durchsichten: Philipp Gassert: Transnationale Geschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte [29.10.2012]

http://docupedia.de/zg/Transnationale_Geschichte Der Beitrag gibt einen Überblick über die Konzepte und Diskussionen des transnationalen und führt hierbei auch in die einschlägigsten Forschungsmeinungen ein. Die angegebenen Literaturhinweise enthalten überwiegend Titel mit einer abstrakten Herangehensweise und bieten keinen Einstieg an einem konkreten Beispiel.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/01/3758/

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Weblog von Susanne Breuss zu Alltagsdingen

Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Breuss ist Kuratorin am Wienmuseum und verfasst immer wieder Artikel und Fotoglossen für die samstägige Feuilletonbeilage der Wiener Zeitung. Seit November letzten Jahres gibt es ihr empfehlenswertes Weblog Alltagsdinge. Zur Geschichte der materiellen und visuellen Kultur, in dem sie unter anderem auf die Ö1-Serie "Zum Greifen nah. Gegenstände erzählen Geschichte" hinweist.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/232606400/

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Der Kaiser von China — ein Bild aus dem 17. Jahrhundert

Die Rubrik “Splitter” notiert in loser Folge erste Beobachtungen, Überlegungen, “Angedachtes”, Geistesblitze aus laufenden Projekten/Arbeiten, um lose Enden festzuhalten, Ideen wachsen zu lassen … und neue Antworten zu finden.

Martino Martini: Histori von dem Tartarischen Kriege ... (1654)
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts verdrängten die Mandschu und ihre Verbündeten die Ming-Dynastie (1368-1644), die Qing-Dynastie übernahm die Kontrolle über das Reich. Dieser bewaffnete Konflikt ist eines der ersten Ereignisse der Geschichte Chinas, für das Berichte von Europäern, die sich zu der Zeit in China befanden, nach Europa kamen. [1]

Der Jesuit Martino Martini (1614-1661), der ab 1643 in China arbeitete, berichtet in De bello tartarico historia (Antwerpen 1654), dt. Histori von dem Tartarischen Kriege wieder die Sineser (Amsterdam 1654) bzw. Historische Beschreibung des Tartarischen Kriegs in Sina (s. l. 1654) über die Ereignisse. [2] Die einzelnen Ausgaben unterscheiden sich beträchtlich, einige sind mit zahlreichen Illustrationen und einem illustrierten Titelblatt (s. Abb. links) ausgestattet, andere kommen ohne Illustrationen – gemeinsam ist allen das kleine Format (12°).

Das Titelblatt bleibt zunächst unverständlich: Der Titel ist von vier Feldern umgeben: oben ein Kopf mit zwei liegenden Gestalten, links eine stehende Figur in ‘exotischer’ Kleidung, rechts die stehende Figur eines Kriegers/Soldaten mit Pfeil und Bogen; unten eine ‘orientalische’ Stadtansicht. Blättert man in den Band hinein, wird die Figur links als chinesischer Kaiser identifizierbar, der in den unterschiedlichsten Situationen dargestellt wird. (vgl. u.a. die Illustration zu S. 26).

Der ‘Kaiser von China’ erscheint in Gestalt einer eher beleibten Figur mit schwarzer Kappe und wallenden Gewändern, über der Brust ein kreisförmiges Emblem mit zwei stehenden Vögeln – er erinnert an die ‘offiziellen Porträts der Ming-Kaiser, z.B. ein Porträt des Yongle 永樂 Kaisers (1360-1424, r. 1402-1424).

Dieser ‘Kaiser von China’ taucht nach De bello tartarico historia in zahlreichen Publikationen immer wieder auf:

  • In Martinis Novus Atlas Sinensis (1655) in der Titelvignette der Karte “Pecheli [i.e. BeiZhili 北直隶] sive Peking imperii sinarum provincia prima” sitzt ‘der Dicke’ unter einem Sonnenschirm [3]:
  • Nicht ganz so fein ausgearbeitet wie im Novus Atlas Sinensis, aber in gleicher Pose findet sich die Figur auf dem Titelblatt von De re litteraria sinensium commentarius (16660) von Theophil Spitzel:[4]
  • Unter dem Titel “Der alte Kayser von China” findet sich die Figur auch im Thesaurus Exoticorum
    Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer : Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser/ Indianer/ Sinesen/ Tartarn/ Egypter/ ... Nach ihren Königreichen.../ Eberhard Werner Happel. - [Online-Ausg.]. - Hamburg : Wiering, 1688

    E. W. Happel: Thesaurus Exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer : Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes Der Perser/ Indianer/ Sinesen/ Tartarn/ Egypter/ … Nach ihren Königreichen… (Hamburg : Wiering, 1688) http://diglib.hab.de/drucke/gv-2f-26/start.htm

In De bello tartarico historia wird nur aus dem Zusammenhang angedeutet, wer gezeigt wird, im Novus Atlas Sinensis und bei Spitzel bleibt die Figur ohne Erläuterungen und somit weitgehend Dekoration.
Happels Bezeichnung – “Der alte Kayser von China” – gibt Aufschluss darüber, wer hier dargestellt werden soll: Ein (nicht näher bezeichneter) Herrscher der (eben untergegangenen) Ming-Dynastie – den Herrscher der neuen Dynastie, den Shunzhi Kaiser, stellt er ganz anders dar [6].

 

Ein Beispiel von vielen, das zahlreiche Fragen aufwirft:

  • Fragen nach dem “Ursprung” und den “Vorlagen” europäischer China-Bilder
  • Fragen nach Original und Verfremdung
  • Fragen nach der Grenze zwischen Dekoration und Illustration


[1] Edwin J. Van Kley: “News from China; Seventeenth-Century European Notices of the Manchu Conquest”. In: The Journal of Modern History Vol. 45, No. 4 (Dec., 1973), pp. 561-582.

[2] Zu den Ausgaben von De bello tartarico historia und diversen Übersetzungen aus dem 17. Jh. s. Bibliotheca Sinica 2.0.

[3] “Pecheli sive Peking imperii sinarum provincia prima (Amsterdam: Blaeu 1655), Quelle: gallica.

[4] Gottlieb Spitzel: De re litteraria Sinensium commentarius (Lugd. Batavorum: ex officina Petri Hackii 1660), Titel.

[5] [Eberhard Werner Happel:] Thesaurus exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / Barbarn / Libyer / Nigriten / Guineer / Hottentotten / Abyssiner / Canadenser / Virgenier / Floridaner / Mexikaner / Peruaner / Chilenser / Magellanier und Brasilianer etc. Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst. Darauff folget eine Umständliche von Türckey Beschreibung: [...] Alles mit Mühe und Fleiß aus den berühmtesten Scribenten zusammen getragen / mit schönen Kupfern und Landkarten / auch andern Figuren in sehr grosser Anzahl außgezieret / und denen Liebhabern zur Ergetzligkeit heraußgegeben Von Everhardo Guernero Happelio (Hamburg: Wiering, 1688) p. 19.

[6] [Eberhard Werner Happel:] Thesaurus exoticorum. Oder eine mit Außländischen Raritäten und Geschichten Wohlversehene Schatz-Kammer Fürstellend Die Asiatische, Africanische und Americanische Nationes der Perser / Indianer / Sinesen / Tartarn / Egypter / Barbarn / Libyer / Nigriten / Guineer / Hottentotten / Abyssiner / Canadenser / Virgenier / Floridaner / Mexikaner / Peruaner / Chilenser / Magellanier und Brasilianer etc. Nach ihren Königreichen Policeyen, Kleydungen / Sitten und Gottes-Dienst. Darauff folget eine Umständliche von Türckey Beschreibung: [...] Alles mit Mühe und Fleiß aus den berühmtesten Scribenten zusammen getragen / mit schönen Kupfern und Landkarten / auch andern Figuren in sehr grosser Anzahl außgezieret / und denen Liebhabern zur Ergetzligkeit heraußgegeben Von Everhardo Guernero Happelio (Hamburg: Wiering, 1688) p. 27.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/193

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Fakten mit Fiktionen – Ein Gespräch über historische Romane

Wie kommt man eigentlich dazu, historische Romane zu schreiben? Mit welchen Problemen ist man konfrontiert? Und welche Chancen bietet dieses Genre? Notizen zu einem Gespräch mit Sarah Rubal, die einfach ein paar Romane geschrieben hat.

„Das ist ein Tabubruch“, sagt Sarah Rubal.
„Historiker schreiben keine Romane und schon gar keine Liebesgeschichten zwischen Indianern und Deutschen“.

Das sagt sie, weil sie es längst besser weiß. Drei Romane hat die Ethnologin bislang geschrieben. Und zwei Kinderbücher. Sarah Rubal hat eine Leidenschaft für das Schreiben entwickelt. Daneben hält sie diese Arbeit politisch für wichtig. Sie will eingreifen, ihr Wissen und ihre Fragen über Romane vermitteln.

Gesucht: Ideen für eine andere Welt

HK Causeway Bay Hysan Place at Lee Gardens Eslite Bookstore interior Visitors books Aug-2012

Man muss ja nur in eine x-beliebige Buchhandlung gehen, um die Bedeutung historischer Romane in der Alltagskultur zu begreifen. Tanja Kinkel, Ken Follet oder der „Cyberpunker“ Neal Stephenson mit seinem Barock-Zyklus prägen heute ganz maßgeblich Geschichtsbilder. In Millionenauflage. Jeden Tag. Im Urlaub. In der Straßenbahn. Egal, ob als klassisches Buch oder im Kindle. Auch in Kino und Fernsehen finden Die Säulen der Erde, Die Wanderhure oder Luther ihr Publikum.

Mag sein, dass aktuell die mental vom Neoliberalismus und Postmodernismus Zugerichteten im historischen Roman nach etwas suchen, das in Politik und Kultur nicht geboten wird.  Neu ist das Phänomen jedenfalls nicht.

Schon im 19. Jahrhundert faszinierten Leute wie Sir Walter Scott, William Harrison Ainsworth, Leo Tolstoi oder Charles Dickens ihre Leserinnen und Leser. Der historische Roman war der treue Wegbegleiter der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Und er verdankte seine Popularität dem Aufblühen der historischen Wissenschaften.

Dann, im 20. Jahrhundert, entwickelte sich der historische Roman als Kunstform weiter. Auch linkspolitisch engagierte Autoren experimentierten mit den Möglichkeiten des Genres. Dafür stehen wieder große Namen wie Ricarda Huch, Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Alfred Andersch, Peter Weiss oder Uwe Timm.

Trotz dieser langen Tradition gibt es bis heute keine genaue Definition, was einen historischen Roman eigentlich ausmacht, außer dass er historisch authentische Personen und Vorfälle behandelt oder zumindest in einem historisch beglaubigten Umfeld spielt und auf einem bestimmten Geschichtsbild beruht. (Vgl. Metzler, 201)

Man kann historische Romane entsprechend ihrem Selbstverständnis in einer einfachen Matrix kategorisieren:

  • Der Roman will nur unterhalten oder er will über die Unterhaltung die eigene Gesellschaft verändern. (X-Achse)
  • Er ignoriert weitgehend die historischen Fakten um sich auf die Komposition des Geschichtsbildes zu konzentrieren oder er lässt sich stark vom historischen Stoff leiten. (Y-Achse)

Historische Romane sind attraktiv, weil sie immer alternative gesellschaftliche Verhältnisse behandeln. Und auch, wie diese zustande kommen. Der historische Roman antwortet auf die kollektive Erfahrung gesellschaftlicher Veränderung und fragt nach Perspektiven. Und so liefern viele Romane, was die heutigen historischen Wissenschaften in der Tendenz nicht mehr liefern können oder wollen: Ansätze für eine andere Welt.

Die Faszination am historischen Roman ist der Versuch, das was Ernst Bloch als „Noch-Nicht-Sein“ als „Noch-Nicht-Haben“ bezeichnet, bildlich zu fassen. Aber wie macht man das, ohne in die Fallen der Romantik zu tappen?

Nun, den Historikerinnen und Historikern ist das erst einmal egal. Sie ziehen sich sicherheitshalber zurück, greifen nicht ein und nehmen dafür in Kauf, dass die jahrelange Arbeit in Archiven nur für einen kleinen Expertenkreis fruchtbar gemacht wird. Man stellt aber auch keine popularisierbaren, nicht-fiktiven Arbeiten daneben. Historikerinnen und Historiker in Deutschland fühlen sich einfach nicht gemeint. „Nicht mein Feld“. „Keine Zeit“. Möglicherweise fürchten viele die Konsequenzen für die eigene Karriere. Oder die großen Namen des Genres schrecken ab. Über die Ursache werden sich Sarah und ich in unserem Gespräch nicht einig.

Sarah Rubal stört, dass hier kampflos ein Feld überlassen wird.

Wenn nicht Historikerinnen und Historiker schreiben, dann machen es Leute, die keine Ahnung haben. Viele historische Romane, die zum Beispiel Inquisitionen und Hexenverfolgungen zum Thema haben, sprechen ein breites Publikum an, lassen aber bei der historischen Genauigkeit oft zu wünschen übrig. Das ist schade, denn Historiker haben hier die Chance, als Berater und Experten zu wirken. Leider habe ich im Zusammenhang mit dem bei Autoren besonders beliebten Hexenthema schon erlebt, wie mit entsprechenden Anfragen auf Historikerseite umgegangen wird – Verachtung kübelweise, um einen bekannten Kolumnisten zu zitieren. Warum eigentlich? Was ist falsch daran, diesen Weg zu wählen – das Interesse an historischen Themen ist doch offensichtlich da, es mangelt an der Vermittlung, und die gehört auch zur Aufgabe von Historikern – nicht nur in Museen, sondern da, wo Menschen etwas mit Geschichte anfangen können, nämlich als Teil von Geschichten.

Die Gefahr ist ja auch nicht, dass auch Laien schreiben, sondern dass die produzierten Geschichtsbilder kein Korrektiv erfahren und undiskutiert bleiben.

Der Weg zum ersten Buch

So ist das also. Man sollte meinen, wer die Welt der Wissenschaft verlässt um historische Romane zu schreiben, bekommt von der Zunft wenigstens ordentlich Rückenwind. Doch ganz im Gegenteil. Mut und Selbstbewusstsein ist gefragt. Gerade von Frauen. Denn die Fachkollegen nehmen einen nicht mehr für voll. Dabei ist das Schreiben historischer Romane nicht die einfachere, sondern die wesentlich anspruchsvollere Aufgabe. Man schreibt ohne die scheinbare Sicherheit der Fußnote. Schreibt über menschliche Motivationen, die schwer greifbar oder belegbar sind. Man braucht die Fähigkeit, Texte zu schreiben, die im besten Sinne unterhaltsam sind. Und wer kann das?

Man kann es lernen. Nach und nach.
Das wichtigste ist, einfach anzufangen.

Und historische Romane schreiben ist eine Zeitfrage. Das wird im Gespräch sehr schnell klar. Wie sie das macht, will ich von Sarah wissen. Schließlich hat die promovierende Ethnologin noch drei Kinder großzuziehen, hat einen Job, und sie bloggt ab und zu für Die Freiheitsliebe.

Ihr Weg dahin war lang, sagt sie. Das Schreiben war für sie erst eine ablenkende Beschäftigung, bei der sie sich eine neue Schreib- und Sichtweise aneignen musste. Zuvor war sie in marxistischen Debatten und in der der politisch-wissenschaftlichen Text-Welt zu Hause. Und jetzt ging es um Plots, Stories, Detail-Szenen. Und so dauerte es ganze zwei Jahre, bis das erste Buch fertig war.

Wenn man sich aber einmal hineinbegeben hat, dann schreibt es sich von selbst, weil du drin bist. In der Straßenbahn fällt dir ein, wie die Geschichte gebaut sein muss, wie sie weitergeht.

Hilfreich ist dann ein Verlag, der ein Verkaufsinteresse hat und einem Abgabetermine setzt. Sarah Rubal hatte Glück mit einem engagierten Verlag (Persimplex), der ihr Buch sogar als E-Book herausbringt.

Perspektivenwechsel

Hinter jeder Leidenschaft steckt immer auch eine Mission. Sarah Rubals Thema sind die Indianer Nordamerikas. Ich denke sofort an Karl May und an James Fenimore Coopers Der letzte Mohikaner.

In einem Seminar stieß sie auf eine Quelle, die über zwei deutsche Mädchen im 18. Jahrhundert berichtet. Lenapé-Indianer (Delaware) hatten ihre Siedlung angegriffen, die Verwandtschaft getötet und die Mädchen verschleppt. Die Mädchen wurden zwangsweise Teil des Indianerstamms.

Ausgehend von dieser Quelle entwickelte Sarah Rubal die beiden Protagonistinnen Marie und Barbara und erzählte in ihrem ersten Buch Trommeln am Fluss (2009) die Geschichte Nordamerikas aus dem Blickwinkel der beiden Mädchen.

So bricht im Jahr 1755 der Siebenjährige Krieg zwischen England und Frankreich aus, der sich nicht zuletzt in den Kolonialgebieten der beiden europäischen Nationen abspielt. Die Indianer sind in der globalen Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich keine Opfer, sondern Akteure: das Zünglein an der Waage.

Marie und Barbara sind hier mitten drin, sowohl in den Kämpfen zwischen den Kolonialmächten und den jeweils verbündeten Indianerstämmen als auch zwischen den beiden aufeinandertreffenden Kulturen. Insofern wird ihre Geschichte erzählt, oder genauer ihre Geschichte und die ihres unmittelbaren Umfeldes. Ein Benjamin Franklin wird nur eingespielt, wenn eine zusätzliche Perspektive für den Hintergrund benötigt wird. Auch die Lenapé-Indianer selbst stehen nicht im Zentrum.

Kevin Myers, GNU-GPL via Wikimedia Commons

Kevin Myers, GNU-GPL via Wikimedia Commons

Im zweiten Buch Brennende Ufer (2011) beschreibt sie den großen Aufstand unter Führung des Ottawa-Häuptlings Pontiac in den Jahren 1763 bis 1766. Auch hier nutzt sie zwei Mädchenfiguren, Marianne und Regina, um den Aufstand und anschließende die historische Niederlage der Indianerstämme darzustellen.

Das schafft eine gewisse Distanz zu den eigentlichen Themen.

Geschlechterverhältnisse

Carle Vanloo Kopf einer jungen FrauDenn die Mädchen sehen sich nach einer gewissen Zeit nicht als entführte Opfer. Historisch belegt ist, dass viele der entführten Mädchen nicht mehr in ihre alte Welt zurück wollten. Wenn es zu Rückgabedeals zwischen Indianern und Siedlern kam, weigerten sich viele. Eins der Mädchen floh und kehrte zu den Indianern zurück.

Nun gab es in ihrer alten Welt oft niemanden mehr, zu dem sie hätten zurückkehren können. Sie hatten sich mit ihrer neuen Situation arrangiert, waren verheiratet, heimisch und existenziell gesichert. Aber Sarah Rubal hebt heraus, dass die Frauen in den Stämmen der Delaware-Indianer eine wesentlich bessere soziale Stellung hatten, als in ihrem alten Zuhause.

Auch wenn man nicht davon sprechen kann, dass Frauen dort nach unserem Verständnis gleichberechtigt waren, so hatten sie doch ihre eigenen Räume, Einfluss auf politische Entscheidungen. Sie genossen Respekt und Achtung. Überhaupt ist diese Gesellschaft so ganz anders. Wesentlich gewaltfreier nach innen. Eine Gesellschaft ohne bürgerlichen Staat, ohne Polizei und Gefängnisse. Die trotzdem funktionierte.

In den Siedlergemeinschaften herrschte dagegen sexuelle Gewalt, eine unerträgliche Heuchelei und Rassismus. So durfte man durfte bei der Rückkehr von einem Indianerstamm kein Verhältnis mit Indianern gehabt haben, während umgekehrt der sexuelle Missbrauch indianischer Mädchen durch Weiße Gang und Gäbe war. Der Stoff legt nahe, die Geschlechterverhältnisse zum Thema zu machen, die sich in den Indianerstämmen ganz anders gestalteten als in den religiös-autoritären Siedlergemeinschaften.

Ob sie hier eine Utopie aufzeigt, will ich wissen. Der utopische Aspekt spiele sicher eine Rolle. Aber im Wesentlichen soll die soziale und kulturelle Phantasie angeregt werden. „Dort herrschte ein ganz anderes Verständnis von ‘eigen’ und ‘fremd’“.

Fiktion und Realität

Siege of Fort Detroit

Wie Sarah mit der Fiktion und der Realität umgeht, will ich wissen.

Hier den richtigen Umgang zu finden, sei ihr sehr schwer gefallen, sagt sie. Und ich denke mir, vielleicht ist genau die Balance des Verhältnisses von Fiktion und historischer Realität die Aufgabe eines historischen Romans.

Sarah Rubal muss und will ihre Figuren interpretieren. Sie weiß, dass ein Mädchen, über das sie schreibt, sehr offen war. Die andere klammerte sich stärker an den Glauben und versuchte mit Gebeten ihre Situation zu meistern. Das konnte man zumindest Beschreibungen in einem evangelischen Kalender entnehmen.

Im Fall der Indianer geht es ihr darum, aus ihnen überhaupt erst einmal Persönlichkeiten zu machen. Der Anachronismus habe sie geärgert. Die von ihr beschriebenen Indianer waren natürlich nicht die „blutrünstigen Wilden“, geschichtslose Völker oder einfach die „Guten“ und Besseren. Sie haben ihre eigene Geschichte. Sie dachten und planten politisch, gestalteten ihr eigenes Sozialsystem, arbeiteten an ihrer Kultur. Und sie sind im Fall des Konflikts mit den Siedlern durch ihre Gewalterfahrung selbst getrieben und traumatisiert.

Es gehe darum, ihnen eine Stimme zu verleihen, die Indianerstämme im besten Sinne verständlich zu machen. Aber alles bleibt natürlich, wie jede Arbeit, eine Interpretation, die jedoch möglichst plausibel und belegbar sein muss.

„Schon deshalb fordern historische Romane vor allem Recherche und einen kritischen Umgang mit den Quellen“, sagt Rubal. Die Alltagsgeschichte ist am schwersten zu recherchieren. Hatten die Häuser in Philadelphia schon Glasscheiben? Wer kann überhaupt noch sagen, wie man vor 200 Jahren „gelebt“ hat? Und natürlich stößt auch Sarah Rubal auf das Problem, dass sie auf Missionarsquellen angewiesen ist, die die Welt häufig aus einer verqueren, christlich-reaktionären und paternalistisch-rassistischen Sicht heraus darstellen.

Bei der Suche nach der historischen Wahrheit, spielen dann die kritischen Leser eine nicht unwesentliche Rolle. Für ihr erstes Buch gab es auf Amazon viel Lob. Aber auch den Einwand eines Fachmanns, dass sie bei den Delawaren dieses und jenes nicht korrekt dargestellt habe. Über die Kritik ist sie an einen indianischen Sprachwissenschaftler geraten. Dieser verschaffte ihr die Möglichkeit, für das zweite Buch noch genauer zu arbeiten. Und man merkt es dem Buch auch an, wenn wie nebenbei indianische Begriffe in die Geschichte eingeflochten und erklärt werden.
Übrigens ein sehr gutes Beispiel, wie über das Web vermittelt Autoren und Leserschaft zusammenarbeiten können.

Plot und Figuren

Das zeigt aber auch, dass bei aller künstlerischen Freiheit der historische Roman der Autorin enge Grenzen setzt, je mehr sie die Nähe zu den historischen Fakten sucht. Das betrifft die authentischen Figuren, wie Häuptling Pontiac. Das betrifft dann aber auch den Plot, der von den Quellen vorgegeben wird. „Du kannst das dann so bauen, dass  du mit der Entführung einsteigst und dann kommen sie nach Philadelphia zurück“.

Es kommt also auf die Schnitte an.
Wie in Spielfilmen.

Für Rubal steht im Mittelpunkt beim Leser ein Verständnis zu wecken, wo einen das Schicksal so hintreiben kann. „Jeder Zustand ist immer nur eine Momentaufnahme.“ Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten, schießt es mir durch den Kopf. Eine Formulierung von Walter Benjamin. (GS V.1, 596)

„Wie wichtig ist es, das Geschichte als Ergebnis von Handlungen darzustellen?“, frag ich. Sarah meint, der Plot ist offen und die Geschichte gelungen, wenn sie zumindest schon einmal mehr Fragen als Antworten hinterlässt. Sie sollte neugierig machen, um sich mit der wirklichen Geschichte zu beschäftigen. Klingt gut.

Die Geschichte war an sich offen, aber was hat einen anderen Ausgang blockiert? Welche Ideen drängen noch immer zu Verwirklichung und warum? Wären das Fragen, die ein historischer Roman hinterlassen sollte? Oder ist das schon wieder zu didaktisch?

Es gibt wahrscheinlich nicht „die“ Antwort, wie man einen historischen Roman schreibt. Peter Weiss geht es etwa um die Vermittlung von Wissen und Fragestellungen des antifaschistischen Widerstands. Der Plot ist eigentlich völlig nebensächlich. Umberto Eco hingegen stellt den Plot in den Vordergrund. Der fiktive Krimi nutzt den sehr genau dargestellten historischen Hintergrund als Kulisse.

Raum für emotionale Intelligenz

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Einfach anfangen. Einfach!
Sarah Rubal schreibt in einer verständlichen und klaren Sprache. Das ist das eine. Und die einzelnen inhaltlichen Blöcke fügen sich weitgehend nahtlos ineinander. Das ist das andere. Diese scheinbare Einfachheit ist in Wahrheit Sarah Rubals Stärke. Das sieht man, wenn man andere historische Romane von Leuten mit großen Namen danebenlegt. Ganz natürlich werden hier Hintergründe in die Story eingewoben. Zu keinem Zeitpunkt fühlt man sich geschulmeistert oder wird manipuliert. Da kann man sich einiges abschauen.

Der historische Roman kann an einer Stelle mehr als die klassische und vor allem wissenschaftliche Geschichtsschreibung. „Man kann in einem Roman jemanden ablehnen und dann wieder mögen. Emotionalität ist möglich!“ Es ist Raum für die Vermittlung der ganzen Bandbreite von Erfahrungen. Die Alltagsgeschichte, die historische Anthropologie, aber auch ein E. P. Thompson haben die Geschichtswissenschaft in diese Richtung geöffnet. So kann man in dem Sammelband Alltag, Erfahrung, Eigensinn: Historisch-anthropologische Erkundungen lesen:

Erfahrung. Dieses Verständnis von Aneignung der Welt als soziale wie individuelle Praxis, als Wahrnehmungs- wie Handlungsweise gegenüber anderen Menschen wie Dingen konturiert in spezifischer Weise den Begriff der Erfahrung. Erfahrung, […], bildet demnach keine lediglich psychologische oder epistemologische Kategorie, sondern besitzt vor allem eine praktische, insbesondere: alltagspraktische, nicht zuletzt sinnliche, körperliche Dimension. (13)

Sarah lacht mich an „Man geht mit Mokasins anders durch die Welt“. Das fühlt sich nicht nur anders an. Das prägt auch. So sehr wir auch darauf aus sind, dass die Welt rational verstanden wird, so lernt doch auch unsere emotionale Seite auch immer mit.
Eine andere Welt wird nur möglich, wenn die Alternativen nicht nur rational sondern auch emotional verstanden werden. Wir können sehr gute Analysen und popularisierbare Geschichtsbücher schreiben. Doch nur der Roman erlaubt die Darstellung einer Lebenswelt. Man braucht beides.

Wie man die Distanzierung wieder hinkriegt und das kritische Weiterdenken unterstützen kann? Dazu gibt es zahlreiche Ansätze. Uwe Timm montiert in seinem Roman Morenga Originalquellen in den Text. Das ist äußerst geschickt, auch wenn man sich manchmal fragt, ob die Quellen auch echt sind, weil die Quellenverweise fehlen. Sarah Rubal hat sich dafür entschieden, möglichst viele Perspektiven einzufangen. Jeder hat seinen Weg.

Man muss es ausprobieren. Und Sarah Rubal zeigt, dass es geht. Schreiben ist auch hier ein ständiger Lern- und Arbeitsprozess, der nie zu Ende ist. Doch genau das macht den Reiz aus. Vielleicht lassen sich ja auch andere ermutigen?

Ob sie wieder was schreibt, frag ich sie am Ende. Und ja, es gibt einen dritten Teil über die Zeit des Unabhängigkeitskriegs. Na dann.

Literaturhinweise

Belinde Davis, Thomas Lindenberger, Michael Wildt (Hg. 2008): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen, Frankfurt a. M.

Günther und Irmgard Schweikle (Hg. 1990): Metzler. Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen , 2. überarbeitete Auflage, Stuttgart.

Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg. 1996): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M., Bd. V.1, 1996.


Einsortiert unter:Literatur, Vermittlung

Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/01/04/fakten-mit-fiktionen-ein-gesprach-uber-historische-romane/

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aventinus generalia Nr. 17 [04.01.2013]: Blick in die Historikerwerkstatt: Interview mit der Geschäftsführerin des 49. Deutschen Historikertags 2012 Dr. Heidrun Ochs [=Skriptum Ausg. 1/2012]

In einem Interview mit unserem Mainzer Kooperationspartner Skriptum gibt die Geschäftsführerin des im vergangenen September in Mainz stattgefundenen Historikertages Einblicke in ihre praktische Arbeit sowie in diesem Zusammenhang entstehende konzeptionelle Diskussionen. http://bit.ly/UsZsPT  

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/01/3754/

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Wie die Armut reduzieren? Eine neu begründete transregionale Forschergruppe erforscht die indische Bildungspolitik

Für das Deutsche Historische Institut London beginnt das Jahr 2013 mit einer großen Aufgabe. In den nächsten fünf Jahren wird der Direktor des Londoner Instituts, Andreas Gestrich, Leiter einer transregionalen Forschungsgruppe in Neu-Delhi. In Kooperation mit dem King’s India Institute am King’s College in London und dem Centre for Modern Indian Studies (CEMIS) der Universität Göttingen soll zur Sozial- und Bildungspolitik in Indien seit dem 19. Jahrhundert geforscht werden. Das Thema des Projekts ‘Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors’ wird dabei in sieben Forschungsbereiche aufgeteilt, die wir hier vorstellen.

waterdotorg | Flickr | CC BY-NC-SA 2.0

Wozu arbeitet die Transregionale Forschergruppe?

Trotz der Geschwindigkeit seiner wirtschaftlichen Entwicklung bleibt Indien weltweit das Land mit den meisten Armen. Die Forschergruppe wird sich auf einen Aspekt der Armutsverringerung konzentrieren und vor allem zu Erziehungs- und Schulpolitik arbeiten. Ebenso wie Ernährung, Wohnen und Gesundheitsversorgung ist Bildung ein zentraler Politikbereich im Kampf gegen Armut. Die schnellen gegenwärtigen Änderungen im indischen Bildungssystem und neue privatwirtschaftliche Akteure machen das Thema zum vielversprechenden Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Die von der Max Weber Stiftung finanzierte transregionale Forschungsgruppe versammelt weltweite Expertinnen und Experten aus Geschichtswissenschaft, Erziehungs- und Sozialwissenschaften, insbesondere aus Indien, Großbritannien und Deutschland. Sie ermutigt – bei Konzentration auf Indien – zum vergleichenden Arbeiten und wird sich mit vergleichbaren Projekten fortwährend austauschen.

1. “Nineteenth- and twentieth-century global educational reform movements and their impact on universal schooling in India”

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gab es neben den bekannten christlichen Missionen, sowohl von Kolonialmächten als auch von einheimischen Pädagogen und Intellektuellen, Anstrengungen zum Ausbau der Bildungsmöglichkeiten. In der Zwischenkriegszeit nahmen diese Anstrengungen, beeinflusst durch die beginnende indische Unabhängigkeitsbewegung und die europäischen und US-amerikanischen Bildungsreformbewegungen, deutlich zu. Zu dieser Entwicklung gehört auch die enge Verbindung Indiens mit dem New Education Fellowship, einem internationalen Netzwerk von Reformpädagogen. Das Netzwerk wurde 1921 gegründet und ist von Beginn an sehr mit Indien und insbesondere mit dem bengalischen Nobelpreisträger und Bildungsreformer Rabindranath Tagore verbunden. Am DHI London beschäftigt sich Valeska Huber in ihrer Habilitationsschrift ‘”The Great Plan for Mass Education”: Colonial and Postcolonial Experiments with Education in the Twentieth Century’ neben einem starken Fokus auf Afrika auch mit Indien.

Die Vielfältigkeit der indischen Kasten, Stämme und Regionen stellt eine Herausforderung für homogene Vorstellungen dessen, was ein gebildetes Kind ausmacht, dar. Der Veränderung dieser Vorstellung – betrachtet vor dem Hintergrund der historischen Verbreitung schulischer Bildung – kann hierbei eine besondere Bedeutung bei zukünftigen Forschungsarbeiten zukommen, einen wichtigen Beitrag leistet dabei die Arbeit des Forschergruppenmitglieds Sarada Balgopalan. Daneben ist zudem geplant, die Arbeit von indischen Intellektuellen und Pädagogen im 19. Jahrhundert – wie beispielsweise Romesh Chunder Dutt – zu untersuchen (Benedikt Stuchtey), aber auch die sich wandelnden Konzepte des “gebildeten Kindes” in den europäischen Schulreformen mit einzubeziehen.

2. “The quest for universal elementary/school education, the private sector and edu-business
Die Einführung einer Schulpflicht und die Ausweitung von Ausbildungsangeboten wurden in den letzten Jahren durch die UNESCO und deren Bildungsprogramm EFA (Education for all) weiter vorangetrieben. Das Ziel von EFA ist es, bis 2015 allen Kindern den kostenfreien Schulbesuch zu ermöglichen. Tatsächlich gibt es in diesem Bereich allerdings kaum Fortschritte und die Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen, fällt eher, als dass sie steigt. Private Träger gewinnen im Bereich der Ausbildung der Armen an Bedeutung, zum Teil, weil viele Länder nicht in der Lage sind, die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und die Schulpflicht einzuführen. Allerdings gibt es wegen der möglichen Gewinne, die ein ‘low cost’-Schulbesuch für die Armen bietet, ein wachsendes Interesse an Bildungsmärkten. In diesem Kontext steht dabei zudem die “Liberalisierung” des Bildungsmarktes in Europa, den USA und auch in den Entwicklungsländern.

Internationale Unternehmen und lokale non state actors bauen transnationale Befürworter-Netzwerke und Organisationsstrukturen auf und verfolgen dabei eine Strategie, in Bildung zu investieren, die nicht frei von kommerziellen Interessen ist und mit anderen Sparten ihres Unternehmens in vielen Gebieten verknüpft bleibt. Diese Trends haben erhebliche Auswirkungen auf das Recht auf Bildung für alle Kinder – besonders wenn sie zu den gesellschaftlichen Randgruppen gehören – und die Rolle des Staates, wenn non state actors diese Trends realisieren. Diese Problematik hat erst vor kurzem das Interesse einer kritischen Forschung der Geschichtswissenschaft und der Bildungssoziogie geweckt. Eine Studie, die zu diesem Thema in einem geschichtlichen Kontext forschen soll, da die Verbreitung von Bildungseinrichtungen von Nicht-Regierungsorganisationen (Sozialreformer, religiöse Gruppen) auch in Indien eine lange Tradition hat, wird von der Transregionalen Forschergruppe gefördert. Dabei können die Forscherinnen und Forscher auf die Expertise von Professor Geetha B. Nambissan zurückgreifen, die bereits auf diesem Gebiet und über die Schulpolitik in Indien geforscht hat.

3. “Caste discrimination and education policy
Ein erster Versuch der “sozialen” Gesetzgebung in Britisch-Indien befasste sich mit dem Versuch Bildung für die verarmten “unteren” Kasten anzubieten. Dieses Gesetz wurde selten umgesetzt, da man sich protestierenden Eliten gegenübersah, die nicht wollten, dass ihre Kinder Kontakt mit gesellschaftlich Niederstehenden hatten. Dennoch spielte das Gesetz eine entscheidende Rolle als historische Vorlage: es wird heute als unstrittige Verantwortlichkeit der Regierung gesehen, niederen Kasten den Zugang zu staatlich finanzierter Bildung zu ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, welche Denkweisen dazu geführt haben, dass Entscheidungsträger Bildung als zentralen Punkt in der Führung der Armen der unteren Kasten erachten. Dieses Forschungsprojekt soll den massiven Anstieg der Popularität dieser Strategien im postkolonialen Indien untersuchen.

Abgesehen von den deutlichen Veränderungen in den Regierungsformen, haben die Strategien nicht nur Bestand, sondern auch an Bedeutung gewonnen. Können die Auswirkungen dieser Strategien in Zusammenhang mit den erfolgreichen Bestrebungen von Bewegungen der niederen Kasten, innerhalb der letzten zwei Jahrzehnten politische Macht zu erlangen, gesetzt werden? Und wie wirken sich die sozialen Folgen dieser Politik im Kontext eines zunehmend privatisierten Bildungsbereiches aus? Dieses Projekt ist eng verbunden mit dem Forschungsschwerpunkt der Sozialgeschichte der untergeordneten Kasten von Prof. Viswanath, die an der Universität Göttingen am Centre for Modern Indian Studies lehrt.

4. “Industrial restructuring, informalization, and their consequences for access to elementary education”
Die Ursprünge der Probleme Indiens, die Schulpflicht einzuführen und die berufliche Ausbildung sowie die Erwachsenenbildung weiter zu verbreiten, stehen in Zusammenhang mit strukturellen Änderungen im indischen Arbeitsmarkt. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Arbeitsschutz führten zu einem tiefgreifenden Anstieg von lockeren, unsicheren und weitestgehend kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Während ältere industrielle Zweige mit entwickelten sozialen und bildungserzieherischen Einrichtungen seit den 1980ern abnahmen, bildeten sich an neuen Orten sehr beträchtliche Industriekonglomerate und Belegschaften heraus.

Die Auswirkung dieser Veränderungen in Bezug auf die Bildungseinrichtungen auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, auf die familiären Finanzen, die Chancen für langfristige Planungen und Investition in die Bildung von Kindern werden im Rahmen des Arbeitskreises untersucht. Diese Untersuchung wird unterstützt durch bereits laufende Forschungen zu Arbeit und industrieller Restrukturierung in den alten Zentren der Textilindustrie Ahmedabad (Rukmini Barua), Bombay (Dr. Aditya Sarkar) und Kalkutta (Anna Sailer) am Centre for Modern Indian Studies in Göttingen.

5. “Adult education and the popularisation of practical scientific knowledge
Ein weiteres Gebiet im Bereich von Bildung und Erziehung ist die Weitergabe von Wissen an Erwachsene. In diesem Kontext erlangt die Popularisierung von Wissen und Wissenschaft eine besondere Bedeutung – nicht zuletzt in ländlichen Gebieten. Die Herausforderung (westliches) Wissen weiter zu vermitteln war bereits Thema einer Session während der Tagung ‘Knowledge Production, Pedagogy, and Institutions in Colonial India‘ des DHI London. Auf Basis der Ergebnisse dieser Session soll das Thema im Kontext des postkolonialen Zeitraums weiterverfolgt werden.

Die Weitergabe von wissenschaftlicher Erkenntnis an ländliche Gebiete im kolonialen und postkolonialen Zeitraum steht dabei im Vordergrund, so soll ein Beitrag zur Entwicklung der Infrastrukturen von Wissen geleistet werden. Bildung im Kontext von internationaler Entwicklungszusammenarbeit in Bereichen wie z.B. der Landwirtschaft könnten hier eine Rolle spielen. Das Thema hat außerdem ein hohes Potential für transnationale Vergleiche.

6. “Industrial and technical institutions and the resignification of manual labour
Es ist mittlerweile bekannt, dass Missionaren eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Elite-Bildungseinrichtungen westlicher Prägung, aus denen die Gründungsväter des postkolonialen Staates hervorgingen, zukam. Weit weniger bekannt ist, dass die Missionare in Wirklichkeit eine Hierarchie der Schulen einführten, von denen einige denjenigen zugedacht waren, die als ungeeignet für den englisch-basierten, buchzentrierten, “richtigen” Unterricht erachtet wurden. Während diese “Armen-” oder “Industrieschulen” auf Modellen beruhten, die zuerst in der Metropole erprobt wurden, waren sie in Indien dazu gedacht, die Bedeutung der Handarbeit zu verändern. Es wurde angenommen, dass dies von den traditionellen Eliten als Beeinträchtigung des indischen Wirtschaftswachstums abgewertet wurde.

Die Forschung in diesem wenig durchdrungenem Gebiet soll den Umfang dieser Art von Ausbildung – finanziell und ideologisch – sowohl unter den kolonialen als auch den postkolonialen Regierungen untersuchen. Zudem stellt sich die Frage, ob, wie und mit welchen Auswirkungen neue Werte tatsächlich mit den spezifischen Fähigkeiten der Armen verknüpft wurden. Die koloniale Verbreitung der schulischen Ausbildung war auch untrennbar mit der Resignifikation der Kasten-Unterschiede durch Beeinflussung z.B. des Curriculums, von Schulzeiten und der Pädagogik innerhalb der Schule verbunden mit dem erklärten Ziel, dass Kinder der unteren Kasten kein Leben außerhalb der Handarbeit anstreben sollten.

7. “The impact of schooling on life-histories
Die Auswirkung schulischer Bildung auf Biographien hat sich zu einem wichtigen Thema innerhalb von Autobiographien und Biographien der niederen Kasten und der Dalits entwickelt. Die Rolle, die Kasten-Verbände bei der Förderung der Bildung dieser Gemeinschaften spielen, ist innerhalb der Regierungspolitik in Bezug auf das erweiterte Feld der Bildungsgeschichte in Indien weder adäquat anerkannt, noch diskutiert worden. Bildung spielt außerdem eine wichtige Rolle beim Aufbau von Lebenswegen in europäischen Autobiographien von Menschen aus einem prekären Hintergrund.

Am DHI London untersucht derzeit ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Arts and Humanities Research Council gefördertes Projekt “pauper narratives “. Dieses Projekt wird interessante vergleichende Perspektiven der ambivalenten Schulerfahrungen armer Kinder in Europa und zudem methodologische Expertise beisteuern. Zeitgleich ist das DHI London an biographischem Schreiben und Erzählungen, die in einem kolonialen Kontext stehen, interessiert. Das Institut hat dazu bereits im Frühjahr 2012 eine Konferenz veranstaltet.

Über die Transregionale Forschergruppe “Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors: Education Policy in India since the Nineteenth Century”

Die transnationale Forschergruppe wird von der Max Weber Stiftung finanziert und vom Deutschen Historischen Institut London geleitet. Das DHI London kooperiert dabei mit  Centre for Historical Studies und dem Zakir Husain Centre for Educational Studies der Jawaharlal Nehru University, Neu-Delhi, dem Centre for the Study of Developing Societies, Neu-Delhi, dem Centre for Modern Indian Studies, Universität Göttingen und dem King’s India Institute, King’s College London.

Projektleiter sind Prof. Ravi Ahuja  (Moderne Indische Geschichte, Göttingen), Dr. Sarada Balagopalan (Soziologie, Neu-Delhi), Prof. Neeladri Bhattacharya  (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Andreas Gestrich (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Valeska Huber (Moderne europäische Geschichte und Geschichte des Mittleren Ostens, London), Prof. Sunil Khilnani (Politikwissenschaft, London), Prof. Janaki Nair (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Geetha B. Nambissan (Erziehungssoziologie, Neu-Delhi), Dr. Jahnavi Phalkey (Wissenschafts- und Technikgeschichte, London), Dr. Indra Sengupta (Moderne indische Geschichte, London), Dr. Silke Strickrodt (Moderne afrikanische Geschichte, London), Prof. Benedikt Stuchtey (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Louise Tillin (Politikwissenschaft und Developmental Studies, London), Prof. Rupa Viswanath (Religionswissenschaft, Göttingen).

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1555

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Hausnummern-Artikel Open Access verfügbar

Die dreijährige Embargofrist ist vorüber, mein englischsprachiger Artikel zur Geschichte der Hausnummerierung in Europa ist nun Open Access verfügbar:

Tantner, Anton: Addressing the Houses. The Introduction of House Numbering in Europe, in: Histoire & Mesure, 24.2009/2, S. 7-30.
http://histoiremesure.revues.org/3942

Abstract: The article deals with a technology of house identification that was characteristic of the classifying spirit of the eighteenth century: house numbering. This techno-logy was not introduced to facilitate orientation for the cities’ inhabitants or to be helpful to foreigners; its origin can be located in the border areas of early modern police, military and tax administration. It aimed to give the state access to the riches and resources of every house, and to make it easier to control, tax or recruit their inhabitants, or to lodge soldiers. After an overview of the house numbering development in18th-century Europe, this article treats the different systems of house numbering (consecutive numbering of all the houses in the city or in a district, block numbering, the ‘clockwise schemes’, the even/odd system etc), arguing that it was difficult to make people accept the difference between the address and the physical data (the house).

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/232605263/

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