Das ›Vierte Deutschland‹ — Einzelstaaten in außerdeutschen Personalunionen. Ein Forschungsaufruf zu ›ausländischer »Steuerungskompetenz«‹ innerhalb des Deutschen Bundes (1815-1866)*

von Andreas C. Hofmann 

* Der folgende Beitrag stellt einen Aufruf an die Forschung dar, sich dem Thema der Interdependenzen von Personalunionen mit auswärtigen Staaten für die Deutsche Geschichte eingehender zu widmen. Die konzeptionellen Überlegungen wurden erstmals in der im Wintersemester 2013/14 von der Philosophischen Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München unter der Betreuung von Prof. Dr. Wolfram Siemann angenommenen Dissertation ‚Deutsche Universitätspolitik im Vormärz zwischen Zentralismus, ›Transstaatlichkeit‹ und »Eigenstaatlichkeitsideologien« (1815/19 bis 1848)‘ angeschnitten.

"Karte des Deutschen Bundes 1815–1866", CC-BY

Karte des Deutschen Bundes 1815–1866” von ziegelbrenner unter CC-BY, Bildbeschnitt durch den Autor.

Es war bereits während der konzeptionellen Überlegungen zur Dissertation über ›Deutsche Universitätspolitik im Vormärz‹, als ein Zögern aufkam, die Universitäten Göttingen und Kiel in ein geplantes Kapitel über die Klein- und Mittelstaaten des ‚Dritten Deutschlands‘ einzugliedern. Es war angedacht — und sollte sich leider für eine Dissertation als zu ehrgeizig erwiesen haben — in einem Kapitel alle deutschen Universitäten außerhalb Österreichs und Preußens einer kumulativen Betrachtung zu unterziehen. Und es sind ja bekanntlich die dann übriggebliebenen Klein- und Mittelstaaten, welche nach Österreich und Preußen gemeinhin als das dann eben ‚Dritte Deutschland‘ bezeichnet werden. Darüber hinaus etablierte Peter Burg mit „Steuerungskompetenz“ einen Begriff, der die — mal mehr mal weniger erfolgreichen — Versuche Österreichs und Preußens bezeichnet, auf das ‚Dritte Deutschland‘ Einfluss zu nehmen. Der deutsche Dualismus zwischen Österreich und Preußen wurde konzeptionell somit zu einer ‚Deutschen Trias‘ weiterentwickelt.[1] Sie unterlag entweder einer „monistischen Steuerungskompetenz“, sofern Österreich seinen Einfluss uneingeschränkt und allein geltend machen konnte, einer „ambivalenten Steuerungskompetenz“, falls diese zwischen beiden Hegemonialmächten wechselte oder einer „dualistischen Steuerungskompetenz“, falls beide Großmächte ihren Einfluss auf das ‚Dritte Deutschland‘ einvernehmlich ausübten.[2] Aber passen Einzelstaaten wie das Königreich Hannover in seiner Personalunion — das heißt durch die Person des Monarchen vereinigten Regentschaft — mit Großbritannien oder die Herzogtümer Holstein/Lauenburg mit der Personalunion mit Dänemark oder fernab der Universitätsgeschichte das Großherzogtum Luxemburg und das Herzogtum Limburg mit den Personalunionen zu den Niederlanden in dieses Schema?

Ließen die Könige von Großbritannien, Dänemark und den Niederlanden diese Einflussnahmen auf von ihnen in Personalunion regierte deutsche Einzelstaaten zu? Ist nicht vielmehr von einer ›ausländischen »Steuerungskompetenz«‹ der betreffenden Monarchen auf ihre deutschen Lande auszugehen? Ein Blick auf die Forschung wird offenbaren, dass die transnationalen bzw. transstaatlichen Wechselwirkungen von Personalunionen innerhalb des Deutschen Bundes bislang nur sektoral bearbeitet worden sind. In welcher Richtung liefen solche Wechselwirkungen ab? Handelte es sich hierbei um ein relativ gefestigtes Gefüge oder stellten die Interdependenzen einen eher dynamischen Mechanismus dar? Welche Unterschiede sind in den drei genannten Fällen feststellbar? Gibt es Differenzen in einzelnen Politikfeldern und auf welche Einflüsse gehen solche Verschiedenheiten zurück? Sind Transnationalität und Transstaatlichkeit überhaupt die passenden Konzepte, um die mit den Personalunionen verbundenen Prozesse zu erfassen?[3] Gibt es konkrete Beispiele, welche beispielsweise eine aus britischer Staatsräson erfolgte Einflussnahme auf die Politik des Königreichs Hannover belegen. Oder gab es auch umgekehrt Rücksichtnahmen der außerdeutschen Staaten auf ihre in Personalunion befindlichen deutschen Einzelstaaten?

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es zumindest möglich, dass die betreffenden Staaten aus dem für das ‚Dritte Deutschland‘ skizzierten Einfluss der ‚steuerungskompetenten‘ Staaten Österreich und Preußen ausscherten. Aber macht es Sinn Hannover, Holstein/Lauenburg und Luxemburg/Limburg dann weiterhin zum ‚Dritten Deutschland‘ zu zählen? Ich sage nein! Auch wenn die zur Zeit des Deutschen Bundes mit Personalunionen einhergegangenen Bindungen zwischen den Staaten — wie das Beispiel Hannover zeigt — gerade erst umfassend untersucht werden;[4] es ist doch davon auszugehen dass alle drei mit den außerdeutschen Königreichen im Hintergrund ein anderes Standing gegenüber den Großmächten hatten, als dies bei anderen Klein- und Mittelstaaten der Fall gewesen war. So erscheint es doch sinnvoll, die vermeintlich unter ›ausländischer »Steuerungskompetenz«‹ stehenden Staaten einem eigenen Überbegriff zuzuordnen. Vor dem Hintergrund der etablierten Differenzierung zwischen Österreich, Preußen und dem ‚Dritten Deutschland‘ erscheint die Begrifflichkeit eines ›Vierten Deutschlands‹ nur konsequent.[5] Aber ist dieser Titel nicht nur ein Etikettenschwindel?

Diese Frage zu beantworten ist der Aufruf an die Forschung. Denn dass eine begründete Annahme dazu besteht, die Staaten mit Personalunionen zu außerdeutschen Landesherrn von denjenigen des ‚Dritten Deutschlands‘ zu differenzieren, erscheint nur gut und richtig. Es wäre beispielsweise auch schlecht vorstellbar gewesen, dass das Königreich Bayern als selbsternannte Vormacht im ‚Dritten Deutschland‘ einen Führungsanspruch gegenüber dem niederländischen, dänischen oder gar britischen König hätte geltend machen wollen.[6] Entscheidend für die methodische Haltbarkeit des Begriffs sind aber nicht nur Negativfeststellungen über Abgrenzungen zu den Staaten des ‚Dritten Deutschlands‘, sondern auch Positivfeststellungen über signifikante, ja vielleicht sogar konstitutive Gemeinsamkeiten der Staaten des ›Vierten Deutschlands‹. Auch dies wird eine Frage für die Forschung sein: Haben die Personalunionen gleichförmige Auswirkungen auf die Politik der jeweils souveränen europäischen Großmacht und des jeweils im Deutschen Bund organisierten Einzelstaates? Gibt es weitere methodische und konzeptionelle Fragen zu klären, die in diesem Forschungsaufruf keine Berücksichtigung finden konnten? Am Beispiel der Universitätspolitik ergab sich keine konkrete Indikation, welche ausführliche archivalische Recherchen vor Ort im Hauptstaatsarchiv Hannover, dem Universitätsarchiv Göttingen oder gar dem Public Records Archive London gerechtfertigt hätte. Die Dissertation wies daher eine Bedeutung der Personalunionen für die jeweilige Universitätspolitik nicht nach, wobei eine komparatistische Herangehensweise an britische oder dänische Universitätspolitik auch den vorgegebenen Rahmen gesprengt hätte.

Andreas C. Hofmann (*1980), Abitur am Dom-Gymnasium Freising (2000), Magister Artium in Neuerer und Neuester Geschichte an der LMU München (2006), Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung (2004-2006 / 2008-2011), Promotion zum Dr. phil. (2014, Drucklegung steht noch aus)

a.hofmann@gmx.eu 
www.andreashofmann.eu 

[1]    Peter Burg: Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein (=Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 136. Abteilung Universalgeschichte), Stuttgart 1989.

[2]    Peter Burg: Monistische oder dualistische Steuerungskompetenz? Die Deutschlandpolitik Österreichs und Preußens zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution, in: Michael Gehler / Rainer F. Schmidt / Harm-Hinrich Brandt / Rolf Steininger (Hg.): Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert (= Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Beiheft 15), Stuttgart 1996, S. 75-94.

[3]    Vgl. auch Andreas C. Hofmann: Suprastaatlichkeit, Interstaatlichkeit und Transstaatlichkeit. Ein Drei-Ebenen-Modell zur Beschreibung zwischenstaatlicher Beziehungen im Deutschen Bund, in: Melanie Hühn u.a. (Hrsg.): Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Translokalität. Theoretische und empirische Begriffsbestimmungen. Münster u.a. 2010, S. 133 ff. Zu den Vorteilen einer ‚Trans-Betrachtungsweise‘ auch Andreas C. Hofmann: Transstaatliche Verfassungsgeschichte suprastaatlicher Organisationen — Erweiterung statt Alternative, ursprgl. publ. in: aussichten. Perspektivierung von Geschichte [18.07.2011], neu publ. in: L.I.S.A. Das Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung [26.02.2013], http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/ content.php?nav_id=4163.

[4]    Mit dem Promotionskolleg ‚Die Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover 1714 bis 1837 als internationaler Kommunikations- und Handlungsraum‘ unternimmt die Universität Göttingen einen umfassenden Versuch, sich den Mechanismen einer solchen Personalunion unter verschiedenen Aspekten anzunähern. Ob „Ästhetik im Austausch – Zum Transfer kultureller Praktiken in Musik und Literatur“, „Im Netz der Dinge — Sammlungen als Kommunikationsräume“, „Ware Wissen — Technologie als Trägerelement ökonomischen Handelns“, „Jenseits von Grenzen — Hannover und die Personalunion als Konstrukt fürstlicher Diplomatie“, „Herrschaft durch Verwaltung — Räume und Praktiken der Administration“ oder „Kulturen des Krieges — Strukturen organisierter Gewalt zwischen ‚Reich‘ und ‚Empire‘“. Mit seinem mehrere Sachdisziplinen der Geschichtswissenschaft abdeckenden Ansatz wird das Promotionskolleg eine umfassende Darstellung des ‚Handlungsraumes Personalunion‘ liefern. An aktuellen Studien vgl. Heide Barmeyer (Hrsg.): Hannover und die englische Thronfolge (=Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte Bd. 19), Bielefeld 2005; Torsten Riotte: Hannover in der britischen Politik 1792-1815. Dynastische Verbindung als Element außenpolitischer Entscheidungsprozesse (=Historia profana et ecclesiastica Bd. 13), Münster 2005; Torsten Riotte / Brenda Simms (Hrsg.): The Hanoverian Dimension in British History, Cambridge 2007.

[5]    In der Geschichtswissenschaft ist der Begriff des ‚Vierten Deutschlands‘ noch nicht etabliert. Verwendung findet er allerdings im gleichnamigen Roman Norbert Bleisch: Viertes Deutschland (=edition suhrkamp), Stuttgart 1992, sowie als Synonym für die Deutsche Demokratische Republik in den Erinnerungen Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben, Taschenbuchausg. München 2009 [82008].

[6]    Für e.g. die bayerische Außenpolitik direkt nach dem Wiener Kongreß vgl. Andreas C. Hofmann: „Schwere Gewitterwolken am politischen Horizont“. Eine Einordnung der Karlsbader Beschlüsse in die bayerische Außenpolitik von 1815 bis 1820, ursprgl. publ. in: http://www.aventinus.geschichte.uni-muenchen.de, neu publ. als: aventinus bavarica Nr. 7 (Winter 2006), http://www.aventinus-online.de/no_cache/ persistent/artikel/7750.

 

Quelle: http://openblog.hypotheses.org/105

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Unsterblichkeit (I): Fünf Klassen von Unsterblichen

Als Übersetzung für den Begriff xian 仙 hat sich im Deutschen der Begriff “Unsterbliche” eingebürgert.1

Zum Phänomen der “Unsterblichen” schreibt Wolfram Eberhard:

Chinesische Heilige [!] sind Männer oder Frauen, die übernatürliche Fähigkeiten erlangt haben und nach ihrem Tod zur Gottheit erklärt wurden. Es gibt hunderte und aberhunderte von ihnen, im Gebirge K’un-lun oder auf den Inseln des Ostens sollen sie ein glückliches, nie endendes Leben führen; hienieden ist der Kult meist an einen bestimmten Ort gebunden.2

Im Erklärenden Wörterbuch zum chinesischen Buddhismus wird der Begriff folgendermaßen definiert:

Dieser taoistische Name für unsterbliche Genien oder Übernatürliche wird im chinesischen Buddhismus zur Bezeichnung der indischen Rsis verwendet. Der hsien ist auf dem Wege zur Unsterblichkeit oder schon unsterblich, durch Askese und Meditation ist er für viele tausend Jahre (nach anderer Ansicht für immer) von Krankheit, Alter und Tod befreit.3

Im Daoismus und im chinesischen Buddhismus wurden im Allgemeinen fünf Klassen von “Unsterblichen” (xian) unterschieden:

  1. Entkörperlichte Geister (guixian 鬼仙), die weder unter den Menschen noch unter den Unsterblichen Ruhe finden.
  2. Menschliche Genien (renxian 人仙), die sich erfolgreich von den Schwächen des Fleisches befreit haben.
  3. Auf der Erde lebende Genien (dixian 地仙), Menschen, die in dieser Welt die Unsterblichkeit erlangt haben.
  4. Deifizierte Genien (shenxian 神仙): Unsterbliche, die die Erde verlassen haben und in den glückseligen Gefilden der Gesegneten wohnen.
  5. Himmlische Genien od. Götter (tianxian 天仙), diejenigen, die die Reinheit erreicht und im Himmel das ewige Leben erlangt haben.4
  1. Zur Etymologie des Schriftzeichens vgl. Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen in der Geistesgeschichte Chinas (München, 2. Aufl. 1989 [1974, 1971]) 153 f.
  2. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole.  Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl. 1996) 287 (“Unsterbliche”).
  3. Heinrich Hackmann: Erklärendes Wörterbuch zum chinesischen Buddhismus. Chinesisch – Sanskrit – Deutsch. Nach seinem handschriftlichen Nachlass überarbeitet von Johannes Nobel, 4. Lieferung [o. J.], S. 239.
  4. Vgl. Grand Dictionnaire Ricci, Bd. 6, S. 625 (Nr. 12308).

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1278

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Konferenzbericht “Offene Archive 2.1″ – Scrinium 68/2014

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von “Scrinium” (Tagung “Offene Archive 2.1. Social Media im deutschen Sprachraum und im internationalen Kontext, Scrinium 68 (2014), 194-196; Autor: Dr. Christoph Sonnlechner/Wien): 

Offene Archive 2.1. Social Media im deutschen Sprachraum und im internationalen Kontext.

Am 3. und 4. April 2014 fand im Hauptstaatsarchiv Stuttgart die Folgetagung von Offene Archive 2.0 statt. Während in Speyer 2012 80 Personen Interesse an der Thematik zeigten, waren es diesmal bereits rund 120. Joachim Kemper vom Stadtarchiv Speyer ist es mit seinem Organisationsteam bestehend aus Andreas Neuburger /Christian Wolf (Landesarchiv Baden-Württemberg), Elisabeth Steiger (Stadtarchiv Speyer /ICARUS) und Thomas Wolf (Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein) gelungen, ein hochwertiges Programm zusammen zu stellen. Die einleitende Keynote wurde infolge eines Lufthansa-Pilotenstreiks nicht persönlich von der ausgewiesenen Archivarin und Archivtheoretikerin Kate Theimer vorgetragen, sondern aus Philadelphia zugeschaltet. Sie hielt ein Plädoyer dafür, Archiv neu zu denken und das Image von Archiv zu wandeln. Archive müssten partizipatorisch angelegt werden. Nutzerinnen und Nutzer haben heute andere Bedürfnisse. Es werde viel mehr gefordert, Originaldokumente digitalisiert zur Verfügung gestellt zu bekommen. Daraus entstehe dann Neues. Archive müssen neue, partizipatorische Geschäftsmodelle entwickeln. Dazu gehören viele Tools, unter anderem die Sozialen Netzwerke, aber auch Wikis. Archivare sollten ihrer Meinung nach eine neue Mission haben: „Add value to people’s lifes in increasing their understanding and appreciation of the past!“. Indem Archive digital zur Verfügung stellen, bilden sie Plattformen für Interaktionsprozesse.

Der erste Block setzte sich dann mit Gaming, Social Media und Archiven auseinander. Spielerisches Lernen insbesondere auch von Geschichte auf der Basis von kreativ verwendeten Digitalisaten bildete das Thema. Ein weiterer Block stellte Möglichkeiten des Bloggen im Bereich von Archiven und Museen vor. Der Kurzvortrag von Maria Rottler zeigte die Unkompliziertheit des Bloggens für Archive auf der Basis des Blogportals de.hypotheses.org auf. Die Technik ist aufgesetzt. Man braucht nur den Willen, etwas anzubieten – also ein Thema, das man besetzen will. Dass Soziale Medien längst in den deutschen Archiven Eingang gefunden haben und zunehmend als Realität hin- und angenommen werden, zeigt nicht zuletzt, dass die Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim Deutschen Städtetag  (BKK) gerade Web 2.0-Empfehlungen bezüglich Social Media ausarbeitet, um interessierten Archiven künftig eine Leitlinie anbieten zu können. Bastian Gillner vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen präsentierte anhand seines „Startbahn, Spielwiese, Sackgasse?“ übertitelten Vortrags Erfahrungen eines Landesarchivs im Umgang mit Facebook. Unter der Federführung des Dezernats Öffentlichkeitsarbeit betreibt das Archiv einen Facebook-Auftritt, der dezentral mit Inhalt befüllt wird. Nach Einigung auf gewisse Richtlinien erhielten ca. 20 Personen Zugang, fünf bis sechs generieren regelmäßig Inhalte, andere je nachdem, ob sie gerade etwas fertig erschlossen haben und über diese Plattform kommunizieren wollen. Facebook wird als Schaufenster genutzt. Das Archiv hat so eine konstante Bindung an einen breiten Interessentenkreis (mehrere hundert). Man macht auf sich aufmerksam. Facebook wird als Werkzeug des Informationsmanagements genutzt. Zum Abschluss des ersten Tags wurden schließlich noch zwei Möglichkeiten zur interaktiven Generierung , Verwertung und insbesondere georeferenzierten Verortung von digitalen Daten präsentiert, nämlich Linked Open Data im Bereich des Europäischen Archivportals und „Wien Geschichte Wiki“, eine stadtgeschichtliche Wissensplattform, erarbeitet im Wiener Stadt- und Landesarchiv.

Der Vormittag des zweiten Tags wurde von den Gästen aus den nicht-deutschsprachigen Ländern bestritten. Ingmar Koch aus den Niederlanden stellte unter dem Motto: „Das größte Risiko ist, nicht nach zu denken“ die Frage, inwieweit Archive von Behörden(-vertretern) produzierte Inhalte auf soziale Medien archivieren müssten. Neil Bates vom Marketing der Europeana präsentierte das soziale Netzwerk Pinterest als „Reichweitenbeschleuniger“ für das Bekanntmachen von Beständen, insbesondere von Bildmaterial. Er sprach auch aus, was gerade in der traditionellen Öffentlichkeitsarbeit oft verwechselt wird: „Your content is the star – not you!“. Neben Präsenzen polnischer staatlicher und spanischer kirchlicher Archive in sozialen Netzwerken wurden auch noch archivische Twitter-Aktivitäten in Holland vorgestellt.

Einen wichtigen inhaltlichen Komplex bildete das Crowdsourcing. Diesem Thema waren vier Vorträge gewidmet. Dabei zeigte sich ganz klar, dass solche Projekte funktionieren können. Voraussetzung dafür ist aber eine klar abgegrenzte Community, mit der man vermittels definierter Spielregeln und Kanäle kommuniziert. Besonders beeindruckend war das Beispiel  aus der Schweiz zur Erschließung des Swissair-Fotoarchivs durch die Bibliothek der ETH Zürich. In diesem Fall konnte man auf eine gut organisierte Gruppe von Fachleuten, die Ex-Mitarbeiter der Swissair, zurückgreifen und damit eine hochmotivierte Gruppe zum Erschließen von Content gewinnen. Das Beispiel der dänischen Demografischen Datenbank gewährte Einblick in ein seit mehr als zwei Jahrzehnten laufendes Crowdsourcing-Projekt, in dem engagierte Bürger qualitätsgesichert analoge Listen übernehmen und in Datenbanken eingeben. Aus Deutschland wurde einerseits das Projekt „Kriegsgräberlisten“ des Landesarchivs Baden-Württemberg präsentiert, in dem eine computeraffine Genealogencommunity digitale „Pakete“ übernimmt und erschließt, andererseits Möglichkeiten der Nutzung von Flickr zur Fotoerschließung im Stadtarchiv Speyer.

Hervorgehoben soll schließlich noch das Projekt des digitalen Historischen Archivs Köln werden, das die Möglichkeiten der Kollaboration mit Nutzerinnen und Nutzern bietet. Dieses Projekt wurde nicht zuletzt wegen des Einsturzes des Archivs 2009 nötig. Mittlerweil hat man technologische Möglichkeiten an der Hand, die das Hochladen und Erschließen von vor dem Einsturz reproduziertem Material ermöglichen. Zum Schluss stellte Karsten Kühnel noch theoretische Überlegungen zur Erschließung vor dem Hintergrund fortgeschrittener Nutzeremanzipation an. Dabei ging es vor allem darum, unter welchen Bedingungen Nutzerpartizipation in Form von Erschließung überhaupt erfolgreich stattfinden kann. Er hielt ein Plädoyer für funktionale Provenienzen, die sich digital auch viel besser abbilden ließen, wohingegen Archivgut analog in der Regel einem Fonds/Bestand zugehören müsse.

Die Tagung hat gezeigt, dass soziale Medien auch in der Archivwelt mittlerweile eine Realität darstellen. Darüber ist nicht mehr zu diskutieren. Die Frage ist nur: Wie können Archive soziale Medien erfolgreich für ihre Zwecke nutzen? Die letzten beiden Tagungen haben Beispiele gezeigt. In der kommenden Tagung im Jahr 2015 wird es um die Evaluierung dieser Aktivitäten gehen. Man darf gespannt sein!

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1967

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Neuerscheinung: Linn Holmberg, „The Forgotten Encyclopedia“

Sie gilt als Leitmedium, manchen sogar als Inbegriff des Denkens der „Aufklärung“: die von Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert herausgegebene Encyclopédie von 1751–1772. Sie hat auch als eines der am besten erforschten Nachschlagewerke aller Zeiten zu gelten, über das etliche ganze Bücher veröffentlicht worden sind und das heute auch (gleich mehrfach) als suchbare Online-Version aufbereitet wird.

Weitestgehend unbekannt ist dagegen geblieben, dass nahezu zeitgleich mit dem Beginn der Encyclopédie in der französischen Benediktinerkongregation von Saint-Maur ein Werk ähnlichen Zuschnitts, ein Lexikon der Künste und Wissenschaften, unter der Leitung von Dom Antoine-Joseph Pernety in Angriff genommen wurde. Die Mauriner hatten seit dem späten 17. Jahrhundert eine angesehene Stellung in der Gelehrtenwelt erlangt, die vor allem auf ihrer Fähigkeit beruhte, eine Reihe von historisch-philologischen Großprojekten zu betreiben und teilweise auch zum erfolgreichen Abschluss zu bringen: Editionen der Werke der Kirchenväter, eine monumentale Ordensgeschichte, im 18. Jahrhundert aber auch zunehmend Arbeiten von nicht primär kirchlichem Interesse wie quellengesättigte Geschichten französischer Provinzen oder Bernard de Montfaucons Antiquité expliquée, ein antiquarisches Grundlagen- und zugleich Prachtwerk, das große Verkaufserfolge erzielt hatte.

Als Versuch, diese Stellung inmitten einer sich wandelnden öffentlichen Diskussion und Nachfrage nach Wissen zu wahren, ist wohl das benediktinische Enzyklopädieprojekt zu werten, das freilich im Sand verlief: Nach zehnjähriger Arbeit wurden die umfangreichen Materialsammlungen beiseite gelegt, die Arbeit an den Manuskripten abgebrochen, und das Vorhaben fiel der Vergessenheit anheim. Selbst in Darstellungen der maurinischen Gelehrsamkeit kommt es kaum zur Sprache. Dies ändert sich nun durch die an der Universität Umeå abgeschlossene Dissertation von Linn Holmberg mit dem Titel „The Forgotten Encyclopedia“, die seit kurzem als eBook frei zugänglich ist.

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/7704

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„The questions google can’t answer“ – Perspektiven zur Forschung in Museen

Tagungsbericht von Katharina Hoins (SKD) und Felicitas von Mallinckrodt (TUD)

Tagung “Die Zukunft der Forschung in Museen”
VolkswagenStiftung, Hannover
11. - 12.06.2014

Zuerst erschienen bei H-ArtHist

Über die Zukunft der Forschung in Museen zu debattieren, dazu hatte die VolkswagenStiftung aufgerufen und eine illustre Runde an Referenten und Teilnehmern für zwei Tage in das Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover eingeladen. Wilhelm Krull eröffnete als Generalsekretär der VolkswagenStiftung die Tagung und erläuterte ihren Anlass: Seit 2008 fördert die Stiftung im Rahmen ihres Programms Forschung in Museen, bisher sind 46 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 15 Millionen Euro unterstützt worden. Nachdem die Initiative unter der Leitung des Generaldirektors der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München, Klaus Schrenk, jüngst positiv evaluiert worden ist und die Stiftung das Programm leicht modifiziert mit zwei Ausschreibungen auch in 2014 und 2015 fortsetzt, bot die Tagung Gelegenheit zu Bilanz und Ausblick. Einen zentralen Aspekt, der in der Diskussion und in den Beiträgen immer wieder anklang, formulierte Krull gleich in seiner Begrüßung: Das Alleinstellungsmerkmal der Museen gegenüber Universitäten und Hochschulen sei ihr Kontakt zu den Besuchern über das Medium der Ausstellung, mithin die Vermittlung und Kommunikation von Forschung an ein größeres Publikum. Dieser Aspekt sei in der sammlungsbezogenen Forschung an Museen untrennbar mitzudenken, gleichzeitig sei Ausstellen ohne Forschung nicht möglich. Was bedeutet das für das Verständnis und die Definition von Forschung, was umfasst sie? Welche Schlussfolgerungen ziehen die Museen daraus für ihr Selbstverständnis als forschende Einrichtungen? Und wie kann daraus ein produktiver Dialog zwischen Forschung an den Universitäten und an den Museen entstehen? Wie reagieren die öffentliche Hand und die wissenschaftsfördernden Einrichtungen von BMBF über DFG bis zu den Stiftungen darauf? Verändern sich hier bisher vorrangig an universitärer Forschung orientierte Förderprogramme und -kriterien?

Klare Prioritäten zu setzen, Forschung als Kernaufgabe zu begreifen und manche Aufgabe etwa im „Edutainment“ getrost den Privaten zu überlassen, schlug Bremens Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz in einem ersten Kurzstatement vor. Forschungsdesiderate aus den Sammlungen heraus zu identifizieren und gerade auch an kleineren Häusern in Forschungskonzeptionen zu formulieren, so dass sie auch für externe Wissenschaftler sicht- und bearbeitbar werden, sei dabei eine wichtige Strategie, ergänzte Annette Schwandner vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur Niedersachsen. Explizit erläuterte dann Goslars Oberbürgermeister Oliver Junk noch einmal die schwierige finanzielle Situation und den Rechtfertigungsdruck, unter dem die Kulturpolitik stehe. Besucherzahlen könnten aber nicht der alleinige Gradmesser sein für die Qualität und den Erfolg von Kultur („Goslar ist Welterbe, kein Disney-Land“).

Dennoch: Die sagenhafte Zahl von rund 5,5 Millionen Besuchern der Londoner Tate Modern lässt auch Direktor Chris Dercon nicht unbeeindruckt. Statt der umfangreichen Forschungen der Tate zu ihren Beständen moderner und zeitgenössischer Kunst stellte Dercon in Hannover vor, was sein Haus in der Besucherforschung (audience research) unternimmt – nicht als Marketinginstrument, sondern als eine Art Leitdisziplin in der strategischen Gesamtausrichtung des Museums. Die wichtigsten Ergebnisse der Forschungen der Tate: Ihre Besucher kommen nicht vorrangig der Objekte wegen, nicht um die Originale zu erleben, sondern der Prozesse wegen, die ihrer Präsentation vorangehen. Warum und von wem werden die Werke ausgewählt, warum werden bestimmte Werke in Ausstellungen gegenübergestellt, in Beziehung gesetzt? Besucher seien an der Konstitution von Öffentlichkeit interessiert – als Beobachter der Institution Museum und als Akteure, die den öffentlichen Raum selbst zunehmend für sich und ihre Interessen reklamierten. Die Tate Modern zieht daraus Konsequenzen bis hin zur Gestaltung ihres Erweiterungsbaus – die Backsteinarchitektur von Herzog und de Meuron ist weniger als Ausstellungsfläche denn als Begegnungsraum für unterschiedliche Formate konzipiert. Dercon sieht das Museum als Ort, an dem Öffentlichkeit durch die Besucher vor Ort ganz real performativ verhandelt wird; die Grenzen zwischen Produzenten und Rezipienten verschwimmen. Die Nutzer gestalten unweigerlich wesentlich mit – das Museum ist Vorreiter bei dieser Perspektivverschiebung. So hätte die Besucherforschung nicht zuletzt auch Konsequenzen für die sammlungsbezogene Forschung des Museums: Zur Deutung der Fachwissenschaftler treten die Interessen, Fragen, Perspektiven der Besucher, getreu Dercons Ideal für die Zukunft seines Museums: „People who know something meet people who know something else.“ Im Zentrum der Debatten am Museum stünden komplexe, gesellschaftlich relevante Fragestellungen, zugespitzt: „The questions google can’t answer!“

Wie die Museen ihren Part dieser Vereinbarung einlösen können, der darin besteht, durch Forschung Wissen zu generieren und dieses für eine öffentliche Diskussion verfügbar zu machen, zeigte nach dieser Keynote die erste Session. Dafür hatte die VolkswagenStiftung vier beispielhafte Projekte ausgewählt. Das Spektrum der Museen reichte vom Archäologischen Landesmuseum Schloss Gottorf über das Deutsche Hygiene-Museum Dresden und das Ludwig Forum Aachen bis hin zum Museum für Naturkunde Chemnitz. Deutlich wurden die positiven Effekte von Kooperationen mit anderen Museen wie mit Universitäten hervorgehoben. Häufig noch schließt klassische Forschungsförderung die Finanzierung von Ausstellungen nicht mit ein – für Museen wird dadurch eine Trennung zwischen Forschungs- und Ausstellungsprojekt gezogen, die für die Institution meist eine künstliche ist, artikuliert sich Forschung doch am Museum auch in der Präsentation im Raum. Projektförderung kann, das wurde an verschiedenen Beispielen deutlich, die Forschung gerade an kleineren Museen so befördern und Netzwerke etablieren helfen, dass sich daraus Folgeprojekte entwickeln, die sich auch in der kompetitiven Forschung durchsetzen. Paradox allerdings die Situation, die sich für die Häuser daraus ergeben kann: Die Projektstellen für Forscher könnten über Drittmittel eingeworben werden, allein, die dazu notwendigen Eigenleistungen und Vorarbeiten des Museums werden durch die Grundausstattung der öffentlichen Hand nicht finanziert und das Projekt scheitert.

Das teilweise problematische Verhältnis von Grundausstattung und Drittmittelfinanzierung stand auch im Zentrum der zweiten Session, die sich unter dem Titel „Museen in Not. Infrastrukturen an Museen“ der Frage widmete, unter welchen strukturellen Bedingungen Forschung in deutschen Museen stattfindet. In drei Vorträgen wurde Forschungsarbeit an unterschiedlichen Museen vorgestellt und die jeweiligen Problemlagen skizziert.
Regine Schulz, Direktorin des Roemer- und Pelizaeus-Museums in Hildesheim, machte in ihrem Vortrag insbesondere auf die knapp bemessene finanzielle Grundausstattung ihres Hauses aufmerksam. Fördermittel und internationale Kooperationen seien essentiell, Kreativität, etwa bei der Ausleihe von Objekten gegen die Ermöglichung wissenschaftlicher Bearbeitung unabdingbar. Michael Schmitz, Direktor des Naturhistorischen Museums Mainz stellte die Neuausrichtung seines Hauses vor, für das langfristig angelegte Forschung und die Vermittlung im Museum als Lernort in im Zentrum stehen. Steigende Besucherzahlen seien Ausweis für den Erfolg dieser Strategie.

Im Rahmen eines dritten Beitrags stellten Eckhard Bolenz und Dagmar Hänel als Vertreter des Landschaftsverbands Rheinland das DFG-geförderte Projekt „Digitales Portal Alltagskulturen“ vor. Das Projekt steht exemplarisch für das Bestreben vieler Museen, die Forschung an Sammlungsbeständen durch digitale Aufbereitung öffentlich, möglichst frei und interaktiv zugänglich zu machen.

Nach dieser Präsentation einzelner Positionen nahmen in der folgenden Sektion der Philosoph und Ausstellungsmacher Daniel Tyradellis und die Journalisten Julia Voss (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und Hanno Rauterberg (Die Zeit) wiederum eine grundsätzlichere Perspektive ein. Ausgehend von seiner jüngsten Publikation „Müde Museen“ [1] formulierte Tyradellis mit seinem Vortrag „Ausstellen als Forschen – wovon, für wen und warum?“ den Anspruch an Museen, über das Medium Ausstellung mit gängigen gesellschaftlichen Erwartungen zu brechen, sie zu hinterfragen und dem Besucher so eine kritische Auseinandersetzung mit eigenen Erwartungshaltungen zu ermöglichen. Für Tyradellis sind Ausstellungen Zwischenräume; sie vermitteln zwischen einer forschungsorientierten Innenwelt und einer öffentlichen Außenwelt. Dabei sind sie mehr als „begehbare Bücher“, nicht nur reine Präsentation von Forschungsergebnissen. Ausstellungen sollen vielmehr den Besucher zum Denken bringen, indem sie Distanz zu den jeweils mitgebrachten Evidenzen schaffen und so eine eigene kritische Reflexion in Hinblick auf tradierte Erwartungen provozieren. Der Besuch einer Ausstellung ist für Tyradellis demnach ein Prozess des „Denkens im Raum“, der „Forschung in actu“, in dem Gegenstand und Vermittlung einander gleichgestellt sind. Die präsentierten Artefakte seien dabei in einer Ausstellung nicht per se sinnstiftend, sie erhielten ihre Bedeutung vielmehr erst aus dem wechselseitigen Verweis und ihrer Positionierung in einem Gesamtkontext. Die gesellschaftliche Relevanz des jeweiligen Themas dürfe dabei nicht ausgeblendet werden. Es sei demnach eine gewisse Distanz zum jeweiligen Forschungsgegenstand notwendig, um einen Ausgleich zwischen wissenschaftlicher Expertise und gesellschaftlichem Anspruch zu erreichen. Im Idealfall ist eine Ausstellung für Tyradellis daher eine eigene Form der Forschung, die disziplinäre Grenzen überwindet und das Museum zu einem Ort eines auf Selbsthinterfragung basierenden gesellschaftlichen Diskurses macht.

Im Unterschied zu diesen gattungsübergreifenden Überlegungen bezog sich Julia Voss in ihrem Beitrag „Museen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ vornehmlich auf Kunstmuseen. Diese stehen in ihren Augen vor dem Problem, einerseits als Orte größter kultureller Strahlkraft, andererseits als behäbige Verhinderer kreativer Innovationen zu gelten. Sie identifizierte drei Felder, die für Kunstmuseen zukünftig im Fokus der Arbeit stehen sollten: Provenienzforschung, Erforschung der eigenen Sammlungen und eine damit verbundene Infragestellung des Kanons sowie eine Steigerung der Möglichkeiten zur Partizipation durch die Nutzung moderner Medien. Kritisch hingegen bewertet sie zu enge Verbindungen zwischen Museum und Kunstmarkt.

Hanno Rauterberg nahm in seinem Statement „Zeit für Selbsterforschung. Warum das Museum sich zum Objekt der wissenschaftlichen Neugier machen muss“ wiederum eine globalere Perspektive ein und knüpfte damit an Tyradellis an. Auch für ihn sollen Ausstellungen das Abrücken von Selbstverständlichkeiten ermöglichen. Im Zentrum steht für ihn dabei das „Staunen als Erfahrung der postmaterialistischen Bereicherung“. Rauterberg schlug vor, statt von „Besuchern“ von „Besitzern“ der Objekte in öffentlichen Sammlungen zu sprechen. Dieser Begriffswechsel ermöglicht für ihn sowohl ein neues Verhältnis zwischen Ausstellungsmachern und ihren Zielgruppen als auch ein verändertes Selbstverständnis der Museen. Museen sollten darüber hinaus weniger danach streben, durch Neubauten Ausstellungsfläche hinzuzugewinnen, sondern vielmehr aus den eigenen Beständen heraus flexible, stärker performativ ausgerichtete Ausstellungen entwickeln, die durch die Nähe zum Objekt eine Unmittelbarkeit herstellen, die beispielsweise das Internet nicht zu schaffen in der Lage ist. Die Zukunft des Museums sieht Rauterberg – ebenso wie seine Vorredner Tyradellis und Dercon – in einer Entwicklung hin zu einem Selbstverständnis als Raum intellektueller Erfahrung und gesellschaftlicher Diskussion. Rauterberg plädiert dabei für eine höhere intellektuelle und emotionale Risikobereitschaft der Museumsmacher.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion, an der – moderiert von Wilhelm Krull (Volkswagenstiftung) – Raimund Batella (Deutscher Städtetag), Britta Kaiser-Schuster (Kulturstiftung der Länder), Volker Rodekamp (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig), Oliver Scheytt (Kulturpolitische Gesellschaft) und Regine Schulz (Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim) teilnahmen. Auch hier wurde eine mangelhafte finanzielle Grundausstattung als größtes, nicht kompensierbares Hindernis der Forschung an Museen identifiziert. Da institutionelle Förderung nur durch die jeweiligen Träger gewährleistet werden könne, müssten die Museen ihre gesellschaftliche Relevanz sowohl gegenüber politischen Entscheidungsträgern als auch gegenüber der Öffentlichkeit noch deutlicher machen.

Die Zukunft des Museums könnte, so ließe sich aus den Impulsen der Tagung schlussfolgern, darin liegen, verstärkt die eigenen Sammlungsbestände zu erforschen, um auf dieser Grundlage komplexe Erfahrungsräume zu schaffen, in denen gesellschaftliche Diskurse angestoßen und verhandelt werden. Darin, die Wechselwirkungen zwischen Sammlung und Gesellschaft produktiv zu machen, könnte das Potenzial von Forschung in Museen liegen.

Anmerkung:
[1] Daniel Tyradellis: Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern können, Hamburg 2014.

Quelle: http://dss.hypotheses.org/1357

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Gedanken zu “Archivum Rhenanum”

Nach allem, was ich bislang zu diesem Projekt gelesen habe, kann man die Initiative nur begrüßen. Denn die französisch-deutsche Verständigung und Zusammenarbeit sind auf der Ebene der nationalen Parlamente, Regierungen und Ministerien sowie des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, vieler Städtepartnerschaften und ähnlicher Zusammenschlüsse erfreulich weit gediehen. Gleichzeitig aber ist seit Kriegsende der Graben zwischen Baden und dem Elsass tiefer geworden, trotz vieler Rheinbrücken und gutgemeinter Projekte. Von Tag zu Tag gibt es weniger wirklich zweisprachige Elsässer; von den dort nach 1970 Geborenen sprechen nur wenige Deutsch. Und in Baden ist die Zahl derer, die das Französische beherrschen, besorgniserregend klein. ‚Man‘ ist deshalb oft genötigt, sich mehr schlecht als recht auf Englisch zu verständigen.

Das Archivum Rhenanum kann Brücken bauen zwischen Deutschen, Franzosen und Eidgenossen insofern, als es Jungen und weniger Jungen Hilfen anbietet, sich wertvolle Teile des reichen gemeinsamen kulturellen Erbes anzueignen und damit zu bewahren. Das Internet bietet phantastische Möglichkeiten; so können sich Interessierte in Toulouse oder Aachen schon daheim kundig machen und vorbereiten ­– ohne Reise- und Hotelkosten.

Dreierlei Hilfen scheinen mir für den Anfang sinnvoll zu sein:

1) Einführung in die Sprache. Vorzügliche Vorarbeiten haben elsässische Archivare und Historiker geleistet (s.u.). Mit wenig Aufwand ließen sie sich aktualisieren und auf die Bedürfnisse heutiger Schüler, Studenten und anderer Interessierter ausrichten.

2) Einführung in Schriften, als Ergänzung zur Sprache. Eidgenossen, Deutsche und Franzosen lassen sich oft schon durch Druck in Frakturschrift abschrecken, erst recht durch Sütterlin und andere Schreibschriften. Abbildungen mit Transkriptionen liegen schon vor; sie müssten ins Internet gestellt und um das gesprochene Wort ergänzt werden, was das Internet ebenfalls erlaubt.

3) Einführungen in die praktische Arbeit durch Archivare, Historiker, Lehrer … im Elsass etwa in Städten der Dekapolis: An Wochenenden, über das Jahr gestreut, in Kaysersberg im Januar, in Schlettstadt im Februar, in Weissenburg im März usf. Ähnlich in Baden und in der Pfalz: Breisach, Kehl, Landau … Zu bevorzugen wären Zeiten, in denen eine preiswerte Unterbringung möglich ist, also außerhalb örtlicher Festivitäten, Messen u.ä. Man könnte sich kennenlernen, Hemmschwellen abbauen und dafür sorgen, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer von der ersten Stunde an Erfolge erleben.

Erg. zu 1), Einführungen in die Sprache: Viele Editionen von Quellen zur Geschichte, Verwaltung, Wirtschaft des Elsass enthalten deutsch-französische Glossare oder ähnliche Hilfen; vgl. Norbert Ohler: Auswahlbibliographie zur Landeskunde des Elsaß, vornehmlich zur Geschichte. In: Das Elsaß. Bilder aus Wirtschaft, Kultur und Geschichte. Hrg. von Jean-Marie Gall und Wolf-Dieter Sick (= Alemannisches Jahrbuch, 1987/88), Bühl 1991, S. 427-462, Nr. 402-488a.

Norbert Ohler, Horben, Juli 2014

Quelle: http://archives.hypotheses.org/747

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Thekla Kluttig: Das Leben von Menschen bereichern. Bericht über die Tagung „Offene Archive 2.1 (…)


Das Leben von Menschen bereichern. Bericht über die Tagung „Offene Archive 2.1 – Social media im deutschen Sprachraum und im internationalen Kontext“ 

Vorbemerkung: Der vorliegende Konferenzbericht (Autorin: Dr. Thekla Kluttig) ist im Druck erschienen in: “Archivar. Zeitschrift für Archivwesen” Heft 3 (2014), 298-301. [PDF-Version des Jahrgangs 2014 abrufbar unter diesem Link]

 

Nachdem die Speyerer Tagung “Offene Archive? Archive 2.0 im deutschen Sprachraum (und im europäischen Kontext)” im November 2012 sehr positiv aufgenommen worden war, fand am 3./4. April 2014 die Folgetagung in Stuttgart statt.[1] Abstracts und weitgehend auch Videoaufzeichnungen der 25 Vorträge sind im Blog “Archive 2.0. Social media im deutschen Archivwesen” verfügbar, das auch auf die bereits online erschienenen Tagungsberichte verweist.[2] Der folgende Bericht kann sich daher auf einzelne Vorträge konzentrieren, die pars pro toto für das Spektrum der Beiträge stehen sollen.

Die Vorträge lassen sich im Wesentlichen drei inhaltlichen Schwerpunkten zuordnen: a) Überblicksdarstellungen über die Nutzung verschiedener sozialer Medien durch einzelne Institutionen, b) die Nutzung spezifischer Medien wie Blogs, Facebook, Twitter etc. und c) die Planung und Durchführung von Crowdsourcing-Projekten.[3] Eingeleitet wurde die Tagung durch eine Keynote der amerikanischen Archivarin Kate Theimer, die gleich im Titel den entscheidenden Akzent setzte: “The Future of Archives is Participatory: Archives as Platform, or A New Mission for Archives”.[4] Da der englischsprachige Vortrag grundlegende Überlegungen zur Rolle von Archiven in der modernen Informations- und Unterhaltungsgesellschaft enthält, soll er im Folgenden ausführlicher referiert werden. Theimer stellte zunächst fest, dass in der “alten Welt” die Archive mit den historischen Quellen eine rare Ressource verwahrten, die von den Forschern mangels Alternativen vor Ort genutzt wurde. Auch heute noch verwahrten die Archive rare Ressourcen, aber die Forscher wären angesichts der Fülle von zugänglichen Informationen nicht mehr mit einem Mangel, sondern einer Überfülle an Quellen konfrontiert. Archive seien nicht mehr die zentralen Anbieter historischer Quellen und ein einfacher Zugang werde immer mehr zu einem wichtigen Kriterium. Zwar stimme der Spruch nicht “was nicht online ist, existiert nicht”, aber immer häufiger begegne – auch angesichts sinkender Budgets für Reisekosten – die Haltung von Forschern: “wenn es nicht online ist, schreibe ich über etwas anderes”. In jener alten Welt habe die allgemeine Öffentlichkeit in der Regel keinen Zugang zu dem Archivgut gehabt, sondern Einblicke in die historischen Quellen über die Publikation von Forschungsarbeiten erhalten. Heute gebe es eine ganz andere Situation: Jedermann könne jederzeit im Internet Material zu diversen Themen finden, darunter digitalisierte Sammlungen und Quellen verschiedener Herkunft. Das Archivgut eines bestimmten Archivs werde in der Regel nicht gesucht und auch nicht gebraucht, um die Bedürfnisse vieler Menschen nach Material zu den sie interessierenden Themen zu befriedigen. Damit ergebe sich die zusätzliche Herausforderung für die Archive, auf dem Markt der Informationsanbieter sichtbar zu bleiben.

Vor dem Hintergrund dieser faktischen Veränderungen müsse der Auftrag (“mission”) der Archive überdacht werden. Im traditionellen Selbstverständnis bestehe er in der Sammlung und Bewahrung von Unterlagen mit bleibendem Wert sowie in der Ermöglichung des Zugangs zu diesen Unterlagen. Zugang zu ermöglichen sei aber ein passives Konzept. Es gehe darum, ein größeres Ziel, einen neuen Auftrag für die Archive zu setzen. Viele Bibliotheken hätten ein solches übergeordnetes Ziel, wie das Statement des Bibliothekars R. David Lankes verdeutliche: “The mission of librarians is to improve society through facilitating knowledge creation in their communities.” Theimer schlug als neuen Auftrag von Archiven vor: “Archives add value to people’s lives by increasing their understanding and appreciation of the past”, sinngemäß: “Archive bereichern das Leben von Menschen, in dem sie ihr Verständnis von und ihren Sinn für die Vergangenheit erhöhen”. Dieser Ansatz stelle die Menschen und nicht die Quellen in den Mittelpunkt und bedeute damit eine wesentliche Wendung im archivischen Selbstverständnis. Wenn die Archive diese Wendung nicht vollzögen, gefährdeten sie mittelfristig ihre Existenz, so Theimer.[5]

Die Orientierung an diesem neuen Auftrag bedeute nicht, dass man traditionelle Aufgaben oder Werte aufgebe, es bedeute aber, dass man das aktive Herausgehen (“outreach”) von einer nachrangigen zu einer vorrangigen Aufgabe erhebe. Archive sollten schon aus grundsätzlichen Erwägungen Benutzer-orientiert sein, nebenbei könne diese Orientierung aber auch die Einwerbung von Mitteln erleichtern.

In ihren folgenden Ausführungen stellte Theimer dem auch in den USA verbreiteten Stereotyp von Archiven als verstaubten, verschlossenen Einrichtungen mit altmodischem Personal das Bild “partizipatorischer” Archive entgegen, Archiven, die es Menschen ermöglichen, aktiv teilzuhaben. Theimer unterschied zwischen verschiedenen Ebenen, beginnend von Aktivitäten für flüchtige, eher oberflächlich interessierte Nutzer (z. B. durch Angebote wie das “Dokument des Tages” der U.S. National Archives) über die Mitarbeit von Menschen ohne spezielle Vorkenntnisse (z. B. in Projekten zur Transkription maschinenschriftlicher, oft listenförmiger Quellen) bis hin zur gezielten Einbeziehung von Menschen mit spezifischen Kenntnissen und Erfahrungen (z. B. zur Mithilfe bei der Identifizierung von Fotografien). Die Einbeziehung von Freiwilligen ist für Archive nicht neu und findet schon seit langem statt. Theimer wies aber zu Recht darauf hin, dass das Internet die Möglichkeiten und die Reichweite dieser freiwilligen Mitarbeit enorm vergrößert hat. Die Öffnung der Archive unter Nutzung moderner Informationstechnik biete auch die Chance, den überkommenen negativen Stereotypen etwas entgegen zu setzen und eine positive Haltung zu Archiven zu fördern. Archive sollten als Orte wahrgenommen werden, an denen Menschen willkommen sind und positive Dinge passieren. Darüber hinaus: Archive könnten Menschen helfen, sich mit etwas zu verbinden, das größer ist als sie selbst: mit den archivischen Quellen, die Geschichte dokumentieren, und mit der Geschichte selbst, die sich in diesen Dokumenten widerspiegelt.

Instrumente für ein aktiveres Zugehen auf die Nutzer sind soziale Medien wie z. B. Blogs, die mittlerweile auch für wissenschaftliche und archivische Zwecke vielfach genutzt werden und auf der Tagung in zwei Beiträgen thematisiert wurden. Maria Rottler stellte mit de.hypotheses.org das zentrale Blogportal für die deutschsprachigen Geistes- und Sozialwissenschaften vor. Auch wenn viele Geisteswissenschaftler noch zurückhaltend seien, sei hier einiges in Bewegung gekommen. So gebe es bei de.hypotheses.org derzeit schon über hundert wissenschaftliche Blogs verschiedenen Zuschnitts: Institutionenblogs, Gemeinschaftsblogs, Projektblogs etc. Zu ihrem Aufbau seien keine IT-Kenntnisse nötig, „wer Textverarbeitung beherrscht, kann auch bloggen“. Blogs bei de.hypotheses.org können auch von Archiven oder einzelnen Archivaren beantragt und unkompliziert eingerichtet werden, hiervon zeugt z. B. das Aktenkunde-Blog.[6]

Unter den sozialen Medien wird an führender Stelle stets auch Facebook genannt, das ebenfalls Thema von zwei Beiträgen war. So stellte Bastian Gillner unter dem Titel „Startbahn, Spielwiese oder Sackgasse?“ den Facebook-Auftritt des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen vor. Facebook werde als Instrument des Informationsmanagements gesehen, es biete die Möglichkeit der Vermittlung des eigenen „Markenkerns“ und der Darstellung der Arbeit des Archivs. Daran interessierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten sich für die Erstellung von Inhalten freischalten lassen, die Federführung liege beim Dezernat Öffentlichkeitsarbeit, das die Beiträge auch freigebe. Derzeit seien rund 20 Mitarbeiter freigeschaltet, von denen fünf regelmäßig Beiträge lieferten. Dies führe zu mehreren „Posts“ in der Woche, die aber inhaltlich und hinsichtlich der vertretenen Abteilungen ungleichgewichtig verteilt seien. Gillner sieht verschiedene Gründe für die noch verbreitete Zurückhaltung, darunter an erster Stelle die innere Einstellung von Kolleginnen und Kollegen.

Ein inhaltlicher Schwerpunkt lag am zweiten Tagungstag auf der Vorstellung verschiedener Projekte, die dem Crowdsourcing zugerechnet werden können – der Auslagerung von Aufgaben aus dem Archiv an eine Gruppe von Internetnutzern, deren Mitarbeit freiwillig und unentgeltlich erfolgt. Positiv und im Sinne von Theimer formuliert: Vorgestellt wurden Projekte von Mitmach-Archiven, die die aktive Teilhabe von Menschen ermöglichen. Einen guten Einstieg in das Thema bot die Vorstellung von “Überlegungen zu einem Crowdsourcing-Konzept des Landesarchivs Baden-Württemberg” durch Esther Howell. Im Rahmen des DFG-Produktivpiloten “Digitalisierung von archivalischen Quellen” entwickelt das Landesarchiv Baden-Württemberg auch ein Konzept für die Durchführung von Crowdsourcing-Projekten, das für alle Archive von Nutzen sein und Teil archivischer Web 2.0-Strategien sein soll. Der noch im Entwurf vorliegende Katalog umfasst 15 Kriterien für ein erfolgreiches Crowdsourcing: 1. Strategie, 2. Projektbetreuung / Ressourcen, 3. Definition von Projektzielen, 4. Beständeauswahl, 5. Rechtsfragen, 6. Definition der zu generierenden Inhalte, 7. Definition der Zielgruppe (geschlossene oder offene Gruppe?), 8. Entscheidung für eine Plattform (eigenes System, Fremdsystem?), 9. Datentransfer (v. a. bei Nutzung eines Fremdsystems), 10. Definition von Qualitätsstandards, 11. Definition der qualitätssichernden Maßnahmen, 12. Entscheidung über Registrierung, 13. Definition eines Redaktionsworkflows, 14. Entscheidung über Anreizsystem, 15. Öffentlichkeitsarbeit.[7]

Das Landesarchiv Baden-Württemberg belässt es aber nicht bei Konzepten, sondern sammelt erste Erfahrungen mit dem Projekt “Kriegsgräberlisten im Landesarchiv Baden-Württemberg”.[8] Ab den 1950er Jahren erstellten die baden-württembergischen Kommunen Listen, in denen Informationen über knapp 78.000 Kriegsgräber auf mehr als 2.000 Friedhöfen sind. Das Landesarchiv hatte die Digitalisate dieser Kriegsgräberlisten bereits über die eigene Webseite zugänglich gemacht, startete aber im März 2014 ein Projekt zur elektronischen Erfassung der Listen in Zusammenarbeit mit dem größten genealogischen Verein in Deutschland, dem Verein für Computergenealogie e. V. (CompGen). Mittels des von CompGen entwickelten Daten-Erfassungs-Systems (DES) können die freiwilligen Bearbeiter die Daten direkt “auf der Quelle” in eine Datenbank eingeben; die Daten sollen nach Abschluss des Projekts auch im Online-Findmittelsystem des Landesarchivs verfügbar sein. Zum Zeitpunkt der Tagung – rund vier Wochen nach Start des Projektes – waren 11% der Listen bereits durch etwa 40 Nutzer erfasst worden.

Diese wenigen Beispiele illustrieren bereits, dass die Tagung ein vielfältiges Programm bot. Allerdings gab es verhältnismäßig wenig Zeit für Diskussionen. So wurden Hindernisse für eine weitergehende Öffnung der Archive zwar benannt, z. B. dass kleine Archive von den übergeordneten Behörden oft nur als Dienstleister für diese Verwaltungen wahrgenommen werden. Vielen Mitarbeitern in Archiven sind (dienstlich) die Hände gebunden, weil Vorgesetzte die Nutzung von Web 2.0-Anwendungen nicht fördern oder freigeben. Strategien zur Lösung dieser Probleme wurden aber nicht diskutiert.

Wiederholt wurde angesprochen, dass social-media-Aktivitäten Teil einer digitalen Gesamtstrategie sein müssten. Leider wurde dieses Thema in keinem Vortrag ausgeführt, obwohl es angesichts der weit verbreiteten Unterfinanzierung öffentlicher Archive besonders wichtig ist. Sinkende personelle und finanzielle Ressourcen bei steigenden Aufgaben (wachsende Bestände, Archivierung elektronischer Unterlagen, Probleme der Bestandserhaltung der Originale, oft schwierige Position zwischen Ansprüchen des Trägers und Ansprüchen einer offenen Bürgergesellschaft) erzwingen die Einbindung der digitalen Strategie in eine Gesamtstrategie des Archivs. Es bleibt zu wünschen, dass dieses Thema bei der Programmplanung für die nächste Tagung zu “Offenen Archiven” stärker in den Blick genommen wird.

Mario Glauert stellte in seinem Schlusswort fest, dass man mit dem Blick zurück auf die Tagung “Offene Archive 2.0″ im November 2012 wohl sagen könne, dass das Thema nun endgültig in der Community angekommen sei. Die Berichterstatterin teilt diese Einschätzung nicht. Vielen Archivarinnen und Archivaren ist die Welt des Web 2.0 noch sehr fern, und sie stehen den Entwicklungen abwartend bis ablehnend gegenüber. In Stuttgart konnte man sich vielmehr erinnert fühlen an die Stimmung auf den Tagungen des Arbeitskreises “Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen” vor etwa 15 Jahren.[9] Auch dort sah man sich – zu Recht – als Avantgarde, die drängende Themen anpackte, denen viele etablierte Kollegen noch auswichen. Die Zeit hat erwiesen, dass die Archivierung elektronischer Unterlagen eine Aufgabe ist, der sich alle Archive stellen müssen. So wird es auch beim Web 2.0 sein.

 

Thekla Kluttig, Leipzig

[1] Dem Organisationsteam gehörten Andreas Neuburger, Christina Wolf, Joachim Kemper, Elisabeth Steiger sowie Thomas Wolf an. Die Tagung konnte parallel über einen Livestream verfolgt werden, der eingerichtete Twitter-Hashtag wurde rege genutzt. Zur Tagung von 2012 siehe auch den Tagungsbericht von Meinolf Woste: Offene Archive?, in: Archivar 2/2013, S. 197-200.

[2] Siehe http://archive20.hypotheses.org/ (letzter Aufruf 15.04.2014).

[3] Nur einige Vorträge fielen aus diesem Rahmen. Dies gilt u. a. für den Beitrag von Silke Jagodzinski über “Linked Open Data im Archivportal Europa”, von Ingmar Koch über „E-Government 2.0 und Soziale Netzwerke in den Niederlanden“, der auf die Entstehung auch archivwürdiger Unterlagen (staatlicher Einrichtungen) bei Facebook und Twitter einging, sowie für den Beitrag von Karsten Kühnel zu “Partizipation durch Standardisierung? Erschließung vor dem Hintergrund fortgeschrittener Nutzeremanzipation”.

[4] Der Einführungsvortrag musste wegen des Streiks der Lufthansa in Form eine Telefefoninterviews gehalten werden. Der Text ist im Blog “ArchivesNext” veröffentlicht, siehe http://www.archivesnext.com/?p=3700 (letzter Aufruf: 09.04.2014).

[5] “While the collecting, preserving, and processing of materials will always be central to the work of any archives, it seems that today merely saying that an organization preserves valuable records is not enough to necessarily justify its continued funding level, or almost its very existence, as we’ve seen in the U.S. Proving the relevance of archives today – not for a distant future – is needed. Because really, for all but the biggest collections, at any given moment, relatively few people actually need access to what you have. Rather, we must make people want access to what we have, and to do that we must figure out what uses they want to make of the collections”, siehe http://www.archivesnext.com/?p=3700 (letzter Aufruf: 09.04.2014).

[6] Das Blog wird von dem Archivar Holger Berwinkel unter der URL http://aktenkunde.hypotheses.org/163 betrieben. Sein Beitrag “Die ‘Kanzlerakte’: eine offensichtliche Aktenfälschung” wurde von der Redaktion von de.hypotheses als “best-of”-Beitrag für die Einstiegsseite ausgewählt und ist ein sehr gutes Beispiel für die Vermittlung des Nutzens von Aktenkunde auch in eine breitere Öffentlichkeit.

[7] Ein beeindruckendes Beispiel für Crowdsourcing war das von Nicole Graf vorgestellte Swissair-Projekt. Das Bildarchiv der ehemaligen schweizerischen Fluggesellschaft befindet sich mit einem Umfang von rd. 200.000 Bildern in der Bibliothek der ETH Zürich. Durch die Werbung für das Projekt bei früheren Swissair-Mitarbeitern konnten rund 130 Freiwillige gewonnen werden, von denen etwa 40 regelmäßig am Projekt mitarbeiteten. Genauere Informationen über das Projekt finden sich auf der Website der ETH Bibliothek. Zur Presseberichterstattung über das Projekt siehe http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/gemeinden/Der-Geist-der-guten-alten-Swissair/story/15303435 (letzter Aufruf: 15.04.2014).

[8] Aufgrund einer kurzfristigen Verhinderung des Referenten Claudius Kienzle wurde seine Präsentation von Esther Howell vorgetragen, die an der Vorbereitung des Projektes beteiligt war. Siehe zu dem Projekt auch http://www.landesarchiv-bw.de/web/56361 (letzter Aufruf: 15.04.2014).

[9] Informationen zum Arbeitskreis stehen online unter http://www.staatsarchiv.sg.ch/home/auds.html (letzter Aufruf: 15.04.2014).

 

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1947

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Kölner Waffen für Wallenstein

Köln hatte Glück im Dreißigjährigen Krieg: Die Stadt blieb von Einquartierungen und Kriegszerstörungen verschont. Vielmehr verdiente die Metropole noch stark am Krieg, indem sie sich am florierenden Handel mit Kriegsgütern aller Art beteiligte. Im Begleitband zur Ausstellung „Köln in unheiligen Zeiten“ habe ich einen Beitrag zur Kölner Kriegswirtschaft beigesteuert. Gemäß dem Konzept des Bandes ist der Aufsatz knapp gehalten, und doch muß ich ehrlicherweise hinzufügen, daß sich so sehr viel mehr derzeit auch kaum sagen läßt. Das Thema wurde bislang nicht wirklich intensiv beforscht, und so habe ich die Befunde, die mir aus der Literatur und den verfügbaren Quellenbeständen bekannt waren, zusammengetragen.

Die Kölner Archivsituation läßt derzeit nicht so viel Hoffnung, daß sich an dieser deplorablen Forschungslage rasch etwas verbessern ließe. Doch können manche Aspekte zum Thema der Kölner Kriegswirtschaft auch jetzt schon weiter vertieft werden – so etwa die Geschäftsbeziehungen Wallensteins zu Köln. Die Literatur zu diesem Feldherrn und Kriegsunternehmer ist bekanntermaßen uferlos, doch sind die (kriegs-)wirtschaftlichen Beiträge auch in seinem Fall überschaubar. Klassisch sind die Studien, die Anton Ernstberger vorgelegt hat, insbesondere die Studie zu „Wallenstein als Volkswirt im Herzogtum Friedland“ von 1929. Hier gibt es eine Reihe von Hinweisen, die die wirtschaftlichen Verbindungen des kaiserlichen Heerwesens zur Stadt Köln illustrieren.

Besonders die Materialien im Anhang der Studie bieten einen guten Überblick (S. 137-145), so etwa die Tabelle zu gekauften Waffen für das kaiserliche Heer, die nicht erst für Wallenstein (also ab 1625), sondern bereits ab 1620 die kaiserlichen Einkäufe verzeichnet. Neben den süddeutschen Reichsstädten wie Ulm, Nürnberg und Augsburg sowie der thüringischen Waffenschmiede Suhl taucht auch Köln immer wieder mal auf (auch allgemein das Rheinland); bezeichnenderweise fehlen hier im Gegensatz zu anderen Einträgen  exakte Zahlen. So ist meist nur von „allerlei“ oder „etliche[n]“ (sc. Rüstungen o.Kürasse) die Rede, doch für den 14.2.1626 sind 1.000 Kürasse, für den 17.4.1626 noch einmal 800-1.000 Kürasse und für den 24.3.1628 wiederum 1.100 Kürasse und 400 Bandelierrohe angegeben. Ähnlich sind die Angaben für die erhandelten Lunten, Pulver und Salpeter: Köln taucht erneut neben den anderen Rüstungszentren auf, aber wiederum meist nur mit pauschalen Angaben.

So wichtig diese Hinweise sind, werfen sie doch nur neue Fragen auf, die auf Weiteres erst einmal unbeantwortet bleiben. So erfahren wir keine weiteren Details über die Waffengeschäfte und deren Finanzierung, nicht einmal die Namen, mit denen auf Kölner Seite verhandelt wurde. Gerade dies wäre allerdings wichtig zu erfahren, um entsprechende Netzwerke im Bereich der Rüstungsgeschäfte zu rekonstruieren. Immerhin taucht in einem anderen Dokument, das über weitreichende Rüstungspläne Wallensteins im Oktober 1628 reflektiert, der Name des in Köln agierenden Großverlegers Anton Frey Aldenhoven auf (S. 130-133). Insgesamt können diese Angaben nicht mehr als eine erste Orientierung bieten; zumindest wird hieran deutlich, daß Köln nicht nur für die in den westlichen Regionen des Reiches operierenden Truppen von kriegswirtschaftlicher Bedeutung war, sondern seine Waffengeschäfte augenscheinlich reichsweit betrieb.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/502

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Geteilte Vergangenheiten, teilende Erinnerung: Wie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Serbien und Bosnien-Herzegowina gedacht wird

 

von Ulf Brunnbauer (Universität Regensburg, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung)

Am 28. Juni dieses Jahres wurde die Nationalbibliothek Bosnien-Herzegowinas in Sarajevo nach langjähriger Rekonstruktion wiedereröffnet. Sie war im August 1992 von den serbischen Belagerern in Brand geschossen worden, wobei das Gebäude schwer beschädigt und ein großer Teil der unikalen Sammlung orientalischer Schriften vernichtet wurden. Nach dem Ende des Bosnienkriegs stand die Ruine der Nationalbibliothek jahrelang hinter einem Bauzaun als unwillentliches Mahnmal für den Wahnsinn des Kriegs und der in ihm begangenen Verbrechen, bis endlich der Wiederaufbau in Angriff genommen und heuer zu einem guten Ende gebracht wurde.

Dieses gute Ende erfuhr allerdings am 28. Juni 2014 eine Eintrübung: An der Wiedereröffnungszeremonie hätten der Staatspräsident der Republik Serbien, Tomislav Nikolić, sowie der serbische Ministerpräsident, Aleksandar Vučić, teilnehmen sollen – im Sinne einer Versöhnungsgeste. Es blieb beim Konjunktiv, denn die beiden wichtigsten Politiker Serbiens sagten kurzfristig ab. Sie stießen sich an einer Aufschrift am Eingang zur Bibliothek, die besagt, dass dieses Gebäude von „serbischen Verbrechern“ in Brand gesetzt worden sei. Die serbische Regierungsspitze phantasierte allerdings von einem Wortlaut, der Begriffe wie „faschistische serbische Aggressoren“ und „Tschetniks“ beinhalten würde. Vor einem solchen Angriff auf die Würde der serbischen Nation könnten sie sich unmöglich sehen lassen.1 Anstelle nach Sarajevo reisten die beiden, Nikolić und Vučić, in das in der Republika Srpska gelegene, vom Regisseur Emir Kusturica errichtete Disney-Land-artige Kunstdorf Andrićgrad. Diese soll nominell den berühmten Schriftsteller Ivo Andrić ehren, der sich gegen diese Art von nationalistischer Vereinnahmung und kitschiger Huldigung nicht mehr wehren kann. In Andrićgrad inszenierte Kusturica am 28. Juni eine Nachstellung des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand. Gavrilo Princip und seine Mitverschwörer wurden ausgiebig lobgepriesen. Mit ihrem Besuch dieses ethnonationalistischen Historienspektakel unter der Ägide einer politischen Entität, die ihre Genese aus einem Genozid bis heute leugnet, lieferte die serbische politische Elite jedenfalls all jenen Argumente, die ihr in den letzten Jahren ostentativ geäußertes Bekenntnis zu Europa für wenig glaubwürdig halten.

In Sarajevo wiederum glänzten Vertreter Serbiens und der Republika Srpska durch Abwesenheit. Auch die internationale Staatenwelt war kaum vertreten – mit Ausnahme der Österreicher: Die Wiener Philharmoniker spielten auf, der österreichische Bundespräsident Fischer nahm an der Eröffnungszeremonie teil. Diese österreichische Note war kein Zufall: Das Gebäude, das die Nationalbibliothek beherbergt, ist unter österreichisch-ungarischer Herrschaft errichtet worden und hat viele Jahre hindurch als Rathaus der Stadt Sarajevo gedient; daher auch ihre umgangssprachliche Bezeichnung als Vijećnica. Österreich hat sich beim Wiederaufbau engagiert und ist generell in Sarajevo stark präsent; zudem breitet sich unter den bosnischen Muslimen eine ausgesprochene Nostalgie für die Zeit der habsburgischen Herrschaft aus.

Was zeigen die beiden parallelen Episoden in Bezug auf die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Serbien und Bosnien-Herzegowina und allgemeiner hinsichtlich der vorherrschenden Geschichtspolitik? Für Serbien lässt sich konstatieren, dass das offiziell propagierte und vom Großteil der Gesellschaft akzeptierte Geschichtsbild noch nicht im „post-heroischen“ Zeitalter angekommen ist. Gavrilo Princip wird weiterhin als Befreiungsheld erinnert, ihm werden sogar neue Denkmäler gewidmet, wie das kürzlich in Istočno Sarajevo (der in der Republika Srpska gelegene Stadtteil Sarajevos) feierlich enthüllte; dessen realsozialistische Ästhetik eröffnet eine weitere Ebene der mnemotechnischen Kontinuität. Diese Denkmäler, ebenso wie die Inszenierung des Attentats vom 28. Juni 1914 sind eine Reaktion auf die in Serbien herrschende Wahrnehmung, Kräfte im Ausland wollten die Geschichte des Ersten Weltkriegs umschreiben und Serbien vom Opfer zum Täter machen. Entsprechend heftig fielen in Serbien die Reaktionen auf Christopher Clarks Buch „Sleepwalkers“ aus (vielfach ohne Lektüre des Buches, das noch nicht in serbischer Übersetzung vorliegt).2 Ebenso von Politik, nationalen Historikern und Medien heftig kritisiert wurde eine große internationale Tagung zum Ersten Weltkrieg, die im Juni 2014 in Sarajevo stattfand, da dort – so die in Serbien medial breit getretene, gleichwohl falsche Ansicht – Gavrilo Princip vom Helden zum Terroristen umgedeutet werden sollte.3

Geschichte, zumal wenn es sich um Stützpfeiler der nationalen Meistererzählung handelt, wird von den zentralen geschichtspolitischen Akteuren in Serbien noch immer als Ding betrachtet, das es zu verteidigen gilt gegen alle jene Kräfte, die es schon immer mit Serbien schlecht meinten. Diese wollen „uns“ nun auch noch die Geschichte rauben, nachdem sie Serbien in den letzten Jahrzehnten bereits so ungerecht behandelt haben; eine solche Angst vor Identitätsverlust wird von patriotischen Intellektuellen, Politikern und ihren medialen Sprachrohen häufig artikuliert. Es ist bezeichnend, dass die größte Tagung zum Ersten Weltkrieg in Belgrad von den Trutzburgen des ethnonationalen Geschichtsbewusstseins ausgerichtet wurde – unter der unvermeidlichen Schutzherrschaft des Patriarchen Serbiens: Die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste, die Akademie der Wissenschaften und Künste der Republika Srpska und die Matica Srpska luden zu einer Konferenz zum Thema „Die Serben und der Erste Weltkrieg“.4

Andererseits war die Terminierung der Wiedereröffnung der bosnischen Nationalbibliothek auf den 28. Juni kein Akt der politischen Klugheit. Denn dadurch wurde fast zwangsläufig das Gedenken an den Krieg der 1990er Jahre mit jener an den Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht, obwohl diese beiden Kriege – außer in der patriotisch verzerrten Wahrnehmung lokaler Akteure – nichts miteinander zu tun haben. Damit ist weder der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gedient noch der bosniakisch-serbischen Versöhnung. Hier ist sogar der Klage der „Politika“, die nahe am Puls der serbischen Regierung publiziert, zuzustimmen, dass der Erste Weltkrieg in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien immer öfter mit den Krieg der jüngsten Vergangenheit in Verbindung gebracht werde – wobei es die „Politika“ nicht unterlassen kann, dahinter dunkle Mächte zu vermuten.5 Dunkle Mächte waren es nicht, sondern vor allem die von Frankreich initiierte und der EU finanzierte Stiftung „Sarajevo – Herz Europas“, die das Gedenken an den Ersten Weltkrieg unglücklicherweise mit den politischen Realitäten Bosnien-Herzegowinas in Zusammenhang brachte. Die Stiftung führt im Jahr 2014 eine Reihe von kulturellen Aktivitäten in Sarajevo durch, mit folgendem hehren Ziel: „The aim of the Foundation is in no way to take a historical stance on the past but rather to promote peace, dialogue and solidarity for a future free from strife.“6 Sarajevo solle erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit stehen, dieses Mal aber als Ort, von dem eine Friedensbotschaft ausgehe.

Die Initiatoren des Unterfangens waren schlecht beraten: In einem Land, wo sich die ethnisch segregierten Parteien nicht einmal auf elementarste Verwaltungsvorschriften einigen, geschweige denn irgendeine gemeinsame Vision für das Land entwickeln können, gleicht eine derart moralisch aufgeladene Mission einer Überforderung der politischen Akteure. Schließlich können deren Sichtweisen auf die Vergangenheit unterschiedlicher nicht sein; dabei bricht sich die Interpretation des Ersten, ebenso wie des Zweiten Weltkriegs, an dem noch lebendigen Gedächtnis des Bosnienkrieges der 1990er, dessen Aufarbeitung innerhalb des Landes in den ethnonationalen Denkschablonen stecken geblieben ist. Kaum eine politische Frage wird in Bosnien-Herzegowina nicht mit dem Krieg und dessen Resultaten in Verbindung gebracht – angesichts radikal divergenter Erfahrungen führt das zu ebensolchen Wahrnehmungen und Erwartungen. Das gilt nicht nur für in die Zukunft gerichtete politische Projekte, sondern auch – und gerade – die Geschichtspolitik. Dabei legen die politischen Akteure und ihre Vorfeld-Intellektuellen große Kreativität an den Tag, auch vermeintlich unbestrittene Ereignisse zum Gegenstand konfligierender, an den aktuellen Interessen orientierter Interpretationen zu machen. Auf ein so epochales Ereignis wie das Attentat von Sarajevo trifft dies umso mehr zu: Ziehen viele Serben Bosniens eine Kontinuitätslinie von der österreichisch-ungarischen „Fremdherrschaft“ bis zum heutigen ungeliebten bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat, so sehen Bosniaken eine Verbindung von Gavrilo Princip bis Srebrenica.

Die Praktiken des Erinnerns des Ersten Weltkriegs in Serbien und Bosnien-Herzegowina im Gedenkjahr 2014 illustrieren die Reproduktionsmechanismen nationaler, ja nationalistischer Geschichtsnarrative. Auch nach einer Unzahl von international großzügig geförderten Projekten zur Schaffung eines Bewusstseins für die Gemeinsamkeit der Geschichte, um Empathie für die Sichtweise der jeweils anderen zu generieren, dominiert ein mythisches Geschichtsbild, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine untrennbare Verbindung bringt und die Nation als Akteur und Organ der Geschichte begreift. Hauptgrund dafür ist die politische Instrumentalisierung von Geschichte: Politische Akteure geben bei den als für die eigene Nation schicksalhaft postulierten Ereignissen die Interpretationen vor; die zentralen Institutionen der historiographischen Produktion – gerade in Serbien, aber nicht nur dort – sind fest in der Hand von Vertretern einer patriotischen Geschichtsschreibung. Internationale Versöhnungsinitiativen können sich in einer solchen Konstellation als kontraproduktiv erweisen, wenn sie historische Fragen mit aktuellen politischen Debatten verbinden. Damit provozieren sie nicht nur Verteidigungshaltungen, sondern leisten genau jener Vergegenwärtlichung und Politisierung von Geschichte Vorschub, die einer nüchternen Sicht der Dinge entgegensteht.

  1. Adelheid Wölfl: „Kein gemeinsames Gedenken in Sarajevo“, Der Standard, 17.6.2014.
  2. Christopher Clark. The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London 2014.
  3. Zum Programm der Tagung, die vom IOS mitorganisiert wurde, siehe: http://konferencija2014.com.ba/.
  4. Für das Programm siehe: http://www.sanu.ac.rs/Projekti/Skupovi/2014WWI-1.pdf.
  5. „Revizija prošlosti u režiji velikih sila“, Politika, 27.6.2014.
  6. http://www.sarajevosrceeurope.org/purpose.html.

 

 

Quelle: http://ostblog.hypotheses.org/221

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Das Schöpfungsportal des Freiburger Münsters

Gastbeitrag von Michael Schonhardt (Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.)

Einleitung

Seit dem 30. November 2013 empfängt das Augustiner-Museum Freiburg seine Besucher zur großen Baustelle Gotik. Die Sonderausstellung erfreut sich seitdem größter Beliebtheit und wurde unlängst bis Oktober 2014 verlängert. Gleich zu Beginn, am Eingang des großen Ausstellungsraumes, wird der Besucher von einem – gerade im Mittelalter – eher versteckten Schatz des Münsters begrüßt.1

Dieses kleinere Portal auf der Nordseite des spätgotischen Chores steht natürlich im Schatten der monumentalen Portalvorhalle im Westen. Durch seine besondere ikonographische Gestaltung der Genesis-Geschichte ist das Portal aber äußerst faszinierend, und das nicht nur für die Kunstgeschichte, sondern gerade auch für Wissenschaftshistoriker. Es erlaubt einen Einblick in den Stand der Wissenschaften in der Stadt Freiburg und deren Verbindungen zum Oberrhein im 14. Jahrhundert. Gerade deswegen ist es äußerst erfreulich, dass dieses Portal 2006 nicht nur umfassend restauriert wurde2, sondern seit dieser Zeit von verschiedenen Seiten neue Thesen zu Funktion, Baugeschichte und ideengeschichtlichem Hintergrund des Portals vorgelegt wurden.

Der folgende Beitrag möchte sich in Anlehnung an diese Forschung vor allem den kosmologischen Modellen der Archivoltfiguren, insbesondere des vierten Schöpfungstages, widmen. Zunächst soll die Außenansicht des Portals, dann der aktuelle Forschungsstand kurz vorgestellt werden. Darauf aufbauend möchte ich einige der jüngeren Thesen zum geistigen Hintergrund der Darstellungen kritisch würdigen und aus der Sicht der Wissenschaftsgeschichte ergänzen.

Das Schöpfungsportal am Freiburger Münster. Quelle Wikicommons, Nutzer: Daderot, Lizenz: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Das Schöpfungsportal am Freiburger Münster. Quelle Wikicommons, Nutzer: Daderot, Lizenz: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

Das Portal befindet sich auf der Nordseite des spätgotischen Chores und führte zur alten Andreaskapelle auf dem ehemaligen Friedhof. Ikonographisch ist das Portal (zumindest auf seiner Außenseite) ganz dem Genesisbericht verpflichtet: Während die Figuren der Archivolte die Schöpfung der Welt, aller Geschöpfe und des Menschen darstellen, behandelt das Tympanon in seinem oberen Feld, also dem Bogenscheitel, zunächst den Engelsturz.

Erster Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Erster Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Darunter werden die Ursünde und die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies sowie die tägliche Mühsal als Folge ihres Vergehens geschildert. Die Figuren der Archivolten stellen die Schöpfung in einer zunächst befremdlichen Reihenfolge dar:

Beginnend oben links zeigt die erste Figur die Erschaffung des Himmelsgewölbes (Tag 1). Daneben scheidet Gott Vater das Licht von der Dunkelheit (Tag 2). Es folgt darunter die Erschaffung der Bäume am dritten Tag. Es folgt ein Sprung auf die linke Seite, wo die Erschaffung der Gestirne (4. Tag) anhand eines Sphärenmodells des Kosmos dargestellt ist.

Zweiter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Zweiter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Ein erneuter Sprung führ zurück auf die rechte Seite zum fünften Tag, an dem die Fische und Vögel das Licht der Welt erblicken. Die drei übrigen Szenen der linken Seite illustrieren die Erschaffung des Menschen am sechsten Tag, bis Gottvater nach getanem Werk ruht (rechte Seite, vorletzte Figur). Die letzte Figurenszene zeigt die Vermählung von Adam und Eva.

Dritter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Dritter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

In der Genesis heißt es dazu:

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es und Gott nannte das Gewölbe Himmel. Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag. Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es. […].

Vierter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Vierter Schöpfungstag. Bild aus Schmitt 1926.

Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren dienen; sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein, die über die Erde hin leuchten. So geschah es. Gott machte die beiden großen Lichter, das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere, das über die Nacht herrscht, auch die Sterne. Gott setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde hin leuchten, über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden. Gott sah, dass es gut war.“3

Betrachtet man die entsprechenden Darstellungen des Freiburger Portals, vor allem der Erschaffung des Kosmos und der Gestirne, so wird deutlich, dass man sich hier nicht auf eine reine Wiedergabe des Genesistextes beschränkte. Vielmehr wurden naturwissenschaftliche Kosmos-Modelle der Zeit integriert, die in ihrem Informationsgehalt weit über den biblischen Bericht hinausgehen.  Vor allem der vierte Schöpfungstag, also die Erschaffung der Gestirne, besticht durch ein detailliertes Sphärenmodell, auf das im Folgenden mehrfach zurückzukommen sein wird (siehe Bild “Vierter Schöpfungstag”). In Freiburg verbindet sich also das biblische Wissen über die Schöpfung mit zeitgenössisch naturwissenschaftlichem Wissen über den Aufbau des Kosmos. Am Freiburger Schöpfungsportal, so stellte Karl Schaefer 1899 fest, „waltet ein anderer, man möchte sagen naturwissenschaftlicher Geist.“4

Forschungsstand

Mit Schaefers Aufsatz im Schau-ins-Land beginnt auch die wissenschaftliche Erforschung dieses Portals. Auch wenn dessen Arbeit sicherlich das Verdienst der ersten Würdigung des Portals zusteht, seine Thesen stellten sich freilich recht schnell als fragwürdig heraus. Die wichtigsten Meilensteine der älteren Forschung nach Schaefer sind die 1915 vorgelegte Studie des Freiburger Kunsthistorikers Wilhelm Vöge5 sowie ein Aufsatz von Adolf Weis von 19526. Daneben wurde das Chorportal natürlich auch in der Übersichtsliteratur zum Freiburger Münster rezipiert.7 Nach einer längeren Pause wurden 2005 und dann im Zuge der Restauration des Portals 2006 und 2007 gleich mehrere wissenschaftliche Publikationen zum Schöpfungsportal vorgelegt, zum einen eine Reihe baugeschichtlicher Studien,8 zum anderen aber auch neue Deutungsversuche9.

Besonders drei Fragen standen im Fokus dieser Forschungen:

  1. Die Frage nach der Einheitlichkeit des Portals und der Urheberschaft der Skulpturen (insbesondere das Verhältnis zur Parlerschule).
  2. Die stilistische Einordnung des Werks und die Frage nach etwaigen Vorbildern.
  3. Das ikonographische Programm und dessen kulturhistorischer Hintergrund.

Schaefer betonte 1899 – nicht ganz zu recht – die Einmaligkeit und Besonderheit des Zyklus, machte aber bereits auf vergleichbare Skulpturen in Worms, Ulm und vor allem Thann aufmerksam. Den „Freiburger Meister“ begrüßt er „als hochbegabten, selbstständig schaffenden, denkenden Künstler“.10 Die Entstehung der Figuren „möchte [… er] am liebsten in die Zeit vor 1400 setzen.“11 „Es macht ganz entschieden den Eindruck, als sei der ganze Bilderschmuck des Portals von einer Hand ausgeführt […].“12

Schöpfung in St. Theobald in Thann. Quelle: Wikicommons, Nutzer: Rama, Lizenz: CC BY-SA 2.0 FR (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Schöpfung in St. Theobald in Thann. Quelle: Wikicommons, Nutzer: Rama, Lizenz: CC BY-SA 2.0 FR (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/fr/deed.en)

Diesen Thesen widersprach Wilhelm Vöge entschieden in seinem Beitrag für die Freiburger Münsterblätter. Hier nimmt er dezidiert Stellung gegen Schaefers Datierung und dessen These über die Urheberschaft eines einzelnen Meisters: „[W]ir haben, irre ich nicht, aus dieser Zeit nur wenige Portale, die ein so interessantes Neben- und Nacheinander verschiedener Hände und Stile zeigen, wie dieses, an sich nicht bedeutende Freiburger Chorportal der Nordseite.“13 Nach Vöge sei das Portal nicht aus einem Guss geschaffen, sondern ein Konglomerat verschiedener Stile, die teilweise eine oberrheinische Verbindung, insbesondere nach Straßburg, nahelegen: „Der Meister aber, der den Figurenschmuck der Archivolte – die Schöpfungsgeschichte – begonnen hat, ist nach Stil und Wesen weit altertümlicher als die anderen, ist der oberrheinischen – Straßburg-Freiburger – Blüte des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts noch rätselhaft nah.“14

Anders als Paul Hartmann15 reduziert Vöge den Einfluss der berühmten Parlerschule auf das Portal und spart gerade die interessanten Schöpfungsfiguren von diesem aus. Diese Figuren habe man schon ganz zu Beginn der Chorbauten erstellt, als die Parler damit noch nichts zu tun hatten (laut Inschrift begannen die Arbeiten am Chor 1354, erst 1359 wird Johann Parler mit der Bauleitung betraut)16.

Chorinschrift am Freiburger Münster. Quelle: Wikicommons, Nutzer: joergens.mi, Lizenz: CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).

Chorinschrift am Freiburger Münster. Quelle: Wikicommons, Nutzer: joergens.mi, Lizenz: CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/).

Er stellt abschließend fest: „[U]nser Meister der ersten Schöpfungstage, der älteste der am Portal beteiligten Meister, hat mit Schwaben und den Parlern nicht das geringste zu tun […]. Er ist Oberrheiner, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob er mehr in Straßburg oder in Freiburg zu Hause war.“17

Vöges These einer Verbindung nach Straßburg wurde durch die nachfolgende Forschung weitgehend geteilt,18 wenngleich im Detail unterschiedlich bewertet. Während Kempf in seinem Freiburger Münster19 eine getreue Übernahme des Zyklus aus Straßburg annahm, vertrat Otto Schmitt20 die These einer Erweiterung des Skulpturenprogramms.

Ein grundlegend wissenschaftlicher Fortschritt gelang erst wieder 1952 durch Adolf Weis,21 der das ikonographische Programm der Figuren eingehend würdigte. Weis folgte Vöge darin, dass die ersten Figuren der Archivoltengruppen (die oberen zwei Szenen der linken Seite sowie die oberen drei Szenen der rechten Seite) der Straßburger Bildhauerwerkstatt um 1300 nahe stünden. Im Vergleich zu den anderen Figuren des Portals bestünde ein „tiefgreifende[r] Unterschied in Geist und Form“, der „zwingend auf den Anteil von mehreren Meistern oder zumindest Werkstätten an unserem Portal“ hinweist. Er  vermutet eine „grundlegende Planänderung“ für das Portal, die sich dadurch erklären ließe, „daß bereits im frühen 14. Jahrhundert ein Schöpfungsportal – vielleicht schon für einen neuen Chorbau – projektiert und begonnen, aber nicht vollendet wurde, von dem dann die ausgeführten Teile am heutigen Nordeingang verwendet wurden“.22

Straßburger Skulptur auf Stich des 17. Jahrhunderts. Aus Pinskus 2009.

Straßburger Skulptur auf Stich des 17. Jahrhunderts. Aus Pinkus 2009.

Nicht nur der Stil des Meisters der fünf oberen Archivoltenfiguren lege eine Verbindung nach Straßburg nahe, auch die Ikonographie der Figuren stamme aus der Kathedralstadt am Oberrhein: Ein Stich des 17. Jahrhunderts bezeugt für das mittlere Westportal des Straßburger Münsters entsprechende Figuren, die allerdings den Kirchenstürmen der französischen Revolution zum Opfer gefallen sind und im 19. Jahrhundert keine originalgetreue Rekonstruktion erfuhren. Der Freiburger Meister habe seiner Ansicht nach auf Musterbücher der Straßburger Werkstatt zurückgegriffen, die ihrerseits durch die zeitgenössische Bibel-Malerei und byzantinische Kunst beeinflusst waren.23

Sphärenmodell am Freiburger Münster - Foto: privat

Sphärenmodell am Freiburger Münster – Foto: privat.

Weis betonte auch als erster Forscher die Besonderheit des Sphärenmodels: „Im Straßburg-Freiburger Schöpferbild mit ‚Himmel und Erde‘ sowie vor allem in den ‚acht Sphären‘ hätten wir demnach wohl nichts anderes vor uns als die Umsetzung dieser Motive [gemeint sind Motive der zeitgenössischen Bibel-Malerei und byzantinischen Kunst] in die Monumentalplastik; der Kosmos, der in den Miniaturen gewissermaßen als Querschnitt durch die Himmelssphären aufzufassen ist, wird von den Bildhauern in Seitenansicht als wirkliches Gewölbe gegeben, unter dem die Planetenbahnen mit den aufgesetzten Gestirnen notwendigerweise als Ringe herausragen, um erkennbar zu werden.“24

Weis‘ Studie war der vorerst letzte Baustein der Forschung zum Schöpfungsportal, deren Stand sich folgendermaßen zusammenfassen lässt:

  • Die Skulpturen des Portals entstammen unterschiedlichen Händen und stilistischen Phasen.
  • Die oberen fünf Archivoltskulpturen gehen nicht auf die Parlerschule zurück, sondern sind früher und oberrheinisch geprägt.
  • Die Figuren stehen in starker Abhängigkeit von Straßburg und könnten über dortige Musterbücher von der Buchmalerei und der byzantinischen Kunst beeinflusst sein.

Erst in jüngster Zeit wurden die Forschungen zum Portal wieder aufgenommen. Seit 2006 befasste sich gleich eine ganze Reihe wissenschaftlicher Publikationen mit dessen Baugeschichte und Ikonographie.

Neuere Forschung zur Baugeschichte des Portals

Den ambitioniertesten Versuch einer Neubewertung der Portalskulpturen hat der Kunsthistoriker Assaf Pinkus vorgelegt. Zunächst 2006 in seinem deutschen Aufsatz für die Münsterblätter, 2009 folgte seine umfangreichere Monographie zur Parlerschule.25  Hier schlägt Pinkus gleich in doppelter Hinsicht eine alternative Lesart des Portals vor: zum einen ikonographisch (hierzu später mehr), zum anderen baugeschichtlich. Pinkus vertritt die These, das Chorportal bilde eine programmatische Einheit und ginge in seiner Gesamtheit auf die Planungen Johann Parlers zurück: “Eine Inschrift am nördlichen Chorportal belegt, dass der Grundstein 1354 gelegt wurde, während ein Dokument von 1359 die Anstellung des Meisters Johann von Gmünd nennt, der wahrscheinlich mit Johann Parler zu identifizieren ist. Obwohl Chor und Portal bereits fünf Jahre früher begonnen wurden, war Johann – so die naheliegende Vermutung – von Anfang an für Planung und Baubeginn verantwortlich.”26 Pinkus bezieht sinnvollerweise erstmals nicht nur die Innenseite des Schöpfungsportals in seine Studie mit ein, sondern auch das südliche Chorportal. Das nördliche Portal war seiner Einschätzung nach “im 14. Jahrhundert zweifellos vollendet”.27

Neben Pinkus’ Arbeit müssen vor allem Publikationen aus dem Umfeld der Restauration des Schöpfungsportals aus baugeschichtlicher Perspektive hervorgehoben werden. Zum einen die Studie von Johanna Quatmann zur Funktion und Farbgebung des versteckten Portals am Münster,28 zum anderen die penible Rekonstruktion des Bauprozesses durch Stefan King.29

Kings Untersuchungen bestätigen im Wesentlichen die Meinung der älteren Forschung, die Figuren des Portals unterschiedlich zu datieren. Für die fünf oberen Figuren hält er „die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts [für] wahrscheinlich“,30 womit Johann Parler als Urheber oder spiritus rector der oberen Figuren ausscheiden würde (auch wenn er natürlich für die Integration dieser Figuren in das Portal verantwortlich sein könnte). Seiner Ansicht nach seien diese früheren Skulpturen für ein früheres Bauprojekt geschaffen worden, für ein „nicht ausgeführtes Chorbauprojekt“, oder „eine geplante Aufwertung der Nordportale von Quer- oder Langhaus […]“.31 „Da die Skulpturen teilweise unvollendet blieben, kann vermutet werden, dass man die Arbeit niedergelegt hat, weil das Bauprojekt nicht mehr weiterverfolgt wurde. Dass sie überhaupt bis zu diesem Grad ausgearbeitet sind, könnte dem Umstand geschuldet sein, dass sie während des Versetzens hätten eingebaut werden müssen, und es sich deshalb empfohlen hat, früh genug, vielleicht schon lange vor dem eigentlichen Baubeginn, die Bildhauerarbeit aufzunehmen. Folglich ist es nicht unwahrscheinlich, dass man mit dem eigentlichen Bauvorhaben nie begonnen hat.“32

Zum kulturhistorischen Hintergrund der oberen Archivoltfiguren

Auch wenn sich Pinkus in seiner Annahme einer Parler’schen Provenienz des gesamten Portals wohl geirrt hat, seine ikonographische Neubewertung der Figuren bleibt trotzdem interessant. Er entlockt den beiden Portalen des Chores eine gemeinsame typologische Bedeutung, die Szenen beider Testamente in eine sinnhafte Beziehung zueinander setzt. Zum einen drücke sich in den Szenen die unio mystica aus, also die Verbindung von Seele und Schöpfer bzw. Christus. Zum anderen stünde das Programm der beiden Portale unter dem Motiv von Zurückweisung und Wiederaufnahme: Die Vertreibung aus dem Paradis, die letztlich durch die Inkarnation und das Opfer Jesu in der Erlösung mündet.33  

Im Anschluss an diese interessante Deutung der komplexen Poratlikonographie vertritt der Kunsthistoriker die These, das Schöpfungsportal zeige als eine Art astronomischer Kalender ein mit dieser Deutung in Verbindung stehendes liturgisches Fest an: “Die Freiburger Chorflankenportale scheinen dieser Typologie zu folgen. Miteinander verwoben sind der Fall der Engel, die Ursünde, die Ausweisung aus dem Paradies und die Erschaffung des Lichts im Sinne eines astronomischen Kalenders. Gott zeigt mit seinem Finger den Moment an, an dem diese Ereignisse stattfanden. Obwohl Zeichen des Zodiakus [Sternbilder, die zur Berechnung der Zeit dienen] in Freiburg nicht nachgewiesen werden können und deshalb der genaue Kalender nicht zu rekonstruieren ist, scheint es möglich, dass die astronomischen Zeichen ursprünglich auf die Himmelskugel gemalt waren bzw. daß eine Bemalung geplant war. Jedenfalls verweist der Zeigefinger Gottes, der ‘didaktisch zeigt’ […] auf die Tradition des astrologischen Kalenders.”34 Auch wenn seiner typologischen Interpretation des Bildprogramms zu folgen ist, mit der Deutung des Sphärenmodells als astrologischer Kalender schießt Pinkus meiner Ansicht nach etwas über das Ziel hinaus. Zum einen wäre die naheliegendste Erklärung für den didaktischen Zeigefinger Gottes wohl eher eine didaktische Funktion des Modells, zum anderen konnte Johanna Quatmann keine mittelalterliche Bemalung der Figuren feststellen. Vor diesem Hintergrund bleibt Pinkus’ interessantes Gedankenspiel bloße Spekulation.  

Wahrscheinlicher ist allerdings seine Vermutung, die Darstellung der ersten Schöpfungstage sei nicht von der zeitgenössischen Kunst inspiriert, sondern von wissenschaftlichen Vorstellungen über den Kosmos: „The arrangement of the stars [des Sphärenmodells] […] reflects a simplified model of the cosmos, corresponding to fourteenth-century cosmology”,35 genauer auf die Kosmologie von Johannes von Sacrobosco und Albertus Magnus: “(E)rkennbar sind die Sonne in der vierten Sphäre und ein Halbmond in der zweiten Sphäre.” Am nebenstehenden Thanner Modell ist dies eindeutiger zu erkennen. Dem “Freiburger Digramm [entspricht] die Kosmologie von Albertus Magnus. Die Anregung für dieses Vorbild muss nicht notwendig außerhalb von Freiburg gesucht werden, da Albertus Magnus schon um 1235 Theologie am Predigerkloster in Freiburg lehrte.”36

Sphärenmodell aus St. Theobald in Thann mit der Sonne an vierter Stelle.

Sphärenmodell aus St. Theobald in Thann mit der Sonne an vierter Stelle. Aus Pinkus 2009.

Ähnlich argumentiert auch Wolfgang Schneider, dessen Aufsatz schon 2005 erschienen ist, von Pinkus aber nach Ausweis der Fußnoten nicht rezipiert wurde. Auch er betont die Anordnung der Planeten, die sich “ganz erheblich von früheren, bis dahin überlieferten Vorstellungen vom Kosmos” unterscheide und eine aristotelisch geprägte Deutung des Kosmos vertrete.37

“[E]in kleines Detail […] verrät, daß diesem Bild eine noch neure Vorstellung vom Kosmos zugrunde lag. Die schmalen Ränder der inneren Kugelschalen lassen nämlich jeweils einen stilisierten Stern/Planeten erkennen – außer der vierten Kugelschale, die mit einer stilisierten Sonne besonders gekennzeichnet ist. In Platons Kosmos kreist die Sonne jedoch an zweiter Stelle um die Erde. Der Entwerfer des Bildwerkes am Schöpfungsportal hat sich offenbar an dem ‘neuen’ Weltbild des Aristoteles (384-322 v. Ch.) orientiert”, “[d]essen […] philosophisches und wissenschaftliches System […] im 12. Jahrhundert durch Übersetzungen aus dem Arabischen im Abendland wiederentdeckt [wurde]“,  und sich im “13. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt” hat.38Das Portal wäre damit als dezidierte Rezeption der aristotelischen Lehre zu deuten, und das, obwohl es in Freiburg ”im 14. Jahrhundert weder eine Kathedralschule noch eine Universität gab […].”39 Als intellektueller Urheber “wäre indes der Konvent der Dominikaner zu sehen, der rund ein Jahrhundert vor der Errichtung des Schöpfungsportals den Ordensbruder Albertus Magnus mehrmals zu seinen Besuchern zählen durfte; jener herausragende Wissenschaftler, der mit Thomas von Aquin die Synthese von Aristotelismus und Christentum vollzog. Könnte die Anregung für das Bildprogramm am Schöpfungsportal von naturphilosophisch gebildeten Mönchen dieses Klosters ausgegangen sein, die in der Nachfolge des Heiligen Albert sich intensiv den Wissenschaften widmeten?”40

Träfen diese Annahmen zu, wäre dies außerordentlich schmeichelhaft für Freiburg, das sich sogar schon in voruniversitärer Zeit als intellektuelles Schwergewicht am Oberrhein positionieren könnte. Sie sind aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive aber leider nicht sehr wahrscheinlich.

Der Einfluss naturwissenschaftlicher Ideen auf das Schöpfungsportal

Zunächst beziehen sich sowohl Pinkus als auch Schneider auf eine sehr holzschnittartige Lesart der Ideengeschichte, die die mittelalterlichen Naturwissenschaft in zwei Phasen unterteilt: In eine frühe Phase, die vor allem platonisch geprägt ist, und eine spätere Phase, die auf dem neu entdeckten (und vor allem neu übersetzten) corpus aristotelicum basiert. Diese Einteilung mag als grobe Richtschnur sicher sinnvoll sein, die Ideengeschichte mittelalterlicher Kosmsosvorstellungen ist in Wirklichkeit aber weit komplexer, gerade was die Ordnung der Planeten betrifft.41  

In der antiken und mittelalterlichen Kosmologie unterschied man mit Blick auf die Planeten grob gesprochen zwischen zwei Ordnungssystemen: Der Ägyptischen Ordnung (Erde – Sonne – Mond – Merkur – Venus …) sowie der Chaldäischen Ordnung (Erde – Mond – Merkur – Venus – Sonne …). Während Plato sich für die Ägyptische Einteilung entschied, befolgte Aristoteles in Anlehnung an Archimedes das Chaldäische System. Den Gelehrten der Spätantike und des Mittelalters waren diese konkurrierenden Entwürfe wohl bekannt.

So überliefert bereits Ciceros kosmologisches Werk über den Traum des Scipio die Chaldäische Reihung mit der Sonne als dem mittleren der Planeten. Sein Kommentator Macrobius klärt den mittelalterlichen Leser auf:

“Als nächstes müssen wir einige Dinge über die Ordnung der Sphären sagen, eine Angelegenheit, in der sich Cicero von Plato unterscheidet, da er von der Sphäre der Sonne als der vierten von sieben spricht, die eine mittlere Stellung einnimmt. Dagegen sagt Plato, dass sie gleich über dem Mond steht und damit von oben gezählt den sechsten Platz der sieben Sphären [also den zweiten von der Erde aus betrachtet] einnimmt. Cicero ist in Übereinstimmung mit Archimedes und dem Chaldäischen System; Plato folgt den Ägyptern, den Urhebern aller Zweige der Philosophie, die die Sonne zwischen Mond und Merkur positioniert haben, auch wenn sie die Gründe, aus denen andere schlossen, die Sonne stünde über Merkur und Venus, herausfanden und darlegten.”42

Dieses Bewusstsein gab es auch in der Hochphase des Neuplatonismus. Wilhelm von Conches weist noch im 12. Jahrhundert auf die unterschiedlichen Thesen zur Reihung der Planeten hin, auch wenn er selbst die platonische bevorzugte: Seinem Herzog legt er im Lehrgedicht Dragmaticon in Reaktion auf die Darstellung einer platonischen Planetenreihung die Frage an seinen Lehrer in den Mund: “Wieso sagst du, dass Venus der vierte und Merkur der fünfte Planet nach Plato ist? Gab es andere Philosophen, die anderes behaupten?”, worauf dieser auch die abweichenden Lehrmeinungen zur Sprache bringt.43 Die als richtig erachtete Reihenfolge der Planeten änderte sich also nicht schlagartig während des 13. Jahrhunderts, sondern war im gesamten Mittelalter Gegenstand einer virulenten Debatte. Durch Martianus Capella kannte man darüber hinaus bereits im frühen Mittelalter neuplatonische Versuche einer synthetischen Erklärung des Gelehrtenstreits: In Wirklichkeit hätten sich die Planeten Venus und Merkur nämlich nicht um die Erde gedreht, sondern hätten die Sonne als Zentrum ihrer Bahnen. Je nach Konstellation erschienen daher zuweilen die beiden Planeten, zuweilen die Sonne näher zu Erde (und damit an zweiter bzw. vierter Stelle im Sphärensystem).

Diagramm zum Verhaltnis von Sonne, Merkur und Venus. Aus St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 248, fol. 82v. Lizenz: CC BY-NC 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/).

Diagramm zum Verhaltnis von Sonne, Merkur und Venus. Aus St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 248, fol. 82v. Lizenz: CC BY-NC 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/).

Mit Blick auf das intellektuelle Niveau des Schöpfungsportales ist besonders bezeichnend, dass die aristotelisch inspirierte Reihenfolge der Planeten gerade nicht nur in der scholastischen Literatur des höheren Universitätsniveaus gepflegt wurde, sondern auch in Texten zu finden ist, die zur absoluten Grundlagenbildung des Mittelalters gehören, vor allem Bedas De natura rerum44 und der Imago mundi des Honorius.45  Diese Texte erfreuten sich außerordentlicher Beliebtheit und wurden auch an “gewöhnlicheren” Bildungseinrichtungen, etwa einer Klosterschule, gelehrt. So schreibt Beda im 13. Kapitel seiner kosmologischen Enzyklopädie:

“Der oberste der Planeten ist der Stern des Saturn, der von Natur aus sehr kalt ist. Er vollendet seinen Kurs um die Sonne in dreißig Jahren. Dann kommt der Jupiter, temperiert, mit zwölf Jahren. Als drittes Mars, extrem heiß, der zwei Jahre benötigt. In der Mitte ist die Sonne, [die] in 365 Tagen [die Erde umrundet]. Darunter steht die Venus, die auch Lucifer und Vesper genannt wird, und 348 Tage benötigt. […] Danach kommt der Stern des Merkur, der neun Tage schneller ist. […] An letzter Stelle kommt der Mond […].”46

Auch auf der ikonographischen Ebene ist dieser Befund festzustellen. Die wissenschaftlichen Texte der Spätantike wurden ins Mittelalter weitgehend unillustriert überliefert. Erst in der Karolingerzeit wurden den komplexen Texten Diagramme als klärende und didaktische Hilfsmittel beigegeben. Interessanterweise spiegelt sich die virulente Forschungsdebatte um die Ordnung der Planeten kaum in diesen Diagrammen. Bruce Eastwood hat vielmehr darauf hingewiesen, dass die diagrammatische Tradition der Kosmosdiagramme die Chaldäische Ordnung der Ägyptischen vorzieht, auch wenn der Text selbst die platonische Reihung propagierte.47 Mittelalterliche Kosmos-Diagramme überliefern daher auch in früherer Zeit mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Reihenfolge der Planeten, die die Sonne – wie im Fall des Freiburger Schöpfungsportals – an vierter Stelle der Planeten positionieren, so ein Kosmosmodell der Arnsteinbibel aus dem frühen 13. Jahrhundert.

Kosmosdarstellung aus British Library, Harley 2799, fol. 242r (http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=17378)

Kosmosdarstellung aus British Library, Harley 2799, fol. 242r (http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=17378).

Auch wenn die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles erst im 13. Jahrhundert eine nennenswerte Verbreitung gefunden haben, war die von ihm gewählte Reihenfolge der Planeten also wohl bekannt und in mittelalterlichen Standardwerken, von denen hier nur einige wenige Beispiele gegeben wurden, in Wort und Bild allgegenwärtig. Ideengeschichtlich lässt sich das Schöpfungsportal daher keineswegs auf neuere wissenschaftliche Strömungen zurückführen. Mit Blick auf die Freiburger Bildungslandschaft und dem anzunehmenden Bildungsgrad der für den Bau Verantwortlichen ist es im Gegenteil viel wahrscheinlicher, dass die inhaltliche Vorlage in den gerade im außeruniversitären Bereich gelehrten Standardwerken von Beda oder Honorius zu sehen ist. Ein Umstand, der dann gerade nicht für eine außerordentliche Bildung des etwaigen spiritus rector sprechen würde.

Meiner Ansicht nach ist Pinkus zwar insofern zuzustimmen, dass die Vorlage des Freiburger Sphärenmodells im wissenschaftlichen Bereich zu suchen ist. Der lehrende Gestus des Schöpfers verweist dabei recht konkret auf eine wahrscheinliche Vorlage für das Sphärenmodell. Gelehrt wurde im Mittelalter nicht nur durch das Lesen bzw. Vorlesen bestimmter Texte, sondern vor allem mit Bezug auf visuelle Hilfsmittel, den Diagrammen. Das oben stehende Beispiel verdeutlicht eindrücklich die ikonographische Nähe des Freiburger Modells zu diesen didaktischen Abbildungen, die in jeder Schule und jedem Kloster in Hülle und Fülle vorhanden waren.

Das Freiburger Sphärenmodell ist als getreue Umsetzung eines gewöhnlichen und ubiquitär anzutreffenden Diagramms des Kosmos also kein Ausweis besonderer Bildung des 14. Jahrhunderts. Gleichwohl stellt es ein beeindruckendes Beispiel für das Interesse der Zeitgenossen an der Schöpfung dar, das über eine rein religiöse Deutung weit hinausreicht. Insofern, um auf Karl Schaefer zurückzukommen, waltete in Freiburg und am Oberrhein vielleicht tatsächlich „ein anderer, man möchte sagen naturwissenschaftlicher Geist.“48

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Michael Schonhardt promoviert bei Prof. Dr. Birgit Studt (Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte II) an der Universität Freiburg und ist Mitarbeiter im Erzbischöflichen Archiv Freiburg. Er beschäftigt sich mit der Tradition und Rezeption von theoretischem Wissen über die Natur im 12. Jahrhundert und begleitet seine Dissertation mit einem Blog unter quadrivium.hypotheses.org. Seine Masterarbeit (Michael Schonhardt: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. Reihe Septem 2, Freiburg 2014.) hat er zu naturwissenschaftlichen Diagrammen des hohen Mittelalters verfasst. Im Rahmen seiner Archivtätigkeit publiziert er außerdem ein Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg.

  1. Vgl. Quatmann, Johanna: Das versteckte Portal am Münster?  In: Münsterblatt 13 (2006), S. 13-19.
  2. Vgl. Kürten, Luzius: Steinrestaurierung und -konservierung am Schöpfungsportal. In: Münsterblatt 13 (2006), S. 21-23; King, Stefan: Bauforschung am Schöpfungsportal. In: Münsterblatt 14 (2007), S. 38.
  3. Genesis 1.1-18.
  4. Schaefer, Karl: Die Weltschöpfungsbilder am Chorportal des Freiburger Münsters. In: Schau-ins-Land: Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland 26 (1899), S. 11-24, hier S. 16.
  5. Vöge, Wilhelm: Zum Nordportal des Freiburger Münsters. In: Freiburger Münsterblätter: Halbjahrsschrift für die Geschichte und Kunst des Freiburger Münsters 11 (1915), S. 1-9.
  6. Weis, Adolf: Das Freiburger Schöpfungsportal und das Musterbuch von Strassburg. In: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 5 (1952), S. 181-193.
  7. Vgl etwa Hartmann, Paul: Die gotische Monumentalplastik in Schwaben. München 1910; Kempf, Friedrich: Das Freiburger Münster. Karlsruhe 1926, S. 1-9; Schmitt, Otto: Gotische Skulpturen des Freiburger Münsters. Frankfurt 1926, S. 59-60 (jeweils mit umfangreichen Bildmaterial); Lüdke, Dietmar: Artikel in: Die Parler und der schöne Stil 1350-1400. Bd. 1. Köln 1978, S. 298-299; Ingeborg Krummer-Schroth: Geschichte und Einordnung der Skulpturen. In: Die Skulpturen des Freiburger Münsters. Freiburg 3. Auflage 1999, S. 119-121.
  8. Vgl. Quatmann: das versteckte Portal; King, Stefan:
    Zum Schöpfungsportal des Freiburger Münsters: ein Bildprogramm mit “Stilbruch”
    King, Stefan. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 37 (2008), S. 69-76.
  9. Pinkus, Assaf: Das Schöpfungsportal: Kunst und Lehre im mittelalterlichen Freiburg. In: Münsterblatt 13 (2006), S. 4-12; Ders.: Patrons and Narratives of the Parler School. The Marian Tympana 1350-1400. München/Berlin 2009; Schneider, Wolfgang: Ein Modell des Kosmos am Schöpfungsportal des Freiburger Münsters. In: Freiburger Diözesanarchiv 125 (2005), S. 241-248.
  10. Schaefer: Die Weltschöpfungsbilder, S. 19.
  11. Ebd., S. 21
  12. Ebd., S. 20.
  13. Vöge: Zum Nordportal, S. 2.
  14. Ebd., S. 2.
  15. Die gotische Monumentalplastik.
  16. Vgl. Adam, Ernst: Artikel in: Die Parler und der schöne Stil 1350-1400. Bd. 1. Köln 1978, S. 293.
  17. Vöge, Zum Nordportal, S. 6.
  18. anders Ingeborg Krummer-Schroth: Geschichte und Einordnung der Skulpturen.
  19. Vgl. Kempf: Das Freiburger Münster.
  20. Vgl. Schmitt: Gotische Skulpturen.
  21. Vgl. Weis: Das Freiburger Schöpfungsportal.
  22. Ebd., S. 183.
  23. Ebd., S. 189.
  24. Ebd., S. 186.
  25. Vgl. Pinkus:  Das Schöpfungsportal; Ders. Patrons and Narratives.
  26. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 4.
  27. Ebd.
  28. Vgl. Quatmann: Das versteckte Portal.
  29. Vgl. King: Zum Schöpfungsportal.
  30. Ebd., S. 74.
  31. Ebd., S. 76
  32. Ebd.
  33. Vgl. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 9-11.
  34. Ebd., S. 11.
  35. Pinkus: Patrons and Narratives, S. 209.
  36. Pinkus: Das Schöpfungsportal, S. 9.
  37. Schneider: Ein Modell des Kosmos, S. 242.
  38. Schneider: Ein Modell des Kosmos, S. 243-244.
  39. Ebd., S. 247.
  40. Ebd.
  41. Vgl. zum folgenden Eastwood, Bruce: Ordering the Heavens. Roman Astronomy and Cosmology in the Carolingian Renaissance. Leiden 2007, S. 31-52.
  42. Frei übersetzt Macrobius: Commentarii in Somnium Scipionis (ed. J. Willis 1970.), Buch 1. Kap. 16.
  43. Frei übersetzt nach Wilhelm von Conches: Dragmaticon Philosophiae (ed. von I. Ronca und A. Badia, 1997. In: CCCM 152.), Buch 4, Kap. 5.
  44. Beda: De natura rerum liber ed. von C. W. Jones ,1975. In: CCSL 123A.
  45. Honorius: De imago mundi ed. V. I. J. Flint, 1982. Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 49 (1982), S. 48-151.
  46. Frei übersetzte nach Beda: De natura rerum liber, Buch 13.
  47. Vgl. Eastwood: Ordering the Heavens, S. 47f.
  48. Schaefer: Weltschöpfungsbilder, S. 16.

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/549

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