttafeln beigebunden waren. [2]
Der Text endet mit Seite 86, “Tramway-Signale”, danach folgen Abbildungen (eine Skizze des ‘chinesischen’ Künstlerhauses, mehrere Witzzeichnungen und zum Abschluss die Gedenk-Medaille). Die im Inhaltsverzeichnis ab 86 gelisteten Kapitel “Fahrpläne und Tramway-Signale”, “Announcen”, “Theater-Repertoire”, “Münz-Tabellen”, “Zeitumrechnungstabellen für die öffentlichen Uhren”, “Grundrisse”, “Landkarten”, “Flusskarten” und “Diverses” sind reine Fiktion

‘Chinesisches’ im Handbuch Seine Umgebung und Gross-Peking

Im Stil der Baedeker-Handbücher werden ‘Besonderheiten’ beschrieben, wobei alltägliches ‘chinesisch’ verpackt wird:

In der Mitte dieses Locales [eines Kaffeehauses, Anm. d. Verf.], [...] sitzt in einem eigenen Verschlage eine Priesterin, welche oft sehr geschmückt und im Antlitz weiss und roth bemalt ist. Sie führt den Namen “Cass-i-rin” und wird von den Männern sehr verehrt[3]

Die “Cass-i-rin” ist die Kassier(er)in, bei der man die konsumierten Speisen und Getränke bezahlte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Sitzkassierin die einzige sichtbare Frau in Kaffeehäusern[4] Die (mitunter auch fehlerhafte) Trennung der Silben durch Bindestrich war ein häufig eingesetztes Stilmittel, um Texte ‘chinesisch’ erscheinen zu lassen: man ahmte damit den so genannten Monosyllabismus des Chinesischen nach. Auch im Handbuch findet sich dafür zahlreiche Beispiele, so “A-SCHEN-Mark[t]” (S. 44)[5] oder “FA-SCHING” (S. 48), “Ki-lo” (S. 44) etc. Die ‘chinesische’ Schreibweise findet sich auch bei Personennamen, vor allem bei Künstlerinnen und Künstern, wie z. B.: “W-ol-te-r” (S. 52)[6], “Le-wins-k-y” (D.i. Josef Lewinsky (1835-1907), zur Biographie: Edith Marktl: „Lewinsky, Josef“. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 416 f. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116972130.html; “Lewinsky, Josef (1835-1907), Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller” in Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 5 (1970), S. 172.)), “An-to-ni-e Schl-lä-g-er”[7] (S. 53), “Re-na-rd”[8] (S. 54), “Va-nd-y-c-k”[9], der als “Fremder, ein Nachkomme eines berühmten Malers, der so schöne Götterfrauen auf Leinwand gezaubert hat” (S. 54) bezeichnet wird, oder die Publikumslieblinge “San-drock”[10] und “Te-we-le” (S. 55), “Pal-May”[11] und “Gi-ra-rdi”[12] (S. 56).

Mitunter finden sich auch kreativere Schöpfungen wie “Thal der Sonne” (S. 52) für Adolf von Sonnenthal (1834-1909), einen der bedeutendsten Schauspieler seiner Zeit[13].
Interessanter als diese kleinen, leicht zu lösenden ‘Chinesereien’ ist der “WIEN-HO-Strom” (44 et passim), also die Wien oder der Wienfluss, der in den 1890er Jahren reguliert und zum größten Teil eingewlöbt wurde und heute bei der Urania in den Donaukanal mündet.  “HO-Strom” ist eine Tautologie, denn das chinesische   河 bedeutet “Fluss” (wie etwa in Huáng Hé 黄河 “Gelber Fluss”).  Im Abschnitt “Das Theater” erfährt man nebenher etwas über die Flüsse:

Gross-Peking zählt sechs gebaute, einundzwanzig ungebaute und ehn heruntergerissene Theater, welche letztere zumeist auf dem riesigen Erdwerke zwischen dem Yangtsekiang, dem grossen Fluss und dem Wien-ho, dem gelben mitunter, auch grauen und schwarzen Fluss sich erheben.[14]

Hier wird die Donau als “Yangtsekiang” [Yángzǐjiāng 揚子江][15] bezeichnet, als “großer Fluss”, und der “Wien-ho” als “gelber” [Fluss]. Die Gleichsetzung der Donau mit dem Cháng Jiāng, dem mit etwa 6380 Kilometern längsten Fluss Chinas erscheint verständlich.Die Gleichsetzung des Wienflusses mit dem Huáng Hé erscheint auf den ersten Blick sehr weit hergeholt: der Huáng Hé ist der zweitlängste Fluss Chinas, der Wienfluss ist wenig mehr als 30 Kilometer lang.  Eine (sehr weit hergeholte) Ähnlichkeit sind die Überschwemmungen, deren Dimensionen allerdings nur schwer vergleichbar sind.

Zu den Theatern heißt es weiter:

Die Theater werden auf zweierlei Art erbaut: entweder durch den Tutschajuen, den Rath der öffentlichen Censoren, oder durch öffentliche Zeichnung von Antheilscheinen [...][16]

Der dūcháyuàn 督察院  war eine der wichtigsten Behörden der Zentralverwaltung im kaiserzeitlichen China, deren Aufgaben mit der üblichen Übersetzung “Zensorat” nur unzureichend charakterisiert werden[17].  Die Formulierung “Tutschajuen, [...] Rath der öffentlichen Censoren” ist wohl aus dem Artikel “China” der vierten Auflage von Meyers Konversationslexikon entnommen:

An die Zentralverwaltung berichtet der “Rat der öffentlichen Zensoren” (Tutschajuen). Diese höchst merkwürdige Institution zählt etwa 60 Mitglieder unter 2 Präsidenten (der eine von chinesischer, der andere von tatarischer Abkunft). [...][18]

Die Nester von Salanganen (Collocaliini), genauer die derWeißnestsalanganen (Aerodramus fuciphagus), sind die Vogelnester in der  yànwō 燕窩 [wörtlich "Schwalbennest"], der Schwalbennestersuppe, einer der teuersten Speisen der chinesischen Küche. Nun waren die essbaren Nester seit dem 17. Jahrhundert in Europa bekannt[19] – aber ob dem Wiener Publikum des späten 19. Jahrhunderts das geläufig war?

Karten und Pläne

Wie es sich für ein Reisehandbuch gehört, enthält auch Seine Umgebung und Gross-Peking neben Illustrationen zum Text auch Karten und Pläne:

  • “General-Regulirungs-Plan von Gross-Peking und dessen Verkehrs-Anlagen”
  • “Neuester Plan von Groß-Peking mit der projectirten neuen Stadtbahn nach dem System ‘Spirale’ nebst Angabe der Haupt-Bahnhöfe”
  • “Local-Plan von Gross-Peking”

Der “Local-Plan von Gross-Peking” ist ein Grundriss des Künstlerhauses, in dem die wichtigsten Attraktionen für das Gschnas lokalisiert sind.

Der “General-Regulierungs-Plan” legt über einen Plan der Stadt Wien ein Muster von roten Rechtecken, die eine ‘neue’ Verwaltungsgliederung markieren sollen.
Der “Neueste Plan [...] mit der projectirten neuen Stadtplan” legt über einen Plan der Stadt Wien eine dicke Spirallinie, die ihren Anfang auf dem Stephansplatz im ersten Wiener Gemeindebezirk hat. Dort sollte der Stephansdom durch den “Central-Bahnhof” ersetzt werden. Die spiralförmig nach außen laufende Stadbahnlinie berührte alle wichtigen Gebäude der Stadt.

Charakteristika

Der Großteil der Texte bezieht sich auf aktuelle Themen der Lokalpolitik (Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Straßenbahn und Stadtbahn, um das Post- und Telegraphenwesen) und des kulturellen Lebens der Stadt (Theater, Musiktheater, Musik) in heiteren Anekdoten mit zahlreichen Anspielungen auf allgemein bekannten Eigentümlichkeiten oder physiognomischen Merkmalen von Sängern und Sängerinnen und Schauspielerinnen und Schauspielern. Häufig wird einfach “Wiener” durch “Pekinger” ersetzt (etwa beim “Pekinger Walzer”.)

Bemerkenswert erscheint die Verpackung antisemitischer Untertöne, die sich gegen “Buddhisten” richten:

Farblose Journale nennt man officiös. In neuerer Zeit gibt es auch antibuddhistische Zeitungen, die sich grün und gelb ärgern, und buddhistische, die nach Bedarf schwarz-gelb, weiss-schwarz, grün-weiss-roth oder auch ganz roth sind. [...][20]

Gedichte und kurze Essays greifen gängige China-Stereotype (u.a. Zöpfe in allen Varianten, Pagoden und Wackel-Pagoden) auf und verbinden kleine Neckereien mit Allgemeinwissen und Halbwissen (wozu auch die China-Japan-Unschärfen zu zählen sind.)

Der/die Verfasser

Dem Titelblatt des Handbuchs ist zu entnehmen, dass  Franz Xaver Kilian von Gayrsperg (1854-1907) für den Inhalt verantwortlich war. Kilian von Gayrsperg, im Zivilberuf Inspektor bei der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft, lange Jahre Kultur-Redakteur des Neuigkeits-Weltblatts[21], als Schriftsteller Mitglied der Gesellschaft der bildenden Künstler Österreichs, warverantwortlich für zahlreiche ihrer Gelegenheitsschriften.
in dem Band (S. 4.) werden weitere Mitarbeiter genannt zahlrieche weitere Mitarbeiter genannt:

  • Text

    • “J. Deininger”  = der Architekt Julius Deininger (1852-1924)[22] war bis 1902 Mitglied der Gesellschaft.
    • “Eduard Zetsche” = der Maler und Autor Eduard Zetsche (1844-1927)[23]
    • “Dr. Ilg” = der Kunsthistoriker Albert Ilg (1847-1896)[24]
    • “W. O. Noltsch” = der Maler Wenzel Noltsch (1835-1908)[25], seit 1869 Mitglied der Gesellschaft bildender Künstler Österreichs[26] und eine der zentralen Figuren bei der Ausrichtung der jährlichen Gschnas-Veranstaltungen.
    • “Laska von Oestéren” =  Láska van Oestéren, die Empfängerin von Rilkes Briefen an die “Baronesse von Oe.”
    • Marie Weyr” = die Schriftstellerin Marie Weyr (1864-1903), ältere Tochter des Schriftstellers Friedrich Uhl (1825-1906), und Ehefrau des Malers und Bildhauers Rudolf (von) Weyr (1847-1914), der ab 1872 Mitglied der Gesellschaft bildender Künstler Österreichs war.
  • Illustrationen:
    • “Ernst Juch” = der Maler und Karikaturist Ernst Juch (1838-1909)[27]
    • “Architekt Mayreder” = der Architekt Karl (Carl) Mayreder (1856-1935)[28]
    • “Theo Zasche” = der Maler und karikaturist Theodor Zasche (1862-1922)[29]

Juch und Zasche steuerten  Bildwitze bei, die den Text auflockern, und Karikaturen der im Text erwähnten Künstler in ‘chinesischen’ Gewändern. Dazu kommen ganzseitige Abbildungen, die bekannte Gebäude Wiens ‘chinesisch’ verwandeln: mit Teekannen als Dachfiguren und/oder mit Glöckchen und Wimpeln an Dächern und Fenstern.

Last but not least …

Beijing 北京 und seine Umgebung sind erst ab 1904 in Baedeker-Reiseführern präsent: In der 6. Auflage des Russland-Baedekers[30] gibt es zum ersten Mal ein Kapitel “Peking und seine Umgebung” (S. 494-508).

Teil 1: Ein ‘chinesisches’ Wien: “Groß-Peking” im Künstlerhaus (1892)
Teil 2: Die Medaille zum Fest
Teil 3: “Seine Umgebung und Groß-Peking. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892″
Teil 4: Das Fest im Spiegel satirisch-humoristischer Periodika
Teil 5: Das Chinabild in “Groß-Peking”

  1. Local-Anzeiger der “Presse”Beilage zur Nr. 61 (1.3.1892) 1. Online: ANNO.
  2. Eingesehen wurden zwei der drei Exemplare im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek. Das Exemplar mit der Signatur 299992-A  enthält nur den “Local-Plan von Gross-Peking”, das Exemplar mit der Signatur 235140-A enthält die beiden Pläne “General-Regulirungs-Plan von Gross-Peking und dessen Verkehrs-Anlagen” und “Neuester Plan von Groß-Peking mit der projectirten neuen Stadtbahn nach dem System “Spirale” nebst Angabe der Haupt-Bahnhöfe”, nicht aber  den “Local-Plan”. Das Exemplar 746806-A (bisher nicht eingesehen) enthält laut Katalogeintrag alle drei Pläne.
  3. Seine Umgebung und Gross-Peking (1892) 15.
  4. Abb.: “Café Weghuber.  Interieur. Kassa mit Sitzkassierin und Blick in die Küche. (Wien, um 1900)” Österreichische nationalbibliothek, Inventar-Nr.  100.912E. <abgerufen am 26.8.2014>.
  5. “Aschenmarkt” war die gebräuchliche Bezeichnung für den Kärntnertormarkt, der unächst ab dem frühen 19. Jahrhundert im Volksmund, seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch offiziell als “Naschmarkt” bezeichnet wurde. (Andreas Gugler: “Der Tisch der Wiener – ein kulturgeschichtlicher Exkurs”. In: Peter Csendes/Ferdinand Opll/Karl Vocelka (ed.): Wien: Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert) (= Wien: Geschichte einer Stadt, Bd. 2; Wien: Böhlau 2003) 162-169, speziell 168 f..
  6. D.i. Elisabeth Charlotte Wolter (1834-1897). Zur Biographie: Alexander von Weilen: „Wolter, Charlotte“, in: Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 44 (1898), S. 167-170 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd11880782X.html?anchor=adb.
  7. D i. Antonie Schläger, eigentlich: Lautenschläger (1859-1910), zur Biographie: Clemens Höslinger: “Schläger Antonie (Toni)”. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 10 (1994) 166.
  8. D.i. Marie Therese Renard, eigentlich Marie Pölzl (1864-1939), zur Biographie: Clemens Höslinger: “Renard Marie.” In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 9 (1988) 77.
  9. D. i. Ernest van Dyck (1861-1923). Malou Haine: “Trente ans de voyages incessants (1883-1913). le cas du ténor wagnérien Ernest Van Dyck”. In: Christian Meyer  (ed.):  Le musicien et ses voyages. Pratiques, réseaux et représentations (= Musical life in Europe 1600-1900, Bd. 1; Berlin: BWV-Berliner Wissenschafts-VEralg  2003) 223-247.
  10. D.i. Adèle Caroline Sandrock (1863-1937), zur Biographie: Claudia Balk: „Sandrock, Adele“, in: Neue Deutsche Biographie Band 22 (2005), S. 429-430 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118605429.html.
  11. D.i. Ilka Pálmay (1859-1945).
  12. D. i. Alexander Girardi (1850-1918). Zur Biographie: Günther Hansen: „Girardi, Alexander“, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 6 (1964), S. 409-410 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd11869510X.html.
  13. Zur Biographie: Ralph-Günther Patocka: „Sonnenthal, Adolf von“, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 580-581 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119343207.html.
  14. Seine Umgebung und Gross-Peking (1892) 50.
  15. Die Bezeichnung wird im chinesischen nur für den Unterlauf des  Cháng Jiāng 長江 [wörtlich "langer Fluss"] verwendet.
  16. Seine Umgebung und Gross-Peking (1892) 50.
  17. Zum dūchcháyuàn s. Charles O. Hucker: A dictionary of official titles in Imperial China (Stanford: Stanford University Press 1985) Nr. 7183: tū ch’á yüàn 督察院 (S. 536).
  18. Meyers Konversations-Lexikon. Vierte Auflage. Band 4. China – Distanz (Leipzig/Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts 1885-1892) 13.

    Od das dem Publikum geläufig war, sei dahingestellt. Manche der Texte stellen durchaus hohe Ansprüche an das Allgemeinwissen, so etwa wenn es in “Harakiri (Dem Erlkönig chinesisch nachempfunden)” (S. 74 f.) heißt:

    “[...] O liebes Kind, o halte mir,
    Viel schöne Dinge schenke ich Dir,
    Viel Regenwürmer und Salanganen
    Und Mandarinen und Bananen!” ((Seine Umgebung und Gross-Peking (1892) 74).

  19. vgl. Meyers Konversations-Lexikon 4. Auflage, Bd. 14, 209 f. s.v. “Salangane”, s. auch die dazu gehörende Abbildung.
  20. Seine Umgebung und Gross-Peking (1892) 27.
  21. S. “Franz Xaver Kilian-Gayrsperg †.” In: Neuigkeits-Welt-Blatt Nr. 172 (30.7.107) 4. [online: ANNO] Vgl. auch die Notiz in der Neuen Freien Presse Nr. 15420 (28.7.1907), 9 [online: ANNO]. Wenig aussagekräftig: “Kilian von Gayrsperg, Franz Xaver (1854-1907)” in Österreichisches Bibliographisches Lexikon Band 3 (1964) 330.
  22. Eintrag “Julius Deiniger” im Architektenlexikon Wien 1770-1945 <abgerufen am 26.8.2014>.
  23. Zur Biographie: Landesmuseum Niederösterreich, Personenlexikon,  “Eduard Zetsche (1844-1927)” <abgerufen am 26.8.2014>.
  24. Zur Biographie: Gerhard Winkler: „Ilg, Albert“, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), 130 f. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119300370.html;
  25. “Edgar von Spiegl” = der Journalist Edgar Spiegl von Thurnsee (1839-1908), war 1885-1898 Herausgeber und Chefredakteur des Illustrirten Wiener Extrablatts, lange Jahre im Vorstand des Journalisten- und Schriftstellervereins “Concordia”, Präsident des  “Concordia Club” ((Zur Biographie: “Spiegl von Thurnsee, Edgar d. Ä., Journalist.” In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 14 (2007) 21 f.).
  26. Zur Biographie: “Noltsch, Wenzel Ottokar (1835-1908), Maler und Schriftsteller” In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950 Bd. 7 (1976) 146 f.).
  27. Vgl. Wladimir Aichelburg: Künstlerhaus, Mitgliederverzeichnis <abgerufen am 26.8.2014>.
  28. Zur Biographie: “Juch, Ernst (1838-1909), Zeichner, Maler und Bildhauer”. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd. 3 (1962) 140.
  29. Theoretisch könnte auch sein Bruder, der Archtiekt Julius Mayreder (1860-1911) gemeint sein – dies erscheint unwahrscheinlich, denn in diversen Texten über die Veranstaltung wird Karl Mayreder explizit genannt, es erscheint daher naheligend, dass er gemeint ist.
  30. Zur Biographie s. den Eintrag bei: Felix Czeike (Hrsg.): Historisches Lexikon Wien. Band 5 (1997) 687f., s. auch Wladimir Aichelburg: Das Künstlehraus, Mitglieder-Gesamtverzeichnis. <abgerufen am 26.8.2014>.
  31. Karl Baedeker: Russland; europäisches Russland, Eisenbahnen in Russ.-Asien, Teheran, Peking. 6. Auflage (Leipzig: Baedeker 1904). Digitalisat → Bibliotheca Sinica 2.0.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1691

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“Groß-Peking” (1892): Eine ‘chinesische’ Medaille

Zum alljährlichen Gschnas des Künstlerhauses wurde eine zum Thema passende ‘chinesische’ Medaille aufgelegt. Im Jahr 1892, zu “Groß-Peking“, wurde diese von Anton Karl Rudolf Scharff (1845-1903), einem der bedeutendsten Medailleure der Zeit,[1] gestaltet. Die Beschreibung der Medaille  im “Reiseführer” ist kurz:

Einheits-Münze ‘Künstler – Foo-hund’[2] für den Preis-Courant, Werth = 3 fl. (sprich Floh). [...] Geschnitten von Anton Scharff.”[3].

Die Medaille ist in der Form der kǒngfāng xiōng 孔方兄, der “Münzen mit einem quadratischen Loch” gestaltet, sie hat einen Durchmesser von 45 Millimeter, das Loch eine Seitenlänge  etwa von 5 mm. Die silbernen Medaillen sind mit großer Liebe zum Detail gestaltet:

Peking 1892

Der “Reiseführer” sagt dazu: “Im Avers ein Künstler, welcher einen armen Mäcenas in das Loch (Atelier) locken will.” [4]. Das Avers zeigt in einem ‘chinessichen’ Interieur ein Paar: links eine ‘chinesische’ Tänzerin mit Fächer, rechts eine beleibte männliche Gestalt mit spitzem Hut, die eine Hand auf die Hüfte gestützt, die andere, die einen dreieckigen Wimpel hält, hoch erhoben. Dazu kommt auf einer rechteckigen Tafel das große Wappen der Stadt Wien (Doppeladler mit   Die Vorderseite zeigt einen “Künstler, welcher einen armen Mäcenas in das Loch (Atelier) locken will”[5] Der Künstler steht vor einem ‘asiatischen’ Gebäude, die Hand auf die Hüfteg gestützt, die andere mit einem dreieckigen Wimpel hoch erhoben.

Auf der anderen Seite findet sich eine Inschrift zum Anlass:

Peking, 1892 | Quelle: Aichelburg: Feste des Künstlerhauses - Galerie

023. Peking, 1892 [Avers] | Quelle: Aichelburg: Feste des Künstlerhauses – Galerie (Bild 25 von 762) ((größteres, farbiges Bild: Weiss Collection <abgerufen am 13.8.2014>.))

Der Reiseführer sagt dazu: “Im Revers der Höllenhund (Club der Münz- und Medaillenfreunde), welcher alle Münzen frisst.”[6].

Mehr als die Hälfte der Fläche wird von einem Drachen und einem Dämon ausgefüllt. Der Drache schlängelt sich über die linke untere Hälfte, auf ihm ein “Wächterlöwe” (der in einschlägigen Katalogen als “Foo-Hund” gedeutet wird). Der “Wächterlöwe”, im Profil mit dem Betrachter zugewanntem Kopf, hält das Emblem der Gesellschaft bildender Künstler Österreichs: Ein Wappenschild mit drei kleinen Schildchen, die die Künste symbolisieren: Palette, Pinsel & Malstock; Hammer und Meißwel sowie der Zirkel.[7]

Der Anlass ist mit ‘gepinselten’ Buchstaben vermerkt: “G’schnas Ball d. Wiener Künstler Hauses 29. Feb. 1892). Die Buchstaben erinnern weniger an chinesische Schriftzeichen denn an eckingen Formen der  japanischen katakana 片仮名 / カタカナ.

In einschlägigen Münz- und Medaillenkatalogen sowie in Auktionskatalogen findet sich diese Medaille mit mit zum Teil eigenartigen Erklärungen und Beschreibungen – sowohl zum Dargestellten als auch zum Text auf der Medaille:

Im Katalog der “International medallic exhibition” der American Numismatic Society von 1910 heißt es: “Nr. 3069: Gschnasfest of an Art Establishment of Vienna. Great-Peking medal, 1892. Obv. And Rev. Presentation in Chinese. [AR] 45 mm. Wien. Med. 218.]
Nr. 3070 – Same. (rev.) [Æ] 45 mm”[8]

Auch ein aktuelles Angebot der Münzhandlung Ritter Gmbh (Düsseldorf) scheint die Buchstaben für Schriftzeichen zu halten: “[...] neben chinesischer Schrift. Wurzb. 9397 [...]”[9]

Das Stück ist ungewöhnlich und taucht immer wieder in Münz- und Medaillensammlungen und bei Versteigerungen auf:  “932 Medals 紀念章: Society of Artists, Chinese “Gross Peking” Ball, Silver Medal, 1892, by Anton Scharff, in the style of a Chinese “Cash” coin, Mandarin with flag, and servant with flag, Rev dog of Fu and dragon, legend in imitative Chinese characters, 45mm (Wurzb[ach] 9397; Hauser 4818). An unusual and imaginative medal, [...].”[10]

Die Medaille zeigt, was man im späten 19. Jahrhundert für ‘typisch’ oder ‘echt chinesisch’ gehalten hat:

  • Form der Münze
  • ‘chinesisches’ Interieur (angelehnt an traditionelle chinesische Darstellungen) mit Tischchen und Gemälden an den Wänden
  • ‘chinesische’ Drachen und “Wächterlöwen”

Teil 1: Ein ‘chinesisches’ Wien: “Groß-Peking” im Künstlerhaus (1892)
Teil 2: Die Medaille zum Fest
Teil 3: “Seine Umgebung und Groß-Peking. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892″
Teil 4: Das Fest im Spiegel satirisch-humoristischer Periodika
Teil 5: Das Chinabild in “Groß-Peking”

 

  1. Zur Biographie: K. Schulz: “Der Medailleur Anton Scharff (1845-1903)” In:  Numismatische Zeitschrift 104/105, 1997, 31-36; zur Biographie und den Arbeiten Scharffs: “Anton Scharff” in: Leonard Forrer: Biographical dictionary of medallists : coin, gem, and sealengravers, mint-masters, &c., ancient and modern, with references to their works B.C. 500-A.D. 1900. Vol. 5 (London: Spink & Son 1912), pp. 358-374
  2. “Foo-Hund” ist eine vor allem in der englischen China-Literatur geläufige Bezeichnung für shishi 石獅 ["Wächterlöwen"], s. Lehner, ebd.
  3. [F. Kilian von Geyersperg (ed.):] Seine Umgebung und Groß-Peking. (Wien: Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler 1892), 96.
  4. [F. Kilian von Geyersperg (ed.):] Seine Umgebung und Groß-Peking. (Wien: Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler 1892), 96.
  5. Ebd.
  6. [F. Kilian von Geyersperg (ed.):] Seine Umgebung und Groß-Peking. (Wien: Verlag der Genossenschaft der bildenden Künstler 1892), 96.
  7. S. dazu: Wladimir Aichelburg: “Das Künstlerhaus-Emblem, Logo” <abgerufen am 13.8.2014>.
  8. [American Numismatic Society]: International medallic exhibition of the American Numismatic Society opening on the twelfth of March, 1910. Catalogue. (New York 1910), 219
  9. Münzhandlung Ritter GmbH, Artikelnummer 47508 <abgerufen am 13.8.2014>.
  10. Baldwin’s Hong Kong Coin Auction 50 – 7th April 2011 (2011) Part 5 [pdf], Lot 932 {pdf] <abgerufen am 13.8.2014>.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1679

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Ein ‘chinesisches’ Wien: “Groß-Peking” (1892)

Für ihr Gschnas am 29. 2. 1892 gab die Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens das Motto “Groß-Peking” aus – das Künstlerhaus verwandelte sich in ‘chinesische’ Festräume, als Rahmen, um die Verhältnisse in Wien heiter und satirisch zu kommentieren. In mehreren Beiträgen soll das China-Bild, das sich in den Publikationen zu dieser und über diese Veranstaltung manifestiert, herausgearbeitet werden.

Das  Gschnas der Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens, das jeweils am Faschingmontag [Rosenmontag]  im Künstlerhaus stattfand, war einer der Höhepunkte des Wiener Faschings des späten 19. Jahrhunderts. Diese Veranstaltung, die jeweils von mehreren tausend Gästen besucht wurde, stellte eine wichtige Einkommensquelle für die Vereinigung dar: Einnahmen aus dem Fest (u.a. Eintrittsgelder), Eintrittsgelder für die Besichtigung der Festräume in den Tagen nach dem Fest und Erläse der Versteigerung der Gemälde, Zeichnungen, Statuetten etc.[1] Die Vereinigung bestimmte für das Fest ein Thema, die Mitglieder der Vereinigung steuerten passende Arbeiten zur  entsprechenden Ausstattung der Räumlichkeiten bei, wobei humoristische, manchmal auch satirische und auch politische Arbeiten entstanden.

Das Gschnas am 29. Februar 1892 stand unter dem Motto ‘Groß-Peking’. Mit diesem Motto wurde aus aktuellem Anlass das Schlagwort “Groß-Wien” aufgegriffen, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus gebräuchlich war.[2]  Die Erweiterung der Stadt Wien hatte mit der Eingemeindung der Vorstädte innerhalb des Linienwalls im Jahr 1850 begonnen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tauchte dann die Idee  von Groß-Wien durch die Eingemeindung weiterer Vorstädte auf, was jedoch lange auf Widerstand stieß. Erst in den späten 1880ern wurde die weitere Erweiterung der Stadt vorangetrieben, die 1890-1892 erfolgte: die Eingemeindung der Vororte, die ab 1. Januar 1892 die Bezirke 11-19 bildeten[3]

In den Vorberichtenzum Gschnas heißt es:

Die Verhandlungen in den Vertretungskörpern der Commune, des Landes und Reiches, die alle Interessen der Bevölkerung berührende Agitation, welche hiemit verbunden war, das erkleckliche Stück Krähwinkelei, das mit unterlief, als Ernst gemacht werden sollte mit der Verwirklichung der großartigen Idee der neuesten Stadterweiterung, haben gar viele Personen in den Vordergurnd gerückt, auf gar viele Vorfälle die allgemeine Beachtung gelenkt, welche auch den Caricaturisten mit dem Pinsel und Bossirholz[4]  als Aufforderung erscheinen mußten, ihren Witz daran zu üben.[5]

Die Säle und Räume des Künstlerhauses wurde durch Statuen, Wandbehänge und Installationen zu ‘chinesischen’ Festhalle. Besonders aufwändig waren die Statuen und Büsten der Honoratioren im ‘chinesischen’ Stil:

Noch in keinem Jahre haben die Bildhauer so viel zum figuralen Schmucke des Hauses beigetragen. Die Mehrzahl der Köpfe ist nicht carikirt, sondern bei aller Flüchtigkeit der improvisirten Arbeit von frappirender Porträt-Aehnlichkeit.[6]

Für das Gschnas 1892 wurden etwa 150 Statuen angefertigt. Es war eine Ehre, sich als Bildnis beim Gschnas wiederzufinden – und so saßen Mitglieder der Vereinigung, Schauspielerinnen und Schauspieler, Sängerinnen und Sänger, aber auch manche Beamte bereitwillig Modell.
Der Aufbau für das Fest war aufwändig – im Lokalteil der Zeitung Das  hieß es am 20. Februar: “Je näher der Termin für das große Costumefest rückt, welches am Montag, 29. d. M., unter dem Titel “Groß-Peking” in Scene geht, desto eifriger wird im Künstlerhause gearbeitet. Alle freien Säle sind von Malern, Bildhauern und Decorateuren besetzt.” (Das Vaterland Nr. 51 (20.2.1892), 6 unter “Local-Bericht.” – Online: ANNO.))

Einen Eindruck von den ‘chinesischen’ Porträts vermittelt das Bändchen Das geistige Großpeking (1891)[7], eine Sammlung von 30 ‘chinesischen’ Porträts und karikierenden Porträts ausgewählter Mitglieder der Vereinigung.

Das Gschnas war einer der Höhepunkte des Wiener Faschings, und so wurden in den Zeitungen schon im Vorfeld die bemerkenswertesten Elemente der Ausstattung beschrieben. Der Berichterstatter des Local-Anzeigers nahm sein Publikum auf einen Rundgang mit. Er beschreibt zunächst die “zwei fürchterliche[n] Tigerungethüme”[8], die den Eingang bewachen – womit wohl die Nachbildungen der shishi 石獅, der “Steinlöwen”, gemeint sind, die im Alten China die Eingänge bedeutender Gebäude beachen[9]. In den einzelnen Sälen sind ‘chinesische’ Szenen aufgebaut, es finden sich Politiker und Beamte als Wackelpagoden  (die eine Karikatur im Kikeriki als “das G’spaßigste” bezeichnete[10] ,’chinesische’ Nachbildungen bekannter Kunstwerke, kleine Bühnen für Pantomimen und Theaterszenen etc. etc.

Künstlerhaus Archiv Publikation zum Gschnas-Fest Gross-Peking 29. Februar 1892

Künstlerhaus Archiv Publikation zum Gschnas-Fest Gross-Peking 29. Februar 1892 | von KünstlerhausWien (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

In einem kleinen Seitensaal ist “die Ausstellung eines chinesischen Reisenden, des Mandarinen Holub [...] der auf einer Tour Wien besucht, das dortige Völkchen studirt und Sehenswerthes heimgebracht hat nach Groß-Peking”[11], aufgebaut. Und natürlich darf eine Ausstellung von Kuriositäten nicht fehlen, “noch phantastischer als die ostasiatischen Originale”.[12]

Die Tageszeitungen berichtete teils sehr ausführlich über das Gschnas und übertrafen sich dabei an blumigen Schilderungen über das Faschingsfest im Künstlerhaus, für das laut den Angaben im Local-Anzeiger der Presse vom 3.3.1892[13] genau 2040 Karten aufgelegt worden waren.[14] . Der Tenor war stets ähnlich: Die Räumlichkeiten waren ‘chinesisch’ geschmückt, die Mittelhalle dominierte “ein mächtiges, die ganze Rückand bedeckendes Bild: ‘Groß-Peking’, von den Höhen des Belvederes aus gesehen, in einem märchenhaft duftigen, leichten Nebelschleier die phantastischen Formen der verchineserten Thürme, Kuppeln und Paläste etwas verhüllend” ((Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 62 (3.3.1892) 1. Online: ANNO.))

Besonderes Augenmerk wurde bei den Faschingsfesten im Künstlerhaus den Kostümen geschenkt. Bei dem exotischen Motto des Jahres 1892 stellte das die Besucherinnen und Besucher vor besondere Herausforderungen, weshalb  häufig ‘Chinesisches’ und ‘Japanisches’ gemischt oder vertauscht wurden, “insbesondere bei den Damen, von denen nur wenige echtchinesische Gewandung trugen.”[15] Die wenigen “echt chinesischen Originaltrachten” könnten “in der Costüm-Ausstellung eines Museums als Mustertypen gelten”[16]

Allzustreng sollte man die Sache nicht sehen, meinte zumindest der Berichterstatter des Local-Anzeigers:

In der Decoration hat Alt-Peking seine Chineserei ehrlich und treu festgehalten; daß in den Kunstcabinetten mitunter auch japanesisches Zeug zu sehen war darf man bei der Nachbarschaft beider ostasiatischen Culturstaaten nicht so genau nehmen.[17]

 

Teil 2: Die Medaille zum Fest
Teil 3: “Seine Umgebung und Groß-Peking. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892″
Teil 4: Das Fest im Spiegel satirisch-humoristischer Periodika
Teil 5: Das Chinabild in “Groß-Peking”

  1. Für das Jahr 1892, in dem 2080 Personen das Gschnas besuchten, 26121 Personen die Räume besichtigten und zwei Auktionen stattfanden, ergab sich ein Gewinn von mehr als 29 000 fl. ((Wladimir Aichelburg, “Übersicht aller Feste“  In: Wladimir Aichelburg: 150 Jahre Künstlerhaus Wien 1861-2011 (Wien, Online-Publikation 2011-2014) <Abgerufen am 11.8.2014>.
  2. Der Begriff wird heute vor allem im Kontext der Stadtentwicklung Wiens in der NS-Zeit verbunden, als Wien zur “flächenmäßig größten Stadt des Reiches“ erweitert werden sollte. S. dazu: Wolfgang Mayer: “Die nationalsozialistische Gebietsreform.” In: Felix Czeike (Hrsg.): Wien 1938 (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte. Bd. 2, Wien: Verein für Geschichte der Stadt Wien 1978), 77–87. Klaus Steiner: “Planungen für Wien in der NS-Zeit.” In: Siegwald Ganglmair (Red.): Wien 1938 (= Historisches Museum der Stadt Wien. Sonderausstellung 110; Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988 Wien 1988), 430–450.
  3. Eingemeindung: Landes-Gesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Österreich unter der Enns Nr. 45 / 1890 (= S. 55-82): Gesetz vom 19. December 1890, betreffend die Vereinigung mehrere Gemeinden und Gemeindetheile mit der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien und die Erlassung eines neuen Statutes, sowie einer neuen Gemeindewahlordnung für diese.” Zur Einteilung der Bezirke: Landes-Gesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Österreich unter der Enns Nr. 60 / 1891 (= S. 235-242): Kundmachung des k. k. Statthlaters im Erzherzogthume Österreich unter der Enns vom 9. December 1891, Z. 76287, betreffend den Beginn der Thätigkeit der magistratischen Bezirksämter in Wien, dann die Geschäftsordnung für den Magistrat und die magistratischen Bezirksämter.
  4. Bossierholz oder Bossiergriffel = Werkzeug, das beim Modellieren verwendet wird. S. Meyers Konversationslexikon. 4. Auflage (1885-1892), 3. Band, 252  s.v. “Bossieren”
  5. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 59 (28.1.1892), 1 – Online: ANNO.
  6. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 59 (28.1.1892), 1 – Online: ANNO.
  7. Kilian von Gayersperg (ed.)/Franz Xaver Ritter von Hoerth (ed.): Das geistige Gross-Peking (Wien: Verlag der Genossenschaft der bildendne Künstler Wiens 1891).
  8. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 59 (28.1.1892), 1 – Online: ANNO.
  9. S. dazu Georg Lehner: Löwen vor den Toren: Exoten halten Wache (5.3.2014).
  10. Kikeriki Nr. 18 (3.3.1892) [3] – Online: ANNO.
  11. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 59 (28.1.1892), 2 – Online: ANNO.
  12. Ebd.
  13. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 62 (3.3.1892) 1. Online: ANNO.
  14. Die Besucher mussten sich in der Kanzlei des Künstlerhauses vormerken und konnten die Karten dann wenige Tage vor dem Gschnas abholen. S. dazu Das Vaterland Nr. 51 (20.2.1892), 6 unter “Local-Bericht.” – Online: ANNO.
  15. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 62 (3.3.1892) 1. Online: ANNO.
  16. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 62 (3.3.1892) 1. Online: ANNO.
  17. Local-Anzeiger der “Presse”, Beilage zur Nr. 62 (3.3.1892) 1. Online: ANNO.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1667

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China im Kartenbild: John Speed: The Kingdome of China (1626)

In den 1620ern entstand die Karte “The Kingdome of China. Newly augmented [...]“  des John Speed (1552-1629)[1] – eine der frühesten englischen Chinakarten überhaupt[2]

By John Speed [Public domain], via Wikimedia Commons

The kingdome of China / newly augmented by I.S. 1626. By John Speed [Public domain], via Wikimedia Commons

Die Karte ist in A prospect of the most famous parts of the world, viz, Asia, Africa, Europe, America, with these empires and kingdoms (London 1676)[3]  die Nr. 19 und enthält auf der Rückseite “The description of the Kingdom of China, p. 38-39″. zeigt China, Japan und Korea (als Insel), dazu Teile Indiens und den westlichsten Teil Nordamerikas[4]

Speeds Karte unterscheidet zwischen “Cathaya, the Chief Kingdome of Great Cam” mit der Hauptstadt “Cambalu” (die nach den Angaben in der Karte einen Umfang von 28 Meilen hat) und “The Kingdome of China”. Die Hauptstadt dieses Reiches ist eingezeichnet, aber “Xuntien” [Shùntiān 順天][5]. Die Karte enthält keine Grenzlinien, aber zahllose Namen von Reichen, Provinzen, Städten, dazu Seen und Flüsse, die meist unbenannt bleiben. Auch auf dieser Karte ist Macao auf der ‘falschen’ Seite der Mündung des Perlflusses eingezeichnet.

In kurzen Texten in der Karte werden einige Besonderheiten genauer beschrieben. Die chinesische Mauer darf dabei nicht fehlen:

A wall of 400 leages, betwixt the bankes of y.e hilles, built of y.e King of China against y.e breaking in of y.e Tartars on this side.

Außerhalb der Mauer heißt es:

In this Country is a Hill, out of the w.h Earth is digged w.th small haires like vnto graße, w.th being spunn or ouen and y.e clothe therof being cast into y.e fire is not bu[rn]ed.

Damit werden Asbestvorkommen in Zentralasien thematisiert, die (unter anderem) bei Marco Polo erwähnt werden, der sie im Bereich von “Ghinghin Talas” lokalisiert.[6]

Zu “The Desert Lop” heißt es:

In ye deserte Lop et Belgian men are thought to be seduced by wonderfull illusions and divilish spitting.

Damit wird die Wüste Lop, eine Ebene am Fuß des Kuruktag, östlich des Tarim-Beckens in der heutigen Autonomen Region Xinjiang beschrieben. Diese Wüste – teils Salzwüste, teils Sandwüste war (und ist) tückisch, Sandstürme und wandernde Dünen haben zahlreiche opfer gefordert.)[7]

Schließlich gibt es einen kurzen Text (zu finden direkt über “The Kindome of Bramas”), der sich auf einen der eingezeichneten Seen bezieht:

In y.e province of Sancy was made a rounde lake here by a deluge in y.e year 1557. in the w.ch were 7. Cities dround, besides litle to[wn]s and villages, and a great number of men, onely one boye was saued in y.e body of a tree.

Unklar bleibt, welche Überflutungen hier gemeint sind.[8]

Drei Seiten des Blattes sind mit kleinen Vignetten dekoriert:

  • links (von oben):

    • “A Chinian Women [sic]“
    • “A Sovldier of Iapan”
    • A Chinian
    • A Men [sic!] of Pegv
  • oben (von links):
    • Y.e M[an]ner of their Trauelling by L[an]d[9]
    • Macao
    • Qui-nzay[10]
    • The Manner of their Execution
  • rechts (von oben):
    • A Chinian Men [sic!]
    • A Chinian Men [sic!]
    • A Sovldier of Iapan
    • A Women [sic!] of Pegv

Die “Chinesinnen” und “Chinesen” in den Vignetten linken und rechten Rand erinnern an die Darstellungen der Bewohnerinnen und Bewohner Chinas in Linschotens Itinerario.[11]

Wie viele andere Karten in John Speeds Atlas geht auch die China-Karte auf niederländische Vorbilder zurück. Die oben zitierten kurzen Texte verweisen deutlich auf  “Chinae, olim Sinarum regionis, nova descriptio. | auctore Ludovico Georgio”. [12] Diese China-Karte des Luis Jorge de Barbuda ( (1564 (?)-1613 (?)) wurde erstmals 1584 dem Theatrum orbis terrarum des Abraham Ortelius hinzugefügt.[13] und findet sich in (fast) allen späteren Ausgaben des Theatrum orbis terrarum.[14] Eine ähnliche Darstellung Ostasiens kursierte dem Titel”Tartaria sive Magni Chami Imperium” im auch 17. Jh. in zahlreichen Versionen, s.  u.a. “Tartaria Sive Magni Chami Imperium” (1649 | ULB Düsseldorf), “Tartaria Sive Magni Chami Imperium” (1662 | NLA), “Tartaria Sive Magni Chami Imperium” (1683 | GDZ).

Weitere Digitalisate der Karte von Speed:

 

  1. Zur Biographie: Albert Frederick Pollard: “Speed, John“. In: Dictionary of National Biography (1898) vol., 318-320.
  2. 1625 war in Puchas’ Piligrimages eine erste Karte erschienen.
  3. Die erste Ausgabe des Prospects, des ersten von einem Engländer konzipierten und produzierten Weltatlas erschien 1627 (ESTC Citation Number S95303). Daten der Ausgabe von 1676: John Speed: The theatre of the empire of Great-Britain, presenting an exact geography of the kingdom of England, Scotland, Ireland, and the isles adjoyning: as also the shires, hundreds, cities and shire-towns within the kingdom of England and principality of Wales; with a chronolog of the civil-wars in England, Wales and Ireland. Together with a prospect of the most famous parts of the world, viz. Asia, Africa, Europe, America. With these empires and kingdoms therein contained; viz. Grecia, Roman-Empire, Germany, Bohemia, France, Belgia, Spain, Italy, Hungary, Denmark, Poland, Persia, Turkish-Empire, Kingdom of China. Tartaria, Summer-Islands. By John Speed. In this new edition are added; in the theatre of Great-Britain, the principal roads, and their branches leading to the cities and chief towns in England and Wales; with their computed distances. In a new and accurate method. … In the prospect of the world. The Empire of the Great Mogul, with the rest of the East-Indies. Palestine, … Empire of Russia. (London : printed for Thomas Basset at the George in Fleet-street, and Richard Chiswel at the Rose and Crown in St. Paul’s Church-yard, MDCLXXVI. [1676]) . ESTC Citation Number R13825.
  4. Der Zipfel wird als Alaska gesehen, daher taucht die Karte häufig in Sammlungen zur Kartographie der Amerikas auf.
  5. Seit Yongle 1 (1403) ist Shùntiān 順天 der Name der Präfektur, die (Haupt-)Stadt ist Běijīng 北京) ist nicht als Hauptstadt markiert.
  6. S. [A C. Moule/Paul Pelliot: Marco Polo: the Description of the World (London: G. Routledge & Sons 1938) pp. 156–57.
  7. Zu den Beschreibungen dieser Wüste vgl. Lucette Boulnois: "Démons et tambours au désert de Lop : Variations Orient-Occident." In: Médiévales, N°22-23 (1992) 91-115. doi : 10.3406/medi.1992.1241. Online. Persée.
  8. Naheliegend wäre dasJiajing-Erdbeben (Jiājìng Dàdìzhèn 嘉靖大地震), dessen Epizentrum in der Provinz Shaanxi lag – dagegen spricht, dass dieses Erdbeben 1556 war.
  9. Die “Segelwagen” wurden u.a. in Mendozas Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres del gran reyno de la China  (1585) ((Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres del gran reyno de la China… hecha y ordenada por el muy R. P. maestro Fr. Joan González de Mendoça,…  (Roma: Grassi 1585) – Digitalisate (zahlreiche Ausgaben inkl. Übersetzungen) → Bibliotheca Sinica 2.0. beschrieben.
  10. Marco Polo nannte Hángzhōu  杭州 (Prov. Zhejiang)  “Quinsay”.
  11. Linschoten, Jan Huygen van: Itinerario: Voyage ofte Schipvaert, van Ian Hughen van Linschoten naer Oost ofte Portugaels Indien, inhoudende een corte beschryvinge der selver Landen ende Zeecusten… Beschryvinghe van de gansche Custe van Guinea, Manicongo, Angola, Monomotapa, ende tegen over de Cabo de S. Augustiin in Brasilien, de eyghenschappen des gheheelen Oceanische Zees; midtsgaders harer Eylanden, als daer zijn S. Thome S. Helena, ‘t Eyland Ascencion… Reys gheschrift vande Navigatien der Portugaloysers in Orienten… uyt die Portugaloyseche ende Spaensche in onse ghemeene Nederlandtsche tale ghetranslateert ende overgheset, door Ian Huyghen van Linschoten. (Amstelredam : Cornelis Claesz, 1596) – Digitalisate (auch zu diversen Übersetzungen) → Bibliotheca Sinica 2.0. Abbildungen: “Habitus e China regno pretiose elegantie et rerum omnium affluentissimum” [1 / 2] und “Lectuli, et ratio, quibus Chine proceres primarij (Mandarinos vocant) gestuntur.” [1 / 2].
  12. Lutz Walter (ed.): Japan. Mit den Augen des Westens gesehen. Gedruckte europäische Landkarten vom frühen 16. bis zum 19. Jahrhundert (1993) 186, Nr. 11 F. S. auch: T. Suarez “Early Mapping of South-East Asia”, In: Periplus (1999), 164-170, Figure 88.
  13. Lutz Walter (ed.): Japan. Mit den Augen des Westens gesehen. Gedruckte europäische Landkarten vom frühen 16. bis zum 19. Jahrhundert (1993) 186, Nr. 11 F.
  14. Digitalisat der Ausgabe 1589: BSB.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1542

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Frühe Stimmen über das Chinesische: “Über die Chinesische Schriftsprache” (1813)


In China besteht noch jetzt alle Gelehrsamkeit in der Kenntniß der Sprache. Um zu den höchsten Staatsämtern zu gelangen, braucht man durchaus nichts weiter zu verstehen. Die Candidaten aller Staatsämter in China werden nur hierinn äusserst scharf examinirt. [...] Nicht sowohl wegen der Natur der Chinesischen Schriftsprache selbst sind in China noch alle gelehrten Fertigkeiten auf die Kenntniß der Sprache beschränkt[1]

Der Aufmerksame, eine Beilage zur Grazer Zeitung brachte am 20. März 1813 den Beitrag “Ueber die Chinesische Schriftsprache”, in dem die Besonderheiten der Sprache beschrieben  und durch Beispiele illustriert werden.

Unter Berufung auf Barrows Reisebeschreibung[2] heißt es, die “Mundsprache [wäre] sehr leicht, indem sie nur aus einigen Hunderten (342) einsilbigen Worten besteht, die bloß durch verschiedenen Accent und veränderte Aussprache zu 1,331 verschiedenen Ausdrücken werden.”

Die Schrift hingegen wäre wesentlich komplexer:

Zur schriftlichen Darstellung dieser 1,331 Worte aber gehören nicht weniger als 80,000 Charaktere (Zeichen, Symbole, Hieroglyphen), so daß also 60 Charaktere auf ein und dasselbe Wort kommen. Das einsilbige Wort nemlich hat so viel verschiedene Bedeutungen, daß es keine geringere Anzahl als 60 Charaktere im Durchschnitte zu seiner schriftlichen Darstellung nöthig hat.[3]

Um den Lesern eine Vorstellung von der Schrift zu geben, werden einige einfache(re) Schriftzeichen beschrieben, darunter:

  • tián “Feld”
  • xià “unten”
  • shàng “oben”

Der Beitrag beschreibt dann Radikal-System und das Signifikum-Phonetikum-Prinzip und führt aus, dass “das Zeichen, das Hand bedeutet, bey allen Zeichen vor[kommt], die Geschäfte oder Handwerke bedeuten, nur wird es durch andere Zeichen näher bestimmt.”[4]

Der Artikel führt weiter aus, dass die meisten Schriftzeichen aus  einfacheren Zeichen zusammengesetzt scheinen. Diese ‘Bilder’ seien für Chinesen ganz selbstverständlich, für Europäer aber schwer nachzuvollziehen.Am  Zeichen für “Glück” wird das genauer ausgeführt:

[...] einem Europäer bleibt es immer schwer zu begreifen, wie die vereinten Zeichen von Dämon, Einheit, Mund, und bebautem Feld  das Glück bedeuten. Ohne Zweifel hat diese Vereinigung in der Vorstellung der Chinesen keinen andern Sinn als Glück, aber einem Europäer bleibt sie immer schwer zu fassen.[5]

Beschrieben damit wird das folgende Schrifzeichen:

fu

fu “Glück” [Graphik: Monika Lehner]

Das Zeichen 褔 besteht demnach aus vier Elementen:

  1. shì (Variante von  示)  „Vorfahren, zeigen, verehren“
  2. 一  yī “eins”
  3. 口 kǒu “Mund”
  4. tián “Feld”

Das Zeichen ist zusammengesetzt aus dem Radikal[6]/Signifikum[7] 礻und dem Phonetikum[8] 畗.礻ist Bestandteil vieler Zeichen, die mit Religiösem und Geistern im weitesten Sinn zu tun haben, Das Phonetikum 畗 bedeutet “Überfluss”[9] S. 193, Lesson 75 D).)) Wieger leitet 畗 von 高 ab und gibt als Bedeutungen: “the heaping up of the productions of the 田 fields, goods of the earth abundance, prosperity”.[10]

In dem Beitrag wird die Quelle nur beiläufig erwähnt, ist aber eindeutig. Es handelt sich um Travels in China von John Barrow ( 1764-1848) aus dem Jahr 1804[11], genauer um Kapitel VI “Language – Literature, and the fine Arts – Sciences _ Mechanics, and Medicine.” (S. 236-356) Der Artikel “Ueber die Chinesische Schriftsprache” fasst Ausführungen von Barrow sehr kursorisch (und manchmal irreführend) zusammen), die bei Barrows mit abgedruckten Schriftzeichen fehlen.

So heißt es bei Barrows zu den Schriftzeichen 上 und 下 “above and below, distinctly marked these points of position”[12] In dem Beitrag heißt es: “Das Wort unten wird durch ein Lateinisches T [...] dargestellt, und oben durch dasselbe umgekehrte Zeichen.” Der Punkt, der in dem “T” die Position angibt, bleibt außen vor.[13]
Zu den ‘zusammengesetzten’ Zeichen heißt es bei Barrow: “It may not be difficult to conceive, for instance, that in a figurative language, the union of the sun [日]and moon [yuè 月] might be employed to express any extraordinary degree of light or brilliancy [míng 明], but it would not so readily occur, that the character foo or happiness, or suprime felicity, should be designed by the union of the caracters expressing a spirit or demon, the number one or unity, a mouth and a piece of cultivated ground thus 福.”[14]

Der Beitrag kommt zu einem eher pessimistischen Fazit:

Wären die Chinesen fest beym Urmechanismus ihrer Schriftsprache geblieben, der gewiss sinnreich und philosophisch ist, so würde sie eine der interessantesten Sprachen seyn. Aber so kommen noch täglich neue Charaktere auf, die gegen den universellen Sinn dieser Sprache eben so sehr als viele der bereits vorhandenen anstoßen. Doch würde dieser Uebelstand für Ausländer noch leichter zu überwinden seyn, als die vielen Abbreviaturen, woduch der Sinn der Charaktere noch mehr leidet, als durch die sonderbare Symbolik derselben.[15]

Der Kern ist Barrow entnommen:

If the Chinese had rigidly adhered to the ingenious and philosophical mechanism they originally employed in the construction of their characters, it would be the most interesting of all languages. But such is far from being the case. New characters are daily constructed, in which convenience, rather than perspicuity, has been consulted.[16]

Nun stimmt es zwar, dass jederzeit neue Zeichen ‘erfunden’ werden können, in der Praxis kamen allerdings seit dem 19. Jahrhundert vor allem Schriftzeichen für chemische Elemente dazu.
Auffallend ist, dass der Text in Der Aufmerksame eher Schwierigkeiten und Negatives in den Vordergrund stellt, während Barrow bei seiner Beschreibung der Sprache zwar deren Fremdartigkeit ins Zentrum rückt, dabei aber von negativen Zuschreibungen absieht.

  1. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813) 1. Online: ANNO.
  2. Diese Beschreibung wird nicht weiter diskutiert, bibliographische Angaben fehlen.
  3. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 1. Online: ANNO.
  4. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  5. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  6. Ein Radikal, chin. bùshǒu 部首 (auch ‘Klassenzeichen’)  ist eine grafische Zuordnungskomponente eines chinesischen Schriftzeichens. In manchen Fällen ist das Radikal auch Determinativ und deutet eine Begriffsklasse im weitesten Sinn an. Jedes Schriftzeichen hat genau ein Radikal; und in chinesischen Wörterbüchern sind die Lemmata nach Radikalen geordnet.
  7. Das Signifikum, chin. yìfú 義符, ist das sinntragende Element eines Schriftzeichens.
  8. Das Phonetikum, chin.  shēngpáng 聲旁 oder yīnfú 音符, ist das lauttragende Element eines Schriftzeichens und kann Hinweise zur Aussprache desZeichens enthalten.
  9. Léon Wieger: Chinese Characters. Their Origin, etymology, history, classification and signification. A thorough study form Chinese documents. Translated into Enlish by L. Davrout, S.J. Second Edition, enlarged and revised according to the 4th French edition (New York: Paragon Book Reprint Corp/Dover Publications 1965
  10. Ebd.
  11. John Barrow:  Travels in China containing descriptions, observations, and comparisons, made and collected in the course of a short residence at the imperial palace of Yuen-Min-Yuen, and on a subsequent journey through the country from Pekin to Canton (London: T. Cadell and W. Davies 1804) Digitalisate → Bibliotheca Sinica 2.0.
  12. Barrow (1804) 237.
  13. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  14. Barrow (1804) 254 f.
  15. Grazer Zeitung,  Nr. 23 (20. März 1813), 2. Online: ANNO.
  16. Barrow (1804) 255 f.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1631

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Ein “chinesisches” Porträt des Großen Kurfürsten und andere “Curiosa” [1685]

Unter den Ostasiatica-Digitalisaten der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz findet sich unter der Signatur Libri sin. 19-2  ein “[Konvolut aus Holzschnittabdrucken], 1685″, das fünf Blätter enthält: zwei Exemplare von  大和貨重武圖像, ein Blatt mit chinesischen Zahlen und zwei Exemplare des “ 往生淨土呢” [Gebet der Reinen Land Sekte für die zukünftigen Leben" zusammen mit Abbildungen von Männer- und Frauenkleidung.

大和貨重武圖像 [dàhéhuózhòngwǔ túxiàng] zeigt Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), den Großen Kurfürsten – eine Abbildung, die (je nach Blickwinkel) zu den Zimelien oder zu den Kuriositäten gezählt werden kann:

Das (nicht unbedingt schmeichelhafte) Porträt ist mit chinesischen Schriftzeichen umrahmt.
Auf einem der beiden Exemplare dieses Drucks ist die Lesung der Schriftzeichen (in einer etwas merkwürdig anmutenden Transkription) angegeben, auf dem  anderen fehlt sie.[1]

Interessanter ist das Blatt mit chinesischen Zahlen:

Das Blatt zeigt- in Spalten von rechts oben nach links unten zu lesen – chinesische Zahlen, neben den Schrifzeichen jeweils die Zahlen mit arabischen Ziffern und die Lesung.
In der Spalte ganz links unten findet sich die Datierung “1685″:

一 ye
千chum
六 lo
百 pe
八 pa xe
五 û
年 nien

1685 wäre eigentlich:

一千 |  六百 | 八十 | 五 | 年
qiān | lìubǎi | bāshí | | nián
1000 | 600 | 80 | 5 | Jahr

Bei “80″wird  zwar korrekt “pa xe” [bā shí] transkribiert, allerdings ist nur das Schriftzeichen 八 [] gedruckt ist, nicht aber  十 [shí]. Dieses Schema zieht sich durch einen großen Teil der Liste: Ab “41″ fehlt das Schrifzeichen 十 [shí], ist aber in der Transkription berücksichtigt. Die einzige Ausnahme ist” 五十一 51 û xe ye”, hier ist das Schriftzeichen 十 [shí] abgedruckt und transkribiert.

Die Seite ist eine Art Probedruck für eine Seite der Sylloge Minutiarum Lexici Latino-Sinico-Characteristici[2] von Christian Mentzel (1622-1701) sein.  In diesem wohl ältesten gedruckten europäischen Lexikon chinesischer Schriftzeichen[3] findet sich eine “Tabula, exhibens numeros Sinicos, Characteribus eorum cum pronunciatione Sinica & numeris Europæorum expressos“:

Der ‘Probedruck’ und die Buchseite zeigen eine der Möglichkeiten, wie im siebzehnten Jahrhundert chinesische Schriftzeichen in Bücher integriert wurden[4]: Man behandelte den Block wie ein Bild. Überschriften und Spaltenüberschriften wurden ‘normal’ mit beweglichen Lettern gesetzt, die Tabelle wurde als Bild eingefügt.

  1. Zu dem Porträt:  Weltwissen : 300 Jahre Wissenschaften in Berlin ; [eine Ausstellung im Rahmen des Berliner Wissenschaftsjahres 2010. ... anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin, 24.9.2010 - 9.1.2011]. Hrsg. von Jochen Hennig und Udo Andraschke. (München: HIrmer 2010) 101.
  2. Christianus Mentzelius: Sylloge Minutiarum Lexici Latino-Sinico-Characteristici : Observatione sedula ex Auctoribus & Lexicis Chinensium Characteristicis eruta, inque Specimen Primi Laboris ulterius exantlandi Erudito & Curioso Orbi exposita (Norimbergae 1685. Digitalisate → Bibliotheca Sinica 2.0.
  3. Rolf Winau: “Sylloge Minutiarum Lexici Latino-Sinici-Characteristici. Christian Mentzels kleins Lateinisches Lexikon.” In: Acta Historica Leopoldina 9 (1975) 463-472.
  4. S.d azu den Abschnitt “Nicht typographisch realisierte chinesische Zeichen in europäischen Büchern (16.-18. Jahrhundert) – ein Überblick” In: Georg Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa. Entwicklungen im 19. Jahrhundert (Wiesbaden: Harrassowitz 2004) 11-20.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1639

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Frühe Nachrichten über China: Seide, die vom Baum gekämmt wird …

Kostbare Seidenstoffe waren in Europa seit langem bekannt und begehrt, Herkunft und Gewinnung der Seide aber blieben ein gut gehütetes Geheimnis, [1] was zu zum Teil abenteuerlichen Erklärungsversuchen führte.

Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm heißt es unter “Seide“: “das gespinnst des seidenwurms, als noch unverarbeitetes naturerzeugnis: die seyden, sericum, bombyx Maaler 371c”. Der Beitrag verweist auf den Eintrag “Seide”  in Die teütsch Spraach[2] von Josua Maaler (1529-1599)) aus dem Jahr 1561.

Weiter heißt es im Wörterbuch der Gebrüder Grimm:

[...] ahd. Seres sizzent hina verro ôstert in eben India, die stroufent aba iro boumen eina wolla, dia wir heiʒên sîdâ, dia spinnet man ze garne, daʒ karn farewet man misselîcho, unde machôt darûz fellôla. Notker 1, 97, 7 Piper [...]

Also: “Die Seres wohnen im fernen Osten neben Indien.[3] Sie streifen von ihren Bäumen eine Wolle, die wir ‘sîdâ’ nennen, die spinnt man zu Garn, das Garn färbt man unterschiedlich, und macht daraus  ‘fellôla’.”
Diese Passage findet sich in der althochdeutschen Übersetzung und Kommentierung von De consolatione philosophiae des Anicius Manlius Severinus Boethius (um 480-524 oder 525) , die der St. Galler Mönch Notker der Deutsche (um 950-1022)[4] anfertigte.

Die Stelle im Codex Sangallensis 825[5], konkret die Zeilen 3-6:

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 825, p. 84 – Boethius, De consolatione philosophiae (http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0825)

St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 825, p. 84 – Boethius, De consolatione philosophiae (http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0825)

Demnach wächst die Seide in langen Fäden auf Bäumen und wird  ‘ausgekämmt’.  Das Bild von der Seide, die auf Bäumen wächst, findet sich unter anderem bei Plinius und Herodot. Ob dabei tatsächlichSeide gemeint ist, ist zweifelhaft, denn die Beschreibungen deuten eher auf Baumwolle (Gossypium arboreum) hin …

Bei Plinius, Naturalis historia 6, 23 heißt es:

[...]primi sunt hominum qui noscantur Seres, lanicio silvarum nobiles, perfusam aqua depectentes frondium canitiem, unde geminus feminis nostris labos redordiendi fila rursusque texendi: tam multiplici opere, tam longinquo orbe petitur ut in publico matrona traluceat. [...]

Bostock übersetzt diese Passage:

The first people that are known of here are the Seres, so famous for the wool that is found in their forests. After steeping it in water, they comb off a white down that adheres to the leaves; and then to the females of our part of the world they give the twofold task of unravelling their textures, and of weav- ing the threads afresh. So manifold is the labour, and so distant are the regions which are thus ransacked to supply a dress through which our ladies may in public display their charms. [6]

Der Übersetzer merkt an, dass Plinius Seidenraupen (eigentlich die Larven des Seidenspinners) und deren Kokons in Buch 11, Kapitel 27 im Abschnitt über die “Koische Seide”[7]. Plinius bezeichnet die Larven des Seidenspinners  als “bombyx”[8] und beschreibt die Entstehung der Kokons nicht als ein Sich-Einspinnen, sondern als Nester, die durch Filz- und Walkprozess entstehen.

Bei Herodot liest man, dass in Indien Bäume wild wachsen, die eine Wolle produzieren, die in Schönheit und Güte die von Schafen übertrifft, und dass die Inder Kleidung von diesen Bäumen tragen (Herodot, Historien III, 106).

Die Meinung, dass Seide auf Bäumen wächst, findet sich noch bei Isidor von Sevilla in den kurzen Bemerkungen zu den “Seres”:

Seres a proprio oppido nomen sortiti sunt, gens ad Orientem sita, apud quos de arboribus lana contexitur. [9]

Im Codex Sangallensis 621, S. 40,, einer im 9. Jahrhundert entstandenen St. Galler Abschrift der Historiarum adversum paganos libri VII des Paulus Orosius notiert im 11. Jahrhundert Ekkehart IV.[10] in einer Glosse zu “[...]  qua oceanus Sericus tenditur [...]”[11]:

Ubi et Seres gentes qui serica uellera arboribus natura quadam suis inpendentia mittunt. [...].

Heidi Eisenhut[12] verweist als Quelle für diese Informationen auf Stellen bei Plinius und Isidor von Sevilla, sieht aber die oben erwähnte Stelle im Boethius-Kommentar als wahrscheinlichere Quelle.

  1. Zu den ältesten Funden und zu ersten Nachrichten s. Anastasia Pekridou-Gorecki “Seide.” Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitaet Wien. 09 July 2014  http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/seide-e1107010. First appeared online: 2006.
  2. Josua Maaler: Die teütsch Spraach : alle Wörter, Namen und Arten zuo reden in hochteütscher Spraach, dem ABC nach ordenlich gestellt unnd mit guotem Latein gantz fleissig unnd eigentlich vertolmetscht, dergleychen bisshär nie gesähen / Dictionarium germanicolatinum novum : hoc est, Linguae Teutonicae, superioris praesertim, thesaurus / durch Josua Maaler, Burger zuo Zürich = a Iosua Pictorio Tigurino confectus & in lucem nunc primum editus (Tiguri : excudebat Christophorus Froschouerus 1561). Digitalisat: e-rara.ch.
  3. Eduard von Tscharner übersetzt: “Die Seres wohnen fern von hier nach Osten in der Ebene Indien.” [Ed. von Tscharner: "China in der deutschen Dichtung des Mittelalters und der Renaissance" In: Sinica, JG. IX (1934) 8, Fußnote  e.]. Zur Übersetzung von ‘in eben’ vgl. Heinrich August Schrötensack: Grammatik der neuhochdeutschen Sprache [Nachdruck der Ausgabe Erlangen 1856] (Documente linguistica, Reihe VI: Grammatiken des 19. Jahrhunderts; Hildesheim/New York: Olms 1976) 336.
  4. Notker III., genannt Notker Labeo, Notker Teutonicus oder Notker der Deutsche. Zur Biographie: Anna Grotans: „Notker Labeo“, in: Neue Deutsche Biographie 19 (1998), S. 362-364 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118588869.html.
  5. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 825, p. 84 (http://www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/csg/0825).
  6. [Pliny the Elder,  Naturalis Historia. Translated, with copious notes and illustrations, by the late John Bostock and H. T. Riley. (Bohn's Classical Library, London: H.G. Bohn 1855) Book 6, ch. 20.].
  7. D.i. die Seide der Raupe des Pistazienspinners (Pachypasa otus), die von der Insel Kos stammte und in Rom begehrt war, bevor die Seide aus China verfügbar wurde. S. Rolf Hurschmann: “Coae Vestes.”  Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitaet Wien. 09 July 2014 http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/coae-vestes-e302400. First appeared online: 2006.
  8. Bombyx mori = Seidenspinner oder Maulbeerspinner.
  9. Isidorus Hispalensis: Etymologiarum libri XX, 9, II, 40.
  10. Zur Biographie: Franz Brunhölzl: „Ekkehart IV.“, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 433-434 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118529722.html.
  11. Heidi Eisenhut: Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621 (Diss. Zürich 2006). (Monasterium Sancti Galli 4, St. Gallen 2009)  (Betaversion), 1,2,47.
  12. Heidi Eisenhut: Die Glossen Ekkeharts IV. von St. Gallen im Codex Sangallensis 621 (Diss. Zürich 2006). (Monasterium Sancti Galli 4, St. Gallen 2009)  (Betaversion), 040a7-11.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1608

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Ein Bild sagt mehr …: Das “Alte Observatorium von Beijing” vom 17. Jh. bis ins 21. Jh.

Der aktuelle Header von mind the gap(s) basiert auf einem Foto, das im September 2011 in Beijing entstand:

Beijing, September 2011

Beijing, September 2011 | © Georg Lehner

Das Bild blickt vom Straßenniveau hinauf auf das Běijīng gǔ guānxiàngtái 北京古觀象台, auf das “Alte Observatorium von Beijing”, genauer: zu den Instrumenten auf dem Beobachtungsturm dieses Observatoriums. Dieser Beobachtungsturm  stammt aus der Ming明-Dynastie 1442, doch schon in der Yuan 元-Zeit befande sich in dem Bereich ein Observatorium.

Das Observatorium wurde laufend erneuert und seine Ausstattung verbessert, zuletzt im siebtzehnten und achtzehnten Jahrhundert durch Jesuitenmissionare, die für die Berechnung des Kalenders zuständig waren. Nach der Unterdrückung der Yihetuan 義和團-Bewegung wurde das Observatorium von den Alliierten Truppen geplündert.[1] Die Beutestücke wurden von Frankreich 1902 zurückgegeben, von Deutschland 1921.[2]

Heute befinden sich auf der Plattform acht Instrumente aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert:

  • die Neue Armillarsphäre (1744)
  • ein Quadrant (1673)
  • ein Himmelsglobus (1673)
  • eine  ekliptische Armillarsphäre (1673)
  • ein Altazimut-Instrument (1673)
  • ein Azimutal-Theodolit (1715)
  • ein Sextant (1673)
  • eine äquatoriale Armillarsphäre (1673)

Die Instrumente aus dem 17. Jahrhundert stammen von Ferdinand Verbiest, S.J., der 1669 die Leitung des kaiserlichen Kalenderamtes übernommen hatte und 1673 einige der Instrumente erneuerte (Altazimut, Himmelsglobus, ekliptische Armillarsphäre, äquatoriale Armillarsphäre, Quadrant und Sextant), der Azimutal-Theodolit von Kilian Stumpf (1655-1720) und die Neue Armillarsphäre von Ignaz Koegler, S.J. (1680-1746) und Augustin Hallerstein, S.J. (1703-1774).

Das Bild im Header zeigt Teile von drei Instrumenten: (von links:) der äquatorialen Armillarsphäre[3], des Altazimut-Instruments[4] und des Azimuth-Theodoliten[5].

Die äquatoriale Armillarsphäre und das Altazimut-Instrument sind in einigen von Ferdinand Verbiests Werken abgebildet, unter anderem im  新製儀象圖 [Xinzhi yixiang tu[6], und im Compendium proponens XII posteriores figuras Libri observationum, nec non priores VIII figuras Libri organici. Astronomia europaea sub imperatore Cám Hý ex umbra in lucem revocata][7], s. äquitoriale Armillarsphäre 赤道經緯儀 [chìdào jīngwěiyíund Altazimut-Instrument  地平經儀 [dìpíngjīngyí].

Einen Gesamteindruck von der Situation 1673 gibt Verbiest mit einer Abbildung der Beobachtungsplattform:.

新製儀象圖 Xin zhi yi xiang tu. Liber organicus Astronomię Europęę apud Sinas

新製儀象圖 Xin zhi yi xiang tu. Liber organicus Astronomię Europęę apud Sinas (1668) | Quelle: gallica[8]

Im Atlas général de la Chine, de la Tartarie chinoise, et du Tibet (1790 ?)[9], einer um einige Tafeln ergänzten Neuauflage des Nouvel atlas de la Chine, de la Tartarie chinoise, et du Thibet (1737)[10],  findet sich eine Abbildung des “Observatoire de Peking” … allerdings seitenverkehrt:

Jean-Baptiste Bourguignon d’Anville: Observatoire de Peking. Via Wikimedia Commons.

Im 19. Jahrhundert machten einige der ersten Photographen, die in China arbeiteten, Aufnahmen vom Observatorium, darunter: John Thomson (1837-1921) “Peking Observatory.” (1874), Thomas Child (1841-1898): “Bronze armillary, Peking Observatory, 1875″ (1875) und “Some instruments on top of the observatory (Pekin).” (1890). Damals ragte der Beobachtungsturm über die Umgebung hinaus, während dermächtige Bau heute neben Stadtautobahnen und Hochhäusern fast unscheinbar wirkt und sich erst auf den zweiten Blick (und nach dem Aufstieg über eine steile Treppe) erschließt.

  1. Eine englische Aufnahme gibt einen Eindruck vom Observatorium vor der Plünderung: National Archives, Image ID 26564: Astronomical instruments in the Imperial Observatory on the city wall, Peking (1900).
  2. Vgl. die kurzen Anmerkungen bei Joseph Needham, Science and Civilisation in China: Volume 3, Mathematics and the Sciences of the Heavens and the Earth (Cambrige et al., Cambridge University Press 1959) p. 451 n. g. Zu der Debatte um die Rückgabe der Instrumente in den 1910er Jahren s. W. W. Campbell: “Kaiser Wilhelm as a Pillager in Boxer Days; He Refused to Return China’s Astronomical Instruments, Though France Set an Example, and Used Them to Ornament Potsdam Palace Grounds”. New York Times, January 06, 1918, , Section The New York Times Magazine, Page 71. Zu den Instrumenten in Potsdam s. Rolf Müller: “Die astronomischen Instrumente des Kaisers von China in Potsdam”, in: Atlantis, Heft 2 (Februar 1931), S. 120 f.
  3. S. dazu: Marilyn Shea: Equatorial Armilla – 1673 – 赤道经纬仪 <zuletzt abgerufen am 28.6.2014>.
  4. S. dazu: Marilyn Shea: Altazimuth – 地平经仪 <zuletzt abgerufen am 28.6.2014>.
  5. Marilyn Shea: Azimuth Theodolite 地平经纬仪 <zuletzt abgerufen am 28.6.2014>.
  6. 新製儀象圖 Xin zhi yi xiang tu. Liber organicus Astronomię Europęę apud Sinas Restitutę sub Imperatore Sino-Tartarico Cām-Hȳ appellato Auctore P. Ferdinando Verbiest Flandro-Belga Brugensi E Societate Jesu Academię Astronomicę In Regia Pekinensi Pręfecto Anno Salutis MDCLXVIII ([Beijing] [1674] – Digitalisat: gallica. Digitalisate aller Drucke: Museum of the History of Science [in sehr guter Qualität].
  7. Ferdinand Verbiest: Compendium proponens XII posteriores figuras Libri observationum, nec non priores VIII figuras Libri organici. Astronomia europaea sub imperatore Cám Hý ex umbra in lucem revocata (Pekini: [s.n.] 1678) – Digitalisate: gallica, [relativ bescheidene Bildqualität] Universiteit Antwerpen, Erfgoedbibliotheek Hendrik Conscience [gute Bildqualität].
  8. Diese Abbildung findet sich auch im [Compendium proponens XII posteriores figuras Libri observationum, nec non priores VIII figuras Libri organici. Astronomia europaea sub imperatore Cám Hý ex umbra in lucem revocata].
  9. Jean Baptiste Bourguignon d’Anville: Atlas général de la Chine, de la Tartarie chinoise, et du Tibet : pour servir aux différentes descriptions et histoires de cet empire  (Paris : Dezauche [1790?].
  10. Jean-Baptiste Bourguignon Anville:  Nouvel atlas de la Chine, de la Tartarie chinoise et du Thibet (La Haye: Scherleer 1737) – Digitalisate → Bibliotheca Sinica 2.0.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1581

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Chinabilder 2014: “Manche mögen Reis”

Chinabilder in der Belletristik (im weitesten Sinne) sind ein sehr weites Feld zwischen  Karl Mays Kong-Kheou, das Ehrenwort,  Sax Rohmers Dr. Fu Manchu,  Hergés Le lotus bleu, Romanen von Pearl S. Buck und Han Suyin, Robert van Guliks Richter Di-Reihe, Pixi-Büchern wie Petzi fährt nach China, Krimis von Christopher West und Peter May, Petra Häring-Kuans Chinesisch für Anfänger, Richard Masons Suzie Wong und Gene Luen Yangs Boxers & Saints – eine zufällige und willkürliche Auswahl, die die Bandbreite nur andeuten kann: Unterhaltungsliteratur, Kriminalromane und Thriller, ‘Chick-Lit’, Kinderbücher, Comics und Graphic Novels etc. etc. Eine (nicht mehr ganz) neue Facette eröffnet das “erzählende Sachbuch”[1] aus der ‘So sah ich China’-Perspektive: Ausländer berichten über ihre Zeit in China. Da sind zwar auch Journalisten, die sich nur für kurze Zeit in China aufhalten, in der Mehrzahl sind diese Berichte von Expats, die Jahre ihres Lebens in China zubringen.

Klassische Beispiele für Erfahrungsberichte aus China sind unter anderem Max Scipio von Brandt: 33 Jahre in Ostasien – Erinnerungen eines deutschen Diplomaten (1901), Egon Erwin Kisch: China geheim (1933), Hugo Portisch: So sah ich China (1965) und Augenzeuge in Rotchina (1965), Klaus Mehnert: China nach dem Sturm. Bericht und Kommentar (1971), Harrison Salisbury: To Peking and Beyond: A Report on the New Asia (1973), Lois Fischer-Ruge Alltag in Peking. Eine Frau aus dem Westen erlebt das heutige China (1981), Harrison Salisbury: Tiananmen Diary: Thirteen Days in June (1989) und Peter Scholl-Latour: Der Wahn vom Himmlischen Frieden. Chinas langes Erwachen (1990).

Jüngere Beispiele sind unter anderem: Tim Glissold:  Mr. China: A Memoir (2006), Peter Hessler: River Town: Two Years on the Yangtze (2006), Matthew Polly: American Shaolin (2007), Michael Levy: Kosher Chinese: Living, Teaching, and Eating with China’s Other Billion (2011), Dominic Stevenson: Monkey House Blues. A Shanghai Prison Memoir (2010), Peter Hessler: Country driving : a Chinese road trip (2010, dt. Über Land: Begegnungen im neuen China (2009)) Alan Paul, Big in China. My Unlikely Adventures Raising a Family, Playing the Blues, and Becoming a Star in Beijing (2011), Leanna Adams: Pretty Woman Spitting. An American’s Travels in China (2012).
Diese Berichte zeichnen naturgemäß höchst unterschiedliche Bilder von China zwischen Faszination und Frustration, zwischen Abscheu und Begeisterung. Allen gemeinsam ist das Sich-Einlassen auf China.

Ganz anders ist Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte. ((Susanne Vehlow: Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte (Berlin: Ullstein 2014).)) Fassungslosigkeit ist eine unzulängliche Beschreibung meiner Reaktion auf “eine umwerfende Erfahrung, mitten unter Chinesen zu leben!”[2] Die Autorin ist Sport- und Englischlehreren und lebte mit Mann und Kindern von 2009 bis 2014 in Shanghai, wo sie und ihr Mann an der Deutschen Schule unterrichteten.[3]

Vehlow: Manche mögen Reis

Vehlow: Manche mögen Reis (Quelle: Ullstein Verlag)

Das Cover zeigt drei ‘Chinesen’ in pyjamaartigen Gewändern, mit langem Zopf und Kegelhut. Sie bedienen sich aus einer überdimensionalen (und perspektivisch ziemlich eigenartig wirkenden) Schale mit weißem Reis. Die Figur im roten Gewand führt einen kleinen grünen Drachen an einer Leine – und im Hintergrund lehnt in der Ecke ein Kontrabass – wohl in Anlehnung an das Kinderlied “Drei Chinesen mit dem Kontrabass”[4]

Eigentlich sollte das eine ausreichende Warnung sein. Tatsächlich wird auf 330 Seiten  in 52 Kapiteln kein Klischee ausgelassen: Menschenmassen, Küche, Wohnverhältnisse, Klima/Wetter in Shanghai, Verkehr, Küche, hygienische Verhältnisse und Charakter ‘der Chinesen’ schlechthin.

Zum – zugegeben gewöhnungsbedürftigen – Straßenverkehr in Shanghai heißt es: “Mit den Verkehrsregeln nehmen sie es hier nicht so genau” (S. 42). ‘Man’ hat kein Auto, weil man nur einen Block von der Schule entfernt wohnt und den Weg mit dem Rad zurücklegt. Für alles andere gibt es Taxis – Taxifahren ist ein Abenteuer, dasimmer wieder thematisiert wird, speziell im Kapitel 17 “Taxifahren” (S. 112-116). Damit ‘man’ dieses Abenteuer überlebt, muss ‘man’ sowohl die Startadresse als auch die Zieladresse entweder auf Visitenkarten dabeihaben oder aber von speziellen Webseiten ausdrucken. Aber selbst dann ist es nicht sicher, dass man ohne Probleme von A nach B kommt. Denn die Fahrer sprechen nur Chinesisch.

Die chinesische Sprache aber bleibt für die Expats in den fünf Jahren in Shanghai ein Buch mit sieben Siegeln – zu schwer zu lernen, schließlich “bedeutete ein Wort etwas gänzlich anderes, wenn man es mit der falschen Betonung aussprach” (S. 113). Umso skurriler mutet die “kleine[n] Einführung ins chinesische  Verkehrseinmaleins”  (S. 116). an, denn “um Verwirrungen zu vermeiden” (S. 115) wird auf Tonzeichen verzichtet – von Schriftzeichen gar nicht zu reden.

Die “Lauweis” (S. 48 und passim)[5], wie die Autorin sich selbst und ihre Familie nennt, stolpern durch Shanghai, sie leben in einem Compound, zwar weit weg von ‘allem’, aber in einem großen Haus – und sie hat eine ‘Ayi’[6], die sich um den Haushalt kümmert (für umgerechnet  200 Euro im Monat fünfmal pro Woche acht Stunden (S. 55)). Leider hatte sich in “Expat-Kreisen [...] herumgesprochen, dass Ayis zwar oft wirklich gute Seelen waren, es jedoch nicht wenige unter ihnen gab, die das eine oder andere einsteckten, die ein Nickerchen hielten, wenn die Dame des Hauses nicht daheim war [...] oder Partys [feierten].” (S. 67) Doch die Familie hatte zum Glück wirklich Glück mit ihrer Ayi.
Der Alltag außerhalb von Compound und Schule gestaltet sich schwierig, jeder Einkauf (z.B.  bei “Tschallefu”[7] und “Idscha”[8] ) wird zum Abenteuer- oder zum Horrortrip. Das Shanghai außerhalb des Compounds wird nur am Wochenende erfahren/erlebt, wobei ‘man’ sich auf Touristenpfaden bewegt: Bund, Oriental Pearl Radio & TV Tower, Pudong, das Shanghai World Financial Center (der “Flaschenöffner”) etc.

Eher zwiespältig scheint das Verhältnis zur chinesischen Küche zu sein. ‘Man’ geht zwar oft und häufig essen, denn das “ist hier tatsächlich supergünstig[, i]nsbesondere wenn du chinesisch essen gehst.” (130) Die Sache hat mehrere Haken: das miese, ungemütliche, wenig einladende Ambiente, die Tischsitten ‘der Chinesen – und

Es schmeckt nicht so wie beim Chinesen in Berlin. Ganz anders. Kann ich kaum beschreiben. Sie verwenden ganz andere Gewürze. Und wirklich jedes Gericht schmeckt eigen. (S. 131)

Zum Glück gibt es Abhilfe – in der Hongmei Lu 虹梅路 gibt es eine kleine Fußgängerzone mit nicht-chinesischen Lokalen.

Da findet man auf jeden Fall etwas, wenn man mal wieder Lust auf ‘normales’ Essen hat (S. 132)

Bei “Tschallefu” gibt es die aus der Heimat vertraute Nussnougatcreme – leider ziemlich teuer, aber das muss sein; Müsliriegel werden überlebenswichtig, falls ‘nichts Normales’ aufzutreiben ist. Und aus der Heimat kommen Fresspakete mit Lebkuchen und den Zutaten für Schokoladekuchen.

Immer wieder sind die “Lauweis” erstaunt über ‘die Chinesen’:

Überall waren sie. Auf den Gehwegen, auf den Rolltreppen, in den Läden, im Aquarium, auf dem Klo – überall kleine schwarzhaarige Menschen in den schrillsten Klamotten. (89 f.)

‘Die Chinesen’ sind nicht nur eigenartig gekleidet, sie verhalten sich  mitunter eigenartig. Und natürlich können ‘die Chinesen’ nicht  oder nicht sehr gut Englisch und können kein “r” aussprechen: “Plies hold sis spoon inflont of yo left eye.” (S. 50). Doch es gibt auch Ausnahmen, die beides können, wie der Makler, der der Familie das Haus vermittelt hat (S. 54): “Was für eine Wohltat. Es gab anscheinend auch Leute, die uns ohne Pantomime-Einlage verstanden.” (S. 55)

Die Autorin scheint – im Gegensatz zu ihrem Mann – das Leben in Shanghai als kaum erträglich und unendlich schwierig zu empfinden. Lichtblicke scheinen rar: die Wochen und Monate, wo ‘man’ aus Shanghai wegkommt (Ferienreisen nach Australien, auf die Philippinen, nach Kambodscha, Myanmar und Malaysia), Heimatbesuche und Besuche von Familie und Freunden in China, mit denen auch Nanjing, Xi’an, Beijing und Guilin in Wochenendtrips  abgegrast werden.
Im Rahmen dieser Kurztrips werden Informationen zur Kultur und zur Geschichte eingeworfen, so unter anderem zu  Kalender, Tierkreis und Neujahrsfest (S. 172-177), zu einem chinesischen Badehaus (183-187), zur Terrakotta-Armee in Xian, zur Stadtmauer und zum Sun-Yat-sen-Mausoleum in Nanjing (und bei Nanjing darf John Rabe nicht fehlen.)

Die kursorischen Informations-Fragmente reichen dem Ullstein Verlag, um den  Titel mit dem Etikett “Erzählendes Sachbuch”  zu versehen. Dazu kommen die Etiketten”Humor” und “Politik/Internationale Politik”. Wie es zu der Einordnung kommt, erschließt sich mir nicht. Die politischen Verhältnisse werden mit keiner Silbe erwähnt und das Humoristische beschränkt sich allenfalls auf unfreiwillige Komik (die so wohl nicht intendiert war).

Die Lektüre macht fassungslos: Holzschnittartig und schablonenhaft werden Episoden und Typen aneinandergereiht.  Das in China Erlebte wird am aus Deutschland vertrauten ‘Normalzustand’ gemessen und bewertet.  Die Klischees vom ausländerfeindlichen, unberechenbaren Orientalen wird einmal mehr fortgeschrieben. Traurig nur, dass diese Ansammlung von Stereotypen auch 2014 noch unter “China-Erfahrung” und “China-Erfahrungsbericht” läuft.

Sollte Manche mögen Reis ins Chinesische übersetzt werden, empfiehlt sich der erste Satz aus dem kleinem Sprachkurs “Praktisches Chinesisch – die wichtigsten Sätze” in Christan Y. Schmidts Bliefe von dlüben. Der China-Crashkurs [9]:

In jeder Situation:
Bù,  wǒ bù shì dé guó rén. /Wǒ shì liè zhī dūn shì dēng rén.[10]
Nein, ich bin kein Deutscher. / Ich komme aus Liechtenstein. (S. 208)

Österreicher und Österreicherinnen brauchen nicht zu schummeln, die ersetzen Lièzhīdūnshìdēngrén einfach durch Àodìlì rén 奧地利人.

  1. Der Dreh mit dem ‘erzählenden Sachbuch’ ist nicht neu,  s. Rainer Traub: “Die Luftnummern der Lizenzstrategen” In: Der Spiegel 10/2000 (06.03.2000).
  2. Susanne Vehlow: Manche mögen Reis. Skurriles aus dem Reich der Mitte (Berlin: Ullstein 2014), Umschlagrückseite.
  3. Vehlow (2014), Frontispizseite.
  4. Zum Reinhören “Drei Chinesen mit dem Kontrabass“.
  5. laowai 老外 – wörtlich “Alter Fremder” ist eine generische Bezeichnung für Ausländer, wird im Buch aber immerwieder mit “Langnasen” übersetzt.
  6. āyí 阿姨  – wörtlich “Tante”, eine Hausangestellte.
  7. Jiālèfú  家乐福  / 家樂福   = Carrefour.
  8. Yíjiā  宜家  = IKEA
  9. Christian Y. Schmidt: Bliefe von dlüben. Der China-Crashkurs (Berlin: Rowohlt 2009). Schmidt beschreibt zwar das Leben in Beijing, ist aber ungleich unterhaltsamer (z.B. das Kapitel “Meine chinesische Tante” (S. 125-129) über die Ayi.
  10. Korrekt wäre: Bù,  wǒ bù shì déguórén. 不,我不是德國人。 / Wǒ shì lièzhīdūnshìdēngrén. 我是列支敦士登人。

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1571

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