Experimente im Textlabor #dhiha6

Dieser Blogpost entstand in Vorbereitung auf den Studientag “dhiha6 – Experimente in den Digital Humanities” und es dürfte nicht viele Mottos für Studientage geben, die besser zum Untertitel meines Blogs und dem von mir mit verantworteten System Tesla (Text Engineering Software Laboratory) passen dürften, ist es doch konzipiert als virtuelles Labor, um Experimente auf Texten durchzuführen. Texte sind darüber hinaus u.a. Studienobjekte der Digital Humanties (manche würden wohl gar behaupten, Texte wären die Untersuchungsobjekte der DH schlechthin). Tatsächlich wurde Tesla als eines von vier virtuellen Laboren ausgewählt, die auf dem Studientag am 12.06.2015 in Paris vorgestellt werden dürfen.

Da ganze 90 Minuten für eine Präsentation und das Experimentieren und im Anschluss daran noch einmal die gleiche Zeit für die Klärung von Fragen zur Verfügung stehen, muss ich mir also einiges an Programm einfallen lassen, was ich dort alles vorführen kann. Das hieß erst einmal Gedanken sortieren und eine Mindmap anlegen (was mir schon des Öfteren geholfen hat, Dinge zu planen). (...)

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1344

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Gebrauchsspuren

bunker (6)

Bücher werden beim Lesen ständig auf- und zugeklappt, mit nicht gewaschenen Händen ungeduldig umgeblättert, mit Lesezeichen versehen, die allerlei Spuren hinterlassen. Seiten  werden für  Kommentare sowie persönliche Einträge benutzt, gelegentlich auch beschädigt und wieder repariert. Jahrhundertealte Bücher zeigen zahlreiche solche Gebrauchsspuren, die heute nicht nur vom wissenschaftlichen Bibliotheks- und Archivwesen, sondern auch von der Geschichtsforschung zunehmend als wertvolle Quellen erachtet werden. Sie gelten als Zeugen eines längst vergangenen und uns heute unbekanntes Alltags.

Das Header-Bild dieses Blogs – als Ausschnitt aus einem größeren Foto (Quelle) etwas unscharf – zeigt an den Buchrücken deutliche Spuren eines häufigen Gebrauchs der Drucke aus dem 16. Jahrhundert zur griechischen und lateinischen Literatur der Antike. Am unteren Ende der Rücken, besonders in der Mitte des abgebildeten Regalbretts, lässt sich eine Verdunkelung erkennen. (Read more...) Es handelt sich um Verschmutzungen der zeitgenössischen Einbände aus Schweinsleder durch Hautfett, das den Lesern gehörte. Schweinslederne Einbände sind porig und speicherten im Laufe der Zeit den durch Feuchtigkeit und Fett der zugreifenden Hände gebundenen Staub. Gelegentlich halten ungeübte Augen diese Griffspuren für unschön oder für Schimmel; auf einem sonst intakten Einband bezeugen sie heute vielmehr den Grad der Beschäftigung mit einem Werk, mit einem Buchexemplar: es wurde von den Lesern mehr oder weniger begriffen.

Die Quart- und Oktavformate der Frühen Neuzeit wurden mit einer Hand gehalten, mit der anderen Hand wurde umgeblättert. Warum die Bücher beim Lesen nicht auf dem Tisch lagen, erklärt sich, wenn man sie heute öffnet: die originalen Einbände des 16. Jahrhunderts sitzen stramm, ohne Gewalt lässt sich ein Buchblock nur bis maximal 90° aufblättern. Die Signaturfähnchen der Bände in unserem Header-Bild sind auf den verschmutzten Stellen der Rücken angebracht und zeigen die Handschrift von Dr. Hans Haupt (1911-1993), ab 1947  Lehrer am Christianeum in Hamburg und  bis zu seiner Pensionierung 1976 auch Bibliothekar.1

melber.vocabulario.manicula.nach1483Heute markieren wir uns im Buch gelegentlich am Rand Stellen durch einen Strich. Die Leserschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bevorzugte die Ausführlichkeit (die Lust?) ihrer Schreibfedern: sie malte sich gern einen Zeigefinger an der Text. Mit oder ohne Talent gebar das durchaus komplexe Zeichen, genannt manicula, kreative Lösungen, wie zum Beispiel die Anmutung eines umgestülpten Pilzes.2

Unübertrefflich ist die Vielfalt, in der sich Leser im Laufe von Jahrhunderten in den gedruckten Büchern seit der Frühen Neuzeit (gar nicht so selten auch in den handschriftlichen Werken des Mittelalters) zu verewigen wussten. Den Glossen produzierenden Händen, die man zuweilen Personen namentlich zuordnen kann, wird heute angesichts Aufsehen erregender Entdeckungen gedankt, wie zum Beispiel im Fall der Annotationen in einer Heidelberger Inkunabel: Die handschriftlichen Einträge auf dem unbedruckten Rand neben dem Satzspiegel belegen die Identität von Leonardo da Vincis weltbekannter Mona Lisa, einer Florentiner Dame der Gesellschaft.3

Enzinas Historia 004Bücher sind gewandert, sowohl als sie noch mit der Hand geschrieben wurden, aber auch insbesondere als sie gedruckt und deshalb sensationell beweglich geworden waren. Infolge wurden Bücher zu einem wertvollen persönlichen Eigentum und deshalb für ihre Besitzer ebenso zum Geschenk wie zum verkäuflichen Wertobjekt. Von der nicht selten langen Reise eines Buchs zeugen die oft zahlreichen Einträge seiner Besitzer, die außer ihrem Namen gelegentlich auch die Umstände ihres Besitzes dokumentierten und damit heute über die persönlichen Beziehungen einer nicht nur gelehrten Welt seit Jahrhunderten Aufschluss geben können.4

cod_altonensis_0141_v_dinA4Leser neigen dazu, nicht ins Bett zu finden und überm Buch einzuschlafen, zu Zeiten des Lesens bei Kerzenlicht mit manchmal fatalen Folgen. Davon zeugen die Brandlöcher in zahlreichen Handschriften und alten Drucken: die Kerze fällt um, stolpert übers aufgeschlagenen Buch und die Flamme verzehrt unverzüglich Pergament wie Papier. Das verrußte Loch durch viele Seiten hindurch bleibt. Manchmal setzte das Malheur umgehend die Feinmechanik der Reparatur in Gang. Im Codex Altonensis, der italienischen Pergamenthandschrift der Comedia des Dante aus dem 14. Jahrhundert, findet sich ganz hinten im Paradies ein Flammenfraß gleich durch mehrere Lagen; er wurde bei jedem Blatt durch Pergamentflicken mit Textergänzung repariert.5 Dieser vor Jahrhunderten enstandene und offenbar zeitnah versorgte Schaden könnte die Erklärung (und damit auch eine Datierung) bergen, warum die Pergamentlagen eine opulente Illustration des Inferno von einer Hand zeigen, das Purgatorio erkennbar von mehreren Händen illustriert wurde und das Paradiso nach einer Reihe von Vorzeichnungen am Ende gänzlich unbebildert blieb. Heute bietet uns der Schaden einen Beleg für die Arbeitsweise norditalienischer Skriptorien des späten Mittelalters: der Text wurde zuerst erstellt bis zum Schlußvermerk des letzten Schreibers, und zwar mit Freiplatz für die Illuminierung, die Malerei indes folgte zeitlich in deutlichem Abstand.

lesezeichenschaden.klio.mommsen.3Manchmal scheinen die Bücher irgendwann in den Dornröschenschlaf gefallen zu sein; eingelegte Halme und andere pflanzliche Merkhilfen bildeten über Jahrhunderte, gewichtig gepresst, die eigenen Schatten aufs Papier. Lesezeichen in Form von Zetteln, insbesondere solchen aus jüngerer Zeit, wirkten indes zerstörerisch: unbemerkt zerfraß deren Säuregehalt innerhalb von Jahrzehnten das alte Hadernpapier.6

Bücher waren nicht selten der Gewalt ausgesetzt. In einer Inkunabel hat jemandem ein Holzschnitt gefallen (oder eventuell auch nicht gefallen?), und er hat ihn hastig herausgerissen, ein Eckchen blieb. Anschließend hat jemand (derselbe oder ein anderer?) den Schaden mit einem leeren Blatt repariert und den fehlenden gedruckten Text, einschließlich des Seitenkopfs und der am Rand gedruckten Marginalien liebevoll mit der Hand nachgemalt; das leere Bildformat wurde mit dem Lineal aufgezeichnet. Die Handschrift verweist auf eine Reparatur des 18. Jahrhunderts. Das vom Bild verbliebene Eckchen macht anhand heutiger Digitalisate den Verlust sichtbar und eindeutig identifizierbar. 7

stultifera.navis.fehlstelle (2)

Kleiner Epilog

In einer Inkunabel fand ich mal ein platt gequetschtes, vollständig vertrocknetes, für mich nicht mehr erkennbares, aber anscheinend ursprünglich dickliches, zeckenartiges kleines Insekt, das eine Saftaura um sich herum hinterlassen hatte. Ich vergaß, mir die Fundstelle zu notieren; ich habe sie niemals wiedergefunden. 8

Weiterführende Lektüre

Moulin, Claudine,  Am Rande der Blätter. Gebrauchsspuren, Glossen und Annotationen in Handschriften und Büchern aus kulturhistorischer Sicht, in: Quarto, Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 30/31, 2010; S. 19-26 (online bei: academia.edu)

Schumacher, Meinolf,  …der kann den texst und och die gloß. Zum Wortgebrauch von ‚Text‘ und ‚Glosse‘ in deutschen Dichtungen des Spätmittelalters,  in: Ludolf Kuchenbuch und Uta Kleine (Hrsg), Textus’ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld,  Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006

Blogs mit Bildern

Erik Kwakkel: Voices on the Medieval Page (1): The Reader
Biblos: Manicula
Bibliotheca Altonensis: Marginalien
Flavorwire: Classic Books Annotated by Famous Authors

Abbildungen

Header: Quelle und Lizenz siehe Impressum dieser Seite
Alle übrigen: Bibliothek des Christianeums Hamburg, Archiv des Christianeums Hamburg, public domain

  1. Archiv des Christianeums Hamburg: Die Bibliothekare
  2. Abbildung und Erläuterung: Manicula, in: Melber, Johannes: Vocabularius praedicantinum. Nürnberg: Peter Wagner, 18.VIII.1483 GW M22708; bei: Bibliotheca Altonensis
  3. Armin Schlechter: Ita Leonardus Vincius facit in omnibus suis picturis. Leonardo da Vincis Mona Lisa und die Cicero-Philologie von Angelo Poliziano bis Johann Georg Graevius, 2008; bei: IASLonline
  4. Abbildung: eine Seite von mehreren mit Besitzereinträgen in Francisco de EnzinasHistoria de statu Belgico et religione Hispanica. Wittenberg 1545; Handschrift, Bibliothek des Christianeums Hamburg
  5. Codex Altonensis, ital., 14. Jahrhundert; Abbildung Bl. 141v; Bibliothek des Christianeums  Hamburg. Siehe auch: Bilder aus der Bibliothek: Flickwerk, 2009; Literatur zum Codex: Degenhart, Bernhard, Die kunstgeschichtliche Stellung des Codex Altonensis, in: Divina commedia. Codex Altonensis (Faksimile), Bd. 2, Mann, Berlin 1965; S. 67-126
  6. Siehe dazu: Lesezeichen,  bei: bibliotheca.gym
  7. Siehe dazu: Holzschnitt gefällig?  bei: Bibliotheca Altonensis und das verlorene Bild
  8. Liste der Inkunabeln in der Bibliothek des Christianeums Hamburg, via Schulhomepage: Zum Bestand und dessen Erfassung

Quelle: http://histgymbib.hypotheses.org/838

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Papierkrieg gegen Napoleon


Diplomatische Note, 1815 März 29, NLA - Hannover - Dep. 110 A Nr. 53
Diplomatische Note, 1815 März 29, NLA – Hannover – Dep. 110 A Nr. 53. Vorschau, zur Vollansicht auf den Seiten des Archivs bitte klicken.

Das Niedersächsische Landesarchiv hat auf seiner Website ein schönes Aktenstück online gestellt (via Augias.Net). Es führt uns in die dramatische Pause des Wiener Kongresses, als im März 1815 Napoleon aus dem Exil zurückkehrte. Die Kollegen in Hannover haben den historischen Zusammenhang dargestellt. Hier geht es, natürlich, um aktenkundliche Fragen.

(Read more...)
Ausschnitt 1: Halbbrüchige Beschriftung
Ausschnitt 1: Halbbrüchige Beschriftung

Der erste Eindruck: halbbrüchig beschrieben. Abgesehen von dem Anlagenstrich oben auf S. 1 und der Innenadresse unten auf S. 2 bleibt die linke Spalte leer. Halbbrüchigkeit ist charakteristisch für Entwürfe jeglicher Art und für Berichte an vorgesetzte Instanzen. Hier handelt es sich aber um eine relativ sauber geschriebene Ausfertigung, die – nun geht es an den Inhalt – zwischen Unterhändlern verschiedener Staaten auf dem Wiener Kongress gewechselt wurde. Die Streichung auf S. 2 ist allerdings ungewöhnlich und deutet auf große Eile hin. Gerade in der Diplomatie werden Schriftstücke gewöhnlich besonders sorgfältig ausgefertigt.

Ein Schriftstück der Mitteilung unter Gleichgeordneten also. Die großzügige Aufteilung des Blatts ist Teil des besonderen Zeremoniells, das diplomatische Schriftstücke bis heute auszeichnet. Der genaue Schriftstücktyp ergibt sich aus den Formularbestandteilen, genauer: aus der Eingangsformel “Les Soussignés ont reçu l’ordre de communiquer” …

Ausschnitt 2: Eingangsformel
Ausschnitt 2: Eingangsformel

… und der Schlussformel “Les Soussignés ont l’honneur de présenter à Son Excellence l’assurance de sa haute considération”.

Ausschnitt 2: Schlussformel
Ausschnitt 2: Schlussformel

Damit handelt es sich um eine klassische diplomatische “Note”, einen Schriftstücktyp mit sehr reduziertem Formular, der im unpersönlichen Stil abgefasst wurde. In der besonderen Abwandlung der nicht unterschriebenen “Verbalnoten”, in denen Behörden statt Personen als Korrespondenten figurieren, gibt es die Noten bis heute. Als persönliche Korrespondenz wurden sie allerdings im frühen 20. Jahrhundert von Schreiben im Ich-Stil nach dem Formular des französischen Privatbriefs verdrängt (dazu demnächst Berwinkel 2015).

Noch genauer handelt es sich um eine Kollektivnote, denn es zeichneten mehrere Verfasser dafür verantwortlich. Und ganz genau muss es eine von mehreren Kollektivnoten mit größtenteils gleichlautendem Text gewesen sein, denn neben Hannover wurden auch die anderen deutschen und europäischen Staaten zum Beitritt zur Vier-Mächte-Konvention vom 25. März 1815 aufgefordert, dem Bündnis gegen Napoleon, um das es hier ging. In der Diplomatie spricht man passend von “Identischen Noten”.

Für ein Regest könnte man den Inhalt des Stücks so zusammenzufassen: Übersendung des Texts der Vier-Mächte-Konvention, Einladung zum Beitritt Hannovers und Bevollmächtigung der Unterhändler für die Verhandlungen zu diesem Zweck. Letzteres war essentiell bei völkerrechtlich bindenden Vertragsverhandlungen in Abwesenheit der Souveräne (Bittner 1924: 146 f.); deshalb auch die ausdrückliche Berufung auf die erhaltene Weisung in der Eingangsformel, mit der die Identität der Absichten von Souverän und Unterhändlern bekundet wird (vgl. Martens 1866: 62).

Moment. Der König von Großbritannien ermächtigt einen Unterhändler, Verhandlungen mit dem Vertreter des Königs von Hannover aufzunehmen?

Die Regierungsgeschäfte Großbritanniens und Hannovers blieben unter der 1714 begründeten Personalunion getrennt. In London gab es eine Deutsche Kanzlei mit einem Minister, der zwischen dem hier als König residierenden Kurfürsten (ab 1814 doppelt König) und der heimischen Verwaltung vermittelte. De jure wollte Georg III. (bzw. der Prinzregent, sein gleichnamiger Sohn) hier in der Tat über mehrere Ecken mit sich selbst verhandeln. Die staatsrechtliche Konstruktion zwang dazu.

Der hannoversche Unterhändler in Wien war just der Minister der Deutschen Kanzlei, Ernst Graf Münster. An ihn ist die Note Clancartys, Humboldts, Metternichs und Nesselrodes adressiert. Wäre das Stück außerhalb des archivischen Zusammenhangs überliefert, würden wir als Provenienz wohl den Aktenbestand dieser Kanzlei vermuten. Tatsächlich entstammt es aber dem auf Ernst Graf Münster zurückgehenden Teil des Münsterschen Familienarchivs, das heute am Standort Hannover des Niedersächsischen Landesarchivs verwahrt wurde.

Auch ohne den übrigen Inhalt jenes Aktenbandes mit der Signatur NLA – Hannover – Dep. 110 A Nr. 53 zu kennen, lässt sich mit einiger Berechtigung vermuten, dass es sich um Kommissionsakten handelt. Darunter versteht man Handakten, die ein Beamter auf eine auswärtige Mission mitnahm und nach deren Beendigung an die Registratur seiner Behörde zurückgeben haben sollte. Was häufig aber auch nicht geschah. Dann findet man Kommissionsakten, im Grunde entfremdetes dienstliches Schriftgut, eben in  Nachlassbeständen, hier als Teil eines Familien- und Gutsarchivs.

Literatur

Berwinkel, Holger 2015. Der diplomatische Schriftverkehr im 20. Jahrhundert. In: Archiv für Diplomatik 61. Im Druck.

Bittner, Ludwig 1924. Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden. Stuttgart.

Martens, Charles de [Karl von Martens 1866. Manuel diplomatique. Précis des droit et des fonctions des agents diplomatiques et consulaires […]. 5. Aufl, hg. v. M. F. H. Geffcken, Bd. 2. Leipzig/Paris. (Online – wie auch die erste Auflage von 1822, die näher an den Ereignissen ist, die Stilformen aber nur durch Beispiele erläutert.)

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/358

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Ein Fest für wen? Erinnern an den Krieg in Russland

“…der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat setzte sich fort. Von diesem Streit hing das Schicksal des Menschen, seine Freiheit ab”, schrieb Wassilij Grossmann in seinem Roman “Leben und Schicksal” und meinte damit, dass der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland nicht dank, sondern trotz Stalins Führung gewonnen wurde. Grossmanns Satz gilt auch für die heutige Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg in Russland. Am 9. Mai wird am Roten Platz in Moskau eine Militärparade abgehalten, um dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zu gedenken. Diese Form der Erinnerung an den Krieg, die sich allein auf den Sieg konzentriert, mag im 21. Jahrhundert anachronistisch erscheinen. Es stellt sich die Frage, warum im Gedenken an diesen Krieg, in dem die Völker der Sowjetunion unfassbare Menschenverluste erlitten, vorrangig das russische Militär geehrt und Waffen zur Schau gestellt werden, die Kriegsopfer hingegen nicht betrauert werden.

Unbestritten ist die Tatsache, dass der deutsche Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941 – 1945 für Russland verheerende Verluste brachte: Millionen starben an der Front, in der Kriegsgefangenschaft, auf den besetzten Gebieten, in den belagerten Städten. (...)

Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/48

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Der Kampf der Erinnerungen war gestern, oder wie sich Erinnerungskultur gegen den Strich denken lässt

Das englische Adjektiv „multidirectional“ ist ein ziemlich technischer Begriff. Auf gut Deutsch bedeutet er „Mehrrichtungs-“ oder „Mehrwegs-“ und als erstes kommt einem da die Mehrwegflasche in den Sinn. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg hat „multidirectional“ trotzdem auf Kultur angewandt. „Multidirectional Memory“ ist ein Versuch, Erinnerungskultur in mehrere Richtungen, sozusagen gegen den Strich, zu denken. Damit stellt „Multidirectional Memory“ ein Modell vor, das eine interdisziplinäre und transnationale Untersuchung von Erinnerungskultur stützt.

Erinnerungskultur, oder „memory“ – wie man im Englischen sagt, verarbeitet individuelle Erfahrungen kulturell zu Sinn und macht sie dadurch verständlich und bedeutsam (Kantsteiner 2002:189). Rothberg verwendet „memory” als Begriff für die soziale Praxis des Erinnerns. Es geht ihm um den Prozess des Wachrufens und Verdrängens, des Aktivierens und Blockierens von Erfahrungen.

Heute wird Erinnerungskultur häufig in den Kategorien „Opfer“ und „Täter“ gedacht (Vgl. Buruma 1999; Jureit / Schneider 2010; Schulze Wessel / Franzen 2012). „Opfer“ und „Täter“ sind dabei zu kollektiven und identitätsstiftenden Zuschreibungen geworden.

Rothbergs Ausgangsfrage lautete: Wie lässt sich die Beziehung zwischen verschiedenen Opfergeschichten neu erörtern?

Auf die Gedenkjubiläen im Jahr 2015 bezogen, könnte die Frage lauten: Welche Rolle spielt die Erinnerung an den Holocaust heute für die Erinnerung an den Genozid an den Armeniern? Oder welche Rolle spielt die aktuelle Verfolgung und Vernichtung der Jesiden aus dem Irak für die Erinnerung an den Genozid in Bosnien vor 20 Jahren?

Rothberg hat theoretische und literarische Arbeiten seit den 50er und 60er Jahren analysiert, die sowohl die Vernichtung der europäischen Juden als auch die Verbrechen während der Entkolonialisierung gleichzeitig verhandeln. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Annahme eines Wettbewerbs zwischen verschiedenen Opfergeschichten analytisch wenig gewinnbringend sei: “Against the framework that understands collective memory as competitive memory – as a zero-sum struggle over scarce resources – I suggest that we consider memory as multidirectional: as subject to ongoing negotiation, cross-referencing, and borrowing; as productive and not private.” (Rothberg 2009:3).

Die Annahme also, dass es einen Kampf der Erinnerungen gäbe, die um öffentliche Dominanz ringen, sollte hinterfragt werden. Denn dieser Annahme liegt die Überzeugung zugrunde, dass eine bestimmte Gruppe eine einzigartige Geschichte, Kultur und Identität habe. Nimmt man jedoch die Parallelen, Bezüge und Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen kollektiven Opfergeschichten in den Blick, so wird deutlich, dass ein exklusives Verständnis von kultureller Identität schwer haltbar ist. Mit einer derartigen Betonung der Interaktionen zwischen den Erinnerungsprozessen divergierender Gruppen trägt Rothberg dem Denken Rechnung, dass Gedächtnis und Identität keine klar umrissenen Gegebenheiten sind, sondern sich wandelnde, komplexe und immer wieder auch in Frage zu stellende kulturelle Phänomene bedeuten.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Rothberg verneint nicht die Existenz von Opferkonkurrenzen, sondern er weist auf die Notwendigkeit hin diese zu hinterfragen. Dafür entwickelt er ein dem Konkurrenzdenken gegenläufiges Modell: nämlich die Gemeinsamkeiten und Bezugnahmen zwischen verschiedenen kollektiven Opfergeschichten zu untersuchen.

Rothberg schlägt vor, die weltweite Erinnerung an den Holocaust als etwas zu verstehen, das andere Opfergeschichten nicht blockiert, sondern ihrer Artikulation dient. Dabei funktioniere die Bezugnahme der Geschichten jenseits ihrer zeitlichen und räumlichen Verortung – „multidirectional“. Ereignisse, die vor dem Holocaust stattgefunden haben, wie beispielsweise der Genozid an den Armeniern, oder auch danach, wie der Genozid in Bosnien und Herzegowina, werden mit Referenz aufeinander öffentlich erinnert.

Dabei geht es nicht darum, historische Ausmaße, Kontexte und Folgen in ihrer Faktizität zu vergleichen, sondern um den Akt der gegenwärtigen öffentlichen Artikulation. Es geht darum, dass etwas sagbar wird und zwar öffentlich, also kollektiv mitteilbar. Letztlich zielt diese öffentliche Artikulation der Opfergeschichten auf die kollektive Anerkennung des Leidens. Durch die Bezugnahme auf andere Opfergeschichten kann die Artikulation gestärkt werden.

Mit „multidirectional“ meint Rothberg aber auch, die Verbindungen zwischen der Benennung gegenwärtig stattfindender Missetaten und historischer Verbrechen zu reflektieren. Dies veranschaulicht er, indem er die Gleichzeitigkeit der Entkolonialisierung mit dem Aufkommen einer öffentlichen Holocaust-Erinnerung in den Blick nimmt. Während der Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem stattfand und die öffentliche Artikulation der Geschichten von Holocaust-Überlebenden förderte, tobte in Algerien der Unabhängigkeitskrieg mit der französischen Kolonialmacht. Rothberg setzt sich mit verschiedenen Beispielen auseinander, die zu jener Zeit Folter, Staatsterror und Vernichtung in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und während des Algerienkriegs behandeln. Die gerade stattfindende Gewalt und der Rassismus beeinflusste, insbesondere in Frankreich, die aufkommende öffentliche Erinnerung an vergangene extreme Gewalt und Ausgrenzung (Rothberg 2009:192).

Dass bei Rothberg die Entkolonialisierung im Zusammenhang mit der öffentlichen Thematisierung des Holocausts gedeutet wird, muss hier deswegen betont werden, weil etwa Aleida Assmann bereits in ihrer Auseinandersetzung mit Levy / Snayder 2007 vorgeschlagen hatte, die Holocaust-Erinnerung als ein Paradigma zu begreifen, auf welches sich andere Genozide und Traumata beziehen (Assmann 2007:14). Die umgekehrte Denkrichtung jedoch, also dass auch andere Verbrechen die Artikulation des Holocaust beeinflussen können, macht diesen Vorgang erst „multidirectional”.

Eine weitere Dimension der „Mehrseitigkeit“ von Erinnerungsprozessen unterfüttert Rothberg theoretisch, indem er sich auf Sigmund Freuds psychoanalytischen Begriff der „Deckerinnerung“ bezieht (Freud 1907). Freuds „Deckerinnerung“ beschreibt einen Vorgang, bei dem etwas Banales, Alltägliches im Detail erinnert wird und zwar um etwas Singuläres, Schwerwiegendes zu überdecken. Es geht darum, wie Erinnerung auch dazu verwendet werden kann, um etwas anderes zu verdrängen. Erinnern um zu vergessen, könnte man salopp formulieren.

Obwohl Rothberg kritisiert, dass Freuds Erkenntnisse aus der Individualpsychologie schwer auf Kollektive zu übertragen sind, gebraucht er „Deckerinnerung“, um auf die Mehrdeutigkeit von kollektiven Erinnerungsprozessen zu verweisen. Beispielsweise nennt er die weitreichende Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in den USA eine „Deckerinnerung“, welche die unangenehmen Erinnerungen an die Sklaverei und den Genozid an den eingeborenen Völkern abdämpfe (Rothberg 2009:195). Die englische Übersetzung von „Deckerinnerung“ als „screen memory“ weist aber über das bloße Überdecken und Filtern von Erinnerungen hinaus und schließt ein Projizieren und Raum-Geben mit ein.

Was bringt nun dieser Blick für das Gemeinsame verschiedener kollektiver Opfergeschichten?

Die Untersuchung der Verbindungen zwischen verschiedenen Opferartikulationen zeigt, dass es bei allen um die Erfahrung des Andersseins geht. Zweitens steht das Ringen um öffentliche Anerkennung der Anderen im Mittelpunkt. Drittens beschreibt Rothberg das Zeugnis-Ablegen als die wirkmächtigste Form um Gewalt aufzudecken. Der Umgang mit Differenz und die Beteiligung von marginalisierten Gruppen an dem, was öffentlich über die Vergangenheit eines Gemeinwesens verhandelt wird, sind folglich zwei Aspekte, die bei der Untersuchung von Erinnerungskultur aus transnationaler Perspektive eine wesentliche Rolle spielen.

Dabei besteht die Möglichkeit, dass sich Opfergeschichten und Opfergruppen gegenseitig unterstützen und nicht bekämpfen. So wurde die öffentliche Kundgebung zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern am 24. April 2015 in Istanbul von Kurden, Griechen und Assyrern breit unterstützt. Und in Bosnien und Herzegowina hat beispielsweise die Opferorganisation “Izvor” aus Prijedor zum Gedenken an den armenischen Genozid aufgerufen. “If memory is as susceptible as any other human faculty to abuse […] this study seeks to emphasize how memory is at least as often a spur to unexpected acts of empathy and solidarity; indeed multidirectional memory is often the very grounds on which people construct and act upon visions of justice.” (Rothberg 2009:19)

Rothbergs französische Version von „multidirectional memory“ lautet „nœuds de mémoires“ (Rothberg, Sanyal and Silverman 2010). Darin klingen phonetisch Pierre Noras „lieux de mémoires“ an, ins Deutsche übersetzt hieße „nœuds de mémoires“ so viel wie „Erinnerungsknoten“ oder verflochtene Erinnerungen.

Meines Erachtens geht es aber um mehr als um Verflechtungen. Es geht darum, Erinnerungskultur anders zu verstehen. Denkt man europäische Geschichte von ihren Zivilisationsbrüchen aus, so sollte neben dem Holocaust auch dem Kolonialismus Aufmerksamkeit zuteilwerden. Rothbergs „Multidirectional Memory“ veranschaulicht, wie sich dann unser Verständnis von Erinnerungskultur verändert. Durch die Betonung des Zeugnis-Ablegens als wirkmächtigste Form der Artikulation erfahrener Gewalt rückt er ins Zentrum, dass in einem derart komplexen Kontext die individuelle Erinnerung mehr Gewicht erhält. Erst eine öffentliche Artikulation des Zeugnisses jedoch macht es kollektiv wirksam. So erfolgt eine Pluralisierung von Erinnerungskultur und ihre Privatisierung wird verhindert. Das Zusammenfügen der individuellen Geschichten zu einem Narrativ aber ist dann nicht mehr das Ziel, sondern das Ziel wird die Betrachtung ihrer gegenseitigen Bezüge, „multidirectional“ eben.

Literatur

Assmann, Aleida. 2007. “Europe: A Community of Memory?” German Historical Institute Bulletin:11–25.

Buruma, Ian. 1999. The Joys and Perils of Victimhood.

Freud, Sigmund. 1907. Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube u. Irrtum, Berlin: Karger.

Jureit, Ulrike, and Christian Schneider, Hgs. 2010. Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart: Klett-Cotta.

Kantsteiner. 2002. “Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies” History and Theory. 41:179–197.

Levy, Daniel and Natan Snayder. 2007. Erinnerung im globalen Zeitalter: der Holocaust. 3870 : Suhrkamp Globalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rothberg, Michael. 2009. Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: Stanford University Press.

Rothberg, Michael, Debarati Sanyal, and Maxim Silverman, Hgs. 2010. Yale French studies, no. 118 & 119, Noeuds de mémoire. Multidirectional memory in postwar French and francophone culture, New Haven, Conn.: Yale University Press.

Schulze Wessel, Martin, and K. E. Franzen, Hgs. 2012. Schriften des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität, Bd. 5, Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München, Oldenbourg: Oldenbourg Verlag.

Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/55

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Der Hansetag von 1628 – ein Kölner Reisebericht, II

Was den politischen Kontext des Hansetags betrifft, haben wir bereits ausgeführt. Im Folgenden soll es nun um den Bericht der Kölner Gesandten selbst gehen. Auf das Thema Reisen in dieser Epoche sind wir schon einige Male gestoßen und haben die Risiken solcher Unternehmungen herausgestellt, etwa was die Reisen in die Niederlande betraf. Dies war Anfang 1628 nicht anders, und der Bericht atmet durchweg das Bewußtsein für die Gefährlichkeit der Mission. Gleich zu Beginn hält er fest, daß, „weil die Zeiten so gar unselig und gefährlich“, die beiden Gesandten von anderen Herren und Soldaten begleitet wurden. Von einer eigenen (schriftlichen) Salvaguardia ist hier nicht die Rede, doch kann man davon ausgehen, daß die Gesandten vom Kaiserhof, der auf die Kölner Teilnahme am Hansetag gedrängt hatte, auch entsprechende Dokumente erhalten hatten, die man im Falle eines Überfalls hätte vorzeigen können. Doch verließ man sich nicht darauf und brach selbst mit einem Gefolge, das eben auch Bewaffnete umfaßte, auf.

Wie angespannt die Lage war, zeigte sich dann im Münsterland, als die Kölner Reisegruppe zunächst nicht in ein Dorf gelassen wurde – die Bauernschaft schlug die Glocken an, offenbar in der Annahme, es handele sich um einen Trupp Militärs (was potentiell stets Unheil bedeutete). Einige Tage später erhielten die Kölner „ein neue Convoy“, wie es im Bericht hieß: Sie befanden sich nun in der Region, die von Truppen der Katholischen Liga kontrolliert wurde. Entsprechend wurde ihnen hier eine eigene (militärische) Begleitung mitgegeben. Dies verhinderte nicht, daß die Reisegruppe nur zwei Tage später auf „ziemlich trotzige Reiter“ traf. Es blieb aber wohl nur bei einer brenzligen Situation, die ohne Schaden vorüberging. Bei Bremervörde hielten die Reisenden dann an – die begleitenden „Convoyer“ waren übermüdet, und ohne sie trauten sich die Kölner nicht weiter „auch wegen starker Streiferei“ auf den Straßen.

Hier sahen die Reisenden allenthalben auch die Verwüstungen des Kriegs. Diese stellten nicht nur eine bedrückende Erfahrung dar, sondern machte auch das Fortkommen schwierig. Am Ende des Berichts verwiesen Wissius und Lyskirchen auf die Schwierigkeiten, Unterkunft zu finden, „weil fast alles abgebrannt“, sowie auf die „anderen vielen Ungelegenheiten“, mit denen man sich hatte arrangieren müssen.

Immerhin war den Kölnern nichts passiert. Die Gesandtschaft aus Wesel, die 1645 auch an der Nordseeküste unterwegs war, wurde damals von schwedischen Reitern aufgehalten, die Geld erpreßten. Auffällig ist allerdings die unterschiedliche Route: Die Weseler vermieden damals den Landweg nach Norddeutschland und fuhren über niederländisches Gebiet, erst bei Emden kamen sie wieder auf Reichsboden. Die Kölner im Jahr 1628 hielten den direkten Weg offenbar noch für kalkulierbar.

Entsprechend berichteten sie von all ihren Stationen. Dabei ging es nicht allein darum, die Route zu rekonstruieren. Vielmehr hielten die Gesandten genau fest, wie sie an bestimmten Orten aufgenommen wurden. Gleich in Dortmund wurde den Kölnern eine ehrenvolle Aufnahme zuteil: Sie erhielten vom Rat der Stadt Fisch und Wein, der Bürgermeister, der Syndicus und ein Secratarius statteten der Gesandtschaft einen Besuch ab. So gehörte sich das, denn auch Dortmund war Reichsstadt wie Köln, ja Dortmund war auch Mitglied der Hanse, in früheren Zeiten mal ein führendes Mitglied der westfälischen Hansestädte, doch irgendwann hatte Köln alle überrundet. Verbunden waren beide Städte auch durch ihre politische Ausrichtung, denn beide verfolgten einen Neutralitätskurs bei möglichst enger Anlehnung an den Kaiser – was Dortmund als lutherischer Reichsstadt schwerer fiel als Köln. Doch darum ging es hier nicht, wichtig war der diplomatische Umgang mit Gleichgestellten, und hier machte Dortmund alles richtig, wenn die Stadt komplementär zu Lyskirchen und Wissius auch ihren Bürgermeister und ihren Syndicus abordnete. (zu Dortmund ganz knapp die Geschichte der Stadt von 1994,hier S. 130 und S. 190-192)

Es ging in diesem Reisebericht vor allem um genau diese Begegnungen. Die Kölner Gesandten referierten, in welcher Art sie wo aufgenommen wurden – all dies zeigte, welches Prestige Köln im Reich besaß, welche Ehre man den Vertretern dieser Stadt zukommen ließ. Es ging also nicht primär um Serviceleistungen für die Gesandten, sondern die Ehre, die Lyskirchen und Wissius zuteil wurde, widerfuhr der Stadt Köln selbst. Genau deswegen verzeichneten sie auch penibel die Aufnahme in Hamburg – auch eine bedeutende Hansestadt, die politisch aber sicher nicht so kaiserfreundlich einzuschätzen war. Bei der Ankunft gab es „das ordinari Präsent und Congratulation“; später, als Ratsvertreter ihren Besuch machten, kamen noch „besondere(.) Wein Präsente(.)“ dazu. Schon zuvor wurde vermerkt, daß man in Bremen „gleich in vorigen Städten das ordentliche Präsent und Congratulation“ erhalten habe: Es ging also immer auch um Ehre, Reputation, Statuswahrung, auf die zu achten war.

Nicht minder bedeutsam war die Aufnahme bei Tilly, dem Kommandeur über die ligistischen Truppen. Er belagerte in diesen Monaten noch Stade (wovon der Bericht nichts sagt) und hatte deswegen sein Hauptquartier in Buxtehude. Tilly empfing die Kölner Gesandtschaft persönlich und hat sie bei der Tafel „honorifice tractieren lassen“. Dazu erklärte er sein Wohlgefallen, daß die Kölner die Mühen dieser Reihe auf sich genommen hätten. Er, Tilly, wolle „sine dolo solchs an gebührendem Ort aufs Beste rühmen“ – den ligistischen Generalleutnant hatten die Kölner also schon einmal für sich gewonnen, ein erster Erfolg der Reise. Allerdings riet Tilly den Gesandten auch stark dazu, „man sollte mit Eifer dasjenige befördern, was zu der Römischen Kaiserlichen Majestät Dienst und anderem allgemeinerem Nutzen vortraglichen sein könnte“. Dies war eine recht deutliche Mahnung an die Stadt Köln, den (aus kaiserlicher Sicht) Schlingerkurs der Neutralität aufzugeben. Hier zeigte sich dann doch, wie problematisch die Mission zum Hansetag immer noch war – und dies lag nicht allein an der Unsicherheit der Straßen.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/649

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Von Menschen und Monstern in der Rechtgeschichte

Zu den Missverständnissen, die einer “langen Geschichte” uneindeutiger Körper im Weg stehen, gehört die Vorstellung, dass Menschen mit untypischen Genitalien lange Zeit, wenn nicht gar immer, als “Monster” wahrgenommen worden seien. In der neueren Literatur gehen diese Vorstellungen oft auf Foucault zurück. Eine durchaus typische Formulierung dieser Position lautet z.B. so: Since ancient times intersexed bodies were literally constructed as mythical monsters and have been seen as such in the medical discourse until today. The enduring influence of the mythical and religious literary imagery […]

Quelle: http://intersex.hypotheses.org/255

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Die “Military Revolution” und der Festungsbau 1/2

Aus Anlass einer kommenden Seminarsitzung mit diesem Thema und einer darauf folgenden Diskussion soll hier zunächst das Konzept der “Military Revolution” (kurz Revolution oder M.R. genannt) zusammengefasst werden. Gemeint ist damit die Existenz einer Zeit, in der es grundlegende militärische … Weiterlesen

Quelle: http://fortifica.hypotheses.org/315

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Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte (Jacobus de Vitriaco: Historia Occidentalis, deutsch), 9

[Fortsetzung des Übersetzungsprojekts]

Neuntes Kapitel

Über den Magister Johannes von Nivelles und andere Prediger

Nachdem der genannte Kämpfer Christi1also gestorben war, der es auf sich genommen hatte, in heiligem Streit die Welt zu bewachen, und der die teilweise dunklen Gegenden durch das Licht der Wahrheit erleuchtet hatte, begannen viele, durch den Eifer der Liebe entzündet und durch sein Beispiel angetrieben, zu predigen und zu lehren. Sie erzogen viele zur Gerechtigkeit und entrissen durch heilige Aufmunterungen die Seelen der Sünder aus dem Rachen des Leviathans. Die wichtigsten der Namen unter diesen waren, Sternen am Himmel gleich: der verehrungswürdige Pater und Magister Stephanus, Erzbischof von Canterbury,2der Magister Galterus von London,3 der Magister Robertus von Chorcon, der später Kardinal wurde,4 (Adam,) der Zisterzienserabt von Perseigne,5 der Magister Albericus von Laon,6 der später Erzbischof von Reims wurde und sich von einem Fluss in ein Bächlein verwandelte.7 Weiterhin der Magister Johannes von Liro und sein Gefährte, der Magister Johannes von Nivelles, ein demütiger und ehrfurchtsvoller Mann und geschmückt mit den Perlen aller Tugenden.8Dazu noch viele weitere, deren Namen eingeschrieben sind ins Buch des Lebens,9und die, indem sie auf dem Acker des Herrn treu und besonnen arbeiteten, die Bestien aus den Felshöhlen und Bergen jagten, und die Fische aus dem See des Schmutzes und den Stricken und Netzen des Elends herauszogen.

D O W N L O A D

(PDF/A-Version)

Empfohlene Zitierweise: Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 9, übers. von Christina Franke, mit Anmerkungen von Björn Gebert, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 27. April 2015, http://mittelalter.hypotheses.org/5735 (ISSN 2197-6120).

  1. Gemeint ist Fulko von Neuilly (†1202), vgl. Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 6, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 8. Juni 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/3879 (ISSN 2197-6120) sowie Jakob von Vitry: Okzidentale Geschichte 8, übers. von Christina Franke, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 16. November 2014, http://mittelalter.hypotheses.org/4687 (ISSN 2197-6120).
  2. Stephen Langton (†1228): Studium in Paris in den 1180er Jahren, Schüler von Petrus Cantor, später Lehrer in Paris; bedeutender Theologe, Verfasser zahlreicher Werke; päpstlicher delegierter Richter 1205/6, Kardinalpresbyter von S. Crisogono 1206; Wahl zum Erzbischof von Canterbury auf Betreiben von Papst Innocenz III. 1206 in Rom, Konsekration 1207 gegen den Widerstand des englischen Königs, daraufhin Exil bis 1213 in Frankreich, v.a. in der Zisterzienserabtei Pontigny; Mitwirkung bei der Entstehung der Magna Carta Libertatum 1215; Suspendierung durch den Papst 1215; Zwangsaufenthalt an der Kurie 1215-1218; Translation von Reliquien Thomas Beckets nach Canterbury 1220. Lit.: Folkestone Williams: Lives of the English Cardinals. Including historical notices of the papal court, from Nicholas Breakspear (Pope Adrian IV.) to Thomas Wolsey, Cardinal Legate, 1, London 1868, S. 205-48; Klaus Ganzer: Die Entwicklung des auswärtigen Kardinalats im hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Kardinalkollegiums vom 11. bis 13. Jahrhundert, Tübingen 1963 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 26), S. 153-9; John W. Baldwin: Masters, Princes and Merchants. The social views of Peter the Chanter and his circle, Bd. 1: Text, Princeton, NJ 1970, S. 25-31; Werner Maleczek: Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216, Wien 1984 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, Abhandlungen 6), S. 164-6; Daniel Baumann: Stephen Langton. Erzbischof von Canterbury im England der Magna Carta (1207-1228), Leiden [u.a.] 2009 (Studies in Medieval and Reformation Traditions 144).
  3. Walter, Archidiakon von London: als solcher nachweisbar 1212-1214; von Papst Innocenz III. 1213 zur Kreuzzugspredigt in England beauftragt. Quellen und Lit.: August Potthast: Regesta Pontificum Romanorum. Inde ab a. post Christum natum MCXCVIII ad a. MCCCIV, Bd. 1, Berlin 1874, Nr. 4727 (S. 410f.); Early Charters of the Cathedral Church of Saint Paul, London, ed. Marion Gibbs, London 1939 (Camden Series 3,58), Nr. 255, 263, 307; Alfred John Andrea: Walter, archdeacon of London, and the Historia occidentalis of Jacques de Vitry, in: Church History 50 (1981), S. 141-51.
  4. Robert de Corson († 1219): Studium in Paris in den 1190er Jahren, Schüler von Petrus Cantor, ab 1200 Lehrer in Paris; verfasste einige theologische Werke; häufig päpstlicher delegierter Richter bis 1212; Kardinalpresbyter von S. Stefano in Monte Celio ab 1212; Legat in Frankreich 1213-1215; Prediger beim Albigenserkreuzzug und beim 5. Kreuzzug; Tod vor Damiette. Lit.: Marcel Dickson et Christiane Dickson: Le cardinal Robert de Courson. Sa vie, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge Bd. 9 (1934), S. 53-142; Baldwin: Masters (wie Anm. 2), S. 19-25; Maleczek: Papst und Kardinalskolleg (wie Anm. 2), S. 175-9; Jörg Oberste: Zwischen Heiligkeit und Häresie. Bd. 1: Städtische Eliten in der Kirche des hohen Mittelalters, Köln [u.a.] 2003 (Norm und Struktur 17), S. 193-7.
  5. Adam von Perseigne (†1221): erst Regularkanoniker, dann Benediktiner, schließlich Zisterzienser und Abt von Perseigne (1188-1221); 1195 Disputation mit Joachim von Fiore in Rom; 1198 Beichtvater des engl. Königs Richard Löwenherz; predigte den 4. Kreuzzug; wurde besonders von Papst Innocenz III. mit wichtigen Aufträgen betraut, etwa 1208 mit der Vermittlung zwischen den Königen von England und Frankreich; verfasste Predigten, Briefe und einen Liber de mutuo amore ad sacras virgines. Quellen und Lit.: Radulphi de Coggeshall chronicon Anglicanum, in: Radulphi de Coggeshall chronicon Anglicanum, de expugnatione Terrae Sanctae libellus. Thomas Agnellus de morte et sepultura Henrici regis Angliae junioris. Gesta Fulconis filii Warini. Excerpta ex otiis imperialibus Gervasii Tileburiensis, ed. Joseph Stevenson, Joseph, New York, NY [u.a.] 1875 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores 66), S. 1-208, hier 130; Statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis. Ab anno 1116 ad annum 1786, ed. Joseph Maria Canivez, Bd. 1: Ab anno 1116 ad annum 1220, Louvain 1934 (Bibliothèque de la Revue Ecclésiastique 10), 1201.37 (S. 270); Louis Calendini: Art. “Adam de Perseigne”, in: Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques (künftig: DHGE), 1, Paris 1912, Sp. 488-90; Adam de Perseigne: Lettres, Texte latin, introd., trad. et notes par Jean Bouvet, Bd. 1, Paris 1960 (Sources chrétiennes 66 / Sources chrétiennes. Série des textes monastiques d’Occident 4), S. 7-29; The Historia Occidentalis of Jacques de Vitry. A critical edition, ed. John Frederick Hinnebusch, Fribourg 1972 (Spicilegium Friburgense 17), Appendix C, S. 254f. mit weiterer Literatur; Laurent Maillet: Les missions d’Adam de Perseigne, émissaire de Rome et de Cîteaux (1190-1221), in: Annales de Bretagne 120,3 (2013), S. 99-116; Klaus Graf: Der Zisterzienser Adam von Perseigne und das Speculum virginum, in: Ordensgeschichte. Ein interdisziplinäres Gemeinschaftsblog, 8. September 2013, http://ordensgeschichte.hypotheses.org/5570 (ISSN 2198-8315).
  6. Alberich von Laon bzw. von Humbert bzw. von Hautvilliers (†1218): Archidiakon von Paris; Erzbischof von Reims ab 1206/07; initiierte den gotischen Neubau der Kathedrale von Reims; nahm 1212 am Albigenserkreuzzug teil; brach auch zum 5. Kreuzzug auf; Tod in Pavia auf dem Rückweg vom Heiligen Land. Quellen und Lit.: Albrici monachi Triumfontium Chronicon, ed. P. Scheffer-Boichorst, in: MGH SS 23, 631-950, hier S. 887 (Ernennung zum Erzbischof von Reims), 889 (Teilnahme am Albigenserkreuzzug), 905 (Aufbruch ins Heilige Land), 907 (Tod in Pavia); Gallia Christiana, in provincias ecclesiasticas distributa, qua series et historiae archiepiscoporum, episcoporum et abbatum… / opera et studio Dionysii Sammarthani,… [deinde] monachorum Congregationis S. Mauri Ordinis S. Benedicti [deinde] condidit, 9: De provincia Remensi, ejusque metropoli ac suffraganeis Suessionensi, Laudunensi, Bellovacensi, Catalaunensi ac Noviomensi ecclesiis, Paris 1751, Sp. 104-107; Pierre-François Fournier: Art. “Albéric de Humbert”, in: DHGE 1, Paris 1912, Sp. 1409; The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 257.
  7. Diese Formulierung Jakobs von Vitry spielt laut César Egasse du Boulay: Historia Universitatis Parisiensis, 2: Ab An. 1110 Ad Ann. 1200, Paris 1665, S. 724 und The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 257 darauf an, dass er zuvor Armut gepredigt, nun aber kirchliche Würden angenommen hatte.
  8. Johannes von Liro († nicht vor 1220) und Johannes von Nivelles (†1233): Kanoniker im Bistum Lüttich (Liège) im engeren Umfeld (letzterer war zeitweise Dekan) des Lütticher Bischofs Hugues de Pierrepont (1200-1229); unterstützten gemeinsam mit Jakob von Vitry das frühe Beginentum im Bistum Lüttich sowie Regularkanonissen- und Zisterzienserinnenkonvente. J. von Nivelles wurde 1215/19 Regularkanoniker in Oignies; Papst Innocenz III. beauftragte ihn mit der Kreuzzugspredigt (1216), Honorius III. mit der Kreuzzugskollekte (1219). Quellen und Lit.: Thomae Cantipratani Bonum Vniversale De Apibus, ed. Georges Colvener, Douai 1627, S. 362, 529; Acta Sanctorum, quotquot toto orbe coluntur vel a catholicis scriptoribus celebrantur, quae ex Latinis et Graecis aliarumque gentium antiquis monumentis coll., digessit, notis illustr. Joannes Bollandus servata primigenia scriptorum phrasi, ed. Godefridus Henschenius et al. Junii, Bd. 4: Sanctos a die XVI ad XX colendos complexus, Editio novissima, curante Joanne Carnandet, Paris [u.a.] 1867, S. 195-7; Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, ed. . von Leonard Ennen und Gottfried Eckertz, Bd. 2, Köln 1863, Nr. 50 (S. 60); Lettres de Jacques de Vitry (1160/1170-1240). Évêque de Saint-Jean-d’Acre, ed. Robert Burchard Constantijn Huygens, Leiden 1960, Nr. VI und VII, S. 123-53; Regesta Honorii Papae III, ex Vaticanis archetypis aliusque fontibus, ed. Petrus Pressutti, Bd. 1, Nr. 1972 (S. 326); Christine Renardy: Les Maîtres universitaires dans le diocèse de Liège. Répertoire biographique. 1140-1350, Paris 1981 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 232), S. 355-7, 361-3; William McDonnell: The Beguines and Beghards in Medieval Culture with Special Emphasis on the Belgian Scene, New York, NY 1954, S. 40-7; The Historia Occidentalis, ed. Hinnebusch (wie Anm. 5), Appendix C, S. 285f.; Jacques de Vitry: Histoire Occidentale / Historia Occidentalis (tableau de l’Occident au XIIIe siècle), trad. par Gaston Duchet-Suchaux; introd. et notes par Jean Longère, Paris 1997, S. 100, Anm. 1f.; Jörg Voigt: Beginen im Spätmittelalter. Frauenfrömmigkeit in Thüringen und im Reich, Köln [u.a.] 2012 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission in Thüringen. Kleine Reihe 32), S. 34-40.
  9. Ausführlich zum himmlischen liber vitae sowie den irdischen libri, ihren Schreibern und den eingeschriebenen Namen vgl. jetzt “Eure Namen sind im Buch des Lebens eingeschrieben”. Antike und mittelalterliche Quellen als Grundlage moderner prosopographischer Forschung, hrsg. von Rainer Berndt, Münster i.W. 2014 (Erudiri Sapientia 11).

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/5735

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Das Georgsbändchen: Was es verbindet, was es trennt

Wie kein anderes Symbol zeugt das „Georgsbändchen“ (georgievskaja lentočka) von der hohen Brisanz des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg im post-sowjetischen Raum und dient als populäre Vermittlungstechnik der eigenen Positionierung zu einem bestimmten Geschichtsbild. Doch mittlerweile kann das Anstecken dieser schwarz-orangenen Schleife viel mehr bedeuten, als ein Bekenntnis zum ehrenden Andenken an den Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg.

Seit mehr als einem Jahr kann man dieses Symbol an den Demonstranten und Aufständischen in der Ostukraine sehen – getragen sowohl von den Bewaffneten als auch von Bürgern in Zivil. Die Parolen “Lasst uns den Sieg verteidigen” und “Russland mit uns!” stehen hier nebeneinander – das Bändchen dient als Kennzeichen der pro-russischen Haltung und der Ablehnung der Kiewer Politik. Das Bändchen ist dadurch für viele Ukrainer zum roten Tuch geworden, und nicht selten werden auch jene, die es außerhalb der Ukraine am 9. Mai tragen, als „koloradskie žuki“ (dt.: „Coloradokäfer“) bezeichnet. Diese negative, herabwürdigende Haltung des einen Teils der Bevölkerung hat diesem Symbol allerdings offenbar noch mehr Popularität eingebracht.

In Russland verleitet die aktuelle  Allgegenwärtigkeit des Bändchens zum Verdacht einer sich ausbreitenden symbolischen Obsession: Angefangen bei dem Projekt, ein 1418 Meter langes Band (ein Meter – für jeden Kriegstag 1941-1945) am 8. Mai in Moskau zu entrollen bis zu raffinierten Kochrezepten für Salate in den Farbtönen des Bandes. Die öffentlichen Plätze und virtuellen Räume Russlands sind überladen mit schwarz-orangenen Streifen.

Noch vor den bewaffneten Kämpfen im Donezker Gebiet  – diese Bilder  machten das Bändchen weltweit bekannt – wohnte dem Georgsbändchen ein politisches und soziales Konfliktpotential inne. Zuerst und vor allem in den neuen EU-Mitgliedstaaten des Baltikums galt dieser schwarz-orangene Streifen seit seiner Popularisierung 2010 als Kennzeichen der „Opposition“ – ein symbolisch überfrachtetes Bekenntnis zum Anders-Sein, zur Erinnerungs-Dissidenz. Durch das Tragen des Georgsbändchens vermittelt man eine situative Distanz zum eigenen Staat und dessen vermeintlichen geschichtspolitischen Positionen  sowie die Nähe zu Russland und dessen herrschendem Geschichtsbild. Im Jahr 2015 kann das Zeichen sehr vieles bedeuten: Es kann eine schlichte Kriegserinnerung sein, es kann die Solidarisierung mit der russischen Erinnerungskultur oder Sympathien für die Politik Vladimir Putins ausdrücken. Es kann aber auch einen extrem rechten russischen Nationalismus und antiwestliche, antiliberale Haltungen ausdrücken.

Die Geschichte des Symbols

Das Symbol, das im Jahr 2005 im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges auf quasi-staatliche (RIA Novosti) und zivilgesellschaftliche (u.a. Studenčeskaja Obščina) Initiative hin etabliert wurde, vereint in sich zwei Ebenen der russischen Geschichte: den Stolz auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die ruhmreiche imperiale Tradition der russischen Armee im Zarenreich. Ursprünglich von Katharina der Großen als Auszeichnung des „Heiligen Georgs“ eingeführt, um die größten militärischen und zivilen Leistungen zu ehren, wurde es in einer modifizierten Form zum Georgs Kreuz in sämtlichen Gradierungen. Im vorrevolutionären Russland war es der höchste Orden des Militärruhmes. Nach der Oktoberrevolution und der Beseitigung aller Symbole der imperialen Vergangenheit verboten die Bolschewiki auch das Georgsband. 1943 wurde das Symbol wieder eingeführt, nun für die Rahmung am „Orden des Ruhmes“.

In seiner neuen, postsowjetischen Funktionalisierung seit 2005 sollte das Bändchen laut der offiziellen Erklärung seiner Entwickler, „Respekt und Dankbarkeit gegenüber den Veteranen und Frontoviki zum Ausdruck bringen“ und „die Erinnerung an den Sieger bewahren und an die nächsten Generationen weitertragen“. Seine ursprüngliche Funktion bestand somit in der Ehrung der Kriegshelden – ein Aspekt, warum heute eine profanisierende Nutzung des Bändchens – zum Beispiel als Schnürsenkel, an den Haustieren, in der kommerziellen Werbung  – von vielen kritisch gesehen wird.

Das landesweit verbreitete Georgsbändchen fand aber auch lokale Ableger. In St. Petersburg werden seit dem letzten Jahr, dem runden Datum der Befreiung Leningrads von der Belagerung, hellgrüne Bändchen mit dunkelgrünem Streifen verteilt – das „Bändchen des Leningrader Sieges“ („lentočka leningradskoj pobedy“). Die Farbwahl des lokalen Erinnerungssymbols knüpft auch hier an eine Auszeichnung an, die während des Krieges verteilt wurde – den Orden „Für die Verteidigung Leningrads“ (1943). Auch dieses Zeichen des Bekenntnisses zu einer lokalen Kriegserinnerungskultur, von der städtischen Verwaltung initiiert und popularisiert, traf auf Unterstützung seitens der Gesellschaft und verbreitete sich rasch.

Bekenntnis zu einer Erinnerungsgemeinschaft „Ich erinnere mich – ich bin stolz!“

Die Aktualisierung der Kriegserinnerung ist die erste, ursprüngliche Bedeutung des Georgsbändchens. Das Anstecken der Schleife am 9. Mai, dem Tag des Sieges, sollte ursprünglich als Zeichen des „Sich-Erinnerns“ fungieren. Im Hauptslogan der Aktion wurde die Verknüpfung zwischen dem Erinnern und dem Anstecken des Bändchens explizit gemacht: „Stecke es an, wenn du dich erinnerst“, heißt es auf der offiziellen Webseite. Binnen kurzer Zeit wurde das Bändchen zum unabdingbaren Symbol der Gedenkfeiern zum 9. Mai und zu einem transnationalen Symbol: es wird von der russischen Diaspora in den USA, Deutschland, Israel usw. getragen und gehört zum populärsten Symbolprodukt aus dem Arsenal des länderübergreifenden geopolitischen Projektes der „Russischen Zivilisation“ Russkij Mir.

Serguei Oushakine hat auf die Instrumentalisierung des Bändchens für das „affektive Management“ der Kreml-konformen Kriegserinnerungskultur hingewiesen: Die Schleife diene als ein Identitätsangebot des Staates zu einer stolzen Wir-Gemeinschaft, zur Gemeinschaft der Erben der Helden („nasledniki pobedy“). In Russland kann es somit als ein Zeichen des emotional geteilten Gedächtnisses gesehen werden.  Am stärksten entfaltet das Bändchen sein identitätsstiftendes Potential jedoch dort, wo es der konventionellen, offiziellen Linie nicht entspricht – so in einigen Staaten des postsowjetischen Raumes.

Zeichen der (Erinnerungs-)Dissidenz

In den Baltischen Staaten, wo das Bändchen durch die diplomatischen Vertretungen Russlands verbreitet wird, dient es als Bekenntnis der Opposition zum herrschenden staatlichen Erinnerungsdiskurs. So zum Beispiel in Litauen, einem postsowjetischen Staat, der sich in seiner historische Identität primär als Opfer der Sowjetmacht definiert. Der Zweite Weltkrieg wird im staatlichen Diskurs als ein symmetrisch ausgetragener Konflikt zweier totalitärer Staaten, als eines von vielen blutigen und gewaltreichen Ereignissen auf litauischem Boden beschrieben. Litauer, die gegen die Nationalsozialisten kämpften, haben in dieser Erinnerung keinen Platz. Es zeigt sich in den letzten Jahren jedoch zunehmend, dass die offizielle Geschichtspolitik gewisse Herausforderungen seitens der sozialen Erinnerung erfährt – was grundsätzlich durch Symbole nach außen getragen wird. So bringen die Teilnahme an den Gedenkfeiern zum 9. Mai und das Tragen des Georgsbändchens diese mnemonic resistance (Lorraine Ryan) zum Ausdruck. An diesen Erinnerungspraktiken partizipieren nicht nur litauischen Veteranen der Roten Armee, Mitglieder der jüdischen Gemeinde und die russischsprachige Minderheit Litauens, sondern auch Litauer, die mit der gegenwärtigen Politik des Landes nicht einverstanden sind. Dazu gehören Litauer des linken politischen Spektrums sowie jene, die sich als „Verlierer“ des Zerfalls der Sowjetunion sehen. Das Georgsbändchen überführt hiermit eine Erinnerungs-Dissidenz in eine reale, politische Dissidenz, was es in seiner Funktion wiederum an das Zeichen des politischen Protests in Russland, die Weiße Schleife, annähert. Bislang nutzten die sozialistischen Kräfte Litauens, die sich in der außerparlamentarischen Opposition zur herrschenden national-konservativen Partei befinden, den 9. Mai und das Georgsbändchen für ihre politischen Botschaften. So wurde die Botschaft „Ich erinnere mich!“ um die Kritik an der aktuellen Regierung ergänzt. Die litauischen Linken und Antifa-Mitglieder positionierten sich ausdrücklich  für eine Sozialpolitik, die an ein positives Bild der sowjetischen Vergangenheit anknüpft und eine Erinnerungspolitik, die eher dem in Russland gültigen Narrativ entspricht.

Zeichen der antiliberalen Position

Es kommt nicht von  ungefähr, dass den Massendemonstrationen der liberalen  Opposition 2011/2012, die sich mit weißen Schleifen schmückte, Kreml-treue, „patriotische“ Gruppen mit dem schwarz-orangenen Bändchen gegenüber standen. Das Georgsbändchen bekam dadurch eine weitere Bedeutung:  Es steht für eine ultrakonservative, rückwärtsgerichtete Haltung, die jeglichen politischen Wandel ablehnt. Am besten illustriert dies der Werbe-Spot „Wir sind Gegen Orangene Revolutionen“, der 2012 im Internet popularisiert wurde. Auch die Bewegung der russischen Patrioten „Anti-Maidan“, die extrem antiwestliche, antiliberale Ansichten vertritt, verwendet das Georgsbändchen in der offiziellen Symbolik.

Alternativen?

Diese politische Umdeutung des Georgsbändchens führte zum offiziellen und inoffiziellen Verbot dieses Zeichens während der Gedenkfeiern am 9. Mai im postsowjetischen Raum: Bereits 2014 wurde in der Ukraine ein alternatives Zeichen entwickelt – als solches gilt nun eine Schleife in nationalen Farben und die rote Mohnblume. Kürzlich ließ auch die politische Führung Weißrusslands von einem alternativen Bekenntnissymbol zur Kriegserinnerung wissen: Ein Bändchen in den nationalen rot-grünen Tönen samt einer Blüte des Apfelbaumes soll ein Gegenprojekt zum Georgsbändchen und den roten Nelken darstellen. Auch die Regierung Kasachstans rief zur Verwendung von roten und türkisfarbenen Schleifen (Farbe des Sieges und Farbe Kasachstans) auf. Offenbar wird im Georgsbändchen nun vor allem ein Bekenntnis zum sowjetnostalgischen Patriotismus, ja eine Sehnsucht nach dem „verlorenen Imperium“ gesehen.  Die schwarz-orangene Schleife wird im postsowjetischen Raum zunehmend nicht nur als ein  erinnerungskultureller, sondern nun auch realer, politischer Separatismus gedeutet.

Quelle: http://erinnerung.hypotheses.org/28

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