Alltagstheorien über Inklusion

Deutsche Bildungsinstitutionen sollen inklusiv arbeiten. So sieht es die auch von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention vor.

Doch was genau ist Inklusion?

Darüber gibt es in der Wissenschaft deutlich voneinander abweichende Vorstellungen (Amrhein 2011), wenngleich diese oft nicht explizit benannt werden. Und auch in der Politik vermischen sich verschiedene Begriffsverständnisse.  Die deutlichste Unschärfe ist in der Abgrenzung von Inklusion und Integration zu beobachten. So wird Inklusion vielfach einfach als modernes Wort für die Integration von Menschen mit Behinderung verwendet (Dorrance 2010, Sander 2004). Ein gegensätzliches Inklusionsverständnis erstreckt sich auf alle Menschen mit all ihren Unterschieden und Besonderheiten (Hinz 2013). Das ist der Hintergrund, vor dem Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen Tag für Tag Inklusion umsetzen sollen. Daraus ergibt sich die spannende Frage:

Aufgrund welcher Vorstellungen und Auffassungen von Inklusion setzen Fachkräfte Inklusion praktisch um?

Antworten auf diese Frage soll die Erforschung von Alltagstheorien über Inklusion liefern. Alltagstheorien beschreiben das im Laufe des Lebens angeeignete Wissen “über Phänomene und Probleme der alltäglichen Lebenswelt” (Hierdeis/Hug 1997, S. 97), durch das es Menschen gelingt, ihren Alltag zu bewältigen. Genaueres zu den Alltagstheorien hier im Video:

Wenn ein Begriff einerseits vage und diffus ist und andererseits aber “umgesetzt” werden soll, dann bekommen die Alltagstheorien derjenigen, die diese Umsetzung leisten, ein hohes Gewicht.

Zur Identifikation von Alltagstheorien werden in meinem aktuellen Forschungsprojekt Fachkräfte aus dem Elementarbereich gebeten Situationen zu beschreiben, die sie als besonders inklusiv erlebt haben. Die Auswertung des Datenmaterials ist momentan in vollem Gange – über Ergebnisse wird natürlich hier im Blog berichtet!

Literatur

Amrhein, B. (2011). Inklusion in der Sekundarstufe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Dorrance, C. (2010). Barrierefrei vom Kindergarten in die Schule?: eine Untersuchung zur Kontinuität von Integration aus der Sicht betroffener Eltern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Hinz, A. (2013). Inklusion – von der Unkenntnis zur Unkenntlichkeit!? – Kritische Anmerkungen zu einem Jahrzehnt Diskurs über schulische Inklusion in Deutschland. Zeitschrift für Inklusion, 0(1). Retrieved from http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/26/26

Lüders, C. (2014). „Irgendeinen Begriff braucht es ja….“. Soziale Passagen, 6(1), 21–53. doi:10.1007/s12592-014-0164-8

Sander, A. (2004). Inklusive Pädagogik verwirklichen – Zur Begründung des Themas. In I. Schnell & A. Sander (Eds.), Inklusive Pädagogik (pp. 11–22). Bad Heilbrunn: Inklusive Pädagogik.

Quelle: http://kinder.hypotheses.org/559

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Bismarck, getippt: Wie man Schreibmaschinen verkauft

Behörden sind selten die Vorreiter, wenn es um die technische Modernisierung ihres Geschäftsbetriebs geht. Als Schreibmaschinenfabrikant um 1900, wie gewann man da ein hochkonservatives Reichsamt als Kunden? Mit Bismarck, vielleicht.

Heimcomputer- und Mailbox-Veteranen der 80er-Jahre kennen noch “ASCII-Art“, die Kunst, aus 128 Zeichen Meisterwerke der bildenden Kunst zu formen. Das gab es auch schon mit Schreibmaschinen.

Otto von Bismarck, getippt (aus PA AA, RZ 607, R 138985)
Otto von Bismarck, getippt (aus PA AA, RZ 607, R 138985)

Hier ehrte das Andenken des Eisernen Kanzlers auf ihre ganz eigene Weise die Schreibmaschinenfabrik Sundern in Westfalen, Inhaberin einer Lizenz für amerikanische Maschinen der Marke “Jewett”, die sie mit dem Zusatz “Germania” verkaufte.

Am 15. September 1898, sechs Wochen nach Bismarcks Tod, brachte sie es damit auf die Titelseite des Fachorgans “Schreibmaschinen-Zeitung” (Jg. 1, Nr. 3 vom 15. September 1898). Es ist, wohlgemerkt, kein original Schreibmaschinen-Bild, sondern ein danach für den Druck hergestellter Holzschnitt. Möchte man wissen, was sich der Künstler so dachte beim Einschnitzen von mehreren Hundert Satzzeichen?

Die Firma hat anschließend Sonderdrucke als Werbematerial versandt, um auf der Welle der nationalen Bismarck-Verehrung auch die eine oder Schreibmaschine zu verkaufen. Einer der Empfänger war das Auswärtige Amt, das in jenen Jahren mit Schreibmaschinen-Werbung förmlich bombardiert wurde. Alle Einsendungen wurden zu den Akten genommen und ergeben eine auch kulturgeschichtlich interessante Quelle (Politisches Archiv des Auswärtigen Amt, RZ 607, R 138985 und R 138986).

Die Geheime Kanzlei des Auswärtigen Amts, in der alle Schriftstücke gefertigt wurden, nutzte noch keine Schreibmaschinen, spürte aber den Sog der Veränderungen. 1899 rang man sich zu einer Umfrage zum Schreibmaschinen-Einsatz bei den anderen Reichsämtern und bei den preußischen Ministerien durch. Die Antworten zeichnen das Bild einer Umbruchszeit, in der man über Nutzen und Nachteil der neuen Technik noch geteilter Meinung sein konnte.

Das Reichsamt der Justiz, Vorreiter bei der Schreibmaschinen-Einführung, hielt in seiner (getippten) Antwort die nötige Einübungszeit der Kanzleisekretäre für problematisch und ließ eilige Sachen lieber von Hand schreiben. Das Reichsamt des Innern teilte dagegen handschriftlich mit, dass es seine Maschinen vor allem für Eilsachen einsetzte.

Bei der Justiz und im Reichsamt der Finanzen hatte man den Effizienzgewinn schon genau beziffert und das Schreibpensum der Sekretäre auf das anderhalbfache erhöht. Bei einer Lebensdauer von zehn Jahren würde sich die Anschaffung nach zwei Jahren amortisiert haben.

Die wahren Verwaltungsfüchse saßen indessen beim preußischen Königlichen Ministerium der geistlichen Angelegenheiten, wo man weniger auf Kennziffern achtete als darauf, dass das ausgewählte Fabrikat die Seiner Majestät für Immediatberichte und Allerhöchste Erlasse allein genehme kursive Type bot. Nicht nur damals hing die Durchsetzung einer bürotechnischen Innovation eben genauso von ihrer Anpassungsfähigkeit an gegebene Nutzungsgewohnheiten ab wie von ihrem technischen Potential.

Nach der Auswertung der Umfrage schritt in der Geheimen Kanzlei des Auswärtigen Amts der Sekretär Noth zum Selbstversuch, um am Ende zu klagen: “Maschineschreiben ist körperlich und geistig sehr anstrengend”. Der eigentliche Vorteil sei auch gar nicht die Tippgeschwindigkeit, sondern die Möglichkeit, Durchschläge herzustellen, vor allem Schriftstücke “in Dictat (oder Stenogramm) gleichzeitig in Reinschrift und Conzept schnell anzufertigen.”

Die Schreibmaschine war nur ein Element, wenn auch das zentrale, in der bürotechnischen Revolution, die das alte handschriftliche Konzept durch das Doppelstück der Reinschrift ersetzte. Ein Durchschlag verrät den Inhalt eines Schreibens in seiner endgültigen Textgestalt. Ein Entwurf verrät in seinen Korrekturen und anderen Bearbeitungsspuren auch die Textgeschichte und damit den Gang der Entscheidungsfindung bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Reinschrift des Texts erstellt wurde – wo der Durchschlag erst ansetzt. Im Prinzip hat jeder Durchschlag eine Geschichtsquelle vernichtet.

Für die Möglichkeiten aktenkundlicher Erkenntnis bedeutete das System Schreibmaschine also einen tiefen Einschnitt.

Das Durchschlagverfahren entwertete auch die Tätigkeit der Sekretäre, weil es rein mechanischer Natur war. Statt Mitdenken waren nur noch Fingerfertigkeit und sauberes Arbeiten gefragt. Und da die altgedienten Kanzleibeamten ohnehin mit der neuen Technik fremdelten, konnte man doch stattdessen, so das männliche Denken der Zeit, einfach – Frauen einstellen. Ein Ministerium antwortete dem Auswärtigen Amt entwaffnend direkt, man denke an die “Versorgung von Beamtentöchtern”.

So entstand aus technischer Innovation und den zeitgenössischen Klischees von Frauenarbeit das völlig neue Berufsbild der Sekretärin, das prägend wurde für die Kanzleien des 20. Jahrhunderts.

Auch für den Vorsteher der Geheimen Kanzlei das Auswärtigen Amts war das Maschinetippen Frauensache. Immerhin empfahl er in seinem Abschlussbericht vom 8. Juli 1899 die Anschaffung solcher Geräte. Dass er ein Jahrhundert und eine weitere technische Revolution später in einer weltweiten Öffentlichkeit als Exempel bürokratischer Possierlichkeit dastehen würde, als nämlich die Geschichtsredaktion von “Spiegel Online” die Sache aufspießte, konnte er nicht ahnen (“Eines Tages”, Kalenderblatt, 7. Mai 2008, im 5. Absatz). – Herzlichen Dank an Dr. Uhde, Marburg, für den Hinweis darauf!

Obwohl aus dem Vergleich von 10 Fabrikaten nach 11 Kriterien die “Remington Standard” als Siegerin hervorgegangen war, schaffte das Auswärtige Amt die “Germania Jewett” an. Ob der gestrenge Blick des Getippten sein Amt ein letztes Mal auf Linie gebracht hatte?

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/337

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Die Eigenwirtschaft der Zisterzienserabtei Tennenbach von ihren Anfängen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts

Abb. 1, GLAK 66 Nr. 8553

Eingangseite Tennenbacher Güterbuch (1317-1341). Miniatur mit Darstellung eines Konversen (Bildmitte), Generallandesarchiv Karlsruhe (im Folgenden GLAK) 66 Nr. 8553, fol. 1v (Ausschnitt). Die Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsrechte liegen beim Landesarchiv Baden-Württemberg.

Gastbeitrag von Dr. Christian Stadelmaier (Gießen)

1. Einführung

In der Gießener Dissertation zum Grangienwesen des Zisterzienserklosters Tennenbach, die mittlerweile gedruckt vorliegt (Kurzzusammenfassung und Inhaltsverzeichnis),1wird die Landwirtschaft auf den klösterlichen Grangien und die Agrarverfassung im Umfeld der Höfe systematisch analysiert, wodurch repräsentative Ergebnisse generiert werden. Dazu wird verschiedenen Fragestellungen nachgegangen.2 Die Untersuchungen fußen in erster Linie auf der Kombination der urbariellen und urkundlichen Überlieferung des Klosters unter Beachtung von historischem Kartenmaterial.3

In Bezug auf die urbarielle Überlieferung ist das Tennenbacher Güterbuch als wesentliche Quellengrundlage zu nennen.4 Um die Erkenntnisse zu Tennenbach einordnen und bewerten zu können, wird zum Vergleich auf die Überlieferung zum Kloster benachbarter Grundherrschaften rekurriert.5 Neben der Rezeption der geschichtswissenschaftlichen Forschung werden Daten und Arbeiten beachtenswerter Nachbardisziplinen herangezogen. Dies betrifft in erster Linie die Mittelalterarchäologie und die Archäobotanik.6 Auf die einführenden und grundlegenden Kapitel folgt die Analyse der einzelnen Grangien nach einheitlichem Muster. Abschließend werden die Ergebnisse kontextualisiert, wobei die Frage nach den klösterlichen Innovationen im Bereich der Grangien einen zentralen Aspekt darstellt.7

Im Folgenden sollen die zentralen Ergebnisse der Arbeit vorgestellt werden.

2. Ergebnisse der Analyse der Grangien8

Bis ins frühe 14. Jahrhundert baute Tennenbach insgesamt 14 Grangien auf. Von diesen lagen zehn im Altsiedelland des Breisgaus. Drei Grangien wurden im östlich anschließenden Bereich des Schwarzwalds in der Nähe der Abtei angelegt, eine auf der Baar. In Bezug auf den räumlichen Schwerpunkt des Grangienwesens ist ein Zusammenhang von Bodenqualität und Ortswahl evident. Die Grangien mit umfangreichem Ackerland können in für den Ackerbau geeigneten Gegenden des Breisgauer Altsiedellands verortet werden. Dies belegt eine gezielte Arrondierungspraxis des Klosters.

Abb. 2, GLAK H Weisweil 5

Abb. 2: Der Harderer Hof auf dem Gemarkungsplan des Weisweiler Banns von 1763. GLAK H Weisweil 5 (Ausschnitt). Die Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsrechte liegen beim Landesarchiv Baden-Württemberg.

Diese Arrondierungspraxis ist ein indirekter Nachweis für eine Marktorientierung der Klosterökonomie: Die Umsetzung der die Eigenwirtschaft fordernden Ordensstatuten in der Frühphase Tennenbachs muss die Produktion von Überschüssen zur Folge gehabt haben, die abgesetzt werden mussten. Die Einkünfte aus dem Handel wurden wieder in Güter investiert, durch deren Bewirtschaftung eine weitere Steigerung der Produktion und der Überschüsse eintrat. In Folge dessen erlangten Marktbesuch und Handelsaktivitäten zunehmende Bedeutung. Ein deutlicher Nachweis für die Marktorientierung des Klosters ist der Umstand, dass Tennenbach vor allem seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Städten und Marktorten Besitz anhäufte und mehrere Stadthöfe aufbaute.9

Der wichtigste Sektor der Grangienwirtschaft war der Ackerbau, was der Gesamtumfang des Ackerlandes der Grangien deutlich macht. Neben dem beträchtlichen Umfang der Getreideanbauflächen sowie zahlreiche Mühlen und Scheunen im Grangienzubehör zeigen die ermittelten Bodennutzungsformen die zentrale Bedeutung des Ackerbaus. Die Dreifelderbrachwirtschaft wurde sicher auf sieben Grangien betrieben. Bei einer Grangie ist dies anzunehmen. In drei Fällen ist eine Zweifelderwirtschaft mit oder ohne Brache belegt, in einem Fall anzunehmen. In Bezug auf die Fruchtfolgesysteme korrelieren zelgengebundene, also eine innerhalb der Großfelder (Zelgen) verbindlich im jeweiligen regelmäßigen Turnus stattfindende, Bebauung und Gemengelage der Grangiengüter signifikant. Die effektiven Bodennutzungsformen gingen einher mit einer Fokussierung auf den Brotgetreideanbau.10

Viehhaltung und die Viehwirtschaft rangieren in der Bedeutung für die klösterliche Landwirtschaft auf dem zweiten Platz. Neben den Wiesenlandanteilen belegen Flächen, die in Form der Feldgraswirtschaft bebaut wurden, und Weidegewalten im klösterlichen Besitz sowie Weiderechte für die Viehbestände der Grangien dieses Ergebnis deutlich.11

Daneben wurden auch der Gartenbau und die Waldwirtschaft in nicht zu unterschätzendem Ausmaß betrieben.12 Des Weiteren besaßen der Anbau von Öl- und Faserpflanzen sowie die Fischereiwirtschaft ebenfalls eine gewisse Bedeutung.13

Die Tatsache, dass der Grangienweinbau bei Tennenbach einen verhältnismäßig geringen Stellenwert besaß, ist auffällig. Lediglich auf drei Grangien wurde nachweislich Weinbau betrieben. In einem weiteren Fall ist dies für eine kleine Fläche anzunehmen. Der Umfang des Reblandes der Grangien war vergleichsweise niedrig. Dem gegenüber steht der Umstand, dass das Tennenbacher Güterbuch in großem Ausmaß in Pacht gegebene Rebgüter verzeichnet. Dies verdeutlicht die insgesamt geringe Bedeutung des Weinbaus auf den Grangien.14

Die wesentlichen Träger der Agrarwirtschaft auf den Grangien waren die Konversen. Sie dürften als Fachleute die landwirtschaftlichen Arbeiten im Lohnarbeiter zunehmend einen großen Anteil der Arbeiten auf den anwachsenden Grangien erledigt haben und deshalb in größerer Anzahl auf den Grangien anwesend gewesen sein.15

Für die Agrarwirtschaft und deren Gestaltung bedeutende Verfügungsgewalten und Berechtigungen sowie wirtschaftlich bedeutsame Privilegien versuchte Tennenbach systematisch anzuhäufen. Dabei zeigte sich bei den Grangien und im Grangienumfeld vor allem die zisterziensertypische Tendenz, Zehntprivilegien durchzusetzen und Steuer- und Abgabenbefreiungen zu erhalten. Daneben erlangte Tennenbach zahlreiche für die Landwirtschaft relevante Rechte.16

3. Das Tennenbacher Grangienwesen im Kontext

Der Abgleich der Ergebnisse zum Tennenbacher Grangienwesen mit dem agrargeschichtlichen Forschungsstand Südwestdeutschlands verdeutlichte, dass die Dreifelderbrachwirtschaft und Varianten der Zweifelderwirtschaft im Altsiedelland des Oberrheins koexistierten. Dabei wurde aufgezeigt, dass verzelgte Flursysteme im Altsiedelland des Breisgaus im 13. und 14. Jahrhundert stärker als bisher vermutet wurde, verbreitet waren. Weiter bestätigte sich, dass am Oberrhein während des Spätmittelalters eine außerordentlich differenzierte Flurverfassung bestand.17

Abb. 3, GLAK H Tennenbach 2_klein

Abb. 3: Gemarkungsplan des Tennenbacher Distrikts von 1759. GLAK H Tennenbach 2. Die Veröffentlichungs- und Vervielfältigungsrechte liegen beim Landesarchiv Baden-Württemberg.

Im Vergleich mit dem Forschungsstand zum Grangienwesen der übrigen südwestdeutschen Zisterzienserklöster traten vor allem die Eigenheiten Tennenbachs hervor. Dies betrifft vor allem die verhältnismäßig geringe Bedeutung des Grangienweinbaus. In Hinblick auf den Ackerbau und die Viehwirtschaft bewegte sich das Kloster im Wesentlichen im üblichen Bereich. Vermutungen und Thesen, die von einer ausgeprägten Fischereiwirtschaft der Zisterzienser im südwestdeutschen Raum ausgehen, konnten im Ansatz bestätigt werden. Fischereiwirtschaft, Wassernutzungsrechte und Mühlenwesen waren dabei stets vernetzt.18

Tennenbach erbrachte nachweislich innovative Leistungen im Agrarbereich. Dies betrifft besonders den Umfang der landwirtschaftlichen Nutzflächen und die großen Viehbestände. Auch die mit systematischer Stringenz betriebene Düngepraxis ist als Neuerung zu deuten. Weiter ist davon auszugehen, dass das Kloster an der Einführung von verzelgten Fruchtfolgesystemen beteiligt war. Ferner konnten Indizien für Pferde in den Pfluggespannen im Grangienbereich erbracht werden. Daneben wurden Hinweise darauf, dass Tennenbach bei der Einführung und Verbreitung von Stampfmühlen im Breisgau eine Vorreiterrolle einnahm, beigebracht. Die Innovationen im Tennenbacher Grangienwesen treten deutlich hervor, auch wenn es sich bei ihnen größtenteils um die Weiterentwicklung und Verbesserung von Bestehendem handelte. Die Innovationen werden durchaus kritisch betrachtet. Nicht jede Neuerung ist per se als positiv zu bewerten. Abhängig von den jeweils angesetzten Kriterien und Maßstäbe zeigte sich die Ambivalenz der klösterlichen Innovationen. Als Träger der Fortschritte können die Konversen des Klosters angesehen werden. Da sie sich zu großen Teilen aus der ländlich-bäuerlichen Gesellschaft rekrutiert haben, ist davon auszugehen, dass von dort Anstöße für die Landwirtschaft auf den Grangien kamen, die im Zusammenspiel mit der Wirtschaftsleistung des Klosters ihr volles Potential entfaltet haben dürften.19

Das Grangienwesen Tennenbachs profitierte von den Gegebenheiten und Entwicklungen in seinem Wirkungsraum. Dies betrifft vor allem die klimatischen Bedingungen am Oberrhein, die hohe Nachfrage nach Getreideprodukten und die Ausbildung der Städte und Märkte. Vereinzelt stieß das Kloster aber auch an seine Grenzen. Die grundherrlichen Strukturen und die Genese der dörflichen Gemeinde erschwerten die Aktivitäten der Zisterze. Durch seine großen Viehbestände, seine Düngepraxis sowie die Schaffung großer Ackerlandareale und der damit zusammenhängenden Prägung der Agrarlandschaft beeinflusste die Tennenbacher Grangienwirtschaft das klösterliche Umfeld und die Umwelt.20

Die Schnittstellen spiritueller Grundzüge des Ordens und den damit in Zusammenhang stehenden Entwicklungen der Ordensverfassung auf der einen Seite und der Geschichte eines Einzelklosters auf der anderen liegen auf der Hand: Die Genese des Tennenbacher Grangienwesens sowie die auf den Grangien betriebene Agrarwirtschaft können dezidiert auf die Befolgung der Regel zurückgeführt werden. Die Intention der Grangienwirtschaft war es, die Klosterfamilie unabhängig von äußeren Anhängigkeiten zu versorgen. Dabei wurde deutlich, dass die Regeltreue immer einen Bezug zu den jeweiligen Gegebenheiten haben musste, um praktisch umgesetzt werden zu können. Tennenbach konnte die Ordensregeln rational und angepasst an die jeweiligen Umstände realisieren.21————————————————————————————————————————-

Zitiervorschlag:

Christian Stadelmaier: Die Eigenwirtschaft der Zisterzienserabtei Tennenbach von ihren Anfängen bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, in: Mittelalter am Oberrhein. Ein Blog der Abteilung Landesgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 12. März 2015, http://oberrhein.hypotheses.org/921 (ISSN: 2199-210X)

  1. Christian Stadelmaier: Zwischen Gebet und Pflug. Das Grangienwesen des Zisterzienserklosters Tennenbach (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte, Bd. 58), Freiburg/München 2014. Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf eben diese Publikation. Zwei in jüngster Zeit publizierte Aufsätze des Autors beziehen sich in unterschiedlichem Ausmaß auf die Dissertation und enthalten Inhalte, die auch im vorliegenden Beitrag zu finden sind: Christian Stadelmaier: Die Agrarwirtschaft der Grangien des Zisterzienserklosters Tennenbach: Grundlagen, Charakteristika und Neuerungen, in: Die Pforte 32/33 (2012/2013), S. 27–38; Christian Stadelmaier: Grangienwirtschaft und Agrarinnovationen in der Tennenbacher Grundherrschaft, in: 850 Jahre Zisterzienserkloster Tennenbach. Aspekte seiner Geschichte von der Gründung (1161) bis zur Säkularisation (1806), hrsg. von Werner Rösener, Heinz Krieg und Hans-Jürgen Günther (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte, Bd. 59), Freiburg/München 2014, S. 131–146.
  2. Siehe dazu Stadelmaier, Gebet (wie Anm. 1), Kap. I.1.2.
  3. Ebd., S. 17, 21 f.
  4. Generallandesarchiv Karlsruhe 66, Nr. 8553. Edition: Das Tennenbacher Güterbuch (1317–1341), bearb. von Max Weber u. a. (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A: Quellen, Bd. 19), Stuttgart 1969.
  5. Stadelmaier, Gebet (wie Anm. 1), S. 20.
  6. Ebd., S. 22.
  7. Zum Vorgehen: Ebd., S. 22 f.
  8. Die Angaben unter 2. beziehen sich auf ebd., Kap. II.3.
  9. Ebd., S. 235 f.
  10. Ebd., S. 239 ff. Zur zelgengebundenen Bebauung des Ackerlands vgl. ebd., S. 29.
  11. Ebd., S. 241.
  12. Ebd., S. 241 f. (Waldwirtschaft), 244 (Gartenbau).
  13. Ebd., S. 245.
  14. Ebd., S. 242 und zu den Ergebnissen zum Weinbau insgesamt ebd., S. 242 ff.
  15. Ebd., S. 245 f.
  16. Ebd., S. 246 ff.
  17. Ebd., Kap. III.1.1.1, hier S. 251.
  18. Ebd., Kap. III.1.1.2, hier v. a. S. 256 f.
  19. Ebd., Kap. III.1.2.2. Zu den Innovationen des Klosters siehe auch Stadelmaier, Grangienwirtschaft (wie Anm. 1).
  20. Stadelmaier, Gebet (wie Anm. 1), Kap. III.1.3.
  21. Ebd., Kap. III.2., hier v. a. S. 265 f.

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/921

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Dissertationsprojekt: Integration und Herrscherrepräsentation am Münchener Hof unter Kurfürst Karl Theodor von Pfalzbayern 1777-1799 (Anja Lochbrunner, München)

Der europäische Fürstenhof, verstanden als der Personenkreis aller Amtsträger im Haushalt der Herrscherfamilie einschließlich des mit Ehrentiteln versehenen adeligen Gefolges, blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein eine zentrale Institution im politischen sowie gesellschaftlich-kulturellen Leben des jeweiligen Territoriums. Hier traf sich die Elite des Landes, um Zugang zu den höchsten Staatsämtern zu bekommen und der Fürst nutzte den Hof als Rahmen, um sich zu inszenieren und seine Herrschaft zu legitimieren. Ende des 18. Jahrhunderts waren die Höfe im Alten Reich allerdings infolge der Aufklärung vor allem wegen der hohen Ausgaben für die Hofhaltung in die Kritik geraten und es hatte sich ein neues Herrscherbild vom Fürsten als „erstem Diener des Staates“ durchgesetzt. Wenn die Hofhaltung deshalb auch nicht, wie in der historischen Forschung lange behauptet, an Bedeutung verlor, musste sich der Hof in dieser Zeit doch, etwa durch eine allgemeine Reduzierung der demonstrativen Prachtentfaltung, die für die Hofkultur des Barock charakteristisch gewesen war, an diesen Wandel anpassen.

Vor diesem Hintergrund untersuche ich im Rahmen meiner Dissertation für den Münchener Hof unter der Regierung Kurfürst Karl Theodors (1777 – 1799), ob und wie sich die gesell- schaftspolitische Funktion dieser zentralen staatlichen Einrichtung in der Spätaufklärungs- und Revolutionsepoche verändert hatte. Da Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz nach dem Erbfall Kurbayern mit seinen angestammten Ländern vereinigte und mit einem Teil seines Mannhei- mer Hofstaats nach München übersiedelte, geht es dabei zum einen um die Bedeutung des zusammengelegten Hofes für die Integration der gesellschaftlichen Elite des neuen Gesamt- staates. Zum anderen wird die Praxis der Herrschaftsrepräsentation am Münchener Hof in den Blick genommen, die für Karl Theodor angesichts einer für die Frühe Neuzeit ungewöhnlich starken Opposition gegen seine Politik in Bayern von besonderer Wichtigkeit sein musste.

Dazu wurden zunächst anhand von Hofkalendern, Besoldungs- und anderen Verwaltungsakten die Mitglieder des Münchener Hofstaats prosopografisch erfasst. Eine Analyse der Herkunft ausgewählter Gruppen des Personals zeigt, inwieweit Bewohner der einzelnen Landesteile und Angehörige der verschiedenen Stände am Hof integriert waren. Größe, Sozialstruktur und organisatorische Veränderungen des Hofstaats während der Regierungszeit Karl Theodors lassen außerdem darauf schließen, welche Ziele er als aufgeklärter Fürst mit seiner Hof- haltung verfolgte. Auf dem Workshop “Die höfische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Zwischen Regierung, Repräsentation und Integration” werden erste Erkenntnisse zu diesem Themenkomplex vorgestellt.

Im zweiten Teil der Arbeit wird die Rolle des Münchener Hofes für die Herrschaftslegitimation Karl Theodors anhand der Gestaltung ausgewählter repräsentativer Ereignisse des Hoflebens untersucht. Dabei werden öffentliche Auftritte im religiösen und kulturellen Alltag des Hofes, etwa Gottesdienstbesuche des Kurfürsten mit seinem Gefolge, ebenso behandelt wie Feierlichkeiten bei besonderen dynastischen Anlässen wie dem 50-jährigen Regierungs- jubiläum Karl Theodors. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch Reisen des Herrschers, auf denen er mit einem Teil des Hofstaats an verschiedenen Orten innerhalb seiner Länder Präsenz zeigte. Diese Untersuchung stützt sich neben Verwaltungsakten zur Organisation der Ereignisse vor allem auf Beschreibungen in der Publizistik und den Berichten der auswärtigen Gesandten in München. Zusätzlich sollen private Korrespondenzen und Nachlässe einiger hofnaher Persönlichkeiten unterschiedlicher Herkunft ausgewertet und so die Wahrnehmung des Hoflebens aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden.

 

Zum Workshop “Höfische Gesellschaft im 18. Jahrhundert”

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/3483

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Exhibitionisten im #wissensspeicher

Nach Mareike Königs Vortrag “Blogs als Wissensorte der Forschung”, wurde auf der Tagung Die Zukunft der Wissensspeicher: Forschen, Sammeln und Vermitteln im 21. Jahrhundert -  ausgerichtet von der Gerda Henkel Stiftung und dem Konstanzer Wissenschaftsforum am 5. und 6. März in Düsseldorf – eine lebhafte Diskussion geführt; leider viel zu kurz, wie ich fand. Es begann eine Art Blog-Bashing, das in späteren Vorträgen von verschiedenen Rednern mit kurzen Seitenhieben fortgesetzt wurde.

courbetBeispielhaft möchte ich die Aussage von Prof. Ulrich Gotter von der Universität Konstanz nennen, der wissenschaftliches Bloggen mit Exhibitionismus gleichsetzte. Also bin ich wohl eine Exhibitionistin. Da es meine Art nicht ist, gegen solche Aussagen mit entblößtem Oberkörper á la Pussycat Riot die Bühne zu stürmen, verwende ich hierzu lieber mein Blog – das empfinde ich als standesgemäßer. Denn dies scheint der Ort meiner wissenschaftlichen Exhibition zu sein.

Wie ich zum Bloggen kam

Als „Ich-will-mich-der-Öffentlichkeit-nicht-aussetzen-Internet-Nutzerin“ besuchte ich 2012 die Tagung „Weblogs in den Geisteswissenschaften“. Mein Doktorvater, Prof. Hubertus Kohle, hielt dort einen Vortrag und gehört außerdem zum Wissenschaftlichen Beirat von de.hypotheses. Da dachte ich: „Gehste hin. Machste ‘n guten Eindruck.“ Ich hatte niemals die Absicht, ein Blog zu eröffnen, da hätte ich mich ja in die Öffentlichkeit stellen müssen. Ih gitt!

Der Nutzen meines Blogs

Im Laufe der Veranstaltung wurde mir klar, welche Möglichkeiten sich durch das Bloggen für mich bieten würden und drei Wochen später hatte ich mein Blog bei hypotheses eröffnet. So schnell kann ein Sinneswandel gehen. Handeln beginnt immer im Kopf und zwar mit Denken. Die Schublade, mich nicht in die Öffentlichkeit stellen zu wollen ging zu und ein neues Kapitel begann: das des Bloggens.

Ich weiß nicht, wie ich ohne Blog die Einarbeitungszeit durchgestanden hätte. Im ersten Jahr schrieb ich jede Woche einen Artikel, danach etwas weniger, aber dennoch regelmäßig. Es motivierte mich, lasen doch sicher der ein oder die andere mit. Genau das ist wichtig, zumal ich als externe Promovendin nicht direkt an den Wissenschaftsbetrieb angeschlossen bin. Durch das Blog bin ich Mitglied einer wissenschaftlichen Community und das spornt an und tut gut!

Aufwand und Nutzen

Einen Artikel zu verfassen braucht Zeit, aber die investiere ich in mich, in mein Wissen. Was könnte ich also nützlicheres für mich tun? Es scheint so, als hätte nur die Öffentlichkeit etwas von meinen Texten, aber zunächst bin es immer ich, die einen Wissensgewinn aus der intensiven Beschäftigung mit einem Thema zieht – und dann erst die anderen.

Wer noch mehr Gründe für das Bloggen sucht: Auf dem Redaktionsblog von hypotheses hatte ich vor einiger Zeit dazu einen Artikel verfasst Warum sollte ich als Wissenschaftler/in bloggen?

Meine Meinung

So, und das alles hat nichts mit Exhibitionismus zu tun. Hätte es das, dann gälte es für das Publizieren von Büchern oder in Zeitschriften ebenfalls. Denn worin liegt der Unterschied?

Ich für meinen Teil kann Bloggen nur empfehlen. Schreiben Sie mir über die Kommentarfunktion gerne Ihre Motivation für das Bloggen. Argumente gegen das Bloggen können Sie hingegen für sich behalten – die interessieren mich nicht.

 

Digitale Bildquelle: www.artigo.org

Künstler: Gustave Courbet
Titel: L’Origine du monde
Ort: Paris, Musée d’Orsay
Datierung: 1866

Quelle: http://games.hypotheses.org/1919

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Warum Archive alt sein müssen – Gedanken zum 2. Jahrestag unseres Universitätsarchivs

Was meinen Sie, geschätzter Leser, geschätzte Leserin, wenn Sie von „Ihrem Archiv“ sprechen? Meinen Sie damit vielleicht Ihre Fotoalben oder über die Jahre zusammengetragene Zeitungsausschnitte? Haben Sie vielleicht ein „Briefmarkenarchiv“, oder ist ein Archiv für Sie gar gleichbedeutend mit einer Sammlung? Dann meinen wir mit „Archiv“ etwas Grundverschiedenes. Archiv und Sammlung, das ist wie Tag und Nacht, wie Licht und Schatten. Beide gehören zwar irgendwie zusammen, unterscheiden sich aber in ganz wesentlichen Bereichen eklatant. Weisen Sammlungen eher in Richtung Museum, vielleicht als „Dokumentenmuseen“, bestehen legitim aus für sich selbständigen, quasi isolierten Einheiten, so richten Archive ihr Augenmerk auf die Bewahrung von Kontexten, von Information über Zusammenhänge, Vorgänge des Verwaltungshandelns, auf die Sicherung von Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Handlungen des Archivträgers. Sie sammeln nichts, sondern sie empfangen. Sie empfangen die kontinuierlichen Aussonderungen der Akteure ihres Trägers und bereiten sie für die öffentliche Nutzung vor. Ziel ist die Sicherung der Erforschbarkeit und die Rechtssicherung, die der Rechte des Trägers und der Rechte Dritter an den Träger. Dann, und nur dann, kann es sich um Archive im öffentlich-rechtlichen und im Sinn der Archivwissenschaft handeln. Dass diese Archivbestände zusätzlich durch Sammlungen ergänzt werden können, dient der weiteren Erhellung des Archivs und des Wirkens von dessen Träger. Diese Sammlungen müssen sich in eine sinnvolle Gesamtstruktur – Archivare sprechen hier von „Tektonik“ – einbauen lassen. Kurzum: Archive archivieren Kontexte. Dies sei dem Folgenden zum besseren Verständnis vorausgeschickt.

Das bayerische Archivgesetz legt eine so genannte „Schutzfrist“ von dreißig Jahren fest, die von der Entstehung eines Dokuments an vergangen sein müssen, damit es einem Archivbesucher vorgelegt werden darf. Ähnliche Fristenregelungen gibt es in den übrigen Bundesländern und beim Bund. Ursprünglich – und damit meine ich die Zeit des Aufkommens von Archivgesetzen in Deutschland, also die Jahre 1988 bis 1997 – wurde diese Zeitspanne mit dem Erfordernis zur Wahrung des Amtsgeheimnisses und der Unbefangenheit behördlichen Handelns gerechtfertigt. In der Begründung zum Bayerischen Archivgesetzt vom 18.zehn.1988 (Landtagsdrucksache 11/8185) heißt es dazu: „[…] Nach dreißig Jahren kann im allgemeinen davon ausgegangen werden, daß eine Gefährdung öffentlicher und privater Belange weitgehend ausgeschlossen und eine Vorlage des Archivguts zur Benützung in der Regel unbedenklich ist. […]“. Mit dem Aufkommen der Informationsfreiheitsgesetze wurde (und wird) dem der Grundsatz der Öffentlichkeit von Verwaltungsinformation entgegengestellt. Sie treten in Konkurrenz mit den archivgesetzlichen Regelungen und scheinen dabei über kurz oder lang den Sieg davonzutragen und die Relevanz der so genannten „allgemeinen Schutzfrist“ aufzuheben. Immerhin enthalten einige Landesarchivgesetze längst nurmehr eine derartige Schutzfrist von zehn Jahren. Der Berliner Jurist Batholomäus Manegold forderte in seinem Vortrag über die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen öffentlicher Archive in Deutschland auf dem 81. Deutschen Archivtag 2011 in Bremen die Aufhebung dieser Schutzfrist. Sie sei verfassungsrechtlich problematisch und verletze als „prinzipielle Schranke und allgemeine Sperre ohne Ansehen des Archivgutes“ die Forschungsfreiheit. Wenn diese Fragen auch eher selten auf der hohen Ebene des Verfassungsrechts erörtert werden, so gibt die Konkurrenz mit den Informationsfreiheitsgesetzen den Archivträgern doch genügend Anlass, zumindest mittelfristig eine Anpassung an die zu beobachtende Rechtsentwicklung vorzunehmen.

Offen und spannend bleibt die Frage, im Rahmen welcher Nutzungsvorhaben und welcher Nutzungsarten in einer vielleicht nicht allzu fernen Zeit verminderter Zugangseinschränkungen auf die jüngsten archivalischen Unterlagen zugegriffen werden wird. Die Forderung nach Zugang und Unterstützung der Forschungsfreiheit sagt ja noch nichts darüber aus, mit welchen methodologischen Instrumentarien die Interpretation solch junger Quellen vorgenommen werden soll. Natürlich haben die Zeithistoriker ihre quellenkritischen Methoden, die der relativen Unabgeschlossenheit dokumentierter Prozesse gerecht werden können. Allerdings ist dieser Nutzerkreis und überhaupt die qualifizierte wissenschaftliche Nutzung in den meisten Archiven – von den Big Players abgesehen – eher in der Minderheit, der gegenüber die so genannten nicht wissenschaftlichen Nutzungsarten überwiegen. Die Möglichkeit, Quellen unzureichend kritisch zu interpretieren, eine Möglichkeit, die die Archivare als Gefahr ansehen, kann nun dadurch mitverursacht sein, dass die erforderliche Quellenkritik auf Grund der fehlenden zeitlichen Distanz nicht geübt werden kann. Was dann noch bleibt, sind Deutungsprognosen oder Faktenlistungen, wobei selbst die Auswahl der Fakten, die des Listens wert gehalten würden, objektiv fragwürdig bleiben dürfte. In der archivarischen Praxis gesellt sich diesem Problem das der fragmentarischen Überlieferung und das damit eng verbundene der oft eigenwilligen Aussonderungspraxis der Schriftgutbildner bei. Heute verhält es sich so, dass Entwicklungen, die noch nicht länger als dreißig bzw. zehn Jahre her sind, schon allein auf Grund der Quellenlage in den Archiven nur lückenhaft untersucht werden könnten, selbst wenn es keine Schutzfristen gäbe. Aus dieser jüngsten Zeit liegen vielfach zwar Ergänzungsüberlieferungen, etwa in Form von jüngst erworbenen Nachlässen, oder Dokumentationsbestände wie Pressedokumentationen vor. Das Herzstück der archivalischen Überlieferung aber, die Akten der Institutionen, für die das jeweilige Archiv als verantwortlich bestimmt ist, befinden sich noch in den Büros der Sachbearbeiter oder im günstigsten Fall in den Registraturen der Behörden. Warum? Weil die darin enthaltenen Vorgänge von den federführenden Stellen noch nicht als sicher abgeschlossen angesehen werden, oder weil zumindest ein Wiederaufgreifen eines Vorgangs noch nicht ausgeschlossen erscheint. Daraus folgt, dass ihrer historischen Interpretierbarkeit noch gewisse Grenzen gesetzt sind. Und das selbst dann, wenn mittels eines Informationsfreiheitsgesetzes dem Einsicht Begehrenden der Weg bis hinein in die Amtsregistraturen gebahnt wäre, wie es ja in einigen Bundesländern durchaus bereits der Fall ist.

Viel bedeutsamer als die Unterstützung der Forschungsfreiheit könnte das Informationsrecht als bürgerliches Recht zur Kontrolle des Exekutivhandelns sein, das in der – wenn auch im Laufe der Zeit unterschiedlich motivierten – Verpflichtung der öffentlichen Verwaltung zu Transparenz und Nachvollziehbarkeit ihres Handelns bereits seit dem 19. Jahrhundert eine befähigende Grundlage vorfindet. Dies hat aber nichts mit wissenschaftlicher Forschung, sondern mit Justitiabilität bei gleichzeitigem Bezug zur jeweils aktuellen Gegenwart zu tun.

Kürzlich machte mich ein wissenschaftlicher Assistent vom hiesigen Lehrstuhl für Neueste Geschichte auf eine Pressemitteilung vom November 1983 aufmerksam, auf die er bei Archivrecherchen gestoßen war. In ihr kündigt die Universität mit viel vorgeschossenem Lob und großer Freude den Historiker Ernst Nolte als Referent in Bayreuth an. Darin findet sich eine zeitgenössische Wertung der wissenschaftlichen Bedeutung dieses Mannes, die in der akademischen Community und in der Gesellschaft nur wenige Jahre später aus einem völlig veränderten Licht heraus ganz anders ausfiel. Sprechen wir heute von bedeutsamen Gründungen und Events der jüngsten Vergangenheit, so kann doch erst die Zukunft zeigen, was an ihnen bleibend nennenswert sein wird, und welche Bedeutung sie im Kontext tatsächlich erlangten. Zeitgeschichtsschreibung in diesem Sinne muss sich im Besonderen dessen bewusst sein, dass sie mit ihren Darstellungen selbst Quellen erschafft, die von nachfolgenden Generationen als Ausdruck historisch-zeitgenössischer Wahrnehmung der historischen Gegenwart interpretiert werden.

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(Pressemitteilung der Universität Bayreuth vom 25.11.1983; zum Vergrößern auf das Bild klicken!)

Geschichtsdeutung auf der Basis interpretierbarer Quellen verlangt Zeugnisse abgrenzbarer Prozesse. Sie verlangt Knoten und Bänder von Ereignissen, Handlungen und Beziehungen. Die Archivare sprechen vom inneren „archival bond“, das einen Vorgang zu Akte macht. Erst dann lassen sich Handlungen überblicken, Zusammenhänge verstehen und Wirkungen deuten, wenn eine Sichtweise auf etwas in zu definierendem Maße Abgeschlossenes aus hinreichender Distanz möglich ist. Wenn auch nicht jede Beschäftigung mit Geschehnissen aus der Zeit nach der großen Pest des 14. Jahrhunderts in klischeegenerierter Mediävistenmanier als journalistische bezeichnet werden muss, so ist dennoch mit dieser Distanz freilich zuallererst eine zeitliche gemeint. Archiv kommt von αρχειν, nicht von αρχαιος, wie oft vermutet wird. Dennoch ist es das Alter, das die Archivreife mit sich bringt. Alter wird gemeinhin heute als etwas Relatives empfunden, und es geht die Redensart um, man sei (nur) so alt, wie man sich fühle. Unter der Prämisse, den Begriff des Alters in Relation zum jeweiligen Forschungsthema dehnbar zu halten, lässt sich nach dem Gesagten die in der Überschrift formulierte These, erst „alte“ Archive seien zur vollen Auswertbarkeit ausgereift, wohl bestätigen.

In fast allen Beständen des Universitätsarchivs befinden sich Unterlagen, die jünger als dreißig Jahre sind, viele jünger als zehn Jahre. Das Herzstück, die Akten der zentralen Verwaltung, der größte und systematischste Bestand, endet derzeit 1989 und wird vereinbarungsgemäß künftig im Fünfjahresrhythmus ergänzt. Zur Bildung weiterer zentraler Bestände fehlt es noch an Aussonderungen. Aus dem Wissenschaftsbereich liegen Inselbestände vor, die die Tätigkeit einzelner Stellen auch über längere Zeiträume belegen (z.B. Institut für Sportwissenschaft oder BayCEER-Abteilung Mikrometeorologie oder auch der Lehrstuhl Musikwissenschaft im Forschungsinstitut für Musiktheater). Die Dichte der Überlieferung hat demnach noch weithin die Struktur eines Schweizer Käses, was nach erst zwei Betriebsjahren allerdings auch kaum anders zu erwarten ist. Nichtsdestoweniger soll uns das ein Ansporn sein, den betretenen Weg weiterzugehen und so auch unserem dritten Jahrestag mit unvermindertem Eifer entgegenzuschreiten.

Das Universitätsarchiv hat am 1. März 2013 seinen Betrieb aufgenommen.
Übersicht über die Bestände im Universitätsarchiv Bayreuth: http://findbuch.uni-bayreuth.de/Akzessionsverzeichnis/index.htm

Quelle: http://unibloggt.hypotheses.org/389

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Kleinräumige Spezialisierung und transnationaler Vergleich – Landesgeschichte im Masterstudium

Landesgeschichte muss sich, anders als vielleicht die erste Assoziation nahelegt, nicht ausschließlich mit der Geschichte z.B. Bayerns, Westfalens oder Sachsens befassen. Vielmehr bietet die historische Teildisziplin „Landesgeschichte“ einerseits die Möglichkeit zum europäischen oder transatlantischen Vergleich sowie andererseits besonders gute Anknüpfungspunkte … Weiterlesen

Quelle: http://beruf.hypotheses.org/171

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Keine Reisekostenübernahme!

Der sächsische Kurfürst machte sich Sorgen: Aus den Ämtern seines Landes erreichten ihn Klagen, daß die Lasten durch sogenannte Amts- und Patentfuhren überhand genommen hätten. Vor allem auswärtige Gesandte, die das Kurfürstentum passierten, würden auf diese Dienste der Ämter zurückgreifen und sich entsprechend mit Reisepferden ausstatten und in den Wirtshäusern versorgen lassen. Entsprechend erließ Kurfürst Johann Georg die Verfügung, daß auch durchreisende Fürsten und ihre Abgesandten für diese Leistungen zahlen sollten (Kurfürst Johann Georg von Sachsen an Kurfürst Georg Wilhelm von Brandenburg, Dresden 28.2.1618, GStA PK BPH, Rep. 34, Nr. 25 fol. 32-32‘ Ausf.).

Konkret war dieses Schreiben hier an den Kurfürsten von Brandenburg gerichtet. Der nördliche Nachbar Kursachsens konnte kaum anders, als sächsisches Territorium zu durchqueren, wenn er zum Kaiserhof und vielen anderen Reichsfürsten reisen wollte. Insofern traf es Brandenburg besonders hart – die brandenburgischen Kassen waren oftmals leer, und man mußte sich stets Gedanken machen, wie Gesandtschaften zu finanzieren waren. Auch wenn es Spannungen zwischen beiden Reichsfürsten gegeben hat – etwa in dem nun schon seit Jahren schwelenden Streit um das Jülicher Erbe –, wird man in dieser sächsischen Anordnung kaum eine besondere antibrandenburgische Spitze erkennen können. Zumindest ist dies nicht nachweisbar.

Auffallend ist aber die Argumentation in der kursächsischen Ankündigung. Hier ist generell von den „thewern zeiten“ die Rede. Auch Mißernten und Unglücke wie Feuersbrünste hätten im Land Schaden verursacht, so daß die Untertanen dort „nicht allein in abfall ihrer Nahrung kommen, sondern auch eußersters verderben geraten möchten“. Das hört sich auf den ersten Blick wie die übliche zeitgenössische Rhetorik an, die die schweren Zeiten beklagt. Auch dies können wir nur vermuten oder unterstellen. Immerhin datiert diese Episode von Anfang 1618, als zwar in Böhmen schon ein Ständeregiment die habsburgische Herrschaft abgeschüttelt und den Pfälzer Kurfürsten als neuen König installiert hatte; der Feldzug gegen Böhmen sollte aber erst in ein paar Monaten beginnen.

Auch wenn also im Moment noch kein offener Krieg im Reich geführt wurde, standen die Zeichen auf Sturm. Vor dem Hintergrund kann man diese Hinweise aus Kursachsen doch als Krisensymptome verstehen: Man fürchtete um sein Auskommen, beklagte hohe Belastungen. Unabhängig davon, ob noch ein anderes Kalkül dahinterstecken mochte, ging von dieser Verfügung doch ein klares Signal aus: Selbst ein wohlhabender Reichsstand wie Kursachsen konnte es sich nicht leisten, solche Services wie Amts- und Patentfuhren aufrechtzuerhalten. Für andere Reichsfürsten und ihre Gesandten galt ab sofort, daß es in Sachsen keine Reisekostenübernahme mehr gab.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/616

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Viele Geschlechter, viele Begriffe: Zur Semantik von “intersexuell”, “hermaphroditisch”, “bisexuell”

Über uneindeutiges körperliches Geschlecht wird auf viele Weisen und mit vielen Begriffen gesprochen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass dabei die Begriffe oft sehr durcheinandergehen und die Diskussionen von ungenauen, verwirrenden und verletztenden Begriffen geprägt sind. Der historische Sprachgebrauch ist selbst für das 20. Jahrhundert einigermaßen kompliziert. Das, was heute als “Intersexualität” bezeichnet oder mehr oder minder umständlich als “Varianz der als normal definierten körperlichen Geschlechtlichkeit” o.ä. umschrieben wird, wurde historisch mit vielen Begriffen bezeichnet. Dazu gehören außer “Intersexualität” vor allem “Hermaphroditismus”, “Androgynie” und “Bisexualität”, […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/165

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Freimaurer, Möpse und digitale Quellen

Von Martin Otto Braun

Um es direkt vorweg zu nehmen: Wer sich von diesem Blogpost Enthüllungen streng gehüteter Geheimnisse erhofft, wird bitter enttäuscht werden. Die Quellen zur Geschichte der Freimaurerei (und auch anderer Geheimbünde) des 18. Jahrhunderts sind derartig öffentlich, das “Enthüllungen” von Ritualen, Logenmatrikeln oder Statuten in der Regel eine Archivreise, immer öfter sogar nur einen Mausklick weit entfernt liegen.

Im Wintersemester 2013/14 beschäftigten sich die Teilnehmer des Arbeitskurses „Streng geheim?! Quellen zur Geschichte der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts“ an der Universität zu Köln sowohl mit den nichtdigitalen als auch den digitalen Dokumenten zur freimaurerischen Geschichte. Selbstverständlich kann an dieser Stelle nicht auf alle im Seminar präsentierten Quellen im einzelnen eingegangen werden. Es sollen vielmehr fünf Fundstücke beispielhaft angerissen werden, um die Bandbreite des bereits digital zugänglichen Materials zu illustrieren.

Titelbild der "Constitutions of the Free-Masons", London 1723. (By Christophe Dioux (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or Public domain], via Wikimedia Commons)
Titelbild der “Constitutions of the Free-Masons”, London 1723 (By Christophe Dioux (Own work) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or Public domain], via Wikimedia Commons).

1. The Constitutions of the Free-Masons. Containing the History, Charges, Regulations, &c. of that most Ancient and Right Worshipful FRATERNITY, London 1723
Ein grundlegendes Dokument zur freimaurerischen Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts bilden die “Constitutions of the Free-Masons” oder auch “Alten Pflichten”. Diese regelten für die um das Jahr 1717 in London gegründete Großloge nicht nur die innere Verfassung, sondern gaben auch den “neugeordneten” Geschichtsmythos der Freimaurerei wider. Dieser versuchte die sogenannte “Königliche Kunst” bis auf Adam bzw. einen göttlichen Ursprung zurückzuführen. Um einen Einblick in die Vorstellungswelten der Freimaurerei des frühen 18. Jahrhunderts zu gewinnen und sich ein Bild über die Regelung von Logengemeinschaften zu machen, ist dieses Dokument als Ausgangsbasis unerlässlich.

2. Samuel Prichard, Masonry Dissected: Being a Universal and Genuine Description of All Its Branches, from the Original to this Present Time, London 17301
Samuel Prichards ‘Enthüllung’ der Freimaurerei aus dem Jahr 1730 zählt zu den frühen “Verräterschriften“. Diese erfreuten sich im 18. Jahrhundert durchaus großer Beliebtheit. Sie zeigen, dass das freimaurerische “Geheimnis” um Einweihungsrituale schon in diesen Zeiten mehr als brüchig war. Ohnehin kann mit Blick auf die frühe englische Freimauerei festgestellt werden, dass sie weit weniger im Verborgenen wirkte, als oftmals angenommen wird.2 Prichards Schrift kann herangezogen werden, um sich dem freimaurerischen Ritualen und den dabei vorgenommenen Wechselreden zwischen Rezipient und Meister zu nähern.

Von Unbekannt, Schaubild zur Einweihung in den Lehrlingsgrad aus Gabriel-Louis-Calabre Pereau: L'Ordre de Francs Macons Trahi et le secret des mopses révélé, Amsterdam 1771 (Quelle: (Kiefer Auktionen) [Public domain], via Wikimedia Commons).
Von Unbekannt, Schaubild zur Einweihung in den Lehrlingsgrad aus Gabriel-Louis-Calabre Pereaus “L’Ordre de Francs Macons Trahi et le secret des mopses révélé”, Amsterdam 1771 (Quelle: (Kiefer Auktionen) [Public domain], via Wikimedia Commons).

3. Der sich selbst vertheidigende Freymäurer, oder Sammlung unterschiedlicher Wohlverfaßten Schriften, welche einige Mitglieder dieses Ordens selbst zu dessen Vertheidigung herausgegeben nebst einer vorläufigen historischen Nachricht von dieser vortrefflichen Gesellschaft, Frankfurt und Leipzig 17443
Diese Sammlung verschiedener freimaurerischer Texte wird hier vor allem aufgrund einer Rede aus dem Jahr 1737 erwähnt, die für die Entwicklung der “Hochgrade” innerhalb der Freimaurerei einige Bedeutung besitzt. Gemeint ist die Rede des Chevalier Andrew Michael Ramsay. In dieser versuchte Ramsay die Ursprünge der schottischen Freimaurerei auf die Zeit der Kreuzzüge zurückzuführen. Als Ergänzung zu der hier verlinkten Version ist die Analyse Alain Bernheims mit dem Titel “Ramsay et ses deux discours”4 zu empfehlen, die die verschiedenen Überlieferungen des Textes ausführlich miteinander vergleicht.

Von Unbekannt, Abbildung eines Logentapis des Mopsordens aus Gabriel-Louis-Calabre Pereau: L'Ordre de Francs Macons Trahi et le secret des mopses révélé. Amsterdam 1771, Quelle: (Kiefer Auktionen) [Public domain], via Wikimedia Commons.
Von Unbekannt, Abbildung eines Logentapis des Mopsordens aus Gabriel-Louis-Calabre Pereaus “L’Ordre de Francs Macons Trahi et le secret des mopses révélé”, Amsterdam 1771 (Quelle: (Kiefer Auktionen) [Public domain], via Wikimedia Commons).

4. L’ordre des Francs-Macons trahi et le Secret des Mopses révéle, Amsterdam 1745
Die Schrift „L’ordre des Francs-Macons trahi et le Secret des Mopses révéle“ zählt ebendalls zur Gattung der sogenannten “Verräterschriften“. Mit dem innerhalb der Schrift thematisierten „Mopsorden“ wird zudem eine vornehmlich durch Adlige bevölkerte Gesellschaft erwähnt, die die Freimaurerei und ihre Symbole u. a. mit dem Symbol des Mopses persiflierte – eine nicht nur bei modernen Karikaturisten vom Schlage eines Loriot, sondern auch in der höfischen Welt des 18. Jahrhunderts beliebte Hunderasse. Der Mopsorden kann – auch wenn er keine eigentliche freimaurerische Vereinigung darstellte – mit der “Adoptionsmaurerei” verglichen werden, also Logen in denen Männer und Frauen gemeinsam arbeiteten. Im 18. Jahrhundert sahen viele Zeitgenossen diese gemischten Gesellschaften als durchaus ‘skandalöse’ Vereinigungen an.

5. Rede, welche die Gräfin R. S. bei ihrer Aufnahme in den Orden der Freimäurer zu T. 1785. gehalten hat5
Die ab Seite 158 im “Magazin für Frauenzimmer auf 1785″ abgedruckte Rede besitzt meines Wissens nach keine größere Relevanz innerhalb der Geschichte der Freimaurerei. Sie wird hier dennoch aus zwei Gründen aufgeführt. Zum einen handelt es sich um ein weiteres Beispiel aus der oben erwähnten (oft  vernachlässigten) Adoptionsmaurerei. Zum anderen gibt sie Zeugnis vom Interesse des Adels an der Freimaurerei. Auch wenn das Engagement adliger Akteure in freimaurerischen und angrenzenden Geheimgesellschaften immer wieder im Zuge der Besprechung der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts thematisiert wird (siehe etwas Friedrich II. von Preußen), fehlt bislang eine ausführlichere Analyse der Gründe adliger Personen sich derartigen Gemeinschaften anzuschließen.

Diese Beweggründe und ihre Veränderungen im Laufe des 18. Jahrhunderts sind ein Kernpunkt meiner Untersuchungen zum rheinischen Adel in der Freimaurerei gewesen, die in Kürze unter dem Titel “An den Wurzeln der Tugend. Rheinischer Adel und Freimaurerei 1765-1815″ bei MAP als Open Access-Publikation und Print-Ausgabe erscheinen werden.

Im nächsten Blogpost möchte ich die Archive vorstellen, die ich während der Erstellung der Arbeit aufgesucht habe.

Anmerkungen:
1 Hier 20. Ausgabe, 1770; ARK: ark:/13960/t4sj3xj9c.
2
Siehe hierzu etwa die bei Kristiane Hasselmann erwähnten freimaurerischen Umzüge und Spottumzüge durch London: Kristiane Hasselmann, Die Rituale der Freimaurer: Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Diss., Bielefeld 2009, S. 248-258.
3 URN: urn:nbn:de:gbv:3:1-134728.
4 Alain Bernheim, Ramsay et ses deux discours, Paris 2011.
5 Die Rede findet sich in: Magazin für Frauenzimmer auf 1785, April, Mai, Juni. Viertes Stük [sic!], hier S. 158-160.

Quelle: http://esohist.hypotheses.org/74

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