Wie die Armut reduzieren? Eine neu begründete transregionale Forschergruppe erforscht die indische Bildungspolitik

Für das Deutsche Historische Institut London beginnt das Jahr 2013 mit einer großen Aufgabe. In den nächsten fünf Jahren wird der Direktor des Londoner Instituts, Andreas Gestrich, Leiter einer transregionalen Forschungsgruppe in Neu-Delhi. In Kooperation mit dem King’s India Institute am King’s College in London und dem Centre for Modern Indian Studies (CEMIS) der Universität Göttingen soll zur Sozial- und Bildungspolitik in Indien seit dem 19. Jahrhundert geforscht werden. Das Thema des Projekts ‘Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors’ wird dabei in sieben Forschungsbereiche aufgeteilt, die wir hier vorstellen.

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Wozu arbeitet die Transregionale Forschergruppe?

Trotz der Geschwindigkeit seiner wirtschaftlichen Entwicklung bleibt Indien weltweit das Land mit den meisten Armen. Die Forschergruppe wird sich auf einen Aspekt der Armutsverringerung konzentrieren und vor allem zu Erziehungs- und Schulpolitik arbeiten. Ebenso wie Ernährung, Wohnen und Gesundheitsversorgung ist Bildung ein zentraler Politikbereich im Kampf gegen Armut. Die schnellen gegenwärtigen Änderungen im indischen Bildungssystem und neue privatwirtschaftliche Akteure machen das Thema zum vielversprechenden Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Die von der Max Weber Stiftung finanzierte transregionale Forschungsgruppe versammelt weltweite Expertinnen und Experten aus Geschichtswissenschaft, Erziehungs- und Sozialwissenschaften, insbesondere aus Indien, Großbritannien und Deutschland. Sie ermutigt – bei Konzentration auf Indien – zum vergleichenden Arbeiten und wird sich mit vergleichbaren Projekten fortwährend austauschen.

1. “Nineteenth- and twentieth-century global educational reform movements and their impact on universal schooling in India”

Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gab es neben den bekannten christlichen Missionen, sowohl von Kolonialmächten als auch von einheimischen Pädagogen und Intellektuellen, Anstrengungen zum Ausbau der Bildungsmöglichkeiten. In der Zwischenkriegszeit nahmen diese Anstrengungen, beeinflusst durch die beginnende indische Unabhängigkeitsbewegung und die europäischen und US-amerikanischen Bildungsreformbewegungen, deutlich zu. Zu dieser Entwicklung gehört auch die enge Verbindung Indiens mit dem New Education Fellowship, einem internationalen Netzwerk von Reformpädagogen. Das Netzwerk wurde 1921 gegründet und ist von Beginn an sehr mit Indien und insbesondere mit dem bengalischen Nobelpreisträger und Bildungsreformer Rabindranath Tagore verbunden. Am DHI London beschäftigt sich Valeska Huber in ihrer Habilitationsschrift ‘”The Great Plan for Mass Education”: Colonial and Postcolonial Experiments with Education in the Twentieth Century’ neben einem starken Fokus auf Afrika auch mit Indien.

Die Vielfältigkeit der indischen Kasten, Stämme und Regionen stellt eine Herausforderung für homogene Vorstellungen dessen, was ein gebildetes Kind ausmacht, dar. Der Veränderung dieser Vorstellung – betrachtet vor dem Hintergrund der historischen Verbreitung schulischer Bildung – kann hierbei eine besondere Bedeutung bei zukünftigen Forschungsarbeiten zukommen, einen wichtigen Beitrag leistet dabei die Arbeit des Forschergruppenmitglieds Sarada Balgopalan. Daneben ist zudem geplant, die Arbeit von indischen Intellektuellen und Pädagogen im 19. Jahrhundert – wie beispielsweise Romesh Chunder Dutt – zu untersuchen (Benedikt Stuchtey), aber auch die sich wandelnden Konzepte des “gebildeten Kindes” in den europäischen Schulreformen mit einzubeziehen.

2. “The quest for universal elementary/school education, the private sector and edu-business
Die Einführung einer Schulpflicht und die Ausweitung von Ausbildungsangeboten wurden in den letzten Jahren durch die UNESCO und deren Bildungsprogramm EFA (Education for all) weiter vorangetrieben. Das Ziel von EFA ist es, bis 2015 allen Kindern den kostenfreien Schulbesuch zu ermöglichen. Tatsächlich gibt es in diesem Bereich allerdings kaum Fortschritte und die Zahl der Kinder, die eine Schule besuchen, fällt eher, als dass sie steigt. Private Träger gewinnen im Bereich der Ausbildung der Armen an Bedeutung, zum Teil, weil viele Länder nicht in der Lage sind, die notwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und die Schulpflicht einzuführen. Allerdings gibt es wegen der möglichen Gewinne, die ein ‘low cost’-Schulbesuch für die Armen bietet, ein wachsendes Interesse an Bildungsmärkten. In diesem Kontext steht dabei zudem die “Liberalisierung” des Bildungsmarktes in Europa, den USA und auch in den Entwicklungsländern.

Internationale Unternehmen und lokale non state actors bauen transnationale Befürworter-Netzwerke und Organisationsstrukturen auf und verfolgen dabei eine Strategie, in Bildung zu investieren, die nicht frei von kommerziellen Interessen ist und mit anderen Sparten ihres Unternehmens in vielen Gebieten verknüpft bleibt. Diese Trends haben erhebliche Auswirkungen auf das Recht auf Bildung für alle Kinder – besonders wenn sie zu den gesellschaftlichen Randgruppen gehören – und die Rolle des Staates, wenn non state actors diese Trends realisieren. Diese Problematik hat erst vor kurzem das Interesse einer kritischen Forschung der Geschichtswissenschaft und der Bildungssoziogie geweckt. Eine Studie, die zu diesem Thema in einem geschichtlichen Kontext forschen soll, da die Verbreitung von Bildungseinrichtungen von Nicht-Regierungsorganisationen (Sozialreformer, religiöse Gruppen) auch in Indien eine lange Tradition hat, wird von der Transregionalen Forschergruppe gefördert. Dabei können die Forscherinnen und Forscher auf die Expertise von Professor Geetha B. Nambissan zurückgreifen, die bereits auf diesem Gebiet und über die Schulpolitik in Indien geforscht hat.

3. “Caste discrimination and education policy
Ein erster Versuch der “sozialen” Gesetzgebung in Britisch-Indien befasste sich mit dem Versuch Bildung für die verarmten “unteren” Kasten anzubieten. Dieses Gesetz wurde selten umgesetzt, da man sich protestierenden Eliten gegenübersah, die nicht wollten, dass ihre Kinder Kontakt mit gesellschaftlich Niederstehenden hatten. Dennoch spielte das Gesetz eine entscheidende Rolle als historische Vorlage: es wird heute als unstrittige Verantwortlichkeit der Regierung gesehen, niederen Kasten den Zugang zu staatlich finanzierter Bildung zu ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, welche Denkweisen dazu geführt haben, dass Entscheidungsträger Bildung als zentralen Punkt in der Führung der Armen der unteren Kasten erachten. Dieses Forschungsprojekt soll den massiven Anstieg der Popularität dieser Strategien im postkolonialen Indien untersuchen.

Abgesehen von den deutlichen Veränderungen in den Regierungsformen, haben die Strategien nicht nur Bestand, sondern auch an Bedeutung gewonnen. Können die Auswirkungen dieser Strategien in Zusammenhang mit den erfolgreichen Bestrebungen von Bewegungen der niederen Kasten, innerhalb der letzten zwei Jahrzehnten politische Macht zu erlangen, gesetzt werden? Und wie wirken sich die sozialen Folgen dieser Politik im Kontext eines zunehmend privatisierten Bildungsbereiches aus? Dieses Projekt ist eng verbunden mit dem Forschungsschwerpunkt der Sozialgeschichte der untergeordneten Kasten von Prof. Viswanath, die an der Universität Göttingen am Centre for Modern Indian Studies lehrt.

4. “Industrial restructuring, informalization, and their consequences for access to elementary education”
Die Ursprünge der Probleme Indiens, die Schulpflicht einzuführen und die berufliche Ausbildung sowie die Erwachsenenbildung weiter zu verbreiten, stehen in Zusammenhang mit strukturellen Änderungen im indischen Arbeitsmarkt. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Arbeitsschutz führten zu einem tiefgreifenden Anstieg von lockeren, unsicheren und weitestgehend kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Während ältere industrielle Zweige mit entwickelten sozialen und bildungserzieherischen Einrichtungen seit den 1980ern abnahmen, bildeten sich an neuen Orten sehr beträchtliche Industriekonglomerate und Belegschaften heraus.

Die Auswirkung dieser Veränderungen in Bezug auf die Bildungseinrichtungen auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, auf die familiären Finanzen, die Chancen für langfristige Planungen und Investition in die Bildung von Kindern werden im Rahmen des Arbeitskreises untersucht. Diese Untersuchung wird unterstützt durch bereits laufende Forschungen zu Arbeit und industrieller Restrukturierung in den alten Zentren der Textilindustrie Ahmedabad (Rukmini Barua), Bombay (Dr. Aditya Sarkar) und Kalkutta (Anna Sailer) am Centre for Modern Indian Studies in Göttingen.

5. “Adult education and the popularisation of practical scientific knowledge
Ein weiteres Gebiet im Bereich von Bildung und Erziehung ist die Weitergabe von Wissen an Erwachsene. In diesem Kontext erlangt die Popularisierung von Wissen und Wissenschaft eine besondere Bedeutung – nicht zuletzt in ländlichen Gebieten. Die Herausforderung (westliches) Wissen weiter zu vermitteln war bereits Thema einer Session während der Tagung ‘Knowledge Production, Pedagogy, and Institutions in Colonial India‘ des DHI London. Auf Basis der Ergebnisse dieser Session soll das Thema im Kontext des postkolonialen Zeitraums weiterverfolgt werden.

Die Weitergabe von wissenschaftlicher Erkenntnis an ländliche Gebiete im kolonialen und postkolonialen Zeitraum steht dabei im Vordergrund, so soll ein Beitrag zur Entwicklung der Infrastrukturen von Wissen geleistet werden. Bildung im Kontext von internationaler Entwicklungszusammenarbeit in Bereichen wie z.B. der Landwirtschaft könnten hier eine Rolle spielen. Das Thema hat außerdem ein hohes Potential für transnationale Vergleiche.

6. “Industrial and technical institutions and the resignification of manual labour
Es ist mittlerweile bekannt, dass Missionaren eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Elite-Bildungseinrichtungen westlicher Prägung, aus denen die Gründungsväter des postkolonialen Staates hervorgingen, zukam. Weit weniger bekannt ist, dass die Missionare in Wirklichkeit eine Hierarchie der Schulen einführten, von denen einige denjenigen zugedacht waren, die als ungeeignet für den englisch-basierten, buchzentrierten, “richtigen” Unterricht erachtet wurden. Während diese “Armen-” oder “Industrieschulen” auf Modellen beruhten, die zuerst in der Metropole erprobt wurden, waren sie in Indien dazu gedacht, die Bedeutung der Handarbeit zu verändern. Es wurde angenommen, dass dies von den traditionellen Eliten als Beeinträchtigung des indischen Wirtschaftswachstums abgewertet wurde.

Die Forschung in diesem wenig durchdrungenem Gebiet soll den Umfang dieser Art von Ausbildung – finanziell und ideologisch – sowohl unter den kolonialen als auch den postkolonialen Regierungen untersuchen. Zudem stellt sich die Frage, ob, wie und mit welchen Auswirkungen neue Werte tatsächlich mit den spezifischen Fähigkeiten der Armen verknüpft wurden. Die koloniale Verbreitung der schulischen Ausbildung war auch untrennbar mit der Resignifikation der Kasten-Unterschiede durch Beeinflussung z.B. des Curriculums, von Schulzeiten und der Pädagogik innerhalb der Schule verbunden mit dem erklärten Ziel, dass Kinder der unteren Kasten kein Leben außerhalb der Handarbeit anstreben sollten.

7. “The impact of schooling on life-histories
Die Auswirkung schulischer Bildung auf Biographien hat sich zu einem wichtigen Thema innerhalb von Autobiographien und Biographien der niederen Kasten und der Dalits entwickelt. Die Rolle, die Kasten-Verbände bei der Förderung der Bildung dieser Gemeinschaften spielen, ist innerhalb der Regierungspolitik in Bezug auf das erweiterte Feld der Bildungsgeschichte in Indien weder adäquat anerkannt, noch diskutiert worden. Bildung spielt außerdem eine wichtige Rolle beim Aufbau von Lebenswegen in europäischen Autobiographien von Menschen aus einem prekären Hintergrund.

Am DHI London untersucht derzeit ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Arts and Humanities Research Council gefördertes Projekt “pauper narratives “. Dieses Projekt wird interessante vergleichende Perspektiven der ambivalenten Schulerfahrungen armer Kinder in Europa und zudem methodologische Expertise beisteuern. Zeitgleich ist das DHI London an biographischem Schreiben und Erzählungen, die in einem kolonialen Kontext stehen, interessiert. Das Institut hat dazu bereits im Frühjahr 2012 eine Konferenz veranstaltet.

Über die Transregionale Forschergruppe “Poverty Reduction and Policy for the Poor between the State and Private Actors: Education Policy in India since the Nineteenth Century”

Die transnationale Forschergruppe wird von der Max Weber Stiftung finanziert und vom Deutschen Historischen Institut London geleitet. Das DHI London kooperiert dabei mit  Centre for Historical Studies und dem Zakir Husain Centre for Educational Studies der Jawaharlal Nehru University, Neu-Delhi, dem Centre for the Study of Developing Societies, Neu-Delhi, dem Centre for Modern Indian Studies, Universität Göttingen und dem King’s India Institute, King’s College London.

Projektleiter sind Prof. Ravi Ahuja  (Moderne Indische Geschichte, Göttingen), Dr. Sarada Balagopalan (Soziologie, Neu-Delhi), Prof. Neeladri Bhattacharya  (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Andreas Gestrich (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Valeska Huber (Moderne europäische Geschichte und Geschichte des Mittleren Ostens, London), Prof. Sunil Khilnani (Politikwissenschaft, London), Prof. Janaki Nair (Moderne indische Geschichte, Neu-Delhi), Prof. Geetha B. Nambissan (Erziehungssoziologie, Neu-Delhi), Dr. Jahnavi Phalkey (Wissenschafts- und Technikgeschichte, London), Dr. Indra Sengupta (Moderne indische Geschichte, London), Dr. Silke Strickrodt (Moderne afrikanische Geschichte, London), Prof. Benedikt Stuchtey (Moderne europäische Geschichte, London), Dr. Louise Tillin (Politikwissenschaft und Developmental Studies, London), Prof. Rupa Viswanath (Religionswissenschaft, Göttingen).

Quelle: http://mws.hypotheses.org/1555

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Hausnummern-Artikel Open Access verfügbar

Die dreijährige Embargofrist ist vorüber, mein englischsprachiger Artikel zur Geschichte der Hausnummerierung in Europa ist nun Open Access verfügbar:

Tantner, Anton: Addressing the Houses. The Introduction of House Numbering in Europe, in: Histoire & Mesure, 24.2009/2, S. 7-30.
http://histoiremesure.revues.org/3942

Abstract: The article deals with a technology of house identification that was characteristic of the classifying spirit of the eighteenth century: house numbering. This techno-logy was not introduced to facilitate orientation for the cities’ inhabitants or to be helpful to foreigners; its origin can be located in the border areas of early modern police, military and tax administration. It aimed to give the state access to the riches and resources of every house, and to make it easier to control, tax or recruit their inhabitants, or to lodge soldiers. After an overview of the house numbering development in18th-century Europe, this article treats the different systems of house numbering (consecutive numbering of all the houses in the city or in a district, block numbering, the ‘clockwise schemes’, the even/odd system etc), arguing that it was difficult to make people accept the difference between the address and the physical data (the house).

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/232605263/

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Herr BR Maurers Geschichtsverständnis – oder: Danke, Wikipedia.

SVP-Mann und Neo-Bundespräsident (CH-Version) Maurer bezieht sich in der Neujahrsansprache auf (wen wundert’s?) den Bundesbrief von 1291. Doch die von Maurer zitierte Kernaussage “Einer für alle, alle für einen” stammt – nein, nicht aus dem Bundesbrief und, nein, auch nicht aus Dumas’ “Drei Musketiere” (dort geht der Spruch nämlich anders rum), sondern aus einer Spendenaktion […]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6590

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Gastbeitrag von Robert Rothmann zur Videoüberwachung

Videoüberwachung reloaded von Robert Rothmann

Anhand von Zwischenfällen wie dem vereitelten Bombenattentat am Bonner Hauptbahnhof oder der Vergewaltigung einer Frau in einem Waggon der Wiener U-Bahn, keimt die Debatte rund um Videoüberwachung immer wieder auf. Diskutiert wird diesmal vor allem die präventive Ineffektivität der Maßnahme, wobei auf eine zu geringe Kameradichte sowie die nicht durchgehend in Echtzeit stattfindende Sichtung des Bildmaterials verwiesen wird. Damit wird implizit die Annahme genährt, es wäre möglich, durch genügend Überwachung auch eine Situation schaffen zu können, in der es keine derartigen Zwischenfälle gibt. Doch Sicherheit ist eine Variable ohne Obergrenze. Absolute Sicherheit kann es nie geben, auch nicht mit totaler Überwachung. Dies scheint besonders dann nachvollziehbar, wenn es sich um ideologisch motivierte (Selbstmord-)AttentäterInnen handelt oder impulsiv im Affekt oder Rausch agiert wird.

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Der französische Soziologe Émile Durkheim hat bereits 1895 festgestellt, dass eine Gesellschaft keine derart allumfassende und absolute Uniformität aufweisen kann, die ausreichend wäre, jede Überschreitung und Dissidenz zu verhindern. Als zwangsläufiger Bestandteil von Gesellschaften erfüllt Devianz mitunter auch den Zweck der Normfestigung. Um zu definieren was normal ist, braucht es das Abweichende (vgl. ebd. 1984: 156ff)1. Auch die oben zitierten Beispiele funktionieren auf diese Weise. Als markante Extremfälle generieren sie eine Art moral panic (vgl. Cohen 1987)2 und fungieren als Impuls zur Festigung eines allgemeinen moralischen Konsens. So tragen derartige Zwischenfälle auch wesentlich zur Durchsetzung und Festigung neuer Sicherheitsrichtlinien und der Konstituierung einer neuen öffentlichen Ordnung bei.

Doch ob Videoüberwachung tatsächlich die Sicherheit erhöht, kümmert offenbar niemanden. So wird zwar viel in die Installation der Systeme investiert, der wissenschaftliche Nachweis über die sicherheitstechnische Eignung bleibt aber weitgehend aus (vgl. Rothmann 2012)3. Dies ist insofern problematisch, weil Videoüberwachung nach wie vor als Eingriff in die bestehenden Grundrechte auf Privatsphäre und Datenschutz gilt und daher immer auch nach Verhältnismäßigkeit verlangt. Dies bedeutet, dass die Überwachungsmaßnahme nur dann zulässig ist, wenn sie auch nachweislich zur Zweckerfüllung geeignet ist und zudem keine andere Lösung verfügbar ist, die ein gelinderes bzw. weniger eingriffsintensives Mittel zur Zweckerfüllung darstellt.

Abseits der Lehrbücher reicht aber scheinbar aus, wenn das gespeicherte Videomaterial grundsätzlich die Option bietet, nach Indizien, Hinweisen oder Anhaltspunkten zu suchen, um TäterInnen nachträglich leichter ausforschen und überführen zu können. Bleibt nur zu klären, ob Videoüberwachung dann noch als präventive Maßnahme zur Vorbeugung von Straftaten bezeichnet werden kann (vgl. Töpfer 2009)4. Doch wieso auch nicht? Die Möglichkeit ein Delikt zu verhindern besteht. Darüber hinaus erfährt Videoüberwachung auffällig große Zustimmung und Akzeptanz. Mit zunehmender Verbreitung und Etablierung der Maßnahme steigt die Zustimmung sogar an, als würden anfängliche SkeptikerInnen ihre Scheu verlieren (vgl. Reuband 20015, Hempel & Töpfer 20046 ).

Dass es sich bei Videoüberwachung um einen Eingriff in Persönlichkeitsrechte handelt, die auch für Verhalten in der Öffentlichkeit gelten (vgl. König 2007: 114)7, ist angesichts der Mediatisierung und Virtualisierung eines Großteils unserer Lebenswelten kaum mehr verständlich. In Alltagsdiskussionen vermischen sich dann Akzeptanz und Grundrechtsverzicht mit einem autoritären Ruf nach law & order. Zugleich wird Anonymität als sicherheitsgefährdendes Übel abqualifiziert (vgl. Sennett 1983)8 und der datenschutzrechtliche Anspruch auf Geheimhaltung personenbezogener Informationen zunehmend illegitim und mitunter verdächtig. Doch wohin führt uns diese Entwicklung? Wieviel Grundrechts-Erosion verträgt eine liberale demokratische Gesellschaft? Haben wir es vielleicht mit einem Paradigmenwechsel zu tun? Stehen wir gar am Beginn einer Post-Privacy Ära?

  1. Durkheim, Emile (1984): Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgeben und eingeleitet von Rene König. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 464.
  2. Cohen, Stanley (1987): Folk Devils and Moral Panics: The Creation of the Mods and Rockers. Oxford. Basil Blackwell.
  3. Rothmann, Robert (2012): Zur Evaluation der Sicherheitstechnischen Eignung von Videoüberwachung. Regionale Defizite, internationale Standards, methodische Herausforderungen, in: juridikum, zeitschrift für kritik ǀ recht ǀ gesellschaft. 4/2012. S. 481-493.
  4. Töpfer, Eric (2009): Videoüberwachung als Kriminalprävention? Plädoyer für einen Blickwechsel. In: Kriminologisches Journal, Heft 4/2009, S. 272-282.
  5. Reuband, Karl-Heinz (2001): “Videoüberwachung. Was die Bürger von der Überwachung halten”, in: Neue Kriminalpolitik, Vol. 13, No. 2, S. 5-9
  6. Hempel, Leon; Töpfer, Eric (2004): On the Threshold to Urban Panopticon? Analysing the Employment of CCTV in European Cities and Assessing its Social and Political Impacts. Berlin.
  7. König, Gregor (2007): Videoüberwachung und Datenschutz – Ein Kräftemessen. In: Jahnel, Dietmar; Siegwart, Stefan; Fercher, Natalie (Hg.) Aktuelle Fragen des Datenschutzrechts. Facultas, Wien. S. 109-147.
  8. Sennett, Richard (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Berliner Taschenbuch Verlag.

Quelle: http://www.univie.ac.at/identifizierung/php/?p=5290

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Ö1 zu Georg Büchner

Kommende Woche (Mo-Do, 7.1.-10.1.2013, jeweils 9:30-9:45) im Ö1-Radiokolleg: Eine vierteilige Serie über Georg Büchner:

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!

Der literarische Analytiker Georg Büchner.
Gestaltung: Gerlinde Tamerl und Robert Weichinger

Er war Sozialrevolutionär, Frühkommunist, Dichter und Wissenschaftler: Georg Büchner. 1813 in Goddelau, Hessen geboren, 1837, noch keine 24 Jahre alt, starb er als politisch Verbannter. Ein kurzes, ein intensives Leben. Er verfasste drei Stücke, "Dantons Tod", "Leonce und Lena" und "Woyzeck", die zum Besten gehören, was die deutsche Dramatik zu bieten hat.

Im historischen Drama "Dantons Tod", in dessen Mittelpunkt der nicht-handelnde Held Danton steht, versucht Büchner, die Widersprüche der Revolution zu fassen. Die Komödie "Leonce und Lena", mit seinen philosophischen Sentenzen ist auch als eine satirische Verspottung der Despotie im duodezfürstlichen Deutschland zu lesen, und das fragmentarische Sozialdrama "Woyzeck" ist bereits ein Vorgriff auf den Naturalismus und das moderne Drama.

"Die Staatsform muss ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt", heißt es in "Dantons Tod". Dieser Satz gibt ziemlich genau, die Ansicht des radikalen Demokraten Georg Büchner wieder. Doch im Revolutionär Büchner regte sich auch der Zweifel über die Möglichkeiten politischer Veränderung, vom "grässlichen Fatalismus der Geschichte" sprach er und dass "der Einzelne nur Schaum auf der Welle" ist.

Geboren in der Nähe von Darmstadt, studierte Büchner in Straßburg und Gießen Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte und Philosophie. Um aktiv die reaktionären Verhältnisse im damaligen Großherzogtum Hessen zu bekämpfen, beteiligte er sich an der Darmstädter Sektion der "Gesellschaft für Menschenrechte", eine basisdemokratische Organisation würde man heute sagen. Zusammen mit dem Pfarrer Weidig verfasste er die Flugschrift "Der Hessische Landbote", mit dem bis heute berühmten Wahlspruch: "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!". Er wurde steckbrieflich gesucht und flüchtete nach Zürich, damals die Zufluchtsstätte vertriebener Demokraten. Er promovierte über das Nervensystem von Fischen. Eine Professur an der Universität konnte er nicht mehr annehmen, weil er im Februar 1837 an Typhus starb.

Das Werk dieses Dichters stellt die Vorwegnahme neuer Formen des Theaters und der Poesie dar. An Büchner beeindruckt bis heute die Schärfe und Frische seiner Gedanken, seine rücksichtslose, kühne Wahrheitssuche, die psychologische Durchleuchtung von Existenzen und die Hervorhebung der sozialen Bedingtheit des Menschen.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/232604748/

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Herr BR Maurers Geschichtsverständnis – oder: Danke, Wikipedia.

SVP-Mann und Neo-Bundespräsident (CH-Version) Maurer bezieht sich in der Neujahrsansprache auf (wen wundert’s?) den Bundesbrief von 1291. Doch die von Maurer zitierte Kernaussage “Einer für alle, alle für einen” stammt – nein, nicht aus dem Bundesbrief und, nein, auch nicht aus Dumas’ “Drei Musketiere” (dort geht der Spruch nämlich anders rum), sondern aus einer Spendenaktion des modernen Bundesstaates […]

Quelle: http://weblog.hist.net/archives/6722

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aventinus exempla Nr. 0 [01.01.2012]: Und noch ein Test der ineinander verschachtelten RSS-Feeds

http://www.roman-emperors.org De Imperatoribus Romanis (DIR) ist ein Portal zu den römischen Kaisern und deren Familien, wobei es sich auf die weströmischen und oströmisch-byzantinischen Kaiser beschränkt. Es untergliedert sich in folgende Abschnitte: Imperial Index (chronological & alphabetical) bietet meist sehr ausführliche Biogramme. Imperial Stemmata zeigt zu den einzelnen Dynastien synoptische Stammbäume, welche die familiären Zusammenhänge graphisch [...]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/01/3750/

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