Erschließung von Beziehungsgeflechten mit MidosaXML – Teil 2: Ziele, Ordnung, Verzeichnungsstufen


B. Erschließungsrichtlinien

I. Ziele und Aufgaben

  1. Ziel der archivischen Erschließung ist es, durch die Bereitstellung von Informationen über das Archivgut, die für seine Entstehung verantwortlichen Akteure und Funktionen sowie über das verwahrende Archiv den Zugang zum Archivgut zu ermöglichen. Hierzu werden geeignete Findmittel erarbeitet, die im Archiv der Universität und nach Möglichkeit im Internet zur Verfügung gestellt werden.
  2. Aufgabe der archivischen Erschließung ist es, die Struktur der Bestände, ihre Inhalte, ihre Entstehungs- und Überlieferungszusammenhänge transparent zu machen.
  3. Die Methoden der Erschließung orientieren sich an international anerkannten Standards.
  4. Die vorliegenden Richtlinien setzen einen Rahmen, der angesichts unterschiedlicher Strukturen des Archivguts zweckmäßige Abweichungen zulässt. Zu ihrer Dokumentation sollen gegebenenfalls Richtlinienspezifikationen für einzelne Erschließungsvorhaben niedergelegt werden.

II. Bewertung und Ordnung

  1. Dem Erschließungsvorgang geht die Bewertung grundsätzlich voraus.
  2. Die Bewertung erfolgt nach Möglichkeit auf der Grundlage von Aussonderungslisten. Darauf wird Archivwürdigkeit als A, Kassation als K und nötige Einsichtnahme als E vermerkt. Die mit A und E bewerteten Unterlagen werden ins Archiv übernommen. Die endgültige Bewertung der mit E gekennzeichneten Unterlagen erfolgt spätestens im Zuge der archivischen Erschließung. Über die mit K gekennzeichneten Unterlagen wird ein Inventar auf der Grundlage der Angaben in der Aussonderungsliste angefertigt. Dieses wird der Kassationsverfügung als Anlage beigegeben und im Archiv öffentlich einsehbar gemacht. Auf diese Weise wird der Bewertungsvorgang dauerhaft transparent und nachvollziehbar erhalten.
  3. Um Akzessionen schnellstmöglich nutzbar zu machen, können Aussonderungslisten und Akzessionsverzeichnisse als vorläufige Findmittel auch vor dem Abschluss der Bewertung bereits öffentlich zugänglich gemacht werden. Sofern dafür vorläufige Erschließungsarbeiten des Archivs erforderlich werden, sollen diese flach erfolgen. Anhand von Bewertungskategorien sollen Unterlagen, deren Archivwürdigkeit aus formalen Gründen bezweifelt werden kann, nur durch eine einfache Aufnahme des Vorlagetitels erfasst werden.
  4. Akzessionsverzeichnisse beziehen sich auf jeweils eine abgebende Stelle. Übergreifende Akzessionsverzeichnisse sind nach abgebenden Stellen gegliedert.
  5. Vor dem Beginn der eigentlichen Erschließung soll der Bestand nach Möglichkeit vorgeordnet werden. Fällige Feinordnungsarbeiten und endgültige Bewertungsentscheidungen in Einzelfällen können im Zuge der Verzeichnung erfolgen.
  6. Bei der archivischen Erschließung erfolgt die Gliederung der Bestände nach den die Unterlagen tatsächlich zuletzt bearbeitenden und die Unterlagen formierenden Stellen (Provenienzstellen). Keine Provenienzstelle in diesem Sinne ist eine abgebende Stelle, die die Unterlagen im Zuge ihrer Aufgabenerfüllung nur sammelte, aber nicht sachlich und inhaltlich weiterbearbeitet hat.
  7. Bei der Ordnung auf der Ebene der Archivalieneinheiten („file-level“) werden Dokumente und Vorgänge („item-level“) zu Verzeichnungseinheiten auf File-Ebene[1] zusammengefasst, sofern der Bearbeiter nicht entscheidet, dass diese als selbständige Einheiten in das Findmittelsystem Eingang finden sollen.[2] (Näheres in Abschnitt III. Stufen der Verzeichnung). Aus den Verzeichnungseinheiten definiert das Archiv Bestände und Tektoniken, die den Zugriff auf das Archivgut als Einheiten gemeinsamer Beziehungen ermöglichen.
  8. Die Identifikation des Archivguts erfolgt mittels Akzessionssignaturen, Magazinsignaturen und Archivsignaturen.
    1. Die Akzessionssignatur bezeichnet die abgebende Stelle durch eine römische Zahl, die Nummer der Aussonderung durch eine arabische Zahl (z.B. 1., 2. Oder 3. Aussonderung) sowie die Nummer der Unterlageneinheit (Akzessionseinheit) durch eine weitere arabische Zahl (Bsp: XV/1/193: Akte 193 aus der ersten Aussonderung der Abgabestelle Nr. XV). In gleicher Weise werden die Unterlagen bis zu Ihrer weiteren Bearbeitung beschriftet. Die Akzessionssignatur wird in MidosaXML in das Feld „Bestellnummer“ und in das Feld „Alte Signaturen“, dort mit dem erläuternden Text „Akzessionssignatur“, eingetragen. Ein separat geführtes Lokaturverzeichnis gibt Auskunft über den genauen Lagerungsort innerhalb des Magazins.
    2. Die Magazinsignatur ist eine fortlaufende Nummer, die bei der Erschließung anstelle der Akzessionssignatur vergeben wird. Sie bezeichnet eine physische Archivalieneinheit, die in dieser Form und in diesem Umfang im Magazin gelagert wird. Die Magazinsignatur wird in MidosaXML in das Feld „Bestellnummer“ und in das Feld „Lagerungsort“ eingetragen. Im Feld „Bestellnummer“ ersetzt sie die ggf. vorher dort befindliche Akzessionssignatur. Ein separat geführtes Lokaturverzeichnis gibt Auskunft über den genauen Lagerungsort innerhalb des Magazins.
    3. Die Archivsignatur bezeichnet zunächst eine im Erschließungsprozess identifizierte Beziehungsgemeinschaft im Rang einer Archivalieneinheit. Diese stimmt in Form und Umfang mindestens mit der magazinierten physischen Einheit überein. Deshalb ist in diesen Fällen die Magazinsignatur mit der Archivsignatur identisch. Es erfolgt dann kein eigener Eintrag für die Archivsignatur in MidosaXML.
    4. Die Archivsignatur kann darüber hinaus auch zur Identifizierung von Verzeichnungseinheiten auf der Grundlage von Beziehungsgemeinschaften dienen, die nicht für die registraturmäßige Struktur, Form und Umfang der physisch vorliegenden Archivalieneinheit[3] (Magazinierungseinheiten) verantwortlich waren.[4] Dies ist der Fall, wenn mehrere Magazinierungseinheiten oder Teile aus unterschiedlichen Magazinierungseinheiten zu einer Verzeichnungseinheit zusammengefasst werden. Dabei wird in das Feld „Bestellnummer“ anstelle der Magazinsignatur der Buchstabe D und eine innerhalb des Buchstabens fortlaufende Nummer eingetragen (z.B. D 143). Die betroffenen Magazinierungseinheiten werden dann mittels ihrer Magazinsignaturen im Feld „Lagerungsort“ hintereinandergereiht. Sofern es sich nur um Teile von Magazinierungseinheiten handelt, sind hinter der betreffenden Magazinsignatur die jeweiligen Folionummern zu vermerken.

Beispiel: „13, 35 fol. 13-54, 44, 105 fol. 87-99“; d.i.: Magazinierungseinheit 13, Magazinierungseinheit 35 (nur Blätter 13 bis 54), Magzinierungseinheit 44 und Magazinierungseinheit 105 (nur Blätter 87 bis 99). Um derartige Verzeichnungseinheiten tatsächlich vorlegbar zu machen, ist eine Digitalisierung des betroffenen Archivguts auf Dauer unumgänglich.

Die Zuordnung desselben Archivguts kann zu beliebig vielen Verzeichnungseinheiten mit D-Signaturen erfolgen.[5]

E. Erscheint es im Hinblick auf die Nachnutzbarkeit zur Bildung von Verzeichnungseinheiten mit D-Signaturen zweckmäßig, können Magazinierungseinheiten bei der Verzeichnung in Unterabschnitte eingeteilt werden. Diese sind in MidosaXML als „Vorgänge“ anzulegen und am physischen Archivgut durch geeignete beschriftete Einlageblätter zu kennzeichnen.

III. Stufen der Verzeichnung

Die Tradition, Archive in voneinander abhängigen, in hierarchischen Beziehungen stehenden Ebenen zu beschreiben, wurde als Stufenmodell im International Standard Archival Description (General), kurz ISAD(G), manifestiert. Erschließung in Stufen bedeutet, dass Erschließungsinformation, die bereits auf höherer Ebene erfasst wurde, sich auf die nachgeordneten Ebenen vererbt und dort nicht mehr explizit wiederholt wird. Auf diese Weise unterscheidet sich die archivische Erschließung fundamental von der bibliothekarischen Katalogisierung. Die Stufenverzeichnung ist ein Versuch, der „Vereinzelung von Archivguteinheiten entgegenzuwirken, indem diejenige Information, die mehrere Verzeichnungseinheiten gleichzeitig betrifft, auf einer höheren Stufe erfasst und dadurch mit den Elementen der nachgeordneten Ebenen verknüpft wird.“[6] Damit soll der Gefahr der Individualisierung der Einzelstücke begegnet werden. Mit diesem Verzeichnungsprinzip ist ein Bestandsabgrenzungsprinzip verbunden, das die Kohärenzen innerhalb eines Bestandskorpus zu bewahren bestrebt ist. Der Verzeichnungsstandard ISAD(G) setzt somit ein hierarchisches Informationsgeflecht zwischen Archivalieneinheiten, Archivaliengruppen und Teilbeständen voraus, um sinnvoll angewandt zu werden. Auf diese Weise ergänzen sich das Prinzip der Bestandsbildung auf der Grundlage der Provenienz und das Prinzip der integrativen Verzeichnung hierarchisch aufeinander aufbauender Informationsebenen (Stufenverzeichnung). Die Verzeichnungseinheiten werden dadurch allerdings in statischen Kontextstrukturen fixiert. Sie zusätzlich in anderen Beziehungsgemeinschaften darzustellen, kann problematisch werden, wenn Information über die Verzeichnungseinheit referenziert werden soll, die nicht unmittelbar mit ihr verknüpft, sondern hierarchisch höher, z.B. auf der Ebene eines Teilbestands fixiert wurde.

Das Stufenmodell, das die Bezeichnung der einzelnen Ebenen im Begriff der „Verzeichnungsstufe“ differenziert, lässt sich mit den „Kompositionsstufen“ der Erschließungslehre von Johannes Papritz in Beziehung bringen. Dabei besteht jede Kompositionsstufe aus Einheiten von verknüpften Elementen (Kompositionen), deren jedes für sich in einer voneinander verschiedenen Entstehungsstufe (Entwurf, Ausfertigung usw.) existieren kann. Diese Einheiten oder Kompositionen bieten die Grundlage für die Verzeichnungsstufe. Eine Zusammenstellung von Schriftstücken kann unter bestimmten Voraussetzungen als Akte bezeichnet werden, die auf der Verzeichnungsstufe der Akte beschrieben wird. Bilden mehrere Akten eine Serie, wird die Serie auf der Verzeichnungsstufe der Serie/Aktengruppe beschrieben, wobei die Erschließungsinformationen, die für alle diese Akten zutreffen, auf der Verzeichnungsstufe der Serie hinterlegt werden. Auf der Verzeichnungsstufe Akte finden sich dann nur die Informationen, die die einzelne Akte der Serie von der anderen Akte unterscheiden. Das Stufenmodell des ISAD(G) ist somit ein hierarchisches Modell der Beschreibung von Einheiten ohne informative Redundanz. Das Beschreibungsmodell wird auf diese Weise sehr komplex, je höher die oberste Verzeichnungsstufe angesetzt wird.

Die deutsche Terminologie überschneidet sich in einigen Fällen bei Kompositionsstufen und Verzeichnungsstufen, wobei die stufenmäßige Abgrenzung von Kompositionen selten tatsächlich eine Rolle spielt. Deshalb soll im Folgenden stattdessen vorwiegend von Kompositionsformen die Rede sein.

Verzeichnungsstufe = relative Kategorisierung von Archivgut gemäß der durch Findmittel dargestellten Mikro-Tektonik;
Kompositionsstufe = absolute Kategorisierung nach Aggregationsgrad von Archivgut;
Kompositionsform = Kategorisierung nach Archivaliengattungen.

Eine solche Unschärfe besteht beispielsweise bei der Kompositionsform Akte und der Verzeichnungsstufe Akte. Da auf der Verzeichnungsstufe „Akte“ jeweils das verzeichnet wird, was vom Bearbeiter als für diese Ebene vorgesehene Kompositionsform vorgesehen wird, können dies z.B. Fotos oder Fotoalben, Filme, Urkunden, Briefe oder – auch – Akten sein. Es wäre daher empfehlenswert, die Terminologie der Verzeichnungsstufen von der der Kompositionsformen deutlicher zu trennen. Brauchbar könnte eine Unterscheidung innerhalb der Verzeichnungsstufen auf unterer Ebene zwischen „file“ als der kleinsten bei der Erschließung als selbständig behandelten Verzeichnungseinheit und „item“ als der kleinsten unselbständigen bei der Verzeichnung berücksichtigten Verzeichnungseinheit (z.B. Foto (item) innerhalb eines Fotoalbums (file)) sein. Die terminologische Entsprechung dazu, dass Verzeichnungsstufen relative Größen sind und ein nur relatives Verhältnis zu den Kompositionsformen und Kompositionsstufen haben, macht auch die Verwendung des Serienbegriffs als Verzeichnungsstufe fragwürdig. Die Serie im Sinne einer Verzeichnungsstufe ist nichts anderes als eine selbständige oder unselbständige, den als kleinste selbständige definierten Einheiten übergeordnete Einheit.[7] Der Begriff der Serie bezieht sich als Terminus für eine Verzeichnungsstufe demnach auf die tektonische Behandlung von Archivalieneinheiten im Archiv, während sich die Begriffe der Kompositionsformen und –stufen auf die Archivaliengattung und ihre Strukturtypen erstrecken.

Folgende Verzeichnungsstufen werden verwendet (in Klammern dafür gebräuchliche englischsprachige Begriffe für die häufigsten damit verbundenen Kompositionsformen und -stufen):

  1. Bestandsgruppe [fakultativ]
  2. Bestand (fonds, collection)
  3. Teilbestand, Klasse (subfonds, subcollection, class)
  4. Serie (series) [fakultativ]
  5. Akte / File (file, record)
  6. Vorgang (subfile) [fakultativ]
  7. Einzelstück / Item (item, piece)

Weniger aus grundsätzlich-methodischen Erwägungen, als vielmehr aus pragmatischen Gründen, um Komplikationen bei der Datenverarbeitung aus dem Weg zu gehen, sollen die strengen Regeln der ISAD(G)-Vererbungslehre in diesen Richtlinien außer Kraft gesetzt werden. Die Verzeichnungsmethode im Universitätsarchiv Bayreuth strebt dahin, Erschließungsinformation über ein Objekt nach Möglichkeit unmittelbar mit dem Objekt selbst und direkt zu verknüpfen.

Die Trennung von Verzeichnungsstufe und Kompositionsform bzw. –stufe spielt insbesondere dann eine wichtige Rolle, wenn Strukturtypen unvoreingenommen bei der Erschließung so bezeichnet werden sollen, wie sie vorliegen, und zwar unter Berücksichtigung ihres Überlieferungskontextes. So ist es beispielsweise möglich, eine Sammlung innerhalb einer Akte vorzufinden. Dies sollte dann auch so verzeichnet werden. So könnten etwa folgende Entsprechungen in der Praxis vorliegen: Verzeichnungsstufe File – Kompositionsform Akte; Verzeichnungsstufe File – Kompositionsstufe Item; Verzeichnungsstufe File – Kompositionsstufe Sammlung; Verzeichnungsstufe Serie – Kompositionsform Fotoalbum usw.[8]

1. Bestandsgruppe

Die Bestandsgruppe ist ein fakultatives Element in der Tektonik eines Archivs, das nicht durchgängig für alle Bestände existieren muss. Bei der Erschließung werden die gemeinsamen Merkmale beschrieben. Die Bildung von Bestandsgruppen soll für den äußeren Betrachter nachvollziehbar, transparent und einsichtig sein.

2. Bestand

Der Bestand ist das zentrale Strukturierungselement des Archivguts eines Archivs. Er ist auf der ersten (bzw. zweiten, falls Bestandsgruppen vorhanden) Gliederungsstufe innerhalb der äußeren Tektonik eines Archivs angesiedelt. Ein Bestand, der nur Archivgut unter Wahrung der Entstehungszusammenhänge umfasst, wird als Fonds bezeichnet. – Auf die gemeinsame Herkunft des Archivguts in einem Bestand legt die Definition des ISAD(G) besonderen Wert. Bestand und Fonds werden dort grundsätzlich gleichgesetzt: „Alle Unterlagen, unabhängig von Form und Trägermaterial, die auf organische Weise bei einer Person, Familie oder Körperschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit und Funktion erwachsen und / oder von ihr zusammengestellt bzw. genutzt worden sind.“[9] Daneben existiert (ohne Erwähung im ISAD(G) (!) der Sammlungsbestand, der nach anderen als Provenienzkriterien zusammengesetzt sein kann.[10]

3. Teilbestand, Klassifikationsgruppe (Klasse)

Teilbestände werden als verknüpfende Elemente der Gliederung (Klassifikation) abgebildet (Gliederungspunkte). Sie sollen den Aufbau der Stelle wiederspiegeln, in deren Wirken der Bestand entstanden ist (Provenienzstelle). Sofern das nicht rekonstruierbar oder aus Gründen einer davon abweichenden Anwendung des Provenienzprinzips nicht beabsichtigt ist, gliedern Teilbestände den Bestand nach geographischen, chronologischen, funktionalen oder ähnlichen Kriterien.

4. Serie

Die Serie als Verzeichnungsstufe ist ein referenzierbarer (selbständiger) oder nicht referenzierbarer (unselbständiger) Container für nachgeordnete referenzierbare (selbständige) Verzeichnungseinheiten. Die Entscheidung darüber, ob die Verzeichnungsstufe Serie verwendet werden soll, soll sich nach Möglichkeiten an den Voraussetzungen orientieren, die eine Kompositionsform als Serie definieren:

Die Kompositionsform Serie sind „Unterlagen, die nach einem Schriftgutverwaltungssystem geordnet oder als Einheit aufbewahrt werden, weil sie aus derselben Sammlung, demselben Entstehungsprozeß oder derselben Tätigkeit erwachsen sind, eine besondere Form aufweisen oder weil sie in besonderer Beziehung zueinander stehen aufgrund ihrer Entstehung, ihres Empfangs oder ihrer Nutzung. Eine Serie kann als Aktenserie aufgefasst werden.“[11] Innerhalb einer Serie gibt es unter den Serienelementen keine inneren Anhaltspunkte zu einer Systematisierung. Als äußere Kriterien kommt beispielsweise die alphabetische, numerische oder chronologische Sortierung in Betracht, ebenfalls auch nach Korrespondenzpartnern. Die physischen Einschnitte werden durch Lagerungs- und Kompositionstechnik bedingt. Serienelemente können keine eigenen Titel haben, vielmehr muss dieser immer dem Serientitel entsprechen und kann durch einen Enthältvermerk bei Bedarf näher spezifiziert werden. Die Erfüllung dieser Mindestvoraussetzung muss auch dann bei der Bildung von Serien und Aktengruppen beachtet werden, wenn sie erst im Archiv geschieht (archivische Serien).

5. File / Akte

Die Verzeichnungsstufe File bezeichnet das, was in einem Findbuch als kleinste selbständige, d.h. mit eigener Signatur versehene Verzeichnungseinheit existiert. Dies ist unabhängig vom Strukturtyp und der Gattung des Archivale. Beispielsweise befindet sich eine Verzeichnung von Einzelfotos als selbständige Verzeichnungseinheiten mit jeweils eigener Signatur pro Foto aus diesem Grund auf der Verzeichnungsstufe der File-Ebene und nicht auf der der Item- oder Einzelstückebene, obwohl es sich um die Kompositionsstufe des Einzelstücks handelt.

6./7. Vorgang, Einzelstück

Vorgänge und Einzelstücke bezeichnen als Verzeichnungsstufen unselbständige, d.h. nicht selbständig referenzierbare Verzeichnungseinheiten, die immer einer selbständigen Verzeichnungseinheit (File) nachgeordnet sind. Als nicht selbständig sollen sie dann verzeichnet werden, wenn ihre selbständige Aufnahme ins Findmittelsystem dazu führen könnte, Entstehungskontext zu verdunkeln und das Archivgut ohne Not aus seinen Entstehungszusammenhängen herauszulösen und isoliert darzustellen. Möchte man Stücke, die ihrer Kompositionstufe entsprechend Einzelstücke sind, als selbständige Einheiten verzeichnen, ist dafür die Verzeichnungsstufe „File“ angebracht. Die übergeordnete Einheit wäre demzufolge in der Verzeichnungsstufe „Serie“ zu beschreiben.

Die Verzeichnungsstufe „Vorgang“ soll regelmäßig dann genutzt werden, wenn Archivalieneinheiten, z.B. Akten, in der Entstehungsstelle bewusst in erkennbar abgegrenzte Vorgänge untergliedert wurden, und wenn gleichzeitig wesentliche Information verloren ginge, wenn diese Untergliederung bei der Verzeichnung nicht abgebildet würde. Bei der Wahl der Verzeichnungsmethode ist in den übrigen Fällen zwischen der Nutzung von Enthältvermerken an Verzeichnungseinheiten auf File-Ebene und der Nutzung der tieferen Verzeichnungsstufe „Vorgang“ abzuwägen.

[1] In MidosaXML: Akte.

[2] In letzterem Fall ist die Einheit in MidosaXML als „Akte“ aufzunehmen.

[3] Physisch vorliegende Archivalieneinheiten = Magazinierungseinheiten.

[4] Beziehungsgemeinschaften können hier z.B. Gemeinschaften oder Schnittmengen von Funktionen sein, deren Ausübung für die Entstehung des Archivguts ursächlich war. Dabei können auch mehrere Funktionen zugleich für die ganze Akte oder Teile der Akte als entstehungsursächlich gewirkt haben. Daraus lassen sich mehrere – funktionsbasierte – Beziehungsgemeinschaften identifizieren.

[5] Über die bei der Vergabe von D-Signaturen jeweils anzuwendenden Verzeichnungsstufen in der Archivsoftware siehe Abschnitt III. Stufen der Verzeichnung.

[6] ISAD(G) – Internationale Grundsätze für die archivische Verzeichnung, 2., überarb. Aufl., übersetzt und neu bearbeitet von Rainer Brüning, Werner Heegewaldt, Nils Brübach, Marburg, 2002, S. 5 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 23).

[7] Ganz anders dagegen die Kompositionsstufe oder -form „Serie“, die eine genuine selbständige Archivalieneinheit bezeichnet.

[8] Eine separate Erfassung von Verzeichnungs- und Kompositionsstufe in den Findmittelsystemen wäre wünschenswert. In EAD werden Kompositionsformen bereits jetzt im Abschnitt <physdesc> festgehalten. Denkbar wäre es, die Kompositionsstufe unter <arrangement> innerhalb der c-Ebenen einzufügen, etwa als „level of arrangement“.

[9] ISAD(G), deutsche Übersetzung 2002 (s. Fn. 12), Glossar s.v. Bestand.

[10] Vgl. Multilingual Archival Terminology, hrsg. vom International Council on Archives (ICA), s.v. Sammlung: http://www.ciscra.org/mat/termdb/term/1460.

[11] Angelika Menne-Haritz: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie, Marburg, Nachdruck der 3., durchgesehenen Auflage, 2006, s.v. Serie (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 20).

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1787

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Kloster und Wissen. Einige Thesen zur Diagrammatik der Philosophia mundi.

 

Zu Beginn des Jahres wurde eine deutlich erweiterte Fassung meiner Masterarbeit veröffentlicht, die mittlerweile auch online über den Freiburger Dokumentenserver zugänglich ist.1 In dieser Arbeit habe ich mich mit der so genannten Arnsteinbibel, London BL Harley 2798 und Harley 2799 beschäftigt.

“Das […] Buch behandelt die monastische Wissenskultur des hohen Mittelalters und basiert auf einer mit dem Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences (2013) ausgezeichneten Qualifikationsschrift des Autors. Anhand wissenschaftlicher Diagramme der so genannten Arnsteinbibel (British Library Harley 2799) werden die lebensweltlichen Bedingungen von Wissen im Prämonstratenserstift Arnstein a.d. Lahn im frühen 13. Jahrhundert untersucht. Dabei eröffnet sich dem modernen Betrachter ein ungewohnter, genuin mittelalterlicher Zugang zu naturwissenschaftlichem Wissen, das in Arnstein eine spirituelle und liturgische Dimension erhielt.“2

Harley 2799, fol. 166r (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

In dieser Arbeit vertrete ich unter anderem die These, dass der Diagrammzyklus in Harley 2799 größtenteils auf der Philosophia mundi Wilhelm von Conches basiert.

Harley 2799, fol, 242r. (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

Ich interpretiere die drei Diagramme auf folio 242r der Bibel als diagrammatische Synthese einer komplexen Stelle im zweiten Buch der Philosophia, in der die Beziehung zwischen dem Kosmos (vor allem dem jeweiligen Stand der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten) und dem menschlichen Körper beschrieben wird. Diese inhaltliche Interdependenz zwischen den astronomischen und medizinischen Phänomenen entspricht einer didaktischen Interdependenz zwischen den drei Diagrammen.3

Diese These scheint mir inhaltlich überzeugend, sie war in zweierlei Hinsicht aber nicht unproblematisch: Zum einen bezeugt der überlieferte mittelalterliche Katalog der Abtei4 keinen Eintrag, der sich eindeutig auf das Werk des nordfranzösischen Magisters beziehen ließe; und zum anderen konnte ich bislang keine entsprechenden Diagramme in der Überlieferung des zweiten Buches der Philosophia mundi ausfindig machen.

Erst nach Fertigstellung des Manuskripts der Arbeit konnten mit freundlicher Hilfe von Prof. Dr. Paul Dutton mittlerweile drei Handschriften gefunden werden, die zur Illustration der Textstelle auf eine ähnliche diagrammatische Formensprache wie die Arnsteinbibel zurückgreifen: Paris BNF Lat. 6560, Paris BNF Lat. 11130 sowie Zürich Car. C. 137 (299 Mohlberg).

Die beiden Pariser Handschriften sind mittlerweile (leider ebenfalls erst nach Abschluss des Manuskripts) online konsultierbar, bislang allerdings völlig unzureichend und fehlerhaft beschrieben.

Alle drei Handschriften stammen vermutlich aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die genaue Herkunft ist bislang nicht bekannt. Sie stellen neben der Arnsteinbibel die einzigen bekannten Zeugnisse dieser diagrammatischen Tradition dar. Während Lat. 11130 und Car. C. 137 die Zusammenhänge im Text ähnlich der Arnsteinbibel mit mehreren (zwei) Diagrammen illustrieren, sind die entsprechenden Elemente in Lat. 6560 in einem Diagramm zusammengefasst.

Paris BNF lat. 11130, fol. 47v und 48r.
Paris BNF lat. 6560, fol. 53r.

Diese neue Überlieferungslage stärkt die im Buch vertretene These, die Abtei habe tatsächlich eine Abschrift der Philosophia mundi besessen, die als Vorlage des Diagrammzyklus zu sehen ist.5

In seinem Standardwerk Album of Science hat sich John Murdoch 1984 wie folgt zur Erforschung der diagrammatischen Produktion geäußert:

„Our knowledge of how manuscript illustrations were produced is infinitely more complete in the case of the well known artistic miniatures of illuminated medieval manuscripts than in that of the scientific illustration or diagram.”6

Ich möchte an dieser Stelle vorsichtig die Vermutung äußern, dass die nunmehr vier Zeugen der Diagrammtradition einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieser Produktion ermöglichen und hierzu einige knappe Thesen skizzieren:

Die vier Zeugen lassen sich im Hinblick auf ihre Komplexität sortieren: Das eine Ende der Tradition bildet die Arnsteinbibel, die den Zusammenhang zwischen Kosmos und Körper mit drei Diagrammen darstellt. Lat. 6560 steht am anderen Ende, da es den gleichen Sachverhalt in einem einzigen Diagramm vereint (auch wenn auf der Folgeseite das Verhältnis der Elemente erneut dargestellt wird). Lat. 11130 und Car. C. 137 nehmen mit zwei Diagrammen eine Mittelstellung ein.

Es ist dabei verlockend, über diese unterschiedliche Komplexität auf verschiedene Phasen der Entwicklung dieser Diagramme zu schließen. Da der Arnsteinbibel wichtige gestalterische Elemente fehlen, die den anderen Handschriften gemein sind (hier sind vor allem die versetzte Anordnung der Sternzeichen sowie die doppelwandigen Halbkreise mit den Himmelsrichtungen und den Jahreszeiten zu nennen), scheint es wahrscheinlich, dass die Bibel einer früheren Entwicklungsstufe der Tradition entspricht. Lat. 6550 wäre in dieser Lesart der Endpunkt dieser Entwicklung.

In diesem Fall böte sich hier ein aufschlussreicher Einblick in die Entstehung dieser diagrammatischen Traditionen:

Eine ursprünglich diagrammfreie Fassung des zweiten Buches der Philosophia wurde vermutlich zur Klärung des komplizierten Textes mit Illustrationen versehen, die die wesentlichen Elemente der Textstelle verdeutlichen. Der Urheber dieser Abbildungen bediente sich dabei des klassischen bekannten Formenrepertoirs und war bemüht, die sehr unterschiedlichen thematischen Felder des Textes zu isolieren, gleichzeitig aber auch ihre Beziehung deutlich zu machen. Diese graphische Umsetzung besticht durch ihre Einfachheit, hat aber auch eine entscheidende Schwäche: Man muss erst erkennen, dass die drei Diagramme aufeinander zu beziehen sind, damit die Abbildungen ihren Sinn entfalten können.

Diesem Umstand trägt die zweite Entstehungsstufe in Lat. 11130 und Car. C. 137 Rechnung. Hier wird D2, also der Lauf der Sonne durch die Jahreszeiten, in die graphisch reduzierte Abbildung des Kosmos integriert und dem Schema der Elemente gegenüberstellt. So wird ein besseres Verständnis gewährleistet; die Diagramme verlieren dadurch aber auch an Bildlichkeit und werden abstrakter.

Lat. 6560 könnte nun den letzten Schritt in dieser Entwicklung darstellen. Die Elemente wurden auf ein stark abstrahierendes Diagramm reduziert. Die ursprünglichen klassischen Formen sind in einem neuen Diagramm aufgegangen.

Diese Beobachtungen – sollten sie sich erhärten lassen – legen den Schluss nahe, dass hochmittelalterliche  Diagramme nicht einfach aus dem Nichts geschaffen werden konnten, sondern zunächst aus dem überlieferten Formenspektrum schöpfen mussten. Damit bestätigt sich die Vermutung von Ramírez-Weaver:

“The creator of a diagram, even a new one […] was restricted by standard techniques of visualization […] medieval preferences for the formal arrangements
of charted information (like rotae), and a relatively straightforward adherence to well-known ›facts‹ […].”7

Einmal etabliert werden diese Diagramme dann zunehmend abstrahiert und in ein einzelnes Diagramm integriert.

Diese Überlegungen sind sicherlich noch sehr vorläufig und bedürfen eingehender Prüfung. Rätselhaft ist zum Beispiel das plötzliche Verschwinden dieser diagrammatischen Tradition mit Lat. 6560 ab dem 13. Jahrhundert. Die drei Handschriften der Philosophia, Car. C. 137, Lat. 11130 und Lat. 6560, scheinen auf jeden Fall in einer Beziehung zueinander und zur Arnsteinbibel zu stehen, die näher zu untersuchen sich sicherlich lohnen würde.8

  1. Schonhardt, Michael: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. (Reihe Septem, 2) Freiburg 2014.
  2. Kurzbeschreibung auf Freidok.
  3. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 58-61.
  4. Ediert in Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890, S. 293-298.
  5. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 98-100.
  6. Murdoch, John: Album of Science, Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 15.
  7. Ramírez-Weaver, Eric: Creative Cosmologies in Late Gothic Bohemia: Illuminated Diagrams and Memory Tools for the Court of Wenceslas IV, in: Manuscripta Bd. 54 (2010), S. 21–48, hier S. 31.
  8. Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht sicherlich von der geplanten Edition der Philosophia durch Paul Edward Dutton im CCCM zu erwarten.

 

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/228

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DFG fördert “herausragende Forschungsbibliothek” des IOS

Im Rahmen der Förderung herausragender Forschungsbibliotheken hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Projekt des IOS zum “Aufbau eines Portals georeferenzierter versteckter Karten zu Ost- und Südosteuropa (GeoPortOst)” in vollem Umfang bewilligt. Das beantragte Vorhaben stellt ein Pilotprojekt für den elektronischen Nachweis und die georeferenzierte Präsentation versteckter Karten dar. Als Ausgangsbasis dient ein Zettelkatalog mit dem Nachweis von 16.000 unselbständigen Karten zu Osteuropa (davon 400 urheberrechtsfrei), die sich in Monografien und Sammelbänden befinden. Dieser Katalog wird zunächst in die Datenbank des B3Kat retrokonvertiert. Zudem werden weitere 250 Bücher (Erscheinungszeitraum zwischen 1850 und 1918) zu Südosteuropa, die Karten enthalten, daraufhin durchgesehen, ob diese geeignet sind, einen Beitrag für die Forschung zu leisten. Auf diese Weise können weitere 500 urheberrechtsfreie Karten ausgewählt und katalogisiert werden. Nachdem diese formale Erschließung abgeschlossen ist, werden die 900 vor 1918 erschienenen Karten mittels GND inhaltlich beschrieben. Anschließend werden sie digitalisiert und mit der proprietären Applikation Georeferencer zunächst rudimentär georeferenziert. Nach Erstellung eines Metadatensets werden die Karten für die Georeferenzierung durch Crowdsourcing freigegeben. Schließlich werden die versteckten Karten in ein Portal (GeoPortOst) eingebunden und recherchierbar gemacht. Damit werden versteckte Karten erstmals elektronisch nachgewiesen. Für die Ost- und Südosteuropaforschung entsteht dadurch ein zentraler Ort für die Recherche von Karten. Das Projekt steht somit in der Tradition der Tiefenerschließung von Bibliotheksbeständen des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) und seiner Vorgängereinrichtungen.

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/166

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Musikgeschichte als Sonatenform oder das Ende der Musik als Reprise der Geschichte

Seit meiner Lektüre von Alexander Demandts Metaphern für Geschichte (1978) halte ich gerne und ausgiebig Ausschau nach Sprachbildern für Musikgeschichte. Demandt teilt häufig verwendete Metaphern nach Bedeutungsfeldern ein. Dabei unterscheidet er organische, technische, Jahreszeiten-, Theater- und Bewegungsmetaphern. Als ich kürzlich in Musikzeitschriften aus den 1950er Jahren blätterte, begegnete mir folgende Vorstellung: Die Musikgeschichte verlaufe wie eine Sonatenform. Auch wenn es sich hier strenggenommen um keine Metapher, sondern um einen Vergleich handelt, drängt sich die Frage auf: Wie ist Musikgeschichte als Sonatenform zu verstehen? Haben wir es mit einer Double-function Form1 in ungeahnter Dimension zu tun?

Eine kurze Erläuterung der Sonatenform vorab: Es handelt sich dabei um eine (zumeist) dreiteilige Form, die seit dem 18. Jahrhundert vornehmlich in Sonaten, kammermusikalischen Werken und Symphonien zu finden ist. Idealtypisch – hinsichtlich der Formenvielfalt allerdings notwendigerweise verkürzt – lässt sich das Formmodell so darstellen: Im ersten Teil, der „Exposition“, werden zwei Themen vorgestellt bzw. es gibt zwei Bereiche, die in einem Kontrast (Tonart, Charakter) zueinander stehen. Im zweiten Teil, der „Durchführung“, erfolgt die motivisch-thematische Verarbeitung des zuvor vorgestellten Materials. Und schließlich wird im dritten Teil, der „Reprise“, die Exposition wiederholt, wobei der zuvor aufgestellte Kontrast hier (tonartlich) aufgelöst wird.

Nun schreibt Frederick Goldbeck, Musikkritiker und Musikologe, im Jahre 1954: „Es sieht ganz so aus, als entspräche der Gang der Musikgeschichte dem Gang der so schicksalsträchtigen Sonatenform. Vom Mittelalter bis zu Beethoven: Exposition aller Themen, von der Gregorianik bis zur Sonate. Von Beethoven bis zum Ende der Romantik: Durchführung, Modernität als Stauung, Dynamik, Dissonanz; Stretta der Harmonik und des Kontrapunkts. Von Debussy an: Zyklus der Wiederholung, variierende Wiederaufnahme und paradoxe Gleichzeitigkeit, [sic] aller Themen, Modernität als Auseinandersetzung mit der wieder vergegenwärtigten Vergangenheit.“2

Dieser Text ist freilich mit zwinkerndem Auge geschrieben. Dennoch, umsonst ist das Bild einer Sonatenform nicht gewählt. Welche Auffassung von Musikgeschichte steckt also dahinter? Ein kurzer Umriss: Bis zur Klassik werden neue musikalische Momente gesetzt, es werden Formen, Satztechniken und Ordnungsprinzipien des Tonvorrats entwickelt. In der Romantik werde das Gegebene „durchgeführt“, es werde dynamisiert, verschärft, von allen Seiten beleuchtet. Die musikalische Moderne und alles darauf Folgende stelle dann eine Wiederholung des Bisherigen dar: Es handle sich um einen Abschnitt der Musikgeschichte, in dem nichts genuin Neues passiert. Eine starke These! Selbst die Zwölftonmusik, die in den 1920ern und teilweise noch in den 1950ern als radikal und revolutionär galt, versteht Goldbeck als Spielart der Tonalität (aus der Phase der Exposition): „Hier wird dem dynamisch-harmonischen Prinzip unbedingt die Treue gehalten. Hier folgt Dissonanz auf Dissonanz […].“3 Die Folge von Dissonanzen, so lautet sein Argument, sei letztlich zurückzuführen auf die Vorstellung von Dreiklängen (Konsonanzen), die sich dahinter verberge.

Angesichts von so unterschiedlichen musikalischen Phänomenen wie Neoklassizismus und Zwölftonmusik fragt sich Goldbeck: „ […] sind das nicht lauter tastende, naive Versuche, sich in der neuen Situation der erweiterten Perspektive zurechtzufinden und Vergangenheit und Gegenwart zu kontrapunktieren?“4 Dabei fasst er diese neue Situation so auf: Bis zu Richard Wagner habe die zeitgenössische Musik immer die bisherige Musik ersetzt. Dies sei nun nicht nicht mehr der Fall; die zeitgenössische Musik erweise sich „als unersetzlicher Augenblick dieser Musikgeschichte und als unumgängliche Auseinandersetzung mit dieser Musikgeschichte.“5 Goldbeck möchte hier nicht dem Historismus das Wort reden, vielmehr wird in seinen Ausführungen eine (frühe) postmoderne Einstellung sichtbar: Es gibt keine neuen Ideen mehr, sondern lediglich das Aufgreifen des schon Verfügbaren. Die Moderne als Reprise der Geschichte: Äußert sich hier eine Variante von Hegels These zum Ende der Kunst? Einer Kunst, in der keine bedeutende neue Entwicklung stattfinden kann, weil sie nach Goldbeck nicht anders kann als in den „Zyklus der Wiederholung“ einzutreten?

Zu dieser Deutung der Musikgeschichte gibt es vieles anzumerken, ich möchte hier nur zwei Kritikpunkte herausgreifen. 1) Viele Komponisten zielten in den 1950er Jahren ausdrücklich darauf ab, mit der Tradition zu brechen und ganz neue Musik zu komponieren, etwa mit synthetisch erzeugten Klängen in der elektronischen Musik. Diese Entwicklung hat – so lässt sich mit einigem Recht sagen – tatsächlich ein neues Kapitel in der Musikgeschichte aufgeschlagen (um ebenfalls ein Bild zu wählen). 2) Eine Auseinandersetzung mit Musikgeschichte, um Goldbecks Worte aufzugreifen, war auch für Komponisten im 19. Jahrhundert unumgänglich. Die musikalischen Neuerungen etwa eines Richard Wagner sind ohne seine kreative Rezeption von verschiedenen Komponisten (Beethoven, Gluck u.a.) und Strömungen nicht zu denken. Inwiefern ein qualitativer Unterschied besteht zwischen der Art, wie Wagner und wie Schönberg Tradiertes aufgreifen und verarbeiten – im Sinne von Durchführung und Wiederholung – ist nach meiner Auffassung nicht einzusehen.

Doch der Vorstellung einer Reprise als „variierende Wiederaufnahme und paradoxe Gleichzeitigkeit“ in Hinblick auf die Moderne ist auch etwas abzugewinnen. Besonderes Merkmal des Musiklebens des 20. und 21. Jahrhundert ist die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Musikgeschichte nach den technischen Revolutionen der Medien. Darüber hinaus ist seit gut 100 Jahren in der (abendländischen) klassischen Musik kein vorherrschender Stil, keine vorherrschende Strömung oder Kompositionstechnik mehr auszumachen. Viele (aber nicht alle) Komponisten gehen heute davon aus, dass ihnen jedes Material aus jeder Epoche für ihre eigenen Werke frei verfügbar ist.

Wie jedes Sprachbild verrät der Vergleich mit der Sonatenform einiges darüber, wie der jeweilige Autor (Musik-) Geschichte auffasst, welche Selektionen und Hierarchisierungen er vornimmt und was er für den zukünftigen Verlauf prognostiziert. Als abgeschlossenes symmetrisches Gebilde hat die Sonatenform als Geschichtsbild keine Zukunft der Musik zu bieten. (Das oft beschworene Ende der Kunst wird von Goldbeck zwar als solches nicht benannt, als Denkfigur wohl aber impliziert.) Doch verweist das Bild der Sonatenform auf ein entscheidendes Merkmal der Musik seit dem 20. Jahrhundert, nämlich die Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher Musiken und Ästhetiken, die – mehr oder weniger konfliktreich – nebeneinander existieren.

 

 

1„Double-function Form“ bedeutet, dass eine musikalische Form, nach der gewöhnlich ein einzelner Satz gestaltet ist, auch die übergeordnete Form eines mehrsätzigen Werkes bestimmt.

2Frederick Goldbeck, “Dissonanzen-Dämmerung”, in: Melos 21 (1954), S. 5.

3Ebd., S. 4.

4Ebd., S. 5.

5Ebd., S. 5.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/151

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Datenbank der in der NS-Zeit verbannten und verbotenen Autoren und Bücher

In der Auftaktveranstaltung von Coding da Vinci wurde auch die Datenbank der vom NS-Regime verbannten und verbotenen Bücher — im NS-Jargon ›Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums‹ — vorgestellt. Man kann diese Liste frei herunterladen, als strukturierte Datenbank (im mittlerweile recht gebräuchlichen JSON-Format). Das mag etwas gewöhnungsbedürftig sein, ist aber angemessen, lassen sich doch maschinenlesbar strukturierte Daten gut analysieren und weiterverarbeiten.

NS-Liste verbotener Bücher (DARIAH-DE Geo-Browser)

Erscheinungsorte der durch die NS-Liste(n) verbotenen Bücher im Zeitverlauf (DARIAH-DE Geo-Browser)

Die Liste enthält beinahe 6.000 Einträge (5885). Mehr als tausend der Bücher waren in Berlin erschienen (1071). Die frühesten Bücher, kaum zu glauben, stammen aus den 1840er Jahren (1843). Ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen waren also diese Texte für bürgerliche Freiheit und Frauenemanzipation, gegen Zensur, wieder ›gefährlich‹ geworden. Das letzte Buch wurde noch im Jahr 1944 verboten.

Zum Datensatz gibt es einen online recherchierbaren Katalog sowie Hintergrundinformationen zu den NS-Listen.  Lizenz (CC-BY) und  Datenbankschema klärt die Metadatenseite. Im Web findet sich übrigens auch noch eine weitere Fassung als Allegro-Datenbank, und es lohnt sich, den informativen Wikipedia-Artikel Liste verbotener Autoren während der Zeit des Nationalsozialismus zu Rate zu ziehen.

"Sämtliche Schriften"  verboten

Datensatz zu Salomo Friedlaender: »Sämtliche Schriften« von »Mynona« verboten

Werfen wir einen Blick in die Datenbank: ein durchaus typischer Datensatz, hier zu Salomo Friedlaender, ist nebenstehend abgebildet (JSON wurde hier mittels BaseX nach XML konvertiert). Alles, was Salomo Friedlaender je verfasst hatte — nun war es verboten. (Friedlaender war übrigens bekannter unter seinem Pseudonym »Mynona« — was sich auch auch rückwärts lesen lässt. Er war wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehungen oft Gast im Essener Rabbinerhaus, heute Standort des Steinheim-Instituts, und eine »Groteske« von ihm, Jakob Hankes Erlösung findet sich in Kalonymos online als PDF).

Beinahe 1000 Einträge enthalten dieses pauschale Verbot, das in hohem Maß jüdische Autoren traf: »sämtliche Schriften« heißt es auch bei Arnold und Stefan1 Zweig. Autoren wie Ferdinand Lassale, Karl Marx, Karl Liebknecht oder die Schriftstellerfamilie »Mann« traf das Verdikt »Sämtliche Schriften von und über …« Auch die Erinnerung an Rosa Luxemburg, sie wurde 1919 ermordet, suchte man so völlig auszuradieren. Und wenn die Bücher nur ein Vorwort eines verbannten Autors enthielten, wurden sie aus dem Verkehr gezogen. Ebenso pauschal konnte die »Gesamtproduktion« eines Verlages betroffen sein, oder etwa die »Forum-Bücher« der Exilverlage.

Das bedeutet natürlich auch, dass ein Großteil der betroffenen Bücher in der Liste gar nicht explizit genannt wird — spurlos verdrängt. Bezogen auf die einzelnen Buchtitel sieht man hier tatsächlich also nur die »Spitze des Eisbergs«. Gerade diese Unübersichtlichkeit und Heterogenität der Daten ist eine Herausforderung, verlangt nach einer »Statistik der Abwesenden«, wie es Heinrich Silbergleit in einem anderen Zusammenhang formulierte.

Was an Schrifttum ist durch die NS-Verfolgung bis heute untergegangen ? Sind Titel in OPACs nachgewiesen oder gar als Digitalisate verfügbar ? Lassen sich die gerissenen Lücken sichtbar machen ? Kann man eine Übersicht über die Gesamtheit dieser Werke, durch Verknüpfung mit anderen Datenbanken, herstellen ? (Wie) lässt sich das Ausmaß erfassen, begreifbar machen, vielleicht visualisieren ? Sind die Regale je wieder aufgefüllt worden ? Neuausgaben erschienen ? Oder sind die Autoren doch meist vergessen ? Was war ihr Schicksal ? Solche und andere Fragen wurden lebhaft diskutiert bei der Präsentation der Datenbank. Das rege Interesse sieht man an den Aktivitäten im sogenannten Hackdash von Coding da Vinci und auf die Ergebnisse des »Hackathons« darf man gespannt sein. @LebendigeListe ist eines der Projekte — ihr kann man schon jetzt auf Twitter folgen.

Bibliografische Daten sind Forschungsdaten! Importiert man die Liste in den DARIAH-DE Geo-Browser (die »Spitze des Eisbergs« erinnernd), lassen sich die ca. 4500 Datensätze erstaunlich leicht überblicken, erkennt man auf einen Blick den zeitlichen Schwerpunkt: ein Großteil der Verbote betrifft Literatur, die in den 1930er Jahren erschienen war. Vor 1918 sind Bücher in deutlich geringerer Zahl betroffen, mit Beginn der Weimarer Republik steigen die Zahlen an. Ebenso klar erkennbar ist, dass oppositionelle Literatur zunehmend weiter auf Deutsch, aber im Ausland erschien, insbesondere auch in der Schweiz. Und damit einhergehend wird natürlich auch die radikal verlaufende ›Gleichschaltung‹ in Deutschland grafisch sichtbar. Zusammenhänge, die man kennt, die aber durch  die interaktive Analyse und Visualisierung  erheblich an Präsenz gewinnen. Um so mehr würde es Sinn machen, das umfangreiche Schrifttum, das von den Pauschalverboten betroffen war, auch in eine solche Datenbank zu integrieren und dadurch sichtbar zu machen.

 

  1. In der Liste falsch »Stephan«

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/296

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Eine Blase ist geplatzt: Der Aufruhr von 2011 (Teil 1) von Carlos Resmerk

Der Artikel blickt zurück auf die Geschehnisse des „Protestjahrs“ 2011, als spontane Mobilisierungen in ganz verschiedenen Ländern aufeinander folgten und die „Macht von unten“ für einen Moment mehr als ein schwer greifbares Schlagwort wurde. Die erstaunlichen Ähnlichkeiten in Dynamik, Ausdrucks- … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/6798

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Erschließung von Beziehungsgeflechten mit MidosaXML – Teil 1: Einleitung

Vorbemerkung

Dieser Text entspricht weitgehend den neuen Erschließungsrichtlinien des Universitätsarchivs Bayreuth, deren Erarbeitung im Juni dieses Jahres vorläufig abgeschlossen wurde. Sie sind den konkreten Umständen geschuldet, die die Praxis im Universitätsarchiv beeinflussen und können sicher nicht ohne Weiteres auf die Verhältnisse anderer Archive unverändert übertragen werden. Das Universitätsarchiv in Bayreuth ist sehr jung, das vierzigjährige Jubiläum der Universität steht 2015 ins Haus und will gefeiert werden, die laufenden Aussonderungen sind jeweils die ersten überhaupt und der Personalbestand, aus dessen Reichtum die damit verbundenen Aufgaben zu bewältigen sind, ließe sich aus medizinisch-anatomischen Gründen kaum noch reduzieren. Das Provisorium des Leistbaren auf eine solide und strategisch zielorientierte methodisch einwandfreie Basis zu stellen, war die große Herausforderung der vergangenen sechzehn Monate, und das insbesondere hinsichtlich des Gebiets der archivischen Erschließung. Mit einem gewissen Stolz konnte das Archiv Anfang Mai bekannt geben, dass mit Ausnahme der ältesten Bestände das gesamte Archiv, also alle Zugänge seit seiner Errichtung, mit Hilfe von Online-Findmitteln recherchier- und benutzbar ist. Dies war nur dadurch möglich, dass das Archiv mit einem parallelen Findmittelsystem arbeitet, das sich in Archivrepertorien und Akzessionsverzeichnisse unterteilt, wobei beide akkurat und für die Öffentlichkeit bestimmt geführt werden. Auf diese Weise konnte das Universitätsarchiv mittels eines umfassenden Akzessionsverzeichnisses und eines zusätzlichen vorläufigen Findbuchs für die Verwaltungsbestände den Zugriff auf alle Bereiche seines Magazins innerhalb kürzester Zeit ermöglichen. Die Findmittel befinden sich auf der Internetpräsenz des Universitätsarchivs www.uni-bayreuth.de/universitaetsarchiv und im Archivportal Europa (www.archivesportaleurope.net).
Da im Universitätsarchiv aus mehreren stichhaltigen Gründen bislang keines der großen Archivinformationssysteme eingeführt wurde, muss es sich bei der Erschließung mit einer Übergangslösung behelfen. MidosaXML heißt das „Zauberwort“, das diese Not zur Tugend werden ließ. Dutzende von Archiven haben in den letzten beiden Jahrzehnten diese für kleinere und mittlere finanzschwache Archive entwickelte und modernen Erschließungsstandards als Minimallösung weitgehend entsprechende Software bei sich eingeführt. Im Universitätsarchiv Bayreuth wurde nun ein Versuch unternommen, die eigenen Ansprüche an eine moderne Methode der Erschließung mit den Möglichkeiten einer weitverbreiteten, allein auf die Erschließungstätigkeit fokussierten Standardsoftware in Einklang zu bringen. Natürlich konnte das Ergebnis nur ein Kompromiss sein. Die Ergebnisse aus der Anwendung dieses Kompromisses sind so angelegt, dass sie von Software mit umfassenderen Möglichkeiten auf der Grundlage erprobter Austauschformate nachnutzbar sind und weiter vervollkommnet werden können.

A. Einleitung

Die Grundlage für die Erschließung im Universitätsarchiv Bayreuth ist ein Metadatenmodell, das auf der obersten Ebene aus den Entitäten „Akteure“, „Funktionen“, „Archivgut“ und „Repositorium“ besteht. Für jede der Entitäten hat der Internationale Archivrat (ICA) Beschreibungsstandards veröffentlicht. Sie bilden den Orientierungsrahmen für die Erschließungsrichtlinien.

 

Institutionelles Provenienzprinzip

Mit der ISAD(G)-konformen oder an diesen Standard angelehnt normierten Erschließungspraxis wird Archivgut in Kontextkategorien beschrieben und präsentiert. Traditionell bildet die Erschließung primär den Kontext der körperschaftlichen Provenienz ab, indem die Abgrenzung und Gliederung der Archiveinheiten der unterschiedlichen Verzeichnungsstufen von der Absicht bestimmt ist, die Einheit und Struktur von Schrifgutbildnern im Archiv und in den Findmitteln zu spiegeln. Auf diese Weise verfolgt die Erschließung das Ziel, den Entstehungszusammenhang von Archivgut transparent und methodisch einfach nachvollziehbar zu machen, woraus sich für den Nutzer eindeutige Kriterien für eine erfolgreiche Recherche ableiten lassen.

Durch die Integration von Angaben zu Vorprovenienzen in die Verzeichnung nähert sich die Erschließung einer weiteren Kontextbeschreibung. Das Augenmerk richtet sich dabei auf die Dokumentation der historischen Entwicklung des ursprünglichen Gebrauchs der Unterlagen, bevor sie ins Archiv gelangten. So geben die Informationen über Provenienzen Auskunft über die Entstehung und Nutzungsgeschichte des Archivguts.

Funktionen im Findmittelsystem

Fragt man danach, wofür Archivgut ursprünglich gebraucht wurde, so fragt man nach Funktionen und Aufgaben der Schriftgutbildner, deren Wahrnehmung die Entstehung von Unterlagen verursacht hat. Johannes Papritz forderte, dass die archivische Titelaufnahme „allein auf Erkenntnis und Wiedergabe des Entstehungszweckes ausgehen“ dürfe.[1] Diese Form der Verzeichnung kommt der Beantwortung der Frage schon sehr nahe. Indem bei der Verzeichnung der Betreff einer Archiv- oder Archivalieneinheit wiedergegeben wird, spiegeln sich dabei idealerweise die Funktionen, die der Schriftgutbildner im Einzelnen wahrgenommen hat, und zwar unabhängig davon, ob er dazu ein Mandat hatte oder nicht. Funktionen und Mandate bilden einen Kontextbereich, den zu kennen für das Verständnis von Archivgut essentiell ist. Auf seine Darstellung und Recherchierbarkeit muss die archivische Erschließung daher besonderen Wert legen. Eine Annäherung in der Formulierung der Titel reicht dafür nicht aus. Die Funktion muss klar und einheitlich an einer dafür bestimmten Stelle im Findmittel(system) benannt werden. Um sie übergreifend recherchierbar zu machen, muss ihre Bezeichnung und Beschreibung in standardisierter Weise erfolgen. Die traditionelle Erschließung sieht das nicht vor.[2] Auch ISAD(G) beinhaltet außerhalb des weiten Sektors der Verwaltungsgeschichte (Abschnitt 3.2.2) keinen klar definierten Bereich für die Aufnahme von Funktionen. Im derzeitigen EAD-Profil der Software MidosaXML ist seit einiger Zeit ein „Kompetenzenindex“ verfügbar, der in XML als <function> kodiert wird. Im APEx-Projekt wird die Integration von Funktionen ins Findmittelsystem diskutiert. Ein EAC(CPF)-Profil, das derzeit für das Archivportal Europa erarbeitet wird, beinhaltet demnächst ebenfalls ein <function>-Feld. Jedoch hat sich die parallele Erschließung von Archivgut in EAD- und Beschreibung von Schriftgutbildnern in EAC-Normdateien in Deutschland bislang nicht ansatzweise durchgesetzt. Als Instrumentarium müsste demnach zur Beschreibung jenes Kontextbereichs bis auf Weiteres eine geeignete Stelle innerhalb des klassischen Findbuchs dienen, möglicherweise in einer Art, die der derzeitigen Lösung in MidosaXML ähnelt oder entspricht.

Die skizzierten und in gegenseitiger Wechselwirkung stehenden Kontextbereiche „Entstehung“, „Gebrauch“, „Funktionen“ werden bei der traditionellen Erschließung in der Findbucheinleitung dargestellt. Die Entstehungs- oder Verwaltungsgeschichte (bei Nachlässen die Biographie), die Bestandsgeschichte sowie der Abschnitt über die Ordnung des Bestands sind die dafür einschlägigen Kapitel.

Den Hauptteil des klassischen Findbuchs bildet die Titelliste oder das Inhaltsverzeichnis eines Bestands. Durch seine klassischerweise hierarchische Strukturierung priorisiert es bestimmte Kontextkategorien gegenüber anderen. Ist der Bestand nach solcher Manier äußerlich durch die Gemeinsamkeit der institutionellen Provenienz abgegrenzt, so wird er nach innen gewöhnlich entweder nach oder in Orientierung an dem Registratur- oder dem Fondsprinzip gegliedert.

Bestand als beziehungsbegründetes Konzept

Ob zuerst der Auftragsnehmer oder der Auftrag existierten, ist so unerheblich wie der gleichartige Streit über die Existenz von Henne und Ei, wenn es darum geht, Bestandsabgrenzungskriterien zu formulieren. Immerhin ist es nicht vorstellbar, dass Archivgut nicht aus der Wahrnehmung einer definierbaren Aufgabe oder Funktion entstanden ist. Genauso unvorstellbar ist es, dass bei der Entstehung des Archivguts – und damit bei der Ausübung einer entstehungsursächlichen Funktion – kein Akteur beteiligt gewesen sei. Die Abgrenzung eines Bestands nach institutioneller oder funktionaler Provenienz sollte demnach zwei gleichberechtigte, sich gegenseitig ergänzende Alternativen für die Tektonik eines Archivs bedeuten. Indem diese Gleichberechtigung anerkannt wird, wird offenbar, dass es letztlich Beziehungen und Beziehungsformen sind, die einen Bestand als solchen abgrenzen und definieren. Die vielseitigen Entstehungs- und Nutzungskontexte eröffnen aber eine Vielzahl weiterer provenienzbegründeter Kontextkategorien, so dass die Tatsache, dass ein Archivale einer kaum begrenzbaren Zahl von Beziehungsgemeinschaften angehören kann, zur Kausalität dafür wird, dass der Bestandsbegriff ein konzeptualer ist, nicht aber eine fixe physische Aggregation von Archivgut meint. Es ist nicht zwingend nötig, seitens des Archivs bestimmte Kontextkategorien durch die Bildung von Tektonikstrukturen zu priorisieren. Sofern die technischen Voraussetzungen gegeben sind, kann die Generierung von Textoniken, von Beständen und Bestandsstrukturen auf der Grundlage von nutzungsvorhabensspezifischen Beziehungspriorisierungen weitgehend oder ganz dem Nutzer überlassen werden.[3] Bis auf weiteres wird das Universitätsarchiv aber Tektoniken erzeugen und sie als (Einstiegs-)Angebote zur Verfügung stellen.

Indexierung und Charakter der Verzeichnungsstufen

Um Beziehungsgemeinschaften visualisierbar mit Hilfe einfacher Erschließungswerkzeuge zu erfassen, kann man sich mit einer umfänglicheren Indexierung behelfen. So sollte jede Verzeichnungseinheit mindestens mit Angaben zu End- und zu Vorprovenienzen sowie zu Funktionen, Subfunktionen und Aufgaben, die für die Entstehung des Archivale ursächlich waren, versehen werden. Damit wird gewährleistet, dass eine virtuelle Ordnung des Bestands wenigstens nach Funktionen und Provenienzen auch bestandsübergreifend und auf der Basis der Verzeichnungsdaten jedes einzelnen Archivale (und nicht nur auf der Grundlage von Verzeichnungsdaten auf der Ebene des Bestands) ermöglicht werden kann. Auch ist das die Basis dafür, dass die Archivalien in ein Recherchesystem eines Conceptual Reference Model (CRM) sinnvoll einbezogen werden können, was bei der Bereitstellung der Erschließungsdaten in Portalanwendungen eine Rolle spielen kann. Um Archivgut zahlreichen Relationen eindeutig und darstellbar zuordnen zu können, ist es wichtig, die Verzeichnungseinheiten nicht zu weitläufig abzugrenzen, sondern eine Definition in eher kleineren Einheiten vorzunehmen, ggf. mit Untereinheiten wie File und Subfile oder Akt und Vorgang zu arbeiten. Es sollte bedacht werden, dass die Einrichtung einer Klasse oder Gliederungsstufe nach Möglichkeit nicht den Rang einer Serie einnimmt, sondern dass sie der angewandten Seriendefinition gerade nicht entspricht. Während eine Serie als archivalische Kompositionsstufe eine genuine Archivalien- oder Archivguteinheit darstellt, ist die Klasse oder Gliederungsstufe eine sekundär definierte Archiveinheit. Wird eine Registraturtektonik als Bestandstektonik übernommen, ist zu prüfen, ob die dadurch entstehenden Klassifikationseinheiten den Rang von Archivgutkompositionen haben. Dann sollen sie wie Kompositionsstufen behandelt und ggf. als Serien verzeichnet werden. Andernfalls dienen sie der Erhellung des weiteren Nutzungskontexts und spiegeln die Verwaltung und Organisation des Records Management und seine Grundsätze.[4] Als solche sind sie keine Kompostionsstufen von Archivgut, sondern Kontextinformation zur Bestandsgeschichte, die der Erläuterung der ursprünglichen Ordnung und Nutzung dient. Sie werden bei der Verzeichnung als Altsignaturen mit den dazu gehörenden Erläuterungen und in den Verweisen auf Registraturschemata festgehalten. Sobald der Archivar demnach eine Einheit zu verzeichnen hat, die als Ganze eine Komposition darstellt, die selbst als Archivale (und nicht als Tektonikeinheit) verstanden werden soll bzw. muss, soll er in MidosaXML mit den Verzeichnungsstufen Serie, Akt und Vorgang arbeiten und Klasse und Teilbestand nicht verwenden. Die Klassifikation aus Tektonikeinheiten des Archivs bzw. der Registratur soll sich im Index und in den Sortierfeldern befinden (analog einer externen Klassifikation, wie sie teilweise in anderen Softwareprodukten üblich ist; vgl. das frühere MidosaOnline).

Kleinste funktionale Einheit als kleinste Identifikationseinheit

Als nächstes gilt es abzuwägen, ob das Verhältnis von Serie und Akt oder von Akt und Vorgang jeweils besser geeignet ist, um dem Ziel der Verzeichnung im Einzelfall zu entsprechen. Dabei muss man sich von der Vorstellung lösen, dass die deutsche Bezeichnung dieser drei Verzeichnungsstufen mit den gleichnamigen Kompositionsstufen von Archivgut identisch sein müsse. Besser entsprechen die englischen Begriffe Series, File und Subfile einer neutralen Terminologie der Verzeichnungsstufen. In der Praxis werden die für Signaturen vorgegebenen Einstellungen der benützten Erschließungssoftware Einfluss auf diese Entscheidung haben. Daher sollte man sich mit seinem Softwareanbieter abstimmen, ob Signaturfelder auf den Ebenen Serie, Akte und Vorgang vorhanden sind und ob sie – idealerweise – optional aktiviert oder deaktiviert werden können. Die Vergabe von Signaturen ist geeignet, ein Archivale im Findmittelsystem als nicht mehr weiter aufzuspaltende Einheit zu konstituieren. Das kann Folgen für die Zuordnungen von Funktionen und Beziehungen haben. Sie können für tiefere Kompositionsebenen des mit einer Signatur versehenen Archivale nicht mehr mit eindeutig identifizierbarem Archivgut verknüpft werden. In der digitalen Archivierung ist dies bei der Abgrenzung der AIPs zu bedenken. Geht man von der Annahme aus, dass es das Wesen von Akten (records) sei, einzelne Handlungen (transactions) oder bloße Informationsfixierungen (documents) in eine inhaltliche und zielgerichtete Beziehung zueinander zu setzen, ja dass dadurch erst Akten entstehen und als solche bezeichnet werden können, so ergibt sich daraus die Notwendigkeit, als kleinste unteilbare archivalische Einheit den Umfang vorgangs- oder gar nur dokumentenartigen Niederschlags zu identifizieren (und demzufolge mit einem Identifikator zu versehen), der vollständig aus der Wahrnehmung je einer von potentiell gleichzeitig beliebig vielen ebenso zutreffenden Funktionen (oder Subfunktionen) entstanden ist. Die Vielzahl der möglichen Relationen, die auf eine solche Archivalieneinheit zugreifen, ergeben die Vielzahl der „archival bonds“, in denen sie steht, und damit die Vielzahl konzeptualer Akten (records), die die Handlungen und Handlungskontexte der sich darin findenden Akteure greifbar machen.[5] Diese Zusammenhänge der Identifizierung von Archivalien- und Archiveinheiten lassen sich auch auf andere Kompositions- und Verzeichnungsstufen übertragen. Die Identifikation von kleinsten funktional bestimmten Kompositionsformen und die Identifikation ihrer archival bonds können als die beiden Pfeiler gelten, die die Praxis der archivischen Erschließung bestimmen sollen. Archivische Erschließung schafft auf diese Weise die Voraussetzungen für ein endnutzerorientiertes digitales Informationsmanagement. Hier werden pragmatische Kompromisse einzugehen sein, so dass diese Wegweiser eher strategischen oder Grundsatzcharakter hinsichtlich der Formulierung der Richtlinienspezifikationen für die jeweiligen Erschließungsvorhaben beweisen werden.

Instrumente für die Erschließungspraxis

Um archivische Erschließung in der Praxis (bereits kurzfristig) ausführen zu können, werden folgende Instrumente benötigt:

  1. Identifikation von Funktionen:
    Die Funktionen und Subfunktionen des Schriftgutbildners müssen ermittelt und beschrieben werden. Es muss festgelegt werden, mit welchem Begriff oder Sigel sie einheitlich in der Archivgutbeschreibung zitiert werden, zum Beispiel bei der Indizierung. Die Beschreibungen der Funktionen dienen als Normdatensätze. Deshalb ist es wichtig, den Prozess der Funktionsidentifikation mit gleichartigen Archiven oder Repositorien ähnlicher Schriftgutbildner zusammen anzugehen und die so entstandenen Normdateien übergreifend verfügbar zu machen (linked open data, ISDF).
  2. Identifikation von Akteuren und Akteursgruppen:
    Vor und während der Archivgutverzeichnung sind Akteure zu kennzeichnen, die in Normdatensätzen beschrieben und mit dem Archivgut verknüpft werden sollen. Die ausgewählten Akteure werden Beschreibungsobjekte des Findmittelsystems, indem ihre Beziehungen zu Funktionen und Archivgut ebenfalls beschrieben werden.
  3. Relationenkatalog:
    Zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Funktionen, Akteuren und Archivgut untereinander und innerhalb der eigenen Gruppe ist ein Katalog von Eigenschaften und Handlungen vonnöten. Zahlreiche Ansätze dafür sind in den traditionellen Findmitteln bereits in anderer Gestalt enthalten. So bedeutet die Inbeziehungsetzung von Provenienzstelle und Archivgut beispielsweise, dass eine Institution bei der Ausübung einer Funktion das Archivgut erzeugt hat. Wird hier die betreffende Funktion in den Kompetenzenindex aufgenommen, so sind die wichtigsten Aussagen über das Verhältnis zwischen einem Akteurs, einer Funktion und einem Archivale getroffen. Komplizierter wird es bei einer ebensolchen Beschreibung für einen Akteur, der nicht Schriftgutbildner ist und damit in die klassischen, den traditionellen Findmitteln inhärenten konkludenten Beziehungsmodelle nicht hineinpasst. Spätesten hier erscheint es sinnvoll, RDF-Komponenten in die Erschließungspraxis zu übernehmen.

Um mit der Erschließung im dargelegten Sinne kurzfristig beginnen zu können, kann zunächst auf den Relationenkatalog verzichtet und die wichtigsten Relationen über die Nutzung der üblichen Indextypen und Felder zur Provenienzangabe festgehalten werden. Insofern kann der Relationenkatalog zunächst mit einem Thesaurus der möglichen Indexbegriffe kompensiert werden.

[1] „Für die archivische Titelaufnahme bedeutet das, daß sie im Sinne des Provenienzprinzips und der sich daraus ergebenden Konsequenzen allein auf die Erkenntnis und Wiedergabe des Entstehungszweckes ausgehen darf. Entsprechen alte Titel ausnahmsweise dieser Forderung nicht, so müssen sie entsprechend verändert oder ergänzt werden.“ (Johannes Papritz, Archivwissenschaft, Bd. 3, Marburg, 2. Aufl., 1983, S. 265 (Nachdruck von 1998 = Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 3).

[2] Dies ist angesichts der großen Bedeutung, die den Funktionen Im Rahmen der Archivgutbeschreibung in der Archivwissenschaft seit langem zugemessen wird, umso erstaunlicher (vgl. u.a. bereits Jenkinson, Scott und viele andere).

[3] Vgl. hierzu den Hinweis Greg Bak’s (Continuous classification: capturing dynamic relationships among information resources, Archival Science (2012) 12:287-318; hier: S. 308)  auf die Rekonzeptualisierung von Provenienz in Chris Hurley’s Theorie von der parallelen Provenienz („parallel provenance“), nachzulesen u.a. in: Hurley, Parallel provenance (if these are your records, where are your stories?). – Online-Publikation des Autors, 2005: http://infotech.monash.edu/research/groups/rcrg/publications/parallel-provenance-combined.pdf.

[4] Peter Horsman bezeichnet die beiden Kontextbereiche als „Documenting“ einerseits und „Recordkeeping System“ andererseits und weist auf ihre gegenseitige Nähe und Verschränkung hin (Horsman, Wrapping Records in Narratives. Representing Context through Archival Description. – Bad Arolsen, 2011: https://www.its-arolsen.org/fileadmin/user_upload/Dateien/Archivtagung/Horsman_text.pdf).

[5] Vgl. Luciana Duranti: „Documents that are expressions of a transaction are not records until they are put into relation with other records, while documents that are not expressions of a transaction become records at the moment when they acquire an archival bond with other documents participating in the same activity.“ Die Generierung konzeptualer Akten findet sich bereits 1996 in der Argumentation von David Bearman, der forderte, dass Akten in elektronischen Dokumentenmanagementsystemen (DMS) erst auf eine spezifische Anfrage hin aus den einzelnen Dokumenten zusammengesetzt werden sollten (Bearman, Item level control and electronic recordkeeping. Arch Mus Info 10(3): 195-243). Clive Smith beschrieb den digitalen „virtual file“ bereits 1995: „In such an electronic environment, the correspondence file or dossier takes on a new dimension. It no longer exists physically, but only as a collection of electronic documents that are assembled through some search criteria, and it exists only as long as the search is maintained. A single document may participate in several such virtual files.” (Smith, The Australian series system. Archivaria 40:86-93; hier: S. 92). Dazu ist zu ergänzen, dass es entscheidend für die Aussagekraft des „virtual file“ ist, dass den von Smith erwähnten „search criteria“ geeignete und bei den „search“-Vorgängen fortzuschreibende Metadaten zugrunde liegen. In ähnlicher Tradition vertrat zuletzt u.a. Greg Bak die Ansicht, elektronischem Records Management und digitaler Archivierung entspräche wesensmäßig ein “item-level management” am besten (Bak, Continuous classification: capturing dynamic relationships among information resources, Archival Science 12.2012, S. 287-318).

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1758

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