Jörg Fischer hat für unser Blog seinen Vortrag (Deutscher Archivtag Saarbrücken, 26.9.2013) zur Verfügung gestellt!
Lost in (Cyber-)Space?
Das Stadtarchiv Amberg in der schönen neuen Welt des Web 2.0
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
„Lost in Space“ war der Titel einer inzwischen etwas angejahrten Science Fiction Serie, die etwa zur gleichen Zeit wie Star Trek das Licht der Welt erblickte und in den 1990er Jahren unter dem Titel „Verschollen zwischen fremden Welten“ den Weg ins deutsche Fernsehen fand. In der Serie geht eine Familie mit dem wegweisenden Namen „Robinson“ im Weltall verloren und beschäftigt sich danach drei mehr oder minder unterhaltsame Staffeln lang damit den Rückweg zur heimischen Erde zu finden. Im Verlauf ihrer Odyssee werden die Robinsons mehrfach um ein Haar zum Opfer monströser Aliens, die buchstäblich hinter jeder Ecke der Story hervorspringen.
Nicht zuletzt deshalb, weil der eine oder andere von Ihnen fürchten mag, dass ihm selbst und den ihn in den virtuellen Raum begleitenden Beständen das Gleiche im Datenraum des Web 2.0 zustoßen könnte, möchte ich die Metapher jener Robinsonade aus der Sci-Fi-Mottenkiste gerne beibehalten um zunächst kurz den Weg des Stadtarchivs Amberg in die schöne neue Welt des Web 2.0 zu schildern.
Als unser Raumschiff im Mai 2010 den Erdorbit verließ und sich auf den Weg dorthin machte, wo noch nie zuvor einer von uns gewesen war, befielen den Steuermann leichte Zweifel, denn dieser hatte selbst kaum Erfahrung mit dem tiefen Raum: Seine ersten privaten Ausflüge dorthin waren erst wenige Tage her. Die Crew – seinerzeit bestehend aus nur einem weiblichen Mitglied, das wider Erwarten nicht Lieutenant Uhura gerufen wird – quittierte den Aufbruch mit Gelassenheit, während unser Kapitän sich zwar grundsätzlich der Existenz des uns umgebenden Weltraums bewusst war, sich aber dennoch im Wesentlichen auf die strenge Überwachung der Kosten dieser Mission beschränkte.
Die Admiralität ließ das Schiff ziehen. Auch wenn rund 2.000 laufende Meter gewichtiger historischer Daten, mehr als zweitausend durchaus bedeutende Urkunden und eine kaum mehr zu überblickende Zahl an nostalgischen schwarz-weiß Fotografien darin gespeichert waren, schien ein Verlust des eher ungeliebten Vehikels samt seiner Fracht irgendwo im kosmischen Mahlstrom verschmerzbar. Der Ehrlichkeit halber muss man im Nachhinein zugestehen, dass wohl auch der Steuermann vergessen hat, den Abflug ordnungsgemäß zu melden.
Der Weg gestaltete sich zunächst holprig, in erster Linie deshalb, weil dem Mann am Ruder noch nicht recht klar war, wie er die ihm zur Verfügung stehenden technischen Mittel nutzen sollte. Erst nach und nach – die hohen Chargen der Admiralität würden wohl von „sukzessive“ sprechen – erkannte man, welche Mittel dem ungewohnten Medium am ehesten entsprachen und je länger unser Schiff sich zwischen den Sternen bewegte, desto sicherer wurde seine Hand. Nach den ersten gelungenen Manövern nahm auch der Kapitän allmählich Notiz von den Reizen der neuen Umgebung und tatsächlich: Nach gut eineinhalb Jahren Flugzeit meldete sich die Admiralität und tat ihre Freude über die unerwartet erfolgreiche Reise kund. Es gelang uns, friedliche Kontakte mit anderen Schiffen aufzunehmen, die wie wir in den unendlichen Weiten unterwegs waren. Wir tauschten Daten untereinander aus und stellten dabei erstaunt fest, wie groß das Interesse an den von uns verwahrten Informationen war – ein Lernerfolg den wir sicher nie gehabt hätten, wenn wir im sicheren Orbit geblieben wären. Unterwegs nahmen wir ein neues Crewmitglied an Bord und während unsere eigene Begeisterung für das neue Medium weiter wuchs, erreichte die Zahl unserer Freunde einen Umfang, den wir uns am Beginn unserer Reise niemals hätten vorstellen können.
Verlassen wir kurz das Raumschiff und betrachten das Web 2.0, seine Möglichkeiten und letztlich seine Unvermeidbarkeit ganz nüchtern: Das Jahr 2013 kennt immer weniger „Reisende“ im Web, die als bloße Konsumenten – Consumer – vergleichsweise statische Informationen suchen um sie dann – wie auch immer – zu verwerten, um nicht den Begriff verbrauchen zu benutzen. Nein, sowohl die „Digital Natives“, also jene vergleichsweise jungen Mitmenschen, die nach dem Jahr 1995 das Licht der neuen Welt erblickt haben, als auch zunehmend jene als „Digital Immigrants“ bezeichneten älteren Semester, die sich noch dunkel an die Zeit vor dem Erwachen Skynets, pardon des Internet, erinnern können, wollen nicht mehr nur konsumieren, sie wollen selbst Informationen liefern, vorhandene ergänzen oder verändern: Sie gestalten das Web mit. Der Consumer ist zum Prosumer geworden, von einem passiven zu einem aktiv am Werden des virtuellen Raumes und seiner Fortentwicklung teilnehmenden Baustein der virtuellen Welt die – man muss es zugeben – immer weniger überschaubar scheint.[1]
Natürlich war uns dies im Jahr 2010 nicht bewusst. Tatsächlich hatten wir im Vorfeld keinerlei grundsätzliche Überlegungen zu unserem Flug angestellt: An eine Social-Media-Richtlinie hat seinerzeit niemand gedacht und es gibt sie bis heute nicht; ein Fakt der unserer Auffassung nach mehr Vor- als Nachteile mit sich bringt. Der Auslöser für unsere Initiative waren zwei konkrete Probleme:
Das Erscheinungsbild der offiziellen städtische Homepage, wenn man so will unsere Orbitalstation, ist wie wohl bei den meisten anderen Archiven durch verschiedene Normen definiert, die sämtlich durch die Corporate Identity der Stadtverwaltung vorgegeben sind. Innerhalb dieses doch recht eng geschnürten Korsetts konnten wir unsere eigenen Vorstellungen von einer Webpräsenz nicht verwirklichen. Insbesondere hatten wir aber ein großes Problem damit, dass dem Archiv keinerlei redaktionelle Kompetenzen bei der Betreuung seiner eigenen Webseite zugebilligt wurden. Jedwede Ergänzung oder Änderung des Auftritts muss auch heute noch über die Pressestelle veranlasst werden, was in der Regel zu Verzögerungen – teilweise von mehreren Wochen – führt. Eine schnelle Kommunikation aktueller Termine, Schließungen oder Änderungen ist so natürlich nicht möglich.
Das pragmatische Verlassen des Orbits – um wieder metaphorisch zu werden – brachte uns daher vor allem eins: Freiheit.
Wir hatten die Möglichkeit jedwede aus unserer Sicht relevante Information quasi in „Echtzeit“ ins Netz zu stellen, sie zu „posten“. Mit der Zeit kamen wir dahinter, welche dieser Posts von unseren Usern goutiert und welche ignoriert wurden. Die entsprechenden Hilfsmittel – in erster Linie Daten über die Nutzung aber auch über die Herkunft der Nutzer – wurden vom „Steuermann“ immer stärker genutzt, und zuerst langsam, dann immer stärker stieg die Zahl derer, die unseren Auftritt im Facebook mit einem „like“ versahen, d. h. unsere virtuellen „Freunde“ wurden.
Hinterfragen Sie am besten selbst, wie viele Benutzer Ihr Archiv jedes Jahr besuchen, wie viele interessierte Personen Ausstellungen frequentieren, die Sie mit großem Arbeitsaufwand und Herzblut in Ihrem Archiv organisiert haben. Unsere letzte wirklich große Ausstellung von Archivalien – 2009 in Kooperation mit dem Staatsarchiv Amberg – hatte rund 3.000 Besucher.
Diese Zahl entspricht der Zahl unserer Besucher im Facebook in einer durchschnittlichen Arbeitswoche. Im – für uns sehr gut verlaufenen – Jahr 2012 wurden die von uns geposteten Inhalte sogar von mehr als 125.000 Usern gesehen.
Natürlich kann man den Wert solcher Zahlen nun aus jeder Richtung analysieren, Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen, restriktive Social-Media-Richtlinien entwerfen (wie hilfreich diese auch immer sein mögen): Was bleibt ist letztlich der Fakt, dass Sie wie auch wir mit Hilfe dieses Mediums eine Vielzahl grundsätzlich eine beträchtlich größere Zahl an vor allem aber nicht nur jungen Usern erreichen können und werden. Die beliebte Formulierung, man müsse die „Leute abholen“ wo sie sind halte ich persönlich für eine Floskel. Niemand wartet auf Sie. Aber es gibt eine große Zahl an Menschen, die Sie mit relativ wenig Aufwand für die Geschichte Ihrer Stadt begeistern können und die sich insbesondere für historische Fotografien erwärmen:
Wir nutzen hierzu die Technik der erzählenden Bilder – historische Aufnahmen, die auch ohne Beschreibung bereits eine Geschichte erzählen, z. B. Straßenzüge dem Betrachter bei letztlich geringer Abweichung zum heutigen Zustand so viele Fragen aufgeben, dass er oder sie dort verweilt. Dieser User wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Beschreibung lesen, die sie dem Bild beigefügt haben. Sie werden erstaunt sein, wie viele „friedliche Kontakte“ sie so zu anderen Menschen herstellen können, aber auch, wie viele Anregungen Ihnen diese neuen „Freunde“ zu geben im Stande sind. In den Weiten des Alls verbergen sich mehr begeisterte Heimatforscher und Hobbyhistoriker als auch wir vermutet haben.
Und die Aliens? Es gibt sie. Vergessen Sie die NSA und Google – sobald sie das Web betreten und sei es nur das klassische Web 1.0 haben Sie sich diesen Entitäten ausgeliefert. Oder wie bereits die „Zeit“ schrieb: „Wer Microsoft, Apple, Yahoo, Google, Facebook, PalTalk, AOL, Skype und YouTube nicht nutzt, wird vom Prism-System nicht direkt erfasst.“[2] Die privaten und öffentlichen Netzoligarchen und ihre stetig weiter entwickelten Algorithmen sind in einem Maße omnipräsent, dass die Empfehlung unseres Bundesinnenministers „sich selbst zu schützen“ nicht mal mehr mit dem Pfeifen im Walde – oder besser: im dunklen Lüftungsschacht des Raumschiffs – verglichen werden kann.
Nein – relevanter sind jene nervigen Aliens, die jederzeit alles besser wissen als sie, die falsche Behauptungen in die Welt setzen, rotzige Kommentare zu ihren Posts einstellen und überhaupt die schöne neue Welt durch übelriechende Flatulenzen verpesten.
Ziehen Sie in einem solchen Fall nicht den Phaser.
Bleiben Sie sachlich und höflich. Entwaffnen Sie diese Aliens mit Ihrer Kompetenz. Die anderen User werden auf Ihrer Seite sein. Nicht jedes Raumschiff braucht einen Schutzschirm wie die selige Enterprise und nicht jedes Archiv im interaktiven Datenraum braucht gleich einen „Shitstormmanager“.
„Dank unseres selektiven Erinnerungsvermögens sind wir in der Lage, rasch neue Gewohnheiten anzunehmen und frühere zu vergessen.“[3] Ein kurzer und scheinbar harmloser Satz aus dem kürzlich in deutscher Sprache erschienenen Buch „Die Vernetzung der Welt – Ein Blick in unsere Zukunft“ des Autorenduos Eric Schmidt und Jared Cohen. Schmidt – immerhin Executive Chairman von Google, und Cohen stellen auch fest, dass die „virtuelle Welt nicht nur unseren Umgang mit anderen Menschen verändern [wird], sondern auch unsere Selbstwahrnehmung.“[4]
Gestatten Sie mir dazu einen ganz persönlichen Gedankensplitter, der diesmal nichts mit Science Fiction zu tun hat: Vor nicht allzu langer Zeit verbrachte ich einen Teil meines Feierabends mit einer hoch gelobten Fernsehserie, die, produziert von Hollywood-Ikone Martin Scorsese, einige interessante Einblicke in die Prohibitionszeit der frühen zwanziger Jahre bietet. Einer der Protagonisten befand sich – notgedrungen – auf der Suche nach einem Telefon, ein situationsbedingt unnötig zeitraubender und nervtötender Akt in dessen Verlauf mir ganz beiläufig durch den Kopf schoss: Warum benutzt er nicht sein Handy?
Nun ist es zwar offenkundig, warum ein Charakter der 1920er Jahre noch kein Handy benutzen darf, durchaus bemerkenswert scheint jedoch, wie selbstverständlich der Konsument, von seinen eigenen Gewohnheiten ausgehend, ein erst kürzlich erlerntes Verhalten auch von einem fiktiven Charakter erwartet, dessen Handeln bald 100 Jahre in der Vergangenheit stattfindet.
Schmidt übertreibt also durchaus nicht mit seiner eingangs zitierten Feststellung und ich persönlich neige dazu, ihm auch zu glauben, wenn er hinsichtlich der Weiterentwicklung der Rechenprozesse prophezeit „Wir werden die Antworten auf ihre Fragen kennen, ehe sie selbst die Fragen wissen.“[5]
Ob man diese „Brave new World“ nun sehnlich erwartet, oder sie unwirsch zu ignorieren versucht spielt keine Rolle. Sie ist bereits um uns – das bereits Gesagte erinnernd möchte man hinzufügen: Sie ist irgendwie bereits in uns.
Die Frage ob Archive im Web 2.0 agieren sollten, die Überlegung nach Sinn und Unsinn des Ganzen ist somit letztlich rein akademisch, da die Meinung der Archive hierzu schlicht niemanden außerhalb der Archivgemeinde interessiert. Das Web 2.0 ist bereits da, das „Internet der Dinge“ – die Vernetzung von Maschinen, Gebrauchsgegenständen und Hauselektronik wird kommen. Ob Sie schon bald eine SMS von Ihrem Kühlschrank bekommen werden oder der lieber gleich ihrem Auto mitteilt, dass sie noch zum Supermarkt fahren sollen, kann ich nicht sagen. Für uns bleibt ein Satz maßgeblich, den Carsten Ulbricht schon beim Deutschen Archivtag in Köln im Jahr 2012 formulierte „[…] die neue Art der Nutzung und Kommunikation im Internet wird bleiben.“[6]
Wir müssen uns dem stellen. Letztlich ist das nur möglich, wenn wir – jeder für sich – Social Media mit gestalten. Nachträglich zu dokumentieren werden diese komplexen Entwicklungen ebenso wenig sein wie das Regieren der Kanzlerin via SMS.
Und bei allem eventuell vorhandenen Unwohlsein sollten sie eines nicht vergessen: Eine Webpräsenz, die von mehreren hundert oder tausend Menschen wöchentlich besucht wird kann für sie auch ein Instrument sein, wohl begründete Interessen ihres Archivs durchzusetzen. Auch Kommunalpolitiker sind im Web 2.0 vertreten – sie werden verblüfft sein, dass auf einmal Entscheidungsträger von Ihrer Arbeit Notiz nehmen, die nie zuvor auch nur eine ihrer Veranstaltungen besucht haben.
Ein Umstand, den man mit einem erstaunten „faszinierend“ kommentieren möchte.
In diesem Sinne: Gehen sie mit ihrer Besatzung an Bord, setzen sie Kurs und zitieren sie mit fester Stimme Captain Kirk: „Scotty, Energie!“
[1] vgl. Kemper, Joachim; Fischer, Jörg; Hasenfratz, Katharina; Just, Thomas; Moczarski, Jana; Rönz, Andrea: Archivische Spätzünder? Sechs Web 2.0-Praxisberichte in: Der Archivar Heft 02/2012, Seite 136 ff.
[3] Schmidt, Eric; Cohen, Jared: Die Vernetzung der Welt – Ein Blick in unsere Zukunft. Reinbek bei Hamburg, 2013, S. 16
[6] Ulbricht, Carsten: Social Media & Recht. Chancen und Risiken im Web 2.0, in: VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e. V.: Kulturelles Kapital und ökonomisches Potential – Zukunftskonzepte für Archive, Fulda 2013
© Jörg Fischer, Stadtarchiv Amberg
Quelle: http://archive20.hypotheses.org/905