Migration und Biografie zusammendenken. Ein Plädoyer

von Levke Harders

Henry Merkle, ca. 1867 (Archives départementales du Haut-Rhin, Colmar: 4M158)

Henry Merkle, ca. 1867 (Archives départementales du Haut-Rhin, Colmar: 4M158; Fotograf*in unbekannt) (Foto des Fotos: Levke Harders, 2017)

Ein Foto? Ein Foto! Eines Migranten! Bei meinen Recherchen in Colmar traute ich meinen Augen kaum, denn eine Fotografie ist eine Seltenheit zwischen all den staatlichen Schreiben, Anträgen von Migrant*innen und sonstigem Schriftgut. Zum einen, weil es sich in den 1860er Jahren (immer) noch um ein neues und relativ teures Medium handelte, das viele Menschen sich gar nicht leisten konnten. Zum anderen, weil im Archivierungsprozess häufig diejenigen Objekte, die nicht schriftliches Dokument im engeren Sinne sind, aussortiert wurden (bspw.

[...]

Quelle: http://belonging.hypotheses.org/709

Weiterlesen

Migrationsgeschichte als Geschlechtergeschichte: Der „Mädgemarkt in Ripen“

Abbildung: „Das Verdingen der Fanöerinnen in Ripen (Jütland)“, in: Die Illustrirte Welt 13 (1865), 233.

von Levke Harders

Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts wurden bisher vornehmlich am Beispiel von Männern erforscht, wenngleich dies die historischen Verhältnisse nur ungenügend abbildet. Frauen werden in den einschlägigen Studien oft kurz erwähnt, aber selten darüber hinaus in historische Untersuchungen einbezogen, da – so die gängige Feststellung zu Beginn vieler Bücher – insbesondere junge, ledige Männer migrierten. Ebenso werden Geschlechterverhältnisse in der Migrationsforschung selten analysiert. Außerdem hat die Migrationsforschung traditionell „die Gleichung ‚Arbeitsmigration = Ausbildung = bessere Verdienste‘ als vorwiegend männliches (Aus‑) Bildungs‑ und Karrieremuster gesehen,“ was aber weder für Frauen noch für männliche ungelernte Arbeitskräfte zutrifft, wie Sylvia Hahn kritisiert.1



[...]

Quelle: https://belonging.hypotheses.org/286

Weiterlesen

„Gebrochendeutschsprachig“ – Fremdheit in zeitgenössischer Literatur

Autor Tomer Gardi (Foto: ORF/Arie Kishon)Autor Tomer Gardi (Foto: ORF/Arie Kishon)

„Ein Migrant. Ein Gastarbeiter. Ein Fremdarbeiter in die Prosa eine ferne, fremde, andere Sprach“ (S. 65) sei er, meint der Erzähler in Tomer Gardis „Broken German“, das im Herbst 2016 erschienen ist. Selten werden in deutschsprachiger Belletristik so unterhaltsam so komplizierte Themen verhandelt: Flucht und Migration, Fremdheit und Identität in der bundesdeutschen, mehrheitlich christlich geprägten Gesellschaft. Migrant_innen, oder doch zumindest Reisende, einheimisch Gewordene und Einheimische sind die Hauptpersonen dieses Textes, darunter Radili / Tomer / Abschalom und seine Mutter aus Israel, die Reinigungsfrau Awet Desta aus Eritrea, der Kellner Fikret und überhaupt Radilis Freundeskreis. Der Text enthält (mindestens): eine Verwechslungskomödie, einen Krimi, eine Liebesgeschichte, einen Berlin-Roman, ein Drehbuch, einen Zeitzeugenbericht einer Holocaust-Überlebenden, eine literaturkritische Selbstreflexion, eine Kafka-Adaption… Es wird also viel geboten auf 141 Seiten für 19 Euro und das alles in ‚gebrochenes Deutsch‘.

Wie schwer die ‚Integration‘ in die ‚deutsche Leitkultur‘ ist, zeigt exemplarisch Radilis Biergeschmack: „Lieblingsbier leider Jever.

[...]

Quelle: https://belonging.hypotheses.org/145

Weiterlesen