Heinrich Bosse: Bildungsrevolution 1770-1830

In den 1970er Jahren besuchte er Seminare bei Foucault und Kittler und ließ sich von diesen zu seinen bildungsgeschichtlichen Arbeiten inspirieren; nun erscheinen zehn seiner Artikel in einem Band, herausgegeben von Nacim Ghanbari, die auch ein Gespräch mit Bosse geführt hat, das gekürzt im Merkur (August 2012, S.691-703, online hier) erschien. Ich bin ja schon gespannt auf Bosses Aufsatz zur Einrichtung der Schiefertafel!

Verlagsankündigung: Der gemeinsame Fluchtpunkt dieser Studien ist die deutsche Bildungsrevolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Sie betrifft die beiden wichtigsten Kulturtechniken, Lesen und Schreiben. In der Bildungsrevolution verändert sich der elementare, rhetorische, akademische Unterricht, darüber hinaus aber auch Schule, Autorschaft, Öffentlichkeit und sogar die Sozialgliederung der Gesellschaft. Das neue Konzept der Bildung wirkt über die Unterrichtsinstitutionen hinaus, indem es eine außerschulische Praxis scholarisiert, das Selberlernen. Die Unterrichtsverhältnisse ihrerseits werden unter dem staatlichen Zugriff neu strukturiert.
Dabei verschmelzen die lateinischen und die volkssprachlichen Bildungssysteme, die seit dem Mittelalter nebeneinander existierten, in einem umfassenden Bildungsapparat. Zugleich wandelt sich die ständische Öffentlichkeit der gelehrten Republik in ihr modernes Gegenstück, und der gelehrte Stand der Lateinkundigen verschwindet in der Formation der Gebildeten.


Bosse, Heinrich: Bildungsrevolution 1770-1830. (=Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach und Medienwissenschaft; 169). (Hg. mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari). Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2012. [Verlags-Info]

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/197335150/

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Streit um den Hühnermarkt – wenn Geflügel Konfessionen macht

Am Sankt-Veits-Tag (15. Juni) findet in Leipheim – einer zur Reichsstadt Ulm gehörenden Gemeinde im Schwäbischen Donaumoos – die traditionelle Kirchweih zu Ehren des Namenspatrons der Pfarrkirche statt. Teil des Kirchweihfests ist ein Markt, der entweder ganz oder in Teilen ein Geflügelmarkt ist – und in der Kirche stattfindet. Bisher war das kein Problem. Doch im Jahr 1529 wird der Hühnermarkt zu einem der distinktiven Kristallisationspunkte im reformatorischen Glaubensstreit.

Wiederstand gegen den Kirchweihmarkt kommt vom evangelischen Pfarrer Jakob Ritiman. Der offensichtliche Zwinglianer – erkennbar an seiner aggressiven Ablehnung der Realpräsenz und der Transsubstantiationslehre – ergreift im Frühjahr 1529 einige Maßnahmen zur, wie er betont, langsamen aber zielstrebigen Ausmerzung der (altgläubigen) Missstände in Leipheim. Dazu gehören auch das Einstellen des Glockenläutens vor den vielen Feiertage. Damit beginnt der Pfarrer – symbolisch wichtig – am Vorabend von Fronleichnam, trifft dabei aber auf den Wiederstand seines (mutmaßlich altgläubigen) Messmers, der die Sache beim Bürgermeister zur Anzeige bringt. Weiterhin versucht Ritiman, das Öffnen der “tafel” zu unterbinden – gemeint ist vermutlich das Retabel in der Pfarrkirche, das wahrscheinlich Heiligenrepräsentationen oder ähnliches enthält.

Das Auftreten und die Maßnahmen Ritimans erregen die Missbilligung des Bürgermeisters, der gemeinsam mit dem Gericht und dem Ulmischen Vogt den Gemeindepfarrer befragt, ermahnt und sich wegen Erfolglosigkeit in einem Beschwerdebrief an die Ratsherren von Ulm wendet. Der Bürgermeister ist laut Ritiman “ain großer bäbstler”. Auch Ritiman wendet sich an die Ratsherren. Durch diese Briefe (Stadtarchiv Ulm, A Ulmensien 279, fol. 51r-54r) sind wir über die Auseinandersetzungen informiert.

Besonders interessant ist dabei die Auseinandersetzung um den Hühnermarkt an Kirchweih. Es ist durchaus beachtenswert, wie so ein auf den ersten Blick wenig dafür geeignetes Ereignis zu einem konfessionellen Distinktions- und Kristallisationspunkt wird.


Kirchweih in Schelle (Jan Brueghel d. Ä., 1614. Kunsthistorisches Museum Wien)

Bürgermeister und Gericht erklären, worum sich der Hühner-Streit genau dreht:

“Zum drytten hat auch der pfarrer yetz uff zukunftigen Sannt veitz aubent und tag ain jarmarckt die kyrchen zu beschliessen und darein nemalz gaun laussen wollenn. Wie wol er darvon gestanden ist und die kyrchen offen staun laussen will, so will er doch Sant Veitz pfleger nit zugebenn und gestattenn, das sy inder kyrchen nemalz mit Sant Veitz hayltumb bestraichen und von hänen oder anders ain nemen, wie dann von alther her gescheen sey… [Wir werden] im das nit gestatten und neuwerungen laussen machen.”

Was der altgäubige Bürgermeister hier präzise anprangert, ist ist die Veränderung eines offensichtlich wichtigen Bestandteils des Kirchweihmarkts. Demnach wolle der evangelische Pfarrer die sonst zu diesem Anlass offene Kirche abschließen und den Kirchenpflegern nicht erlauben, eine in der Quelle nicht ganz klare Praktik des Bestreichens mit oder durch die Veits-Reliquie vorzunehmen oder vornehmen zu lassen. Zudem wolle der Pfarrer nicht gestatten, dass die Pfarrkirche von Hühnern oder anderem Geflügel eingenommen wird. Ritiman kann diesen Plan am Ende nicht durchsetzen – womöglich auch aufgrund des Drucks der Bevölkerung oder zumindest des altgläubigen Teils.

Der evangelische Pfarrer rechtfertigt das Vorhaben in seinem Brief an den Rat:

“It[e]m ich hab auch mitt meinem meßmar verschafft, das er uff Sant Veittz tag die kierchen vor unnd nach, so man das wort gottes geprediget hatt, zuschliessen sol. Dann ich wöll nitt haben, das man furterhin mer ain hunermarck[t] da uffricht und also uß dem huß des herren ain kauffhuß mach…” Dass  er dies nun doch zugelassen hat, beschwere sein Gewissen “größlich”.

Bäuerin mit Henne und Glucke, in: Buch der Natur. Lauber-Werkstatt, Hagenau, 1442-48.

Ritiman fokussiert sich ganz auf den Hühnermarkt, der in der Kirche stattfindet. Die alte Praktik mit der Veits-Reliquie erwähnt er nicht extra, vielleicht weil sie selbstverständlicher Bestandteil des Hühnermarkts ist, vielleicht weil der Hühnermarkt in den Augen der Ulmer Ratsherren skandalöser wirken könnte als eine der noch so verbreiteten Heiligenpraktiken.

Das Vorgehen gegen den Jahr-/Hühnermarkt und die unklare Veits-Reliquienpraktik ist Teil des Reformationsprogramms des Pfarrers. Er setzt das selbst in diesen Kontext. Kirchweihfeste mit ihren Märkten und Festivitäten zu regulieren (oder zu versuchen, sie ganz abzuschaffen) war allgemein schnell ein Ziel reformatorischer Pfarrer und Obrigkeiten. In diesem Zusammenhang geht der Leipheimer Seelsorger gegen zwei Aspekte vor, die ihm ein besonderer Dorn im Auge sein müssen.

Das Geflügel in der Kirche, zusammen mit der Heiligenfrömmigkeit, gerät nun also in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um die dörfliche Religionskultur. Schon bei anderen Gelegenheiten haben sich Risse und punktuell divergierende Lagerbildungen in Leipheim gezeigt. Als Ritiman wie berichtet das Glockenläuten vor Feiertagen abschafft, kommt es zu Murren und Wiederstand der Päpstlichen.

Der Geflügelmarkt in der Pfarrkirche zu Kirchweih provoziert erneut unterschiedliche Haltungen. Der Pfarrer und mit ihm wohl der eher evangelische Teil der Gemeinde, sind gegen diese alten Praktiken. Der Bürgemeister und das Gericht wollen, womöglich stellvertretend für andere Gemeindemitglieder, von diesem alten Brauch hingegen nicht ablassen.

So wird die Haltung zu einem Geflügelmarkt in der Kirche zu einem Moment, in dem in einer oberschwäbischen Landgemeinde grundsätzlichere religiöse Haltungen und Zugehörigkeiten sichtbar und verstärkt werden. Der Raum des sozial-religiös Möglichen soll deshalb durch den Ulmer Rat neu bestimmt werden. Und bis dahin macht Geflügel Konfessionen.

 

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/266

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Gramophone Magazine nur noch als kostenpflichtige App

Das Archiv des Gramophone Magazines war mir in den letzten Jahren ans Herz gewachsen. Als Musikinteressierte hat man immer wieder spannende Sachen gefunden und auch als Historikerin immer wieder hilfreiche Quellen. Gerade wollte ich mich mal wieder ein bisschen stöbern und was war: Nix war. Alle Links haben nicht mehr funktioniert, stattdessen wurde man weitergeleitet und mit der tollen

Quelle: http://geschichtsweberei.blogspot.com/2012/11/gramophone-magazine-nur-noch-als.html

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Die Vision Humboldts in der Digitalen Welt: Start der Ringvorlesung Digital Humanities an der TU Darmstadt mit einem Vortrag von Gregory Crane über ‘Humanities in a Digital Age’

Gregory Crane von der Tufts University in Medford/Boston (Massachusetts), der in den nächsten Jahren eine Humboldt-Professur an der Universität Leipzig wahrnehmen wird, stellte sich der Aufgabe, für den Auftakt der Darmstädter Ringvorlesung einen Überblick zu geben, große Fragen zu stellen und große Linien zu ziehen und beeindruckte die ZuhörerInnen durch seine Offenheit, seine Energie, seine Leidenschaft für das Thema und den Respekt, mit dem er allen InteressentInnen begegnete.

Eines der großen Themen, das er ansprach, war beispielsweise die Frage danach, was der gesellschaftliche Auftrag und was die Ziele der Geisteswissenschaften seien. Für Greg Crane besteht ihre Rolle darin, das intellektuelle Leben der Menschen zu verbessern. Dazu hat man seiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten: Bücher zu schreiben, die keiner mehr liest, oder den Menschen zu helfen, mehr über fremde Sprachen und Kulturen zu wissen und ihnen den Zugang dazu ohne Voraussetzungen, ohne Sprachenkenntnisse zu ermöglichen. Wer die Entwicklung und die Erfolgsgeschichte des Perseus-Projekts verfolgt hat, weiß, dass diese Vision eingelöst werden kann: Die antiken Texte sind so umfangreich erschlossen durch Wörterbücher und weitere Materialien, dass man einen Zugang findet – und dieser Zugang war und ist bei Perseus stets transparent und open access. Die intensive Erschließung der Materialien wird auch durch Crowd Sourcing-Aktivitäten erreicht: Studierende werden bei der Lemmatisierung, Kommentierung und Vernetzung eingebunden, jede entsprechende Leistung ist durch Identifier den BearbeiterInnen zugeordnet, so dass jeder Kommentar zu einer micropublication wird. Greg ist immer für unerwartete Vergleiche und Überraschungen gut: Wenn ein World-of-Warcraft-Spieler 500 Stunden Übung benötigt, um einen Charakter zu beherrschen, dann ist es genauso gut möglich, dass er in 500 Stunden Einsatz mit den digitalen Materialien eine antike Sprache besser beherrscht als nach einigen Semestern Studium an der Universität! Die Aufgabe der Lehrenden ist es, den Studierenden zu ermöglichen, digital citizens in der digitalen Welt zu werden. Auf diese Weise sieht er uns erstmals in die Lage versetzt, das alte Humboldtsche Ideal, dass Lehrende und Lernende dazu da sind, der Wissenschaft zu dienen, zu verwirklichen (“Wenn ich etwas neu und cool finde, stelle ich fest, dieser alte Preuße hat es schon geschrieben.”).

Einen Gedanken möchte ich noch herausgreifen, denn er betrifft einen Punkt, der von vielen diskutiert wird. Greg leitete seine Vorlesung folgendermaßen ein: “Ich bin jetzt ein Professor für Digital Humanities, obwohl ich nicht an das Fach glaube.” Er betrachtet sich nach wie vor als Altphilologe, sein Haupt-Forschungsinteresse war und ist die antike Sprache und Kultur, deren Erforschung und Erschließung von ihm u.a. mit computergestützten Ansätzen und Methoden betrieben wird. Dieser Sichtweise würde ich mich anschließen, sie markiert auch mein Selbstverständnis und die Ausrichtung und Weiterentwicklung der Darmstädter Digital Humanities in einer spezifischen Ausprägung als Digital Philology. Unsere Forschungsgegenstände sind Sprache, Literatur und Kultur, wir integrieren hermeneutische und algorithmische Ansätze zu ihrer Erforschung. Wir dürfen also gespannt sein auf die weiteren Positionen und Beiträge zur Ringvorlesung und werden uns bemühen, an dieser Stelle weiter darüber zu berichten. Aufnahmen davon werden Dank einer Kooperation mit dem eLearning-Center der TU Darmstadt auch online zur Verfügung gestellt werden.

Follow us on Twitter: @DHDarmstadt @RappAndrea #DHDarmstadtLecture

Am 8.11.2012 ist Philip Schofield (University College London) zu Gast: “TRANSCRIBE BENTHAM – An experiment in scholarly crowdsourcing”.

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=1009

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Kreative Achtsamkeit und ihre Hemmnisse – Ein Interview mit Karl-Heinz Brodbeck von Sandra Winzer (Teil 1)

Im Folgenden der 1. Teil eines Interviews mit Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck von der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt und der Hochschule für Politik in München. Geführt und aufgezeichnet am 23. März 2012 von Sandra Winzer, Bauhaus-Universität Weimar. Winzer: In Ihrem Buch „Entscheidung zur … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/2981

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Die christliche Märtyrer-Basilika im Amphitheater des hispanischen Tarraco

In religiöser Hinsicht brachte die sogenannte Spätantike,  kurz vor dem Ende des Römischen Reiches, nicht nur Christen und ihre christlichen Gemeinden hevor, sondern zeigte sie auch auf, wie sich die Gesinnung der Versammlungsstätten der Christen von einst privaten Räumlichkeiten zu eigenen Kultstätten wandelte. Zeitgleich erhielten die christlichen Kultstätten ihre besondere Anziehungskraft durch die christlichen Märtyrer, derer  an den Orten ihres Martyriums und/oder ihres Begräbnisses gedenkt wurde. Exemplarisch soll in diesem Artikel die christliche Märtyrer-Basilika im Amphitheater Tarracos, gelegen in der Provinz Hispania Tarragonensis, vorgestellt werden.

Zwischen der Via Augusta und der Passeig Maritim de Rafael de Casanova wurde um 100 bzw. 130 n. Chr. in Tarraco (heute Tarragona) auf der Fläche eines römischen Gräberfeldes aus augusteischer Zeit das Amphitheater errichtet.1

Ein bedeutender Inschriftenfund weist darauf hin, dass das Amphitheater von einem Provinzialflamen namens Elagabulus gestiftet wurde. Der Sitzraum des Amphitheaters bestand aus drei Sektoren, die sich in elf, zehn und drei Sitzreihen gliederten und ein Fassungsvermögen von 14.000 Zuschauern ergaben. Den Zugang zum Amphitheater erhielt man über zwei Tore. Außerdem verfügte das Amphitheater über unterirdische Gräben, die eine Verbindung zum Strand hatten.2 Noch im III. Jahrhundert wurde das Amphitheater umfangreich restauriert.3 Etwa im V. Jahrhundert wurde das Amphitheater von Tarraco aufgegeben.4

Um 259 n. Chr., zur Zeit der Decischen Christenverfolgungen, fand im Amphitheater die Hinrichtung des Bischofs Fructuosus und seiner Diakone Augurius und Eulogius statt.5 Bei Ausgrabungen zwischen 1948 und 1955 stieß man im Jahre 1953 hier auf eine dreischiffige christliche Märtyrerbasilika, die am Ende des 6. Jhr. als memoria für die drei Märtyrer errichtet wurde. Südlich angrenzend an diese Basilika wurde ebenfalls in der Arena des Amphitheaters eine Nekropole mit Funden von Grabsteinen, Sarkophagen und Mausoleen freigelegt, in der fünfzig Gräber von Angehörigen aus der städtischen Elite, datiert im Zeitraum vom 6-8. Jhr.  sich befanden.6 Einige der Grabstätten wurden zu einem späteren Zeitpunkt bzw. nach der Errichtung der Basilika errichtet. Die ersten im Amphitheater angelegten Gräber standen im direkten Zusammenhang mit der Basilika und es besteht keinen Zweifel daran, dass diese westgotische Nekropole im Amphitheater ad sanctos angelegt war. Mit dem Ende der westgotischen Herrschaft im Jahre 713-714 wurde diese Stätte aufgegeben.7

Die westgotische Basilika weist eine Länge von 22,75 x 13 Meter Breite auf. Für ihren Bau aus Quadersteinen wurden für das Fundament der Apsis Teile aus der Podiumsinschrift des Elagabulus aus dem früheren Amphitheaters wiederverwendet. Die Westseite der Basilika verläuft auf den Grundmauern der quer durch die Arena verlaufenden Gräben.8 Die Basilika besitzt eine hufeisenförmige und erhöhte Apsis, mit einer davor gesetzten Querwand und einem großen Transsept. Auch für die Fundamente der zwei Pfeilerreihen (mit jeweils sechs Pfeilern) wurden vermutlich Steine aus römischer Zeit wiederverwendet.9

Im nördlichen Teil der Basilika befand sich der Altarraum und ein Presbyterium mit Gräbern hinter der Apsis gelegen sowie einem kleinen daran angrenzenden Raum, der als eine Sakristei bzw. als eine Grabkammer genutzt wurde. Beim südlichen Teil der Basilika befand sich direkt an der Außenmauer ebenfalls eine angefügte Grabkammer.10

Laut Dupré i Raventos und den Forschern von TED’A soll der Bau der christlichen Märtyrerbasilika in westgotischer Zeit als Zeichen des Triumphes der christlichen Märtyrer und des christlichen Glaubens über die heidnische Gesellschaft mit ihren Gebäuden gesehen werden, die für die Verfolgung der Christen und für die Hinrichtung vieler Christen wie z.B. den Märtyrern aus Tarraco, verantwortlich waren. Demnach soll die Konstruktion der christlichen Märtyrerbasilika im Amphitheater Tarracos in diesem Zusammenhang gesehen werden.11

Begründet wurde der Märtyrerkult in Tarraco durch die Veröffentlichung der schriftlichen Überlieferung der passio Fructuosi, verfasst vom Soldaten Marcellus am Ende des 3. Jhr. n. Chr. oder am Anfang des 4. Jhr. n. Chr.. Frühe Angaben vor dem Basilika-Bau über die Praktizierung des Märtyrerkultes können daher der Überlieferungsgeschichte der passio entnommen werden. Es ist anzunehmen, dass die passio schon früh mit in die jährliche Gedenkfeier des Martyriums an der Grabstätte einbezogen wurde und daher der Mehrzahl der Einwohner Tarragonas (und am Ende des 4. Jhr. n. Chr. auch in Nordafrika) bekannt war.12

Laut der passio erschien Fructuosus nach seiner Hinrichtung im Amphitheater einer Zahl von Christen und ordnete ihnen an, dass die sterblichen Reste der drei Märtyrer unverzüglich ihm zu Liebe aufbewahrt werden sollten.13 Spätestens am Ende des 4. Jhr. n. Chr. zitierten Prudentius ebenso wie Augustinus um 373 n. Chr. Teile der passio in ihren Schriften.14 Etwas detaillierter als in der passio schrieb Prudentius davon, dass Fructuosus und seine zwei Diakone Augurius und Eulogius, vom Statthalter der Provinz Hispania Citerior am 21. Januar 259 n. Chr. festgenommen wurden, weil sie sich weigerten dem zweiten Edikt des Valerian Folge zu leisten. Er ließ sie bei lebendigem Leibe im Amphitheater verbrennen. Weiterhin berichtet Prudentius von einer Art Erscheinung, in der die drei Märtyrer nach ihrem Tod, in weiße Roben gekleidet, den hinterbliebenen Christen anordneten, dass ihre geheiligten Überreste zusammen in einem Heiligtum aus Marmor bestattet werden sollten.15 Obwohl die Historizität von manchen Angaben in der passio, laut Panzram, anzuzweifeln sind, steht – in Analogie zu den anderen bekannten Martyria im Römischen Reich, die in der Regel in Amphitheatern stattfanden –dennoch außer Frage, dass das Martyrium im Amphitheater von Tarraco stattgefunden hat.16 Für den Märtyrerkult in Tarraco sind daher in diesen Berichten die Angabe des genauen Ortes des Martyriums (Amphitheater) und der Typus der Grabstätte (Heiligtum aus Marmor) von elementarer Bedeutung. Letztere konnte als Krypta oder Mausoleum zeitweise in oder nahe bei der Francolí-Basilika verortet werden. Laut Hauschildt könnte sich das Märtyrergrab direkt neben der Francoli-Basilika befunden haben, doch wäre es bereits im 6. Jhr. in die Basilika des Amphitheaters verlegt worden.17 Zu einem späteren Zeitpunkt wurden die Gebeine der drei Märtyrer, womöglich im Zuge eines sarazenischen Überfalls, aus der Stadt verschleppt.18

Die Grabstätte der Märtyrer war somit in spätrömischer Zeit Anlass für die Errichtung der Francolí-Basilika und für die Entstehung der Nekropole am Francolí-Ufer sowie Grund für die Errichtung der westgotischen Märtyrerbasilika im Amphitheater in westgotischer Zeit. Die zentrale Nutzungsweise bestand bei den christlichen Basiliken in Tarraco in der kultischen Verehrung bzw. dem Märtyrerkult sowie dem bischöflichen Wirken. Ähnlich wie bei der Francolí-Basilika erhielt auch die westgotische Basilika im Besonderen eine religiös-politische Relevanz: Die neue bürgerliche Identität spielgelte sich in der Praktizierung christlicher Kulte wieder. Und nur einem Teil der Bevölkerung war es möglich ein Begräbnis ad sanctos zu erhalten. Diese städtische Elite hatte sich zumindest insofern auf den christlichen Glauben eingelassen hatte, als dass sie die wachsende religiöse Bedeutung von einem Begräbnis ad sanctos erkannte und nutzte, um ihren sozialen Status auch mit der Form und prunkvollen Ausgestaltung des Begräbnisses zu repräsentieren. So werden bei der städtischen Elite nicht nur religiöse Gründe ausschlaggebend für das Begräbnis ad sanctos gewesen sein, sondern auch politische Gründe, was für die Zeit ab dem 5. Jhr. n. Chr. auf eine stark christlich geprägte politische Realität in Tarraco deuten lässt.19 Auch die Praktizierung des Märtyrerkultes an einer Kultstätte wie dem Amphitheater spiegelte bereits in spätrömischer Zeit wieder, dass nun christliche Kultbauten sozial, politisch und religiöse Zentren darstellen. Diese Entwicklung sollte sich mit dem zunehmenden Einfluss der Bischöfe in westgotischer Zeit noch verstärken. Die westgotische Basilika im Amphitheater markierte in der Stadt Tarraco im letzten Jahrhundert unter westgotischer Herrschaft den Höhepunkt christlicher Architektur und deutet durch ihre Relevanz in der städtischen Gesellschaft Tarracos darauf hin, welche weitreichenden Veränderungen sich im Stadtwesen und im Stadtbild Tarracos entwickelt hatten.20

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Die christliche Märtyrer-Basilika im Amphitheater des hispanischen Tarraco. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 

Bildquellen: Eigene Aufnahmen, März 2012

 

Bibliographie:

  1. Vgl. Kulikowski, M.: .: Late Roman Spain and Its Cities. Baltimore 2004. S. 95 ; Cities and Government in Late Antique Hispania: Recent Advances and Future Research, in: Bowes, K. / Kulikowski, M. (Eds.): Hispania in late Antiquity. Current perspectives. Brill 2005. S. 58 ; TED’A: L’ amfiteatre romà de Tarragona, la basílica visigòtica i l’església romànica. (Memòries d’excavacio, Bd. 1-3). Tarragona 1990. S. 467.
  2. Vgl. Panzram, S.: Stadtbild und Elite. Tarraco, Corduba und Augusta Emerita zwischen Republik und Spätantike. Stuttgart 2002. 2002. S. 56-57.
  3. Panzram 2002. S. 87.
  4. Panzram 2002. S. 111.
  5. Vgl. Prud. Perist 6, in: Prudentius: The poems of Prudentius.  Übers. H.J. Thomson. London 1961 ; Aug. serm. 273, in: PL 38. Turnhout 1965. S. 1247-1249 ; Passio Sanctorum Martyrum Fructuosi Episcopi, Auguri et Eulogi Diacononorum, in: The acts of the Christian martyrs. Übers. H. Musurillo. Oxford 1972. S. 176-185.
  6. Vgl. Oepen, A.: Die Nutzung kaiserzeitlicher Theaterbauten in Hispanien während der Spätantike und der Westgotenzeit, in: Brands, G. / Severin, H.-G. (Eds.): Die spätantike Stadt und ihre Christianisierung. Symposion vom 14. bis 16. Februar 2000 in Halle/Saale. Wiesbaden 2003. S. 214-215 ; Alföldy in: RE Suppl. 15 (1978). S. 597 ; Arbeiter, A.: Die spätantike Stadt auf der Iberischen Halbinsel, in: Brands, G. / Severin, H.-G. (Eds.): Die spätantike Stadt und ihre Christianisierung. Symposion vom 14. bis 16. Februar 2000 in Halle/Saale. Wiesbaden 2003.S. 36 ; Kulikowski 2004. S. 295-296 ; Vilar López, J.: Les basíliques paleocristianes del suburbi occidental de Tarraco. El temple septentrional I el complex martirial de Sant Fructuós. (Bd. 1). Tarragona 2006. S. 310 ; Vaquerizo, D.: Las Áreas Suburbanas en l a ciudad históri ca. Topografía,  usos,  función. Córdoba 2010.S. 316 ; Taller Escola d’Arqueologia: L’ amfiteatre romà de Tarragona, la basílica visigòtica i l’església romànica. (Memòries d’excavacio, Bd. 3). Tarragona 1990. S. 235.
  7. TED’A 1990. S. 468.
  8. Panzram 2002. S. 111-114.
  9. de Palol, P.: Arqueologia de cristiania de la España Romana. Siglos IV-VI. Madrid 1967. S. 61 ; Schlunk, H. / Hauschildt, T.: Hispania Antiqua – Die Denkmäler der frühchristlichen und westgotischen Zeit. Mainz. 1978. S. 161.
  10. TED’A 1990. S. 206 und 468.
  11. TED’A 1990. P. 206.
  12. Vgl. Maldonaldo, P. C.:  Angelorum participes: The Cult of the Saints in Late Antique Spain, en: Bowes, K.; Kulikowski, M. (Eds.): Hispania in late Antiquity. Current perspectives. Brill 2005. S. 179 ; Panzram 2002. S. 112 ; Kulikowski 2004. S. 218 ; Palmer 1989. S. 206.
  13. Vgl. Passio Sanctorum Martyrum Fructuosi Episcopi, Auguri et Eulogi Diacononorum, Kapitel 3, in: Musurillo 1972. S. 179.
  14. Vgl. Prud. Perist 6 ; Aug. serm. 273 ; Oepen in: Brands / Severin 2003. S. 214.
  15. Vgl. Prud. Perist 6, 135-140. ; Panzram 2002. S. 82.
  16. Panzram 2002. S. 114.
  17. Vgl. Schlunk Hausschildt 1978. S. 14. u. 39.; López Vilar 2006. S. 307.
  18. Vgl. López Vilar 2006. S. 307.
  19. Anm.: RIT 953 ist ein Beispiel für den Wandlungsprozess der Grabschriften. Es weist ein heidnisches Textformular auf, aber es könnte aufgrund des enthaltenen Namens Amelius auch als christliche Inschrift identifiziert werden. Vgl. dazu Alföldy, G.: s.v. Tarraco, in: RE Suppl. Bd. 15 (1978). S. 259-371 ; López Vilar 2006. S. 240-248.
  20. TED’A 1990. S. 240.

Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/11/die-christliche-martyrer-basilika-im-amphitheater-des-hispanischen-tarracos/

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Europa bauen?

  Telse Först, Thorsten Logge: „Die Nationalisierung der Massen“, schrieb Thorsten Logge in seinem Beitrag „Mediale Leuchtfeuer im Nationsdiskurs“ vom 1. Juni 2012 an dieser Stelle, „ging einher mit und ist abhängig von der Entwicklung und Verbreitung der technischen Verbreitungsmedien. Sie … Weiterlesen    

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/1508

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aventinus mediaevalia Nr. 21 [31.10.2012]: Die Merowingische Urkundenschrift und ihr spätrömischer Vorgänger

http://www.aventinus-online.de/mittelalter/die-voelkerwanderung-und-das-merowingerreich-bis-751/art/Die_Merowingisc/html/ca/view Entsprechend der alphabetischen Reihenfolge fokussiert die Arbeit in je einem Abschnitt sowohl deskriptiv als auch vergleichend die einzelnen Buchstaben der merowingischen und der ravennatischen Urkunde. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung richtet sich dabei auf die Buchstabenformen beider Schriften sowie auf Ligaturen.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/10/3514/

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aventinus generalia Nr. 10 [⁴31.10.2012]: Erste Redaktionsversammlung von »aventinus. Studentische Publikationsp­lattform Geschichte« nach der Vereinsgründung letzten Jahres

http://www.aventinus-online.de/service/ueber-uns/verein/ Am 29. Oktober 2012 fand in Räumlichkeiten der LMU München die erste Redaktionsversammlung von aventinus statt. Es wurden insbesondere Änderungen der Satzung und die Entlastung der Geschäftsführung beschlossen.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/10/3498/

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