Bis zur Einberufung im November 1914

Am 21. August 1914 erreichten Freiburg frohe Neuigkeieiten von der Front: „Siegreiche Schlachten zwischen Metz und den Vogesen“, titelte die Freiburger Zeitung in einer Extraausgabe.

Titelbild der Freiburger Zeitung zum 21.8.1914.

Titelbild der Freiburger Zeitung zum 21.8.1914.

„Deo gratias. Requiem aeternam donna eis Domine, eis den Tapferen, die solchen Sieg mit ihrem Herzblut erkauft haben. Jetzt ins Münster, um Gott zu danken“, kommentierte Mayer die Nachrichten. Mit diesen Worten der Freude enden im späten August 1914 vorläufig seine Aufzeichnungen der damaligen Geschehnisse. Erst im Zuge seiner Einberufung als freiwilliger Feldgeistlicher wird er Ende November wieder regelmäßig zur Feder greifen.

Das liegt sicher nicht am Mangel an Ereignissen. Für Freiburg und seine Bürger bedeutete das Ende des Sommers nicht das Ende einer aufregenden Zeit, sondern im Grunde erst deren Anfang.

Auf den großen Sieg bei Metz folgten Niederlagen, die für die Stadt eine reale Gefahrensituation erzeugte. Freiburg wurde zur Fronstadt, in der der Krieg allgegenwärtig erfahrbar wurde1 : durch die Einquartierung von Soldaten, den Verwundeten, die schon bald die Lazarette der Stadt überfüllten, und die „dumpfen Schläge […] des Kanonendonner[s] über den Rhein herüber“2 .

Gleichzeitig trennten sich die Wege der Bevölkerung. Die Soldaten der in Freiburg stationierten 29. Division zog es an die Front. Noch Anfang August kam es zu ersten Gefechten in den Vogesen, gegen Ende des Jahres wurde die Division dann in Flandern eingesetzt. Auch die 28. Division, der Mayer angehören würde, marschierte über Freiburg in den Krieg. Beide waren teil des 14. Armee-Korps, welches die badischen Truppen des Heeres umfasste. Alois Maier, der Divisionspriester der 28. Division und Mayers späterer Vorgesetzter, notierte die Ereignisse dieser Zeit, die bis November 1914 durch den Bewegungskrieg gekennzeichnet waren.3

„Am 2.8.: Kam ich in meiner Garnison Mülhausen i. Els. an, wohin mich ein Telegramm zurückrief, da ich in Schlesien im Urlaub war.

Vom 2.-5.8: Berichten und Abschiedsgottesdienste in Mülhausen i.E.

Am 6.8.: Meldung bei der 28. Division in Karlsruhe.

Vom 8.-15.8: Abtransport nach Freiburg, Marsch über Breisach und Ensisheim nach Mülhausen i.E. wo ich mit der großen Bagage am 11.8. anlangte. In den Lazaretten sehr viele Verwundete aus der Schlacht bei Mülhausen besucht.

Am 15.8.: Abtransport nach Ahrweiler.

Vom 16.-19.8: in Pfalzburg, wo ich die Lazarette besuchte und Beerdigungen vornahm.

Vom 20.-28.8: Vormarsch durch Lothringen über Cirey nach Baccarat. Ich war meistens bei dem 2. Sanitätstrup, um auf dessen Hauptverbandsplatz mich der Verwundeten annehmen zu können. Ich arbeitete auf den Hauptverbandsplätzen von Gunzweiler, Forsthaus Glasematten (Truppenhauptverbandsplatz), dem Schlachtfeld Hochwalsch, in Harzweiler, bei Forsthaus Hess. Besonders groß und aufregend war die Arbeit in Bertrichamp in der Nacht vom 26. zum 27.

Vom 28.8 bis 11.9. in Baccarat. Hier waren zum 1. Male Feldgottesdienste, zu dem bisher bei dem unaufhörlichen Vorrücken bei Tage und bei Nacht keine Gelegenheit war. Auch in der Kampffront bei Ménil ward Gottesdienst gehalten. Anfangs gab es für uns Divisionspfarrer auch sehr viel Arbeit in den Lazaretten, bis endlich die Lazarettpfarrer ankamen. Wiederholt habe ich beerdigt; wurde auch nachts zu Sterbenden geholt und hielt täglich Gottesdienst in der Kapelle der Kristallfabrik.

Am 11.9. Rückwärts bis Altville in Lothringen.

Vom 17.9. bis 20.9. Marsch über Remilly, Boin a/S, Borny nach Pagny.

Vom 21.-25.9. pastorierte ich von Pagny aus das Feldlazaret 12 in Vandières, den Verbandsplatz in Vilcey, s. Trey und Fey en Haye.

Vom 25.-30.9. in Thiaucourt. Hier und in Viéville Feldgottesdienste auf dem Hauptverbandsplatz in Viéville, zu dem wie bisher immer die Kirche und einige größere Häuser (Schule) verwandt wurden. Abtransport nach Nordfrankreich

Vom 3.-5.10. Fahrt von Metz über Namur bis Mons.

5.-10.10. Marsch über Boudé St. Amand, Orchies, Mons en Pévèle, Le-forest, Ostricourt, Bourrières, Harnes bis Loison (bei Lens). Hier blieben wir bis zum 12.10. Ich hielt mehrere Feldgottesdienste bei der Bagage und begab mich zu Pferd nach Hulluch, wo ich den Hauptverbandsplatz vorfand.

Vom 12.10.-21.10. Mit der Bagage zuerst drei Tage in Vendin le Vieil und dann vom 15/10 ab in Pont à Vendin einquartiert besuchte ich täglich den Hauptverbandsplatz der zuerst in Huluch, dann in Vendin sich befand und hielt oft Begräbnisse. Vor allem konnte ich für alle Truppen wieder regelmäßig Gottesdienst halten und beichten ansetzen. Die Gottesdienste fanden statt in der noch erhaltenen Kirche oder im Freien, in Pont à Vendin, Veudin le Vieil (alle Tage), Hulluch, Wingles, je einmal in Bouvin und Meurdin. Am 29.10 bereitete ich einen Soldaten auf den Tod vor, der wegen Mordes erschossen wurde.

Vom 21.-30.11. Die Division wurde verlegt und ich in der neuen Stellung im D. St. Quartier in Billy Montigny untergebracht. Hier, in Sallaumines und Lens hielt ich Gottesdienst und besuchte den Hauptverbandsplatz und das Feldlazarett in Lens. Die vielen Verwundeten in Lens bewogen mich, bald mich vom Stabe zu trennen und nach Lens überzusiedeln.“

Für die Daheimgebliebenen begann vor allem eine Zeit der Ungewissheit, um die Angehörigen an der Front, aber auch um die eigene Zukunft. „[D]ie Menschen waren voll innerer Unruhe“, berichtet Schofer4, schlimme Gerüchte über eine Gefährdung der Stadt schürten diese Nervosität:

„Gestern im Laufe des Tages verbreitete sich das Gerücht: Belfort sei erstürmt. Von anderer Seite hieß es: vier Zeppeline seien zugrunde gerichtet worden. Beides war natürlich ganz aus der Luft gegriffen. Neulich hörte ich bei Schermers, ein Augenzeuge habe berichtet, die Brücke zwischen Alt- und Neu-Breisach sei gesprengt worden, ein Hauptmann und sieben Mann seien tot am Brückenkopf gelegen – demnach hätten die Franzosen also schon die Festung Neu-Breisach haben müssen. Hinter stellte sich heraus, daß es sich um eine kleine Brücke bei Mülhausen gehandelt hätte.“5

Mit den ersten Verwundeten kam auch das Elend des Krieges in die Stadt, „ein erschütternder Anblick“, wie Charlotte Herder ihrem Tagebuch anvertraute.6

Auch das Umfeld des Freiburger Ordinariats erlebte die erste Phase des Krieges. Zwar war der Großteil des Klerus vom Dienst an der Waffe ausgenommen, vor allem die Theologiestudenten des Konvikts hatten aber zu dienen. Außerdem waren die hauptamtlichen Militärgeistlichen bei Ihren Divisionen an der Front, so der oben zitierte Alois Maier. Diese Priester erlebten den Krieg als Angehörige des Militärs von Anfang an.7

Für die regulären Diözesanpriester wie Fridolin Mayer begann Ende August zunächst eine Zeit des Wartens. „Auf den Trubel der Mobilmachungstage folgte Ruhe“, notiert Josef Schofer in seinen Erinnerungen.8

Diese Ruhe führte aber keineswegs zur Untätigkeit. Gerade im Umfeld von Konvikt und Missionsinstitut hatten viele, vor allem junge Priester, ähnliche Gedanken wie Schofer: „Ich hatte nur einen Wunsch: Bald fort zu kommen und den Soldaten Seelsorger sein zu können.“9

Schnell zeichnete es sich ab, dass sich dieser Wunsch bald erfüllen würde. Da die Zahl der regulären Militärgeistlichen auf eine Pastoration in Friedenszeiten ausgelegt war, stellte sie sich für die Realität des Krieges als hoffnungslos zu klein heraus. Daher wurden freiwillige Feldgeistliche aus den Diözesen gesucht, was auf großen Zuspruch stieß: „Um zur dringlichen, von hoher Kirchenbehörde gewünschten Hebung der bisher mangelhaften Feldseelsorge nach Kräften mitzuwirken, hat der gehorsamst Unterzeichnete sich dem H. H. Armeebischof für die Dauer des Krieges zur Verfügung gestellt […].“10

Ende November – der Bewegungskrieg war mittlerweile zum Stellungskrieg erstarrt -, rückten etwa 20 Diözesanpriester, darunter Fridolin Mayer, zu den Divisionen des 14. AK ins Feld ein.

Die Ereignisse bis zu diesem Zeitpunkt sowie die Vorbereitungen dieser Geistlichen sind durch einen Bericht von Dr. Josef Schofer bezeugt, der in den kommenden Wochen in loser Folge zusammen mit kleineren Quellen publiziert wird. Ab dem 30. November erscheinen dann täglich Mayers größere Berichte aus seiner Tätigkeit in Frankreich.

 

  1. vgl. hierzu Roger Chickering: Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914-1918. Paderborn 2009.
  2. Josef Schofer: Ein Friedenswerk im Völkerringen. In: St. Konradsblatt Jg. 14 (1930), Nr. 7, S. 81–82, hier S. 81.
  3. Bericht des Divisionspfarrers Alois Maier vom 7. April 1916 in Karlsruhe, GLA 546 F 11 Nr. 370
  4. Vgl. Anm. 2
  5. Charlotte Herder: Mein Kriegstagebuch. Freiburg 1955, S. 15.
  6. Ebd., S. 18
  7. Vgl. zur Kriegsseelsorge Hans-Josef Wollasch: Militärseelsorge im Ersten Weltkrieg: das Kriegstagebuch des katholischen Feldgeistlichen Benedict Kreutz. Mainz 1987.
  8. Vgl. Anm. 2
  9. Vgl. Josef Schofer: Ein Friedenswerk im Völkerringen. In: St. Konradsblatt Jg. 14 (1930), Nr. 10, S. 126.
  10. Mayers Schreiben vom 23. Oktober 1914 an das Erzbischöfliche Ordinariat EAF B2-35/5, Vorgang 12075.

Quelle: http://tagebuch.hypotheses.org/489

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Telegrafie – Aktenkunde – Diplomatie (Emser Depesche, Schluss)

Manchen Lesern mag die aktenkundliche Behandlung der Emser Depesche in den letzten vier Postings erschöpfend detailliert vorgekommen sein. Dabei habe ich vieles ausgelassen oder vereinfacht. Aber es ist völlig legitim, die Sinnfrage zu stellen. Wo und wie hilft die Aktenkunde als Hilfswissenschaft? Zurecht wird die Forderung gestellt, die Aktenkunde müsse sich (wie vor ihr die Urkundenlehre) auch Fragen der pragmatischen Schriftlichkeit zuwenden (Schäfer 2009: 98-101, 119). Für die Telegrafie im Dienst der Diplomatie ist dies besonders reizvoll, und die Emser Depesche ist ein gutes Beispiel – das am Ende auch zeigt, warum das solide handwerkliche Fundament unverzichtbar bleibt.

David Nickles’ “Under the Wire” (2003) ist eine faszinierende Lektüre, noch dazu hervorragend geschrieben. Der Mitarbeiter im Historischen Dienst des Departement of State hat sich damit befasst, wie der Telegraf die Arbeitsweise und den Charakter der Diplomatie verändert hat: Erstmals konnten die Außenminister der Mächte ihre Botschafter minutiös dirigieren und in Krisenzeiten annähernd in Echtzeit handeln. Damit stieg allerdings auch der Handlungsdruck, mit vielleicht fatalen Folgen, wenn die öffentliche Meinung aufgestachelt war. Jedenfalls konnte die Außenpolitik zentralisiert und bürokratisiert werden. Für einen Politiker wie Bismarck, der seine Diplomaten als Befehlsempfänger betrachtete und Weisungen exakt ausgeführt wissen wollte, war der Telegraf wie geschaffen. So konnte er selbst von Varzin aus in das Geschehen eingreifen (Nickles 2003: 47 f., 117).

Die Emser Depesche erwähnt Nickles (2003: 7) nur en passant: “The Franco-Prussian war was the first major conflict whose origins were popularly associated with a telegram.” Aber nicht nur im kollektiven Gedächtnis ist die Emser Depesche emblematisch für die Diplomatie im Zeitalter des Telegrafen: Nur mit der Geschwindigkeit dieser Technologie konnte Bismarck in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli eine verloren geglaubte diplomatische Operation mit wenigen geschäftstechnischen Handlungen um ihre eigene Achse drehen und in einen Sieg verwandeln.

Noch weiter treibt diesen Ansatz Tobias Nanz in seiner medienwissenschaftlichen Dissertation (2010). Für Historiker ist dieses Buch, in dem das System der europäischen Diplomatie anhand einer Dekonstruktion von Shakespeares “Der Sturm” beschrieben wird, vielleicht etwas ungewohnt. Auch muss man den assoziativen Sprachstil dulden, in dem Bismarck “wie ein optischer Telegraph agierte” (im Wortsinn angesichts der Statur des Fürsten Bismarck eine interessante Vorstellung) und “die komplexen Verflechtungen eines bevorstehenden Krieges in die fechttechnischen Codes Quartz [sic!] und Terz zu transformieren” imstande war (Nanz 2010: 180).

Dennoch bringt Nanz interessante Ansätze, etwa den Hinweis darauf, dass Bismarck mit Lothar Bucher einen Quereinsteiger ins Auswärtige Amt geholt hat, der als Redakteur des Wollfschen Telegrafenbüros große Erfahrung im Telegrammstil hatte, der maximalen sprachlichen Verkürzung von Nachrichten bis an den Rand der Verständlichkeit (Nanz 2010: 181-183). Was unmittelbar der Gebührenersparnis diente, kam Bismarcks Stil der Arbeit mit Drahterlassen zur Steuerung seines Apparats sehr entgegen.

Wenn Nanz (2010: 183 f.) in der Kürzung des Textes aber nur die konsequente Anwendung des Telegrammstils auf Abekens in der Tat umständlichen Bericht sehen will, geht das zu weit. Beim Telegrammstil geht es um die Verringerung der Wortzahl. Dazu werden alle irgendwie entbehrlichen Partikeln und Füllwörter gestrichen. “Ankomme Donnerstag” ist typischer Telegrammstil. Der Aktenbefund eines so redigierten Telegramms zeigt Streichungen und zwischen die Zeilen geschriebene Änderungen. Die Pfeilmarkierungen auf der Entzifferung von Abekens Telegramm zeigen aber keine redaktionelle, sondern eine inhaltliche Bearbeitung an. Bismarck wandte nicht den Telegrammstil an, denn die übernommenen Passagen zeigen unverändert Abekens Weitschweifigkeit. Vielmehr formulierte er durch Auslassung von Textblöcken eine Botschaft an die französische Führung. Letzteres sieht Nanz (2010: 186) auch selbst, löst den Widerspruch aber nicht auf.

In seinen Erinnerungen legt sich Bismarck (hg. v. Ritter/Stadelmann 1932: 310) Folgendes in den Mund: “Wenn ich diesen Text [...] sofort nicht nur an die Zeitungen, sondern auch telegraphisch an alle unsere Gesandtschaften mittheile, so wird er vor Mitternacht bekannt sein [...]“. Nun ist dieses Werk als Rechtfertigungsschrift bekanntlich mit großer Vorsicht zu rezipieren.

Daran fehlt es bei Nanz (2010: 188), der anhand des Aktenbefunds registriert, dass im Verteiler der “1. Expedition” zunächst auch das Wollfsche Telegraphenbüro stand, vor dem Abgang aber wieder gestrichen wurde: “Vielleicht hatte man im Auswärtigen Amt doch noch ein wenig Angst vor dem ‘gallischen Stier’. [...] Es bot sich offenbar eine weniger direkte Lösung an: Man verschickte die erste Expedition wie auch die zweite [...] im Gegensatz zur dritten um 2.30 Uhr morgens nicht in Ziffern, sondern en clair, wie man an der Korrektur am Kopf des Blattes bemerken kann. Jeder, der den Morse-Code beherrschte und Zugang zu einer Telegraphenleitung hatte, konnte den Text lesen. Damit dürfte für eine breite Öffentlichkeit gesorgt worden sein”.

Setzte Bismarck also auf ein “Ems-Leaks”? Nanz (2010: 186) weiß selbst, dass der Depeschentext schon um 21 Uhr als Extrablatt der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vertrieben wurde. Gegen 23 Uhr, also zum Zeitpunkt der Absendung der 1. und 2. Expedition, war er in der Berliner Öffentlichkeit schon allgemein bekannt (Walder 1972: 19 Anm. 2, 73). Da brauchte es keine geschwätzigen Telegraphenbeamten mehr.

Nanz übersieht hier den eigentlichen Witz im Verteiler der 3. Expedition: die Vorgabe eines Leitwegs über England für den nach Madrid bestimmten Erlass (4. Folge). Damit wurde eine Durchleitung durch Frankreich vermieden.

Im Quai d’Orsay lag der Depeschentext anhand der Zeitungsmeldungen erst am Morgen des 14. Juli vor, der Originaltext der 3. Expedition über den französischen Ministerresidenten in München erst am Mittag (Brase 1912: 147 f.). Um 12.30 Uhr berichtete schließlich auch der französische Botschafter, der in Ems ebenfalls aus der Zeitung davon erfahren hatte, nach Paris (Benedetti 1871: 386).

Was war hier passiert? Gerade in Paris wurde der Text eben nicht schon “vor Mitternacht” bekannt. Der aktenkundliche Befund zu Punkt 9 des Verteilers auf der 3. Expedition macht evident, dass genau das, nämlich ein frühzeitiges Bekanntwerden in Frankreich, verhindert werden sollte. Die französische Regierung sollte die Nachricht aus der Zeitung erfahren, um die Demütigung zu vervollständigen, und eben nicht durch ein Leck.

Bismarck rechnete mit der Kompromittierung der Madrider Chiffre und wählte deshalb den Leitweg über London. Er wollte verhindern, dass Gramont es von seinem cabinet noir erfährt, bevor er es in der Zeitung lesen muss. In dieser Feststellung liegt der historische Erkenntniswert der unscheinbaren Verteiler-Verfügung.

Wir sehen in diesem aktenkundlichen Befund eine präzise aus der Ferne gelenkte Operation, deren Timing von wenigen Stunden abhing. Die Emser Depesche bestätigt  eindrucksvoll die Schlüsse, die Nickles für die pragmatische Schriftlichkeit Diplomatie im Zeitalter des Telegrafen gezogen hat. Sie baut Interpretationen historischer Quellen vor, die sich zu weit von der Basis entfernen. Und sie ermöglicht es, aus dem „Text“ des „Dokuments“ und den Bearbeitungsspuren auf dem physischen Schriftträger die vollständige Quellenbasis überhaupt erst herzustellen.

Handwerkliche Expertise ist nicht alles, aber ohne sie ist die historische Arbeit nichts.

- Fin -

Literatur

Benedetti, [Vincent] Comte 1871. Ma mission en Prusse. 2. Aufl. Paris 1871. (Online)

Bismarck, Otto von. Erinnerung und Gedanke. Ritter, Gerhard und Stadelmann, Rudolf Hg. 1932. Gesammelte Werke 15. Berlin.

Brase, Siegfried 1912. Emile Olliviers Memoiren und die Entstehung des Krieges von 1870. Historische Studien 98. Berlin.

Nanz, Tobias 2010. Grenzverkehr. Eine Mediengeschichte der Diplomatie. Zürich/Berlin.
Nickles, David Paull 2003. Under the Wire. How the Telegraph Changed Diplomacy. Harvard Historical Studies 144. Cambridge, MA 2003. (Vorschau bei Google Books)

Schäfer, Udo 2009. Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen. In: Uhde, Karsten Hg. 2009. Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg 48. Marburg. S. 89-128.

Walder, Ernst Hg. 1972. Die Emser Depesche. Quellen zur neueren Geschichte 27-29. 2. Aufl. Bern.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/235

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Digitale Tools für Projekte, Lehre, Weiterbildung & Co

Nachdem wir hier im Blog bereits die Toolbox “Soziale Medienbildung” und die Toolbox No. 2 veröffentlicht haben, folgt nun eine weitere Sammlung von nützlicher Software und Webanwendungen zum Einsatz in der Lehre, in Weiterbildungen oder Projekten. Auch hier sind viele Tools ohne Download anwendbar, bei wenigen ist leider nur eine Testversion innerhalb eines begrenzten Zeitraums oder unter bestimmten Voraussetzungen frei verfügbar. Daher bitte immer genau die Nutzungsbedingungen und AGBs nachlesen. Ergänzungen, Kommentare oder Erfahrungen sind erwünscht. Viel Spaß beim Testen und Einsetzen! Kreative, unterhaltsame […]

Quelle: http://medienbildung.hypotheses.org/7300

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Algorithmen für Ängstliche

In jüngerer Zeit kam die Berichterstattung über Algorithmen wieder auf die Tagesordnung und man ist fast versucht, als Tenor “Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!” zu vernehmen: Die Welt ist beherrscht von einer weithin unbekannten Supermacht, die das Dasein jedes Einzelnen und das Zusammenleben aller durch unsichtbare Fäden aus dem Hintergrund lenkt. Da werden Frauen über ihr Konsumverhalten als schwanger kategorisiert, ehe sie sich dessen selbst bewusst werden. Da bekommen Lebensgemeinschaften keinen Kredit, weil sie am falschen Ende der Straße wohnen. Da plant ein Online-Versand, Kunden die gewünschten Waren zuzusenden, bevor sie überhaupt daran dachten, diese zu bestellen. Und das alles nur, weil da jemand die “richtige mathematische Formel” gefunden hat und in der Lage war, diese “auf einem Computer zu programmieren”. Und jetzt sind die so geschaffenen Algorithmen dabei, sich von ihren Schöpfern loszusagen und die gesamte Menschheit bis zum Sankt Nimmerleinstag zu knechten.

angst

Der Zaubertrank: Deep Learning

Ich habe zunächst versucht, den Wahrheitsgehalt dieser Darstellungen in meinem Unwissen zu finden, was mir nicht sonderlich gut gelang. Sollten etwa die anderen doch nicht mit Wasser kochen und das, was ich so über das Thema weiß, überholtes Wissen sein? Ja, natürlich gibt es auf der einen Seite den Deep-Learning-Ansatz, der – salopp gesagt – irgendwie sowas wie die Architektur des menschlichen Gehirns auf einem künstlichen Rechnersystem nachbildet und das Ergebnis mit Beispielen füttert, auf dass es eigenständige Kategorisierungen vornehme. Ein solcher Ansatz benötigt allerdings auch in unserer Zeit schneller Desktop-PCs noch nicht-alltägliche Rechneranlagen, eine Menge Spezialisten für die Implementation und das Training neuronaler Netzwerke sowie eine hohe Frustrationstoleranz, weil relativ schwer analysierbar ist, was genau passiert und wie man Ergebnisse verbessern kann. Der Deep-Learning-Ansatz wird deswegen vor allem von großen Forschungseinrichtungen und Unternehmen eingesetzt, Google etwa hat Ray Kurzweil darauf angesetzt.

Deep-Learning-Techniken eignen sich vor allem für Aufgaben, wo Muster erkannt werden müssen, die sich nicht oder nur schwer durch spezifische Merkmale beschreiben lassen. So werden sie z. B. die Spracherkennungssyteme von iOS und Andoid eingesetzt. Soweit ich das beurteilen kann, wird der Ansatz abgesehen davon in freier Wildbahn noch kaum angewendet, weil er einfach noch nicht gut genug modellierbar ist.

Der Kochtopf mit Wasser: Maschinelles Lernen

Realweltszenarien, in denen Algorithmen eingesetzt werden, lassen sich fast alle durch Klassifikations- oder Gruppierungsproblem formulieren: Ist die Nutzerin schwanger oder nicht? Welche Kreditkonditionen bekommen die Kunden in der Gruppe, in die der potentielle Kreditnehmer eingeordnet wurde? Produkte welcher Warengruppe haben die anderen Käufer des Artikels noch erworben?  Ist der Autor des unbekannten Pamphlets Donald Rumsfeld oder der Una-Bomber? Will die Politikerin Europa – ja oder nein? Oder – wie in der Facebook-Studie damals - ist der Nutzer bzw. die Nutzerin heterosexuell oder irgendwas anderes (sic!)?

Es ist hier nicht mein Punkt, welche der möglichen Anwendungsszenarien methodisch zweifelhaft oder gar ethisch verwerflich sind. Was gemacht werden kann, wird wahrscheinlich eh irgendwo durchgeführt werden, da habe ich wenig Illusionen. Mir geht es hier nur darum, aufzuzeigen, dass dort in den seltensten Fällen neue mathematische Formeln ersonnen werden, die dann irgendwer auf dem Computer programmiert. Vielmehr steht ein ganzer Werkzeugkasten bekannter Verfahren zur Klassifikation und Gruppierung (Clustering) von Objekten zur freien Verfügung. Theoretisch könnte sich also jede|r daran bedienen und für welche Typisierungen auch immer anwenden. Mit ein wenig Geduld kommt man auch mit so mächtigen Programmen wie WEKA zurecht (da bekommt man auch eine graphische Benutzeroberfläche). Oder man ist so verwegen und installiert sich die entsprechenden Pakete für R.

Und schon ist man Data Scientist. Eigentlich, denn der Teufel liegt mal wieder … in den Daten. Um Objekte zu klassifizieren, muss man sie zunächst durch Merkmale beschreiben, jedenfalls wenn man nicht einen solchen Zauber-Neuronalen-Netzwerk-Ansatz wie oben beschrieben verfolgt. Texte kann ich z.B. beschreiben über die Wörter, die sie enthalten; Menschen über ihre Augenfarbe, ihre Größe, ihr Geschlecht, ihren Wohnort oder eben über die Bücher, die sie bisher erworben haben. Oder ich kombiniere einfach mehrere Merkmale. Und gewichte sie dann möglicherweise unterschiedlich – Augenfarbe ist wichtig, Anzahl der Muttermale etwas weniger relevant. Was auch immer ich messen oder abzählen kann, ist als Merkmal verwendbar. Schwierig ist die Mischung von Merkmalen unterschiedlicher Skalenniveaus, aber auch das ist mit ein wenig Phantasie meist lösbar. Augenfarbe könnte etwa über RGB-Werte angegeben werden – dann hätte ich statt eines nominalskalierten Merkmals gleich drei verhältnisskalierte. Diesen Vorgang – die Zuordnung von Merkmalen zu Objekten – nennt man Feature Engineering. Am Ende dieses Schrittes hat man zu jedem Objekt, das man gruppieren oder klassifizieren möchte, eine Reihe von Zahlen. Und mit diesen Zahlen kann ich dann meinen Algorithmus füttern. Bei der Gruppierung gebe ich die Objekte einfach alle hinein und bekomme am Ende Gruppen (immer hinsichtlich der ausgewählten Merkmale) homogener Objekte zurück. Das nennt man auch unüberwachtes Lernverfahren, weil ich die ursprünglichen Objekte nicht vorklassifizieren musste, um sie in Gruppen einzuteilen.

Ein weiteres bekanntes Verfahren ist das überwachter Art: Hierfür werden Trainingsobjekte benötigt, die bereit vor Anwendung des Algorithmus mit ihrer Klasse versehen sind (+/-schwanger, Text von Rumsfeld, Text vom Una-Bomber etc). Über diese Trainingsobjekte bildet sich der Algorithmus ein Modell, das er zu Rate zieht, wenn er weitere, nicht vorausgezeichnete Objekte zuweisen soll.

Was ich eigentlich damit sagen will

Hinter dem was landläufig als Algorithmen bezeichnet wird, die einen immer größeren Einfluss auf unser Leben haben, verbergen sich meist maschinelle Lernverfahren. In denen steckt zwar ein wenig was an Mathematik drin, vor allem bei der Gewichtung von Merkmalen, bei der Distanzberechnung von Merkmalskombinationen und eben bei der Gruppierung oder Klassifikation. Dies sind aber in den meisten Fällen frei zugängliche Formeln oder gar fertige Implementationen, die über graphische Oberflächen von eigentlich jedem zu bedienen sind. Manche dieser Verfahren liefern für bestimmte Anwendungsfälle bessere, für andere wieder schlechtere Ergebnisse. Zumindest in meinem Bereich, der Computerlinguistik, lässt sich meist schwer voraussagen, welche der Kombinationen gut funktioniert. Man probiert halt einfach alle aus und schaut dann, welche am besten performt (ja, manchmal sind wir halt einfach Ingenieure).

Mit das Wichtigste für die Funktion der Verfahren ist allerdings die Auswahl an Merkmalen, mit denen die Objekte beschrieben werden. Und anstatt darüber zu mosern, dass Algorithmen Entscheidungen für oder über uns treffen, sollte man vielleicht besser darauf drängen, offenzulegen, auf welcher Grundlage sie dies tun. Welche Merkmale erhebt die Schufa? Liest Amazon meine History aus oder beruhen die Empfehlungen nur auf den Daten, die ich ihnen gegeben habe? Vor allem: Kann ich das abschalten? Was der Algorithmus dann hinterher draus macht, kann ja auch mal hilfreich sein. Demnächst hoffentlich hier an einem konkreten Beispiel gezeigt.

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1111

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Audienz bei einem Geächteten

Das Schicksal Friedrichs V. von der Pfalz berührt vordergründig nur die Anfangsphase des Dreißigjährigen Kriegs: zunächst als pfälzischer Kurfürst einer der wichtigsten Reichsfürsten, dann König von Böhmen, um kurz darauf geächtet und als „Winterkönig“ verspottet alles zu verlieren und ins Exil nach Den Haag zu gehen. Bei den Generalstaaten hatte er zwar Zuflucht gefunden, doch seine Machtgrundlagen waren verschwunden. Gleichwohl setzte er in den folgenden Jahren alles daran, um auf die politische Bühne des Reiches zurückzukehren, die pfälzischen Besitzungen und ebenso auch die böhmische Krone wiederzugewinnen. Immerhin gab es noch Kriegsunternehmer wie Mansfeld und Christian von Braunschweig, die vorgaben, für die Sache des Pfälzers zu streiten, und nach wie vor flossen Gelder aus Frankreich, England und den Niederlanden, um diese Feldzüge zu finanzieren.

Auf der kaiserlichen Seite sah die Sache anders aus. Für Ferdinand II. und dem mit ihm verbündeten Maximilian von Bayern mitsamt der Liga war Friedrich nur der „exilierte Pfalzgraf“. Mit einem Reichsächter konnte man keinen Umgang haben, als politischer Faktor war Friedrich rechtlich betrachtet ausgeschaltet. Und Maximilian, der Friedrichs pfälzische Kurwürde nach Bayern transferiert hatte, dachte gar nicht daran, den Exilierten durch diplomatische Kontakte aufzuwerten. Doch war nicht zu übersehen, daß man über die Machenschaften in Den Haag Bescheid wissen mußte. Was ging am Hof des exilierten Rex Bohemiae vor? Das wollte man schon gerne erfahren, doch durfte dies nicht über offizielle Kanäle erfolgen.

Es gab aber einen indirekten, eleganteren Weg. Ferdinand, als Bruder Maximilians von Bayern, unterhielt einen eigenen Agenten in Den Haag. Damit war kein Geheimdienstler gemeint, sondern ein diplomatischer Vertreter auf ganz niedriger Stufe – das war zum einen hinsichtlich des repräsentativen Aufwands billig und zum anderen politisch unverfänglich. Dieser Agent versorgte Ferdinand, der als Kurfürst von Köln unmittelbarer Nachbar der Generalstaaten war, permanent mit Nachrichten über die aktuellen Vorgänge in Den Haag und kümmerte sich auch um kurkölnische Belange bei den Generalstaaten. Er sollte nun auch auf den Pfalzgrafen ein Augenmerk haben.

Tatsächlich knüpfte dieser Agent namens Johann van der Veecken Kontakte zum Gefolge des Pfalzgrafen. Ja, mitunter berichtete er sogar von direkten Gesprächen mit Pfalzgraf Friedrich selbst. Berichte über diese Audienzen schickte er dann an Kurfürst Friedrich – der die wirklich brisanten Informationen über den exilierten Friedrich gleich exzerpierte und nach München weitersandte. Auf pfälzischer Seite wird man schon gewußt haben, welche Dimension diese Gespräche mit Veecken hatten; wer weiß, was man dort alles lanciert hatte, im sicheren Bewußtsein, daß diese über kurz oder lang doch bei Maximilian von Bayern landen würden.

Jedenfalls entwickelten sich hier auf ganz unverfängliche Weise Kontakte zwischen den mächtigen Fürsten im Reich und dem Geächteten im Haager Exil – Kontakte, die es eigentlich gar nicht geben durfte, die aber trotzdem für beide Seiten wichtig waren. Ich habe vor Jahren schon einmal dieses Themen im Umfeld der bayerischen Pfalzpolitik gestreift (im Katalog zum „Winterkönig“ von 2003), will mich demnächst aber noch einmal intensiver mit der Figur des kurkölnischen Agenten Veecken auseinandersetzen.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/514

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Das IfZ sucht private Dokumente aus dem Alltag im NS-Regime

Briefsammlung

Für das Forschungsprojekt „Das Private im Nationalsozialismus“ sucht das Institut für Zeitgeschichte Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1945, die Einblick in den Alltag der Menschen im NS-Staat geben. Das können Tagebücher, Erinnerungen, Familienchroniken oder Briefe sein, aber auch Fotografien und Fotoalben.

Wir vermuten solche Dokumente in persönlichen Hinterlassenschaften und freuen uns über jedes Stück, das der Wissenschaft zur Verfügung gestellt wird.

Was wird gesucht?

Zu drei Spezialstudien sind wir konkret an Dokumenten und Zeugnissen aus der Zeit von 1933 bis 1945 zu folgenden Themen interessiert:

Fronturlaub: Erfahrungen des Wehrmachtsoldaten und seiner Angehörigen vor, im und mit dem Aufenthalt in der Heimat
Schwangerschaft und Mutterschaft in den ersten beiden Lebensjahren des Kindes sowie verwandte Themen wie Sexualität, Verhütung und Abtreibung

Gerichtsverfahren: juristische Auseinandersetzungen aus dem privaten Bereich, vor allem Ehescheidungen, aber auch Pfändung und Zwangsvollstreckung

Ansprechpartnerin

Dr. Esther-Julia Howell
Stellvertretende Archivleiterin
Telefon: +49 89 12 688-127 (Mo-Do 8-16 Uhr, Fr 8-12 Uhr)
E-Mail: howell@ifz-muenchen.de

Nähere Informationen auf der Projekt-Homepage.

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1992

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Verwaschene Texte

Artikel zum Voynich-Manuskript (VMS) ziehen meist auch Kommentare an, in denen sich die Kommentarist|inn|en darüber äußern, welche Theorie sie sich mal so überlegt haben, was das VMS sein könnte und wie der Text interpretiert werden kann. In den allermeisten Fällen muss man die Ausführungen nicht ganz ernst nehmen, da sich ein fundiertes Gespräch zu diesem mehr oder weniger komplexen Thema schlecht in Kommentaren führen lässt. Die Darstellung eigener Hypothesen benötigt mehr Platz, einen gegliederten Text und eventuell Abbildungen. Das alles können Kommentarspalten nicht so recht bieten. Es besteht natürlich die Möglichkeit, auf externe Seiten zu verlinken. Ich sehe mir diese dann auch meist an und gebe ein kurzes Feedback. Eine wirklich ausgearbeitete und nachvollziehbare Theorie ist mir dabei allerdings noch nicht untergekommen. Beispiele gefällig? Voilà: [1] [2] [3] [4] [5]

Ein Kommentar in der Nacht

Für einen Kommentar, der in der Nacht zum Sonntag unter meinem Gast-Post bei den Ruhrbaronen landete, muss ich allerdings eine Ausnahme machen, ist der Absender doch Thomas Ernst (wenn er denn wirklich dahinter steckt und mir nicht jemand einen Streich spielen möchte. Es fällt mir aber niemand ein, der Ernsts Stil so gut nachzuahmen verstünde). Traurigerweise werden sich jetzt nicht wenige der Leserinnen und Leser hier fragen, wer denn dieser Thomas Ernst sei. Seine Heldensage ist leider noch immer weithin unbekannt, das hat wohl auch mein Blogpost über dieses Husarenstück nicht wirklich geändert. Mit der Entschlüsselung der Steganographia III hat er sich unsterblich gemacht, seine Darlegung zum Thema ist mehr als lesenswert und sei jedem zur Lektüre empfohlen. Es ist ein Krimi, verborgen im Pelz einer vor amüsant vorgetragener Gelehrsamkeit strotzenden wissenschaftlichen Abhandlung. Mir fehlen die Worte, um hier festzuhalten, wie sehr ich Ernst dafür bewundere. Wenigstens einen New-York-Times-Artikel hat er dafür bekommen.

Die geheimnisumwitterte Steganographia von Johannes Trithemius.

Und nun äußert dieser Thomas Ernst – wenn ich das richtig verfolgt habe – zum ersten Mal seine Hypothese zum VMS, was ich allein für sich genommen schon ziemlich sensationell finde. Gewissermaßen vermutet auch er, beim VMS sei ein Kopist am Werke gewesen. Dieser sei jedoch kein Autokopist, der immer wieder Zeichenketten von sich selbst abschreibt und verfremdet, sondern ein Fremdkopist, der ein Werk abschreibt, dessen Zeichen ihm nicht geläufig sind und dessen Inhalt er dementsprechend nicht versteht. So sehr ich ihn sonst bewundere – hier liegt Ernst meiner Meinung nach falsch. Der Text des VMS weist einfach zu viele Eigenschaften auf, die mit dieser Hypothese nicht in Deckung gebracht werden können. Ich greife mir hier zwei dieser seltsamen Merkmale heraus, die sich in der gegebenen Kürze erklären lassen.

Entropie: Zuwenig Information an Bord

Über das Maß der Entropie lassen sich Aussagen über den Informationsgehalt einer Nachricht machen, und das, ohne den Inhalt (die Semantik) der Nachricht zu kennen. Dafür muss man lediglich die Häufigkeitsverteilung der einzelnen Zeichen kennen (um die Zeichenentropie – H0 – zu errechnen) sowie die Häufigkeit, mit der bestimmte Zeichen auf bestimmte andere folgen (um die Verbundentropie – H1 – zu errechnen). Da H1 abhängig ist vom Umfang des zugrundeliegenden Alphabets, sollte man – um Texte mit unterschiedlich vielen verschiedenen Zeichen zu vergleichen – die Differenz zwischen H0 und H1 heranziehen. Dies tut z.B. Dennis Stallings in seiner Analyse zum VMS und kann damit aufzeigen, dass sich der Text des VMS hinsichtlich dieses Differenzwertes signifikant von allen bekannten natürlichen Schriftsprachsystemen unterscheidet. Das VMS scheint viel weniger Information (d.h. mehr Redundanzen) zu enthalten, als alle vergleichbar langen natürlichsprachlichen Texte, die man bisher untersucht hat. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich dabei um Zeichen-, Silben- oder Alphabetschriften handelt.

Wortlängen: Zeilen als funktionale Einheit

Zeilen scheinen im VMS so etwas wie funktionale Einheiten zu bilden, d.h. sie scheinen auf irgend eine Weise gleich zu funktionieren. Bei natürlichen Sprachen ist dies auch zu beobachten, z.B. in der Lyrik oder bei Spruchsammlungen. Ein Text, bei dem auf 200 Seiten die Zeilen so aufgebaut sind, dass ihr jeweils erstes Wort – im Vergleich zur durchschnittlichen Wortlänge – signifikant länger, das jeweils zweite Wort aber signifikant kürzer ist, ist mir allerdings (abgesehen vom VMS, was Elmar Vogt schön ausführt) nicht untergekommen. Dazu wirken die Zeilen wie in Blocksatz gesetzt, ohne dass etwas darauf hindeutet, dass Wörter am Zeilenende getrennt worden wären oder dass der Abstand zwischen den Wörtern merklich differieren würde. Stattdessen scheint der Schreiber bzw. die Schreiberin einfach am Ende der Zeile ein Wort eingefügt zu haben, das längenmäßig passte. Ein solches Gebahren lässt sich meiner Ansicht nach nicht mit der Abschrift eines natürlichsprachlichen Textes in Deckung bringen.

Bloß ein starker Waschgang?

Die beiden kurz ausgeführten Indizien sind nicht die einzigen, die gegen die Hypothese sprechen, dem Text liege ein unverschlüsselter, natürlichsprachlicher zugrunde. Auch wenn man annimmt, der Text sei durch eine verständnislose, fehlerhafte Abschrift unter Zeitnot quasi einem Waschgang unterzogen worden, der ihn nahezu unkenntlich gemacht hat, kann das meiner Meinung nach diese Eigenschaften nicht erklären. Vielmehr deuten die Entropiewerte darauf hin, dass – wenn der Text des VMS eine Botschaft enthält – diese ein gutes Stück kürzer ist, als das die Länge des Textes suggeriert. Das heißt, dass die kleinsten Informationseinheiten des VMS länger sind als unsere Schriftzeichen. Das seltsame positionsabhängige Wortlängengebahren scheint mir auf einen Auswahlprozess irgendeiner Art hinzudeuten. Insofern denke ich, dass die Hypothesen, die

  1. von Gordon Rugg (Text ist ohne Inhalt und mithilfe eines Cardangitters und einer Morphemtabelle hergestellt)
  2. von Torsten Timm (Text ist wahrscheinlich ohne Inhalt und durch Kopie und Abwandlung einiger initialer Zeichenketten entstanden)
  3. von mir (Text ist das Resultat einer Verschlüsselung, bei der einzelne Buchstaben durch ganze, in Verschlüsselungstabellen aufgeführte Wörtern substituiert wurden)

aufgestellt wurden, in Vergleich zu der Ernst’schen die vorzuziehenden sind. Wie man sie gegeneinander evaluieren kann, darüber denke ich demnächst mal nach. Aber vielleicht nimmt mir das ja jemand ab.

 

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1155

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