In den letzen Tagen wurde in diesem Blog die Frage nach einem chronologischen oder themenorientierten Geschichtsunterricht in der Sek I aufgeworfen. Daniel Bernsen hat in seinem Blog Medien im Geschichtsunterricht das neue, innovative Konzept des zukünftigen Lehrplans Geschichte für Rheinland-Pfalz zur Diskussion gestellt.
Vor gut fünf Jahren trat im Zuge von G8 der Kernlehrplan Geschichte für das Gymnasium NRW (KLP) in Kraft. Wichtigste Änderung war die Verkürzung des Geschichtsunterrichts auf drei Jahre bei einem im Wesentlichen beibehaltenen vollständigen chronologischen Durchlauf. Die naheliegende Epocheneinteilung Antike – Mittelalter – Neuzeit – Zeitgeschichte in bisher vier Schuljahren wurde aufgegeben. Seither reicht das erste Geschichtsjahr (5. oder 6. Klasse) von der Anfangsgeschichte bis zum Hochmittelalter, das zweite Geschichtsjahr (7. oder 8. Klasse) vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg sowie das dritte Geschichtsjahr (9. Klasse) vom Epochenjahr 1917 bis zu Aspekten der jüngsten Vergangenheit. Zusätzlich wurden je drei Inhaltsfelder Was Menschen früher voneinander wussten und heute voneinander wissen implementiert. Der KLP verfolgt ein kompetenzorientiertes Modell, das allerdings unter politikdidaktischer Domäne und mit dem Ziel der Vereinheitlichung der Kompetenzbegriffe in Erdkunde, Politik/Wirtschaft und Geschichte die Begriffe Sachkompetenz – Methodenkompetenz – Urteilskompetenz – Handlungskompetenz vorgibt.
Fünf Jahre seit der Einführung sind ein angemessener Zeitraum um zu fragen, wie der Geschichtsunterricht am Gymnasium NRW gegenwärtig dasteht. Fünf Punkte und Aspekte scheinen maßgeblich. Es wäre hilfreich (um z.B. die Frage chronologischer oder themenorientierter Geschichtsunterricht weiterzudenken) hierzu noch mehr (als die auf langjährige Berufserfahrung und mehrere Gespräche zurückgehenden) Eindrücke “aus der Praxis” zu gewinnen.
- Sind die vorgegebenen Inhaltsfelder zu schaffen? Viele Kolleg_innen berichten, das besonders das Mittelalter (Endphase 1. Geschichtsjahr /Anfangsphase 2. Geschichtsjahr) kaum mehr berücksichtigt wird, genauso das späte 19. Jahrhundert/der Erste Weltkrieg (Endphase 2. Geschichtsjahr /Anfangsphase 3. Geschichtsjahr) sowie Aspekte der Zeitgeschichte, z.B. BRD/DDR, deutsche Vereinigung (Endphase 3. Schuljahr).
- Sind die Inhaltsfelder altersangemessen? Auf den Implementierungsveranstaltungen zum KLP 2007 und 2008 wurde die These vertreten, dass im Grunde jede Epoche in jeder Altersstufe bei angemessener didaktischer Reduktion behandelt werden könne. Auffällig bei der Durchsicht der (2007ff. in großer Eile herausgegebenen) Schulbücher ist aber, dass dieselben Inhalte, die früher beispielsweise in der 9. Klasse behandelt wurden (Revolutionen, politische Ideen, Imperialismus) jetzt im zweiten Geschichtsjahr (7. oder 8. Klasse) durchgenommen werden – und die Schulbücher dabei teilweise schlicht “umetikettiert” wurden. Besonders abstrakte historische Kategorien wie z.B. Staatsform oder Ideologien sind in der Jgst. 7 oder 8 schwer(er) zu verstehen.
- Sind die historischen Zugänge vielfältig genug? Zwar bieten besonders die Inhaltsfelder Was Menschen früher voneinander wussten und heute voneinander wissen auch einige alltags- oder mentalitätsgeschichtliche Zugänge, fallen aber häufig aus Zeitgründen unter den Tisch. So bleibt beim engen Zeitrahmen im chronologischen Durchlauf der Fokus vorwiegend auf Ereignis- und Politikgeschichte, dabei oft aus Perspektive von Nationengeschichten, beschränkt.
- Ist das zugrundeliegende Kompetenzmodell (lern-)zielführend? Die Debatte über Kompetenzen wurde von außen an die Fachdidaktiken herangetragen; innerhalb der Geschichtsdidaktik gibt es bis heute kein Konzept, das sich nach über zehnjähriger Debatte herauskristallisiert hat. Das hat einer Wertschätzung des Kompetenzbegriffs seitens vieler Lehrer_innen ohnehin nicht geholfen. Kann das – zudem nur teilweise fachspezifische – Konzept, das dem KLP zugrundeliegt, den Anspruch erfüllen, Geschichtsunterricht nicht nur instrumentell zu planen, sondern mittels didaktisch-methodischer Reflexion (über Ausbildung von Geschichtsbewusstsein, Problemorientierung, Gegenwartsbezüge usw.) auch Prozesse historischen Denkens anzuregen? Und können Lehrer_innen es in sinnvolle Unterrichtsplanungen übersetzen?
- Haben sich – angesichts des engen Zeitrahmens – Elemente kompetenzorientierten und stärker selbstständigen Lernens durchsetzen können? Kompetenzorientierter Unterricht, beispielsweise die sinnvolle, intensivere Beschäftigung mit Methoden historischen Lernens oder ein vielfältigerer Medieneinsatz brauchen genauso mehr Zeit wie (im NRW-Schulgesetz von 2006 gefordert) stärker auf Individualisierung und Differenzierung zielen Lehr-/Lernkonzepte. Lassen sich die Ausbildung von Kompetenzen oder individuelle Lernformen so mit Lernen historischer Sachinhalte verbinden, dass beiden Ansprüchen hinreichend Rechnung getragen wird?
empfohlene Zitierweise Pallaske, Christoph (2012): Nachgefragt | Der verkürzte, dreijährige Geschichtsunterricht in der Sek I Gymn. NRW – das Fach Geschichte fünf Jahre nach Einführung des Kernlehrplans. In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 9.10.2012. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/1278, vom [Datum des Abrufs].