Europäische Aufklärung gegen jüdische Beschneidung – seit 2200 Jahren?

Ein Ereignis ist zu vermelden. Wann schafft es ein hellenistischer König schon mal auf die Titelseite einer Samstagsausgabe der F.A.Z.? Und sogar in den großen Leitartikel rechts unten?

Im Tenor ist das, was Reinhard Bingener („Geist und Fleisch, 10. Nov. 2012) über die aktuelle Debatte um die Beschneidung jüdischer Kinder schreibt, historisch wohlinformiert und grundvernünftig: Das vielbeschworene Kindeswohl kann mit guten Gründen auch im Hineinwachsen in eine religiös-kulturelle Tradition gesehen werden, und die Unterstellung, „ganze Bevölkerungsgruppen vergingen sich am Wohl ihrer Kinder, ist abwegig und anmaßend”. Das Argument hatte schon vor ein paar Monaten Patrick Bahners messerscharf ausformuliert („Ein Rechenfehler”, F.A.S. v. 22. Juli 2012): Ein Urteil eines deutschen Strafgerichts, das zu befolgen zur Konsequenz hätte, daß sämtliche Juden das Land verlassen müßten, könne nicht richtig sein. Es sei gar nicht in Betracht gezogen worden, daß die Abwägung zwischen Nutzen und Schaden des Eingriffs bei Kindern aus verschiedenen Familien verschieden ausfallen könnte. (Als ich diesen Eintrag hochlud, gab es zu Bingeners Kommentar schon über 90 Reaktionen – soweit ich sehe, geht aber keiner auf das ein, was mich hier interessiert.)

Bingener begibt sich allerdings in seiner Argumentation aus Sicht eines Historikers auf sehr dünnes Eis, denn er universalisiert über mehr als zwei Jahrtausende hinweg. Schon griechische und römische Autoren machten sich „zweitausend Jahre vor Erfindung von Talkshows und Internetforen” das jüdische Gebot der Beschneidung so zurecht, wie sie es brauchten: „Vernunft und Zivilisation können auf archaische Riten rückständiger Minderheiten keine Rücksicht nehmen! Im Namen des Rechts ist es sogar geboten, unaufgeklärte Minderheiten vor der Verstümmelung ihrer Kinder zu schützen!” Auf lange Sicht habe sich also wenig geändert: „Viele Europäer halten für fortschrittlich, was sie schon immer für fortschrittlich hielten.”

Nun kann man, erstens, mit guten Gründen fragen, ob die antiken Autoren, die – meist sehr beiläufig – die Beschneidung (hebr. bĕrit mila, griech. peritomê, lat., circumcisio) kritisieren, als „Europäer” angesprochen werden sollten. Allerdings hat sich das moderne Europa immer wieder in konstitutiver Weise auf die Antike bezogen, und im Sinne der Selbstschöpfung, die zugleich eine ‘europäische’ Antike hervorgebracht hat, mag der Bogenschlag hingehen. Aber was machen wir in der Streitfrage Beschneidung und aus dieser Perspektive mit Paul Valerys Satz, unbedingt europäisch sei, was „von drei Quellen – Athen, Rom und Jerusalem – herrührt”?

Und was die antiken Autoren angeht, so lohnt es sich, genau hinzuschauen. Herodot erwähnt im 5. Jahrhundert v.Chr. die Beschneidung ganz neutral als einen Brauch, der geeignet ist, eine gemeinsame Abstammung von Völkern zu identifizieren. Die Beschneidung ist hier also ein Instrument ethnographischer Analyse; die Juden werden gar nicht erwähnt. Alle Zeugnisse, die auf die Juden eingehen und sich in der Tat vielfach abfällig über die Beschneidung äußern, sind sehr viel später entstanden. Und sehr viel später heißt hier: nach dem Makkabäeraufstand in den 60er- und 50er-Jahren des zweiten Jahrhunderts v.Chr. Dazu gleich. Verstärkt wurde das Problem durch die Konstellation, bildeten die Juden doch nicht nur eine – im antiken Polytheismus ganz unauffällige – Religionsgemeinschaft, sondern zugleich ein Ethnos mit politischen und sozialen Strukturen und dem Anspruch auf Autonomie oder gar Herrschaft (auch über Nichtjuden).

Doch zurück zum Leitartikel. Auf die schiefe Ebene gerät sein Autor mit einer historisch höchst waghalsigen Einschätzung, die in gewisser Weise aus seiner Idee von der ‘europäischen Antike’ (s.o.) folgt. Er schreibt (zutreffen), weder Assyrer noch Perser – Großreiche, zu denen die Juden in ihrer formativen Phase vom siebten bis vierten Jahrhundert gehörten – hätten an der Beschneidung Anstoß genommen. „Das änderte sich, als nach dem Siegeszug Alexanders des Großen erstmals europäische Mächte über Palästina herrschten, die mit Unverständnis und Abscheu auf Beschneidungen reagierten. Dass beschnittene Jungen in den Gymnasien gehänselt wurden, war eine vergleichsweise harmlose Seite des in der Folge aufkommenden Assimilationsdrucks. Schwerer wogen gesetzliche Verbote der Beschneidung. Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt, als 167 vor Christus Antiochus IV. den Versuch unternahm, die jüdische Religion gewaltsam zu hellenisieren. In den Makkabäerbüchern, die den folgenden Aufstand schildern, wird von Hinrichtungen ganzer Familien berichtet, weil sie einen Neugeborenen beschneiden ließen.”

Es sträubt sich schon, das Seleukidenreich als eine „europäische Macht” bezeichnet zu finden. Dieses in vielerlei Hinsicht am meisten mit Problemen belastete der sog. Diadochenreiche war großenteils mit dem ehemaligen Perserreich (ohne Ägypten) identisch und demzufolge – anders als das ptolemäische Ägypten – von zahlreichen Ethnien, Kulturen und Religionen bevölkert. Etwas anderes als Toleranz gegenüber diesen vielfältigen Traditionen kam für die neuen Herren gar nicht in Frage – solange die Angehörigen des Reiches Steuern zahlten und gehorchten. Es waren jedenfalls nicht die seleukidischen Herrscher, die „mit Unverständnis und Abscheu auf Beschneidungen reagierten”. Dem Leitartikler erscheinen die Phänomene wie ein Kontinuum: europäische Mächte (als Rahmen) – im Gymnasion wegen der Beschneidung gehänselte Jungen – „in der Folge aufkommender Assimilierungsdruck” – „gesetzliche Verbote der Beschneidung” – Versuch einer gewaltsamen Hellenisierung durch den seleukidischen König Antiochos IV. Doch die Dinge waren viel komplizierter. Deshalb muß ich etwas ausholen.

Die Geschichte der Juden im Altertum und die Entwicklung des Judentums zu einer ethnisch basierten Religion war in vielerlei Hinsicht Produkt einer Wechselwirkung mit den Großreichen der jeweiligen Zeit. Die Konstellationen wechselten zwischen machtbasierter Unabhängigkeit (so zuerst um 1000 unter David und Salomon), Teilautonomie und weitgehender Unterwerfung (Höhepunkt: die sog. Babylonische Gefangenschaft im 6. Jh.; erst in dieser Zeit entsteht der exklusive Jahwe-Monotheismus, der so kennzeichnend für das Judentum ist). Die Juden in Palästina gerieten durch den Alexanderzug nun in der Tat in den Bannkreis der hellenistischen Mächte, konkret: der Ptolemäer und der Seleukiden.

Mit dem Makkabäeraufstand im zweiten vorchristlichen Jahrhundert fand der vielleicht am weitesten gehende Versuch einer Annäherung des antiken Judentums an seine Umwelt ein jähes und folgenreiches Ende. Er hatte zwei weitreichende Folgen: Einerseits bekräftigte er das Selbstbild der Juden und ihre spezifische Lebensform, also unbedingte Gesetzestreue und Abgrenzung nach außen als Maßstab von Zugehörigkeit zum Auserwählten Volk. Andererseits prägte er dem Fremdbild, das sich andere Völker über die Juden machten und das bis dahin vor allem bei den Griechen von freundlicher Gleichgültigkeit geprägt war, einige häßliche und lange fortwirkende antijüdische Züge ein. Doch „vor der Makkabäerzeit gibt es in der griechischen Literatur keinen antijüdischen Satz, in der Geschichte keinen judenfeindlichen Akt” (Chr. Habicht).

Zentrum der jüdischen Gemeinde war nach der Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft der Zweite Tempel in Jerusalem. Die religiöse und politische Führung der Juden lag in den Händen des Hohenpriesters und der höheren Priesterschaft. 332 v.Chr. wurde Palästina von Alexander d.Gr. erobert und geriet damit unvermeidlich unter den kulturellen Einfluß des Hellenismus, das heißt der griechisch geprägten Stadtkultur. Bürger einer Polis besaßen weit mehr Ansehen als die gesichts- und geschichtslose Landbevölkerung; sie konnten sich als Teilhaber einer überlegenen, modernen Weltzivilisation fühlen und diesem Gefühl in der Ausgestaltung ihrer Städte Ausdruck verleihen. Das anzustreben war nicht etwa bloßer Opportunismus. Man vermag sich leicht vorzustellen, daß z.B. das Selbst- und Körperbewußtsein der Griechen, die Götter und Menschen in idealisierender Nacktheit darstellten, daß die Freude am schönen und freien Körper eine ungeheure Anziehungskraft ausübte, auch auf große Teile der Jugend. Die griechische Kultur erschien vielen Orientalen im Gegensatz zu ihren eigenen, angestammten Lebensformen ganz neu und sehr dynamisch, war sie doch die Kultur der neuen, militärisch und politisch überlegenen Herren. Mit dieser Kultur kamen nun auch die Juden in Palästina in Kontakt. Sich ihr anzupassen war nicht bloße Mode; eines „aufkommenden Assimilierungsdrucks” (Bingener) von außen bedurfte es nicht – und einen solchen gab es auch nicht.

Doch die ‘Hellenisierung’ bildete nicht den entscheidenden Anstoß. Vielmehr überkreuzten und ballten sich im Makkabäeraufstand mehrere, teilweise voneinander unabhängige Konfliktlinien. Zum einen: In der Diadochenzeit war Judäa zwischen den Reichen der Ptolemäer in Ägypten und der Seleukiden in Vorderasien umstritten. Es fiel zunächst an die Ptolemäer. Jerusalem und die umwohnenden Juden wurden vom Hohepriester und einem vom weiteren Priesteradel gestellten Rat, dem Sanhedrin, griech. Synhedrion regiert. Diese Regierung war auch der Ansprechpartner für die Oberherren und vor allem für den reibungslosen Zufluß der Tribute verantwortlich. In der Sicht der ärmeren landbebauenden Bevölkerung erschien die jüdische Oberschicht aus Priesteradel und Großgrundbesitzern leicht als Büttel der fernen Herren. Daß viele Vertreter dieser Oberschicht auch eine gewisse Neigung zur Kultur der Fremden entwickelten, indem sie etwa deren Sprache erlernten und ihre Namen gräzisierten, machte die Sache naturgemäß nicht leichter. Vereinfacht gesagt waren in der Sicht dieser Menschen die Armen eher fromm, die Reichen eher hellenisiert; erstere lebten eher auf dem Lande, letztere eher in Jerusalem.

198 war Judäa an die Seleukiden gefallen. Antiochos III. hatte den Juden gestattet, gemäß ihren traditionellen Gesetzen zu leben, also die Torah als Grundlage der jüdischen Gemeinschaft weiterhin hochzuhalten. Etwas anderes als religiöse Toleranz und weitgehende Selbstverwaltung und Rechtsprechung für die einzelnen Untertanengemeinden war angesichts der Größe und Vielgestaltigkeit des Seleukidenreiches auch gar nicht denkbar. Aber der Großmachtanspruch der Seleukiden und vor allem der anhebende Konflikt mit Rom, in dem sie militärisch immer den kürzeren zogen und große Kriegsentschädigungen zahlen mußten, kosteten sehr viel Geld, das von den Untertanen aufgebracht werden mußte. Die seleukidischen Könige verfolgten gegenüber den Juden zwei Ziele: Fortdauer der Loyalität und Ruhe einerseits, Steigerung der Einnahmen andererseits. Konträre Ziele gleichzeitig zu verfolgen ging schon in der Antike nicht lange gut. Das war die eine Ebene. Eng mit der Großmächterivalität verbunden waren die Machtkämpfe innerhalb der jüdischen Aristokratie. Auch der Sanhedrin stellte keineswegs ein homogenes Gremium dar; er umfaßte auch sehr verschiedene Richtungen des Gesetzesverständnisses. Um das Amt des Hohepriesters konzentrierten sich die machtpolitischen Auseinandersetzungen. Im Vorfeld des Makkabäeraufstandes setzten die um dieses Amt und die damit verbundene Machtstellung streitenden Aristokraten ein Mittel ein, das sich als explosiv erweisen sollte: sie erwarben das auf Lebenszeit vom König vergebene Amt durch große Geldbeträge und noch größere Geldversprechen.

Dies begann nach dem Regierungsantritt von Antiochos IV. Epiphanes 175 v.Chr., als ein gewisser Jason das Amt des Hohepriesters gegen erhöhten Tribut und eine hohe einmalige Zahlung erwarb. Als Gegenleistung erhielt Jason die Zusage, in Jerusalem ein Gymnasion und eine Ephebie, also griechisch geprägte Sport-, Kultur- und Bildungseinrichtungen einrichten sowie die Bürgerliste für die ins Auge gefaßte Polis aufstellen zu dürfen. Das Gymnasion sollte wie die Ephebie das sichtbare Zeugnis für diese Anpassung an griechische Lebensformen darstellen. Die Initiative zu dieser politischen und kulturellen Hellenisierung ging dabei mitnichten von Antiochos IV. aus. Vielmehr hatte Jason offenbar Grund zu der Annahme, daß dieser Akt in weiten Kreisen der jüdischen Oberschicht auf Zustimmung stoßen würde. Sogar viele Priester verbrachten ihre Zeit lieber mit Diskuswerfen, als daß sie ihren Tempeldienst versahen. Die Aristokraten, die am Wohlstand und der Weltoffenheit der Griechen teilhaben wollten, gingen gern ins Gymnasion und schickten ihre Söhne bereitwillig zur Ephebie, ja, einige ließen sich sogar ihre beschnittene Vorhaut operativ wiederherstellen (epispasmos), um beim nackten Turnen keinen Anstoß zu erregen (davon war hier schon einmal im Zusammenhang mit Judäa in der Römerzeit die Rede). Doch solche Radikalität blieb wohl vereinzelt. Insgesamt richtete sich die Entscheidung für Gymnasion, Ephebie und Polisverfassung nicht gegen die Religion oder das Gesetz der Väter, etwa aus einem ‘aufgeklärten’ Reformgeist heraus, wie man dies früher annahm. Die Hellenisten wollten lediglich nach außen den Anschluß an die hellenistische Weltkultur finden, welche Judäa in Gestalt zahlreicher hellenistischer oder hellenisierter Städte umgab, wollten nicht länger die Oberschicht eines barbarisch-hinterwäldlerischen Ethnos sein. Die Hellenisierung der Oberschicht durch griechische Sprache, griechische Namen und griechische Literatur dauerte schon lange und war bereits weit fortgeschritten; sie sollte nun auch in sichtbaren Lebensformen und Institutionen ihren Ausdruck finden, zumal auch die unmittelbare Umwelt der Juden etwa in Syrien schon weitgehend hellenisiert war. Hellenistische Poleis mit ihren Staatsorganen, also Jahresbeamten, Rat und Volksversammlung genossen schlicht ein höheres Ansehen als ein von Priestergeschlechtern regiertes Ethnos, zudem ein höheres Maß an (formaler) Unabhängigkeit. Dieser Prozeß hatte in hohem Maße emergenten Charakter; für die Selbsthellenisierung genügten Anreize und Distinktionsaussichten.

Die Hellenisierungsbestrebungen innerhalb der Oberschicht zielten nach außen, auf ein Anschließen an den internationalen Standard. Gegenüber der ärmeren Bevölkerung, den Handwerkern und den Bauern und Pächtern sollten die alten Machtverhältnisse nicht verändert werden, da hier der Glaube Grundlage des Gehorsams war. Das Gymnasion und Ephebie wurden ja auch nur von Juden genutzt, die hinreichend Wohlstand und Muße besaßen; die Reform war also gar nicht an die Mehrheit der Bevölkerung adressiert und strebte auch keine Umwälzung der jüdischen Religion an. Es ist allerdings fraglich, ob dieser Spagat gelingen konnte, ob also die Religion ihre traditionelle Ordnungsfunktion weiter wahrnehmen konnte, wenn sie nur noch Religion, nicht mehr Staatsverfassung war und sich damit die Frage nach der Legitimation der politischen Herrschaft ganz neu stellte. Vermochten Tempel und Torah langfristig die Mitte einer hellenistischen Polis zu bilden?

Die Reform Jasons war ohne Zweifel von Anfang an mit Schwierigkeiten belastet, etwa deswegen, weil der Besuch eines Gymnasions für strenge Juden schwierig war, nicht nur wegen der Beschneidung, sondern auch wegen der mit Sport und Wettkampf verbundenen Kulte. Wenn Jasons Politik erfolgreich sein sollte, mußte die Mehrheit der jüdischen Aristokratie geschlossen hinter ihr stehen, und der innere und äußere Friede mußten gewahrt bleiben, damit eine langsame Gewöhnung erfolgen konnte. Beide Voraussetzungen aber wurden nicht erfüllt, denn die Reform fiel zeitlich zusammen mit einer Entwicklung, die schließlich zur Explosion führte.

Im Jahre 172/71 v.Chr. gelang es dem vornehmen Juden Menelaos, Jason vom Amt des Hohepriesters zu verdrängen. Er erkaufte dies mit einer drastischen Erhöhung des an Antiochos abzuführenden Tributs und mit weiteren erheblichen Geldzusagen. Diese Zusagen begründeten Ansprüche des Königs. Menelaos mußte sogar zum Tempelraub schreiten, um die versprochenen Summen zahlen zu können. Dies vergrößerte die religiös motivierte Opposition gegen ihn natürlich, die sich wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt in der sog. Vereinigung der Frommen, einer Gemeinschaft aus Priestern und Laien auf der Grundlage strengsten Gesetzesgehorsams, organisierten. Die Ansätze zur hellenistischen ‘Reform’ hatte dieser bereits faktisch abgewürgt, da sie die Idee des Rivalen Jason gewesen war. Zudem schlossen sich nun dessen Anhänger den traditionalistischen Kritikern der bisherigen Politik an. Die Gruppe der Hellenisten war damit gespalten. Der letzte Anstoß aber kam von außen.

Antiochos IV. forderte im Herbst 170 v.Chr. im Zusammenhang mit einem Ägyptenfeldzug von Menelaos die versprochenen Summen, die dieser nur dadurch aufbringen konnte, daß er den König in den Tempel führte und dessen gesamtes Inventar aushändigte, so daß nicht einmal mehr die Kulthandlungen vollzogen werden konnten. Die Empörung darüber war so groß, daß der abgesetzte Jason während Antiochos’ zweitem Ägyptenfeldzug zwei Jahre später einen Anschlag auf Jerusalem unternahm und mit Hilfe pro-ptolemäischer Freunde den verhaßten Menelaos vertrieb. Dieser floh zu Antiochos, der den Vorgang aus seiner Sicht als einen Akt des politischen Aufstandes verstehen mußte. Nachdem die Römer ihn überdies zum Rückzug aus Ägypten gezwungen hatten, drang er im August oder September 168 in Jerusalem ein und bestrafte die Stadt nach Kriegsrecht: Viele Einwohner wurden getötet, andere in die Sklaverei verkauft. Eine seleukidische Militärkolonie aus nichtjüdischen Orientalen wurde in Jerusalem niedergesetzt, die ihre Basis in der sog. Akra hatten, einer großen Zitadelle wohl südwestlich des Tempelberges. Nach diesen Ereignissen war Menelaos innerhalb der Juden vollständig und endgültig isoliert. Antiochos glaubte jedoch an ihm festhalten zu müssen, denn er war sein einziger verbliebener Parteigänger. Und Menelaos brauchte die Speere des Königs, um sich und seine Clique überhaupt an der Macht halten zu können.

Doch die Zwangsmaßnahmen gegen die Juden reichten noch sehr viel weiter. Antiochos erließ nun seine berüchtigten Religionsedikte, wie sie in den Makkabäerbüchern des Alten Testaments aufgeführt sind: Verbot des Opferkultes; Einrichtung neuer Kulte mit Schweinefleischopfern; Beschneidungsverbot; Verbrennung der Heiligen Bücher.

Diese Edikte wurden im Zusammenhang mit einer militärischen Straf- und Sicherungsaktion verkündet, reagierten also auf den politischen Abfall der Menelaos-Gegner in Jerusalem. Es lag Antiochos ganz fern, von sich aus den Juden eine andere Religion aufzwingen zu wollen. Dies wäre mit der üblichen seleukidischen Herrschaftspraxis ganz unvereinbar gewesen, und es deutet nichts darauf hin, daß die Urheber der Maßnahmen eine Annäherung an die griechische Religion beabsichtigt hätten oder eben den Versuch unternommen hätte, „die jüdische Religion gewaltsam zu hellenisieren” (Bingener). Die Quellen belegen vielmehr, daß Antiochos in diesem Fall auf die Initiative des Menelaos hin handelte, also in einem innerjüdischen Streit Partei ergriff. Und offensichtlich ging der Inhalt der Edikte nicht auf Griechen, sondern auf Juden zurück. Der Glaubenszwang war kalkuliert darauf angelegt, die Juden zum Bruch mit ihrer Religion zu zwingen und so ihre Identität zu zerbrechen. Die Maßnahmen verraten eine genaue Kenntnis der jüdischen Religion und der jüdischen Mentalität. Treffsicher wurden gerade uralte Kernbestandteile wie Beschneidung und Speisevorschriften verboten. Dieser in der ganzen Antike einzigartige Versuch, die jüdische Religion und die jüdische Sonderart auszurotten, wurde eben nicht von einem hellenistischen König unternommen, um einem „europäischen” Ideal der Aufklärung zum Siege zu verhelfen. Er wurde vielmehr von einem Mitglied der jüdischen Elite ins Werk gesetzt, der durch sein persönliches Machtstreben fast alle Juden in einen religiös motivierten Widerstand getrieben hatte. Um diesen Widerstand zu brechen, glaubte Menelaos, die jüdische Religion und das jüdische Gesetz, das einigende Band der sonst recht heterogen Widersacher, mit Stumpf und Stiel vernichten zu müssen. Antiochos ging darauf ein, weil er, wie gesagt, noch annahm, an Menelaos festhalten zu müssen, und weil es ihm nach der Eskalation des Konfliktes einleuchten mochte, nunmehr die ihm genannten Ursachen für die Widerstrebigkeit der Juden zu bekämpfen.

In der historischen Rückschau und der ‘nationalen’ Traditionsbildung verschmolzen für die Juden die Hellenisierung als ‘sanfte’ Abwendung vom Gesetz der Väter mit der Verfolgung als der brutalen Variante, und Interpreten wie der Leitartikler vollziehen diese auf den ersten Blick ja so einleuchtende Homogenisierung nach. Dazu trug wohl auch die beschönigende Deklaration des Religionsverbotes durch Menelaos und die Kanzlei des Antiochos bei, von wo aus die Zwangsmaßnahmen propagandistisch als Versöhnung mit den anderen Völkern, als Vollendung des Hellenismus, als Beseitigung des Aberglaubens ausgegeben wurden – obwohl die Verbote weder mit Assimilierung noch mit Hellenisierung noch mit Reformjudentum auch nur das Geringste zu tun hatten. Die einschneidende Folge dieser Amalgamierung von Hellenisierung und Religionsverbot zu einem Kontinuum war, daß Judentum und Hellenismus seither als fast unversöhnliche Gegensätze betrachtet wurden.

Wie ging es weiter und aus? Viele Juden hatten auf die Unterdrückungsmaßnahmen zunächst mit passivem Widerstand reagiert, indem sie in unzugängliche Gegenden flohen. Der aktive Widerstand kristallisierte sich um die Familie der Hasmonäer mit ihrem greisen Oberhaupt Mattathias und seinen fünf Söhnen, deren ältester – Judas – später den Beinamen Makkabi (aram. maqqaba – der Hammerartige) erhielt (daher Makkabäeraufstand, während die später begründete Dynastie dieser Familie Hasmonäer-Dynastie hieß).

Den Aufständischen ging es in erster Linie um die Religion und das Gesetz, aber auch der Stadt-Land-Gegensatz spielte eine gewichtige Rolle. In dem sich nun entwickelnden Krieg tat sich besonders Judas Makkabäus als militärischer Anführer hervor. Der Kampf um die väterliche Lebensform und die Restitution des Tempels einte sonst sehr heterogene Gruppen der jüdischen Bevölkerung. So gewann der Widerstand rasch eine beträchtliche Durchschlagskraft, und Judas Makkabäus erzielte bemerkenswerte Erfolge gegen die seleukidischen Strategen. Gegner in diesem mit großer Brutalität geführten Kampf waren nicht nur die seleukidischen Heere, sondern auch die Lauen und Abtrünnigen in den eigenen Reihen.

Die Details der wechselvollen Kämpfe spielen hier keine Rolle. Der seleukidische Feldherr Lysias hatte den Plan verfolgt, die Aufstandsbewegung dadurch zu spalten, daß er den Forderungen der Frommen, die keine machtpolitischen Ziele anstrebten, erfüllte, indem er die jüdische Kultausübung wieder zuließ und Menelaos als Hoherpriester fallenließ. Aber Judas Makkabäus überholte gleichsam alle Pläne und eroberte Ende 164 v.Chr. Jerusalem, reinigte den Tempel und stellte den Tempelkult wieder her. Die Erinnerung an dieses Ereignis begehen die Juden noch heute mit dem Hanukka-Fest im Dezember. Nachdem damit faktisch der status quo ante erreicht war, hätte theoretisch einer Verständigung nichts mehr im Wege gestanden. Daß es nicht dazu kam, lag an der Person des Judas Makkabäus und der Dynamik, die die Bewegung inzwischen erlangt hatte. Nun ging es nicht mehr um die Wiederzulassung der jüdischen Religion, sondern um den Schutz der jüdischen Glaubensbrüder in den an Judäa angrenzenden nichtjüdischen Gebieten sowie um Rache für das erlittene Unrecht. Diese Ziele lagen nahe und waren überdies geeignet, die Bewegung nach den ersten Erfolgen zusammenzuhalten und weiter zu mobilisieren. Außerdem konnte man sich darauf berufen, die jüdischen Gemeinden in den umliegenden Gebieten schützen zu müssen. Der Kampf um die Existenz der jüdischen Religion wurde so zu einem Kampf um ihre Ausdehnung, was für die Makkabäer vielleicht auch dasselbe war. 153 v.Chr. wurde Jonathan von den Seleukiden offiziell zum Hoherpriester in Jerusalem ernannt und war damit legitimes Haupt des jüdischen Volkes. Sein Nachfolger Simon trug seit 140 v.Chr. den Titel „Hoherpriester, Feldherr und Fürst der Juden und Priester”; er hatte das Recht, Münzen zu prägen, und präsentierte sich mit Purpur und Goldschmuck wie ein hellenistischer König. Es begann ein knappes Jahrhundert eines unabhängigen und tendenziell expansiven jüdischen Machtstaates (der auch das Zwangsbeschneidungen bei unterworfenen Ethnien anordnete, so 126 gegenüber den Edomitern), bis 63 v.Chr. Pompeius den ganzen Vorderen Orient neu ordnete.

 

Die weitere historische Skizze des Leitartiklers ist übrigens lehrreich und (abgesehen vom „Druck zur Assimilation”) zustimmungsfähig: „Dieser Konflikt ist prägend für die jü­dische Religion bis in die Gegenwart. Er fand seinen Niederschlag in den Schriften des Judentums, die wieder und wieder einschärfen, dass der Fort­bestand des Volkes vom Festhalten an identitätsstiftenden Ritualen abhängt. Die Selbstbehauptung gegen die helle­nistischen Herrscher führte auch zu Änderungen in der Praxis der Be­schneidung: Juden, die sich dem Druck zur Assimilation beugen wollten, konnten sich in der Antike einer kosmeti­schen Operation unterziehen, welche die Beschneidung rückgängig machte. Die jüdischen Autoritäten zogen dar­aus die Konsequenz, den Eingriff in sei­nem Umfang dahin gehend auszuwei­ten, dass er nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Beschneidung in ihrer heutigen Form ist vielfach bereits also das Ergebnis ihrer Infragestellung.”

 

- Klaus Bringmann, Hellenistische Reform und Religionsverfolgung in Judäa. Eine Untersuchung zur hellenistisch-römischen Geschichte (175-163 v.Chr.). Göttingen 1983

- Ders., Die Verfolgung der jüdischen Religion durch Antiochos IV. – Ein Konflikt zwischen Judentum und Hellenismus?, in: Antike und Abendland 26, 1980, 176-190

- Martin Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v.Chr. Tübingen 3. Aufl. 1988

- Christian Habicht, Hellenismus und Judentum in der Zeit des Judas Makkabäus, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1977, 97-110

- Peter Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike. Stuttgart 1983, 2. durchges. Aufl. Tübingen 2010

- The Cambridge History of Judaism. Vol. II: The Hellenistic Age. Ed. by W.D. Davies/L. Finkelstein. Cambridge 1989.

 

von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.

Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/11/europaeische-aufklaerung-gegen-juedische-beschneidung-seit-2200-jahren-405/

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aventinus visio Nr. 4 [07.11.2012]: Gegen die „Gegen-Legenden“ Eine Neubewertung der Entstehungsgeschichte von ‘Das Cabinet des Dr. Caligari’

http://www.aventinus-online.de/visio/neuzeit/art/Gegen_die_Ge/html/ca/view Der Beitrag zeigt die grundlegenden Argumentationslinien der verschiedenen Beteiligten, wie auch der Filmhistoriker auf und versucht gleichzeitig einzelne Argumente auf ihre Schlüssigkeit und Belastbarkeit zu überprüfen.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/11/3582/

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Informationen des Medienzentrums der Technischen Universität München zu E-Learning

http://www.mz.itsz.tum.de/elearning/ Auf seinen Internetseitem bietet das Medienzentrum der TUM zahlreiche Informationen und Praxisbeispiele zum Einsatz von E-Learning in Lehre und Studium. Eine Linkliste und ein Veranstaltungskalender runden das Angebot  ab, welches nicht nur für TUM-Angehörige interessant ist.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/11/3577/

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Wie Bilddatenbanken nach Schlagworten jagen

Die Verschlagwortung von Bilddatenbanken ist besonders effektiv, wenn möglichst viele Personen daran mitarbeiten. Wichtig ist, dass nicht nur Fachleute, sondern jeder mitmachen kann, das nennt sich dann Crowdsourcing und die Eingabe von Schlagworten nennt man taggen.

Auf den vier folgenden Websites kann man Bilder taggen. Durch die jeweils in unterschiedlichem Maß vorhandenen Zusatzinformationen zum jeweiligen Bild, erhält der Spieler in ebenfalls unterschiedlichem Maß Hinweisreize (Schlüsselreize), die zur Eingabe von Schlagworten animieren sollen. In welcher Art diese Hinweisreize gegeben werden, wird in den folgenden Abschnitten kurz dargestellt:

  • Bei Your Paintings werden Informationen zu Titel, Datierung, Technik, Maßen und Ort angezeigt. Um die Eingabe von Tags zu bewirken, werden sehr spezifische Schlüsselreize in Form folgender Fragen gestellt: What things or ideas can you see in this painting? Can you name any people in this painting? What places are shown in the painting? Does this painting relate to any event? Is there a clue in the title? What type of paining is it? What subjects do you see in this painting?
    Außerdem gibt ein Thesaurus bei der Eingabe der Tags Hilfestellung. Diese Site stellt dem Anwender die am meisten thematisch fokussierten Hinweisreize zur Verfügung.

Your Paintings

Bild 1: Screenshot Your Painings

  •  explorARTorium zeigt neben dem zu indizierenden Bild bereits vorhandene Tags an und der Spieler wird aufgefordert, neue (andere) Tags einzugeben. Außerdem kann sich der Tagger Zusatzinformationen wie Titel, Künstler, Region, Genre und Datierung anzeigen lassen.

explorARTorium

Bild 2: Screenshot explorARTorium

  • Das Brooklyn Museum zeigt unterhalb des Bildes eine kurze Beschreibung, die z.B. den Titel, Datierung und Maße nennt. Aus diesem Text kann der Spieler häufig einige Schlagworte entnehmen.

Brooklyn Museum

Bild 3: Screenshot Brooklyn Museum

  • Bei ARTigo erhält der Spieler während des Taggens keinerlei Information zum Bild. Die Zusatzinformationen, wie Titel, Künstler etc. werden erst nach einer Spielrunde von 5 Bildern dargeboten. Bei diesem Spiel vergibt der Spieler in sehr freier Art Schlagworte, denn seine Assoziationen werden nicht von Informationen wie dem Titel oder der Entstehungszeit des Bildes gebahnt.
    Die vorhandene Rechtschreibhilfe korrigiert eingegebene Begriffe, bietet aber nicht wie bei Your Paintings, Begriffe in Form eines Thesaurus an.

ARTigo

Bild 4: Screenshot ARTigo

Wie man bei den vier genannten Beispielen sehen kann, erfolgen die angezeigten Hinweisreize in unterschiedlicher Art und Menge. Werden bei ARTigo keine Schlüsselreize außer dem Bild angezeigt, so werden bei Your Paintings spezifische Fragen und ein umfangreicher Thesaurus eingesetzt. Es ist zu vermuten, dass die eingegebenen Schlagworte dies reflektieren. Daraus ergeben sich eine Menge Fragen:

  • Bei welcher Methode ist die Bandbreite der Schlagworte am größten?
  • Bei welcher Methode werden die meisten kunstgeschichtlichen Fachbegriffe eingegeben?
  • Wie wirken sich die angezeigten Zusatzdaten auf die Tags z.B. hinsichtlich Qualität und Quantität aus?
  • Welche Elemente machen die Methoden als Spiele attraktiv, bzw. auf welcher Site geben die Tagger während einer Session die meisten Schlagworte ein?
  • Wie wirkt sich die Anzeige bereits vorhandener Tags auf die Assoziationsfreude der Tagger aus?
  • Zu welchem Ergebnis führt ein umfangreicher Thesaurus beim Taggen?

Durch einen Vergleich der Tagging-Methoden wäre herauszufinden, welche Hinweisreize in welcher Kombination den Tagger animieren, qualitätsvolle Tags einzugeben und welche möglicherweise seine Assoziationen einschränken. Jede Darstellung von Zusatzinformation bedeutet schließlich einen entsprechenden Arbeitsaufwand. Deshalb wäre auch zu klären, wie viel Einsatz nötig ist, um ein Maximum an qualitativ hochwertigen Schlagworten zu erhalten. Es wäre schade, mit viel Aufwand das Gegenteil von dem zu erreichen, das man gerne hätte – qualitätshaltige Schlagworte.

Quelle: http://games.hypotheses.org/718

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In die Bibliothek: Plutarchs Moralia in alt-neuer Gestalt

Nach zuletzt viel Politik hier wieder eher Schöngeistiges. Der in Wiesbaden ansässige marixverlag hat sich vor einiger Zeit darangemacht, ältere Übersetzungen umfangreicher antiker Werke zu fairen Preisen neu herauszubringen; er steht damit in der Nachfolge nicht mehr existierender Häuser wie Phaidon, Fourier oder Magnus. Erschienen sind zuletzt Gesamtausgaben, die aktuell entweder gar nicht oder nur (in anderer, neuerer Gestalt) wesentlich teurer zu haben sind, zuvörderst...(read more)

Quelle: http://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2012/11/10/in-die-bibliothek-plutarchs-moralia-in-alt-neuer-gestalt.aspx

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Archivreport extra: Stadtarchiv Stralsund

http://www.stralsund.de/stadtarchiv Die traditionsreiche Hansestadt Stralsund, deren Altstadt zum UNESCO-Welterbe gehört, hat im Sommer 2012 einen Teil ihrer historischen Archivbibliothek – diese gehört in Mecklenburg-Vorpommern zu den vier größten Altbestandsbibliotheken – an einen Antiquar zu einem nicht genannten Betrag veräussert. Dies betraf nach Angaben der Stadt den Großteil der historischen Gymnasialbibliothek, deren Umfang im “Handbuch der […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/11/3559/

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In die Bibliothek: Plutarchs Moralia in alt-neuer Gestalt

Nach zuletzt viel Politik hier wieder eher Schöngeistiges. Der in Wiesbaden ansässige marixverlag hat sich vor einiger Zeit darangemacht, ältere Übersetzungen umfangreicher antiker Werke zu fairen Preisen neu herauszubringen; er steht damit in der Nachfolge nicht mehr existierender Häuser wie Phaidon, Fourier oder Magnus. Erschienen sind zuletzt Gesamtausgaben, die aktuell entweder gar nicht oder nur (in anderer, neuerer Gestalt) wesentlich teurer zu haben sind, zuvörderst Livius, die Geographika Strabons und die Enzyklopädie des Älteren Plinius sowie Cassius Dios Römische Geschichte.

Aktuell erschienen sind zwei Bände mit Plutarchs Moralia, einer Sammlung sehr verschiedener Schriften zur Moralphilosophie, Lebensführung, Religion, Geschichte und vielen anderen Gegenständen. Da gibt es Tischreden, ein Gespräch über die Liebe, einen Traktat über das Fleischessen, eine lokalpatriotische Polemik des aus Boiotien stammenden Autors gegen Herodot („Pindar, Epaminondas und Plutarch, drei Männer, die der Kartoffeln-Luft von Böotien, in der sie geboren waren, Ehre machen”, so Lichtenberg). Oder die Abhandlung, „ob ein Greis noch Staatsgeschäfte treiben soll”.

„Verschieden wie die Form”, so bilanziert Rudolf Hirzel in seinem vor genau einhundert Jahren erschienen, immer noch sehr lesenswerten Plutarch-Buch, „ist der Inhalt der Schriften, ja er ist der denkbar mannigfaltigste. Er (…) übertrifft durch diese Buntheit weit die Schriften von Plutarchs älterem Zeitgenossen Seneca. Überall wird den Problemen nachgespürt, die sich in Wissenschaft und Leben darbieten, nicht bloß alten Problemen, sondern auch neuen, die der Augenblick, auch wohl nur der gesellige Scherz erfindet. In alle Winkel der Theorie und der Praxis wird hineingeleuchtet und trotzdem keine systematische Vollständigkeit bezweckt, vielmehr ist der Inhalt so, wie er den mannigfachen persönlichen Beziehungen Plutarchs entspricht und wie ihn die größte der Musen, die Gelegenheit, denen gewährt, die ihren Wink verstehen. Allerlei Anlässe, oft nur einzelne Vorfälle des Lebens, ergreift Plutarch, um als Berater und Lehrer seiner Familie und seiner Freunde sich hören zu lassen, sei es in eigner Person oder durch den Mund anderer, ermahnend oder erzählend, bisweilen, doch viel seltener, und – so scheint es – in einem gewissen Jugendübermut, auch nur um seinen Witz – wie er so ergötzlich sich bekundet im philosophierenden Schwein, das den klugen Odysseus belehrt – oder seine rhetorische Schulung in der Durchführung mehr oder minder paradoxer Behauptungen zu zeigen.”

Nun wäre es viel zu aufwendig und langwierig, den gesamten Textbestand der Moralia neu übersetzen zu lassen, und neuere vorliegende Übertragungen bieten immer nur einige Schriften. Der Verlag ist daher pragmatisch verfahren: Neu gedruckt wurde die zwischen 1828 und 1861 in 26 Lieferungen als Teil der von Osiander und Schwab veranstalteten Reihe Griechische und römsiche Dichter und Prosaiker in neuen Uebersetzungen vorgelegte Version der Moralischen Werke aus der Feder von vier Gelehrten. Durch die Bemühungen der Herausgeber, v.a. von Christian Weise, ist ein etwas zwitterhaftes Wesen entstanden, wurden doch die erklärenden Fußnoten des Originals um zahlreiche neue Anmerkungen und Literaturhinweise ergänzt, so daß „die Beigaben an den Stand der modernen Plutarch-Philologie heranreichen, der Text dagegen unverändert eine Übersetzung des vorletzten Jahrhunderts wiedergibt” (S. 9). Geboten wird also ein „Lesetext”, der es erlaubt, die Fülle und den Reiz dieser Schriften wiederzuentdecken. „Wer darüber hinaus eine wissenschaftlich zitierfähige Übersetzung benötigt, wird die einschlägigen kritischen Ausgaben konsultieren.” Nun sind eine Übersetzung und eine kritische Ausgabe zwei sehr verschiedene Paar Schuhe, und man kann sich fragen, an wen sich die Mühen, den Anmerkungsapparat mit zahlreichen Verweisen auf andere Quellen und Anspielungen Plutarchs zu vervollständigen und zu aktualisieren, eigentlich richten, wenn der fachlich orientierte Leser auf andere Ausgaben verwiesen wird und der interessierte Laie hier nur einen Lesetext finden soll. Vielleicht wäre es besser gewesen, keine Ergänzungen vorzunehmen, sondern den Zeitaufwand in eine behutsame Modernisierung der Übersetzung – und sei es nur in der Orthographie – zu investieren.

Machen wir die Probe. Die erste Schrift nach dem Editorischen Vorwort handelt von der Kindererziehung. Weil davon hier schon zweimal die Rede war: Von der Prügelstrafe hält auch der kultivierte Plutarch nichts; die Kinder sollten „stets durch Ermahnungen und Vorstellungen, keineswegs aber durch Schläge und Mißhandelungen” zu rühmlichen Bestrebungen angehalten werden; rüde Erziehungsmethoden seien allenfalls für Sklaven angemessen; generell machen solche Mittel „stumpf und schrecken von jeder Anstrengung ab” (8f). Das hohe Lied auf Bildung als einzig beständiges Gut in allen Wechselfällen des Lebens liest sich hier so (5c-d):

„Ich betone), daß tüchtige Erziehung und ein ordnungsgemäßiger Unterricht hier die Hauptsache, Anfang, Mitte und Ende ist; daß Dieß besonders förderlich und wirksam zur Tugend wie zur Glückseligkeit ist. Die übrigen Güter sind irdisch und gering, sie können nicht ein würdiger Gegenstand unserer Bestrebungen werden. Edle Geburt ist allerdings etwas Auszeichnendes; aber es ist ein Gut der Vorfahren. Reichthum ist schätzenswerth; aber er ist eine Gabe des Glücks, das ihn bekanntlich oft Denen entzieht, die ihn besitzen und Andern wider Erwarten zuführt; auch ist großer Reichthum das Ziel Aller, die auf Beutelschneiderei ausgehen, aller boshaften Sclaven und Verläumder, überdem, was das Aergste, es besitzen ihn auch die Verworfensten. Ruhm ist fürwahr etwas Hohes, aber er ist unsicher; Schönheit ist ein theures Gut, aber sie währt nur kurze Zeit. Gesundheit ist etwas Köstliches; aber sie ist leicht veränderlich. Stärke ist wohl etwas Wünschenswerthes, aber sie kann durch Krankheit und Alter leicht entrissen werden; wie denn überhaupt Derjenige, der auf seine Körperstärke sich viel einbildet, überzeugt seyn darf, daß er gewaltig irrt. Denn was ist des Menschen Kraft im Vergleich mit der Kraft anderer Geschöpfe, z. B. eines Elephanten, eines Stiers oder eines Löwen. Unter Allem, was wir besitzen, ist Geistesbildung allein ein unsterbliches, göttliches Gut.”

Auf Dauer ist das etwas anstrengend. Aber man kann die Lektüre ja kürzer oder ausgedehnter halten. Und unter viel Skurrilem leuchten die zeitlosen Sätze umso heller. Oder mit Goethe:         „Hab immer den Plutarch gelesen. / »Was hast du denn dabei gelernt?« / Sind eben alles Menschen gewesen.”

 

Plutarch, Moralia. Herausgegeben von Christian Weise und Manuel Vogel.2 Bde., ca. 1920 S., geb., € 39,95

von Uwe Walter erschienen in Antike und Abendland ein Blog von FAZ.NET.

Quelle: http://blogs.faz.net/antike/2012/11/10/in-die-bibliothek-plutarchs-moralia-in-alt-neuer-gestalt-404/

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Das Elend mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz – jetzt auch für studentische Hilfskräfte?

Was für ein Wortmonster! Alle, die “Wissenschaftszeitvertragsgesetz” flüssig aussprechen können, sollten eine Auszeichnung dafür bekommen. Aber halt, da bleibt doch so manchem schon das Wort im Hals stecken. War da nicht etwas mit dem WissZeitVG? Richtig! Man könnte es auch den Tod der Privatdozent_innen nennen oder den Fluch der wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen. Neuerdings fallen nach Auffassung der 15. Kammer des Landesarbeitsgerichts Berlin auch studentische Hilfskräfte unter die Fristenregelungen des Gesetzes. Sprich: wer als HiWi für die Wissenschaft rackert, bekommt diese Zeit auf die maximal sechs Jahre bis zur Promotion angerechnet. So sieht man es jedenfalls in Berlin – mit einer Rechtsauffassung, die meiner Meinung nach auf keinen Fall Schule machen darf.

Was ist hier im Urteil vom 8. August 2012 mit Aktenzeichen 15 Sa 1002/12 passiert? Offenbar erfolgt zunächst eine folgenschwere Gleichsetzung der studentischen Hilfskraftstellen mit Positionen von wissenschaftlichen Mitarbeitern. Ganz klar: Ohne Hilfskräfte geht in der Wissenschaft gar nichts; viel reale Arbeit und manche wissenschaftshistorische Entdeckung wäre ohne sie nicht denkbar. Trotzdem setzt die Tätigkeit auf Mitarbeiterstellen den Magister, Master- oder Diplomabschluss voraus. Dann beginnt die Uhr zu ticken und wird sechs Jahre lang lauter. Das Berliner Landesarbeitsgericht aber hält — gegen den gesunden Menschenverstand und die bisherige Auslegung des Gesetzes über befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft — fest:

“1. Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 WissZeitVG sind alle befristeten Arbeitsverhältnisse auf die Beschäftigungshöchstdauer von sechs Jahren anzurechnen. Dies betrifft somit auch Arbeitsverträge als studentische Hilfskraft.”

Dies beißt sich mit dem Wortlaut von § 2, Abs. 3, Satz des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes:

“Zeiten eines befristeten Arbeitsverhältnisses, die vor dem Abschluss des Studiums liegen, sind auf die [...] zulässige Befristungsdauer nicht anzurechnen.” [1]

Trotz dieser sehr eindeutigen Formulierung hat das Landesarbeitsgericht die Berufung des Klägers zurück gewiesen (siehe den Langtext). Gilt von nun an in Berlin, dass eine Arbeit als wissenschaftliche Hilfskraft die wissenschaftliche Karriere verhindert? Man stelle sich das einmal auf der Verwaltungsebene vor: Mühselig wird geprüft, ob der einzustellende Mitarbeiter sich schon des Hilfskraftswesens schuldig gemacht hat… Für die Berliner Hochschulen dürfte die nun geschaffene Rechtsunsicherheit Folgen haben; für aufstrebende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso. “Wir können sie leider nicht einstellen, sie waren ja schon Hilfskraft bei uns.” Na denn man tau.

Sachdienliche Hinweise zur Beendigung dieses Irrwitzes, gerne auch von juristischer Seite, bitte in den Kommentaren oder direkt an blogs /at/ maxweberstiftung.de.

[1] Ob man schon an Bachelor und Master gedacht hat, als dies so paraphiert wurde?

 

Quelle: http://gab.hypotheses.org/412

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White Charity – Repräsentationen von “race” und “whiteness” auf Spendenplakaten von Hilfsorganisationen

Am Dienstag ist mir am Würzburger Bahnhof ein Werbeplakat der protestantischen Hilfsorganisation Diakonie aufgefallen, das an sich typisch ist für die bildliche Präsentation leidender Menschen in der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe: als nicht-weiß, nicht-europäisch, als unmündige Kinder und als hilflose Opfer.

Plakat der Hilfsorganisation Diakonie am Würzburger Hbhf., Foto: R. Hölzl, 6.11.2012.

Die Website “White Charity” analysiert die Bildstrukturen und Wirkungen von derlei Spendenwerbeplakaten aus Sicht der Postcolonial Studies.  In diesem Blog-Eintrag stelle ich diese hervorragende Seite kurz vor. Am Ende will ich an dem Diakonie-Plakat, das stellenweise über bisherige Bildstrategien hinausweist, versuchen, einige kritische Ergänzungen zu den Analysen von White Charity zu machen.

Die multimediale Website “White Chartity” der Berliner Kulturwissenschaftler/innen Carolin Philipp und Timo Kiesel analysiert die fortgesetzte Präsenz von kolonialen und rassisierten Bildstrukturen in Plakatkampagnen deutscher Hilforganisationen. Neben downloadbaren Publikationen von Kiesel und Philipp bietet die Seite eine Bibliografie, externe Links, eine Sammlung von Spendenplakaten und eine Reihe von Adbusts (ironisch-kritische Verfremdungen von Werbeplakaten). Im Zentrum des Projekts steht ein sehr gelungener Dokumentarfilm, produziert von Kiesel und Philipp, in dem eine Reihe von Interview-Partnern zu Spendenplakaten befragt werden, darunter der Politikwissenschaftler Aram Ziai, die Psychoanlytikerin Grada Kilomba und die Literaturwissenschaftlerin Peggy Piesche. Daneben kommen Vertreter/innen von Hilfsorganisationen zu Wort, die Kampagnen erklären. In den Film hineinmontiert wurden Spoken-Word-Performances von Philipp Khabo Köpsell und Animationen von Jana Döll. Die Low-Budget-Produktion erreicht damit nicht nur eine kritische Analyse der Spendenkampagnen, sondern kann den durchaus rafiniert gestalteten Werbebildern auch auf künsterlischer Ebene Paroli bieten.

“White Charity” analysiert auf klare und eindringliche Weise die rassisierte Struktur dieser Werbekampagnen, die auf die historische Narration von europäischer Überlegenheit und auf die Hilflosigkeit, das Opferdasein und die Unterlegenheit der Menschen des Südens rekurrieren. Den Hilfsorganisationen ist meist klar, dass sie damit Stereotype reproduzieren. Zugleich verweisen sie auf die Effektivität ihrer Spendenakquise, nach dem Motto: Werbung muss bestätigen nicht aufklären. Die Bilder sind also eingebettet in einen kolonialen Diskurs, in dem verunsichertes “Weiß-Sein” Selbstbestätigung durch die Viktimisierung des Anderen sucht.

Dieser Analyse kann man nur zustimmen. Der ein oder andere Punkt sollte allerdings kritisch hinterfragt werden und gibt Anlaß zur Erweiterung der Fragestellung:

1) Historischer Wandel: Die kulturwissenschaftlichen Analysen zeigen sich wenig sensibel für den historischen Wandel bildlicher Narration. Was diesen betrifft, lassen sich durchaus Hypothesen aufstellen. Zum Beispiel vermeiden Hilfsorganisationen seit einigen Jahren, “weiße” und “schwarze” Akteure zusammen abzubilden – lange Zeit und aufbauend auf den Fotografien der klassischen kolonialen Phase um 1900 wurden diese Kombinationen genutzt, um vermeintliche europäische Überlegenheit relativ explizit abzubilden. Die Kritik an solchen Bildstrukturen hat zu einer Anpassung der Werbebilder geführt, allerdings nicht in Richtung kritischer Aufklärung oder Dekonstruktion von rassistischen Stereotypen.

2) Bildliche Ebenen von Plakaten: Wie ist der Erfolg und die fortgesetzte Wirkung von Werbeplakaten zu erklären. Medienkritiker wie Susan Sontag (Regarding the Pain of Others, 2003), Luc Boltanski (Distant Suffering. Morality, Media and Politics, 1999) oder Judith Butler (Frames of War. When is Life Grievable, 2009),  diagnostizieren seit Jahren eine Müdigkeit der Betrachter/innen gegenüber Bildern vom Leiden Anderer. Die ständige Gegenwart von abgebildetem Leid in Medien habe zur Abstumpfung der Betrachter/innen geführt. Warum ist das bei den Werbeplakaten der Hilfsorganisationen nicht der Fall? Diese Frage adressieren die Macher/innen von White Charity nicht. Die Antwort ist einerseits in der sich ständig verändernden Gestaltung und Anpassung der Plakate an die Sehgewohnheiten zu finden, während die stereotypen Botschaften kaum verändert werden. Gleichzeitig hebelt die Plakatwerbung zwei Aspekte aus, die Susan Sontag für die Abstumpfung der Betrachter/innen von Fotografien über das Leiden Anderer verantwortlich macht – die statische Situation des Abgebildeten (Fotografien erzählen keine Geschichten) und die fehlenden Möglichkeiten auf das Leiden zu reagieren. Ganz offensichtlich sind die Plakate und die auf ihnen präsentierten Bilder in dynamische Erzählungen mit einem Plot von der Not hin zur Errettung eingebunden. Über die Möglichkeit zu spenden werden die Betrachter zu aktiven Teilhaber/innen dieser Erzählung.

In dem Spendenplakat der Diakonie (Selbstdarstellung der Kampagne) wird dieser Wirkungszusammenhang auf ganz besondere gestalterische Weise hervorgehoben. Nicht nur wird über die Titelzeile “Die größte Katastrophe ist das Vergessen. Hunger, Gewalt, Vertreibung” eine übergeordnete Erzählung von Not und Hilfe aufgerufen. Das Plakat ist in Bild und Text in höchstem Maße referentiell – die Betonung des “Vergessens” (farblich hervorgehoben) nimmt die Kritik an dem medialen Overload und der scheinbar immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsfenster für die Not Anderer auf. Im nächsten Textstück erfolgt das Angebot aktiv zu werden: das Spendenkonto. Im dritten Textstück wird erneut auf Kritik reagiert: Es werden öffentliche Vorwürfe der mangelnden Effizienz von Hilfsmaßnahmen widersprochen: “Schnell. Engagiert. Wirksam”. Das Plakat selbst führt eine Debatte mit seinen Kritikern. Es repräsentiert nicht nur ein statisches Stereotyp, sondern einen ganzen Diskurs über Entwicklungshilfe, inklusive ihrer Kritiker. Förmlich dominiert wird das Plakat durch die Gestaltung der Fotografie. Sie zeigt eine Frau, die ein Kind auf dem Arm trägt. Beide wirken leidend, fast apathisch, und richten ihren Blick auf unterschiedliche Punkte hinter und neben der/m Betrachter/in. Die Frau und der Bildhintergrund sind in Grautönen und unscharf, das Kind aber in starken Farben, bunt und fokussiert, dargestellt. Das Blau der Kinderkleidung resonniert im Logo der Diakonie und im Slogan “Schnell. Engagiert. Wirksam”. Die Differenz in der Farbgestaltung und der Fokussierung bewirkt eine Dynamisierung der abgebildeten Szene im Sinne einer Verzeitlichung. Die Frau repräsentiert die Vergangenheit, das Kind die Zukunft: Ihr kann nicht mehr geholfen werden, die Hilfe muss sich auf das Kind konzentrieren. Sein Schicksal kann durch das Eingreifen des Betrachters verändert werden – die Ermächtigungsfunktion, die auch von White Charity betont wird, ist klar. Durch das farblich hervorgehobene Wort “Vergessen” im Titel des Bild wird die wahrzunehmende Verzeitlichung zudem unterstrichen.

Spendenplakate und im erweiterten Sinne die Präsentation des Leidens Anderer sind keineswegs immer gleich stereotyp, sondern unterliegen einem historischen Wandel, der – so meine Hypothese – in der Zeit nach 1900 beginnt und sehr fein an die jeweilige Diskurskonstellation gekoppelt ist. Nur so ist die Wirkmächtigkeit des Dispositivs des “Helfens” zu erklären und der dauernde Erfolg in der Stereotypisierung der Bilder von Anderen. Diese historische Dimension der “Entwicklungshilfe” ist keineswegs bereits rekonstruiert und interpretiert.

3) Differenz und Empathie: Ich arbeite gerade an einem Text, in dem ich die Struktur und die Rezeption von 100.000fach verbreiteten Werbetexte und -bildernn der katholischen Mission aus den Jahren 1880 bis 1940 für Kinder untersuche. Dahinter steht eine These: die Alterisierung, die Konstruktion des leidenden Anderen in den Texten, Bildern und Werbegegenständen der Mission, ist weit komplexer als bisher gedacht – sie produziert nicht nur Abwehr und Differenz, sondern auch Verlangen nach Nähe, und Identifikation seitens der europäischen Betrachter/innen – auf lange Sicht kann so das Entstehen neuer, globalisierter Emotionen erklärt werden: Empathie über große räumliche und kulturelle Distanz hinweg, die weit über Face-to-Face-Communities und nationale Gemeinschaften hinausgeht. Empathie und Überlegenheitsgefühl, Identifikation und Abgrenzung sind der Januskopf, der abwechselnd und zugleich mit zwei Gesichtern auf das Leiden Anderer blickt. Ohne diese Ambivalenz, die in den Postcolonial Studies noch zu oft übersehen wird, kann m.E. die Tragik einer weitgehend gescheiterten Kommunikation über die globale Nord-Süd-Beziehungen nicht erfasst werden.


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/11/09/white-charity-reprasentationen-von-race-und-whiteness-auf-spendenplakate-von-hilfsorganisationen/

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