Marie-Janine Calic: Ordnungsentwürfe im multiethnischen Kontext: Der Fall Jugoslawien

Abstract für die Konferenz Das 20. Jahrhundert und der Erste Weltkrieg

Trotz zahlreicher Geburtsfehler kann man die Versailler Nachkriegsordnung und in ihr geschaffenen Staaten nicht als „künstlich“ qualifizieren. Jugoslawien war Resultate einer auf dem Selbstbestimmungsrecht beruhenden Ordnung, die auch den Südslawen ihren eigenen Staat zusprach. In der konkreten Umsetzung der Versailler Nachkriegsordnung, zum Beispiel bei der Grenzziehung, waren die Großmächte allerdings inkonsequent und widersprüchlich. Teil der Inkonsistenz war ein Minderheitensystem, das nur für die osteuropäischen Staaten, nicht für die Westmächte galt. Integrierend sollte im heterogenen Jugoslawien eine unitarische Nationalideologie wirken, die von einem einzigen südslawischen Volk ausging. Der Staat sollte auf individuelle Freiheiten, nicht kollektive Rechte gebaut sein. Dies stand in Einklang mit der westeuropäischen Idee der Staatsnation, die sich historisch-politisch, nicht sprachlich-kulturell definierte. Existierende kollektive Identitäten ließen sich jedoch nicht ohne weiteres in einer von oben konstruierten jugoslawischen Nation verschmelzen. Die im Rahmen der Versailler Ordnung geschaffenen Staaten sind letztlich nicht an inneren Widersprüchen, sondern äußerer Aggression zugrunde gegangen.

Marie-Janine Calic ist Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universiät München. Ihr Forschungsschwerpunkte sind die Konfliktgeschichte Südosteuropas, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Südosteuropas (Entwicklungsforschung), Ethnische Minderheiten und nationale Frage auf dem Balkan, Deutsche und europäische Balkanpolitik, Konfliktprävention, Wiederaufbau, internationale Friedenssicherung undVergangenheitspolitik.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1257

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Worüber sprechen wir eigentlich? Geschichtsdidaktik und ihre Praxis

 

Dass die Geschichtsdidaktik praxisfern und theorieverliebt agiere, ist fast ein Gemeinplatz. Der nicht zutrifft. Vielmehr gründet die Disziplin auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament und engagiert sich in zunehmend vielfältigen Formen, um die Erträge ihrer Forschung in „die Praxis“ zu transferieren. Ein neues, schlagendes Beispiel dafür sind die Debatten in diesem Blog-Journal. – Oder etwa nicht?

 

Geschichtsdidaktik – zum Appell!

Neulich, in einer leidlich ernsthaft geführten Konversation, erkundigte sich mein besorgt dreinblickendes Gegenüber, ob denn die Geschichtsdidaktik mit all ihren klugen Theorien oder emphatischen Entwürfen sich auch zukünftig auf eine „appellative Funktion“ beschränken wolle, und wenn nicht, wie sie gedenke, die Ergebnisse ihrer manchmal gar empiriebasierten Reflexion in „der Praxis“ zur Geltung zu bringen. Diese Frage hörte ich wahrlich nicht zum ersten Mal. Doch der „Appell“ ließ mich zusammenzucken; ich musste nicht nur an den gereckten Zeigefinger, sondern an salutierende Massen auf Exerzierplätzen und Kasernenhöfen denken. Also hatte mein Gesprächspartner einen neuralgischen Punkt getroffen: Seit ihren Anfängen fahndet die Geschichtsdidaktik sowohl nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz als auch, wie jede angewandte Wissenschaft, nach ihrer vorgeschalteten Anwendungseignung.

Was leistet Geschichtsdidaktik?

Ich atmete tief ein: Gewiss arbeite die Geschichtsdidaktik wie jede wissenschaftliche Disziplin zunächst einmal für einen inner circle. Man hält Lehrveranstaltungen ab, betreut den sich qualifizierenden Nachwuchs, setzt Vorträge auf, forscht in Einzelprojekten und Verbünden, stets für und mit Verbündeten. Ja, dabei nutzt man zuweilen eine voraussetzungsvolle Arkansprache, die von Außenstehenden nicht schnell entschlüsselt werden kann. Aber immerhin sei doch eine Langzeitwirkung schon durch die leibhaftige Begegnung mit einem Teil unserer AnwenderInnen, den (späteren) schulischen Lehrkräften, während ihrer Ausbildung oder in Fortbildungen gegeben. Ansonsten diffundieren die Erkenntnisse „der Geschichtsdidaktik“ auf osmotische Weise „in die Praxis“:

  • Wir veröffentlichten mitnichten nur in theoretischen Organen, sondern auch in Zeitschriften und Buchreihen, deren Leserschaft vornehmlich aus MultiplikatorInnen fachdidaktischer Instruktion besteht. Dabei meine ich zu bemerken, dass der hochdrehende fachsprachliche Apparat endlich zurückgefahren wurde. Wenn man sich die rhetorische Geschraubtheit, die akademische Überschwere, die intellektuelle Spreizung so mancher didaktischen Altvorderen nochmals zu Gemüte führt, schreiben wir heute doch verständlicher, versöhnlicher, der „Praxis“ zugewandt. Die blendenden Empfehlungen von Curthoys/McGrath in ihrem luziden Werk „How to Write History that People Want to Read“ könnten glatt einem fachdidaktischen Grundkurs entstammen.
  • Wir unterstützen die boomende Projektszene der außerschulischen historisch-politischen Bildung, die Veranstalter von Geschichtswettbewerben, pädagogische Abteilungen von Gedenkstätten, politische Vereine und NGOs, sogar die Bundeswehr im Zuge ihrer historisch-politischen Bildungsbemühungen. Mittlerweile werden GeschichtsdidaktikerInnen von Museen – undenkbar noch vor zehn Jahren – bereits in der Vorbereitungs- und Konzeptionsphase historischer Ausstellungen gehört, beauftragt, operativ eingebunden.
  • Zwar trifft zu, dass wir in einem Kerngeschäft, der Curriculumarbeit, zuletzt zur Seite gedrängt wurden. FachdidaktikerInnen gehören eher nicht mehr in den erlauchten Kreis der Lehrplankommissionäre. Weckrufe gegen desolate Entwürfe oder Verteidigungsreden für zeitgemäße, gleichwohl in der (Verbands-)Kritik stehende Ansätze gibt es aber noch (zuletzt 2010 im Falle der hessischen Bildungsstandards im Fach Geschichte für die Sekundarstufe I 1). – Wahr bleibt, dass sämtliche vagabundierende Kompetenzmodelle, an denen sich Richtlinienpapiere für das Fach Geschichte ausrichten, auf Vorlagen aus der Geschichtsdidaktik beruhen. Narrative Kompetenz, historische Urteilsbildung, interkulturelles Lernen sind nicht ohne unseren Einfluss in die Geschichtscurricula gelangt, um eben dort „praktisch“ wirksam zu werden.2

Noch Fragen?

Zumutung Praxistauglichkeit

Als ich den Mund meines Partners offen stehen sah, spürte ich vor mir selbst Erleichterung. Dann aber besann ich mich: Was sollte eigentlich diese Inquisition? Wieso darf man behaupten, Erkenntnisse einer bzw. der geschichtsdidaktischen Wissenschaft seien erst dann relevant, gültig, wertvoll, wenn sie Anwendung „in der Praxis“ fänden? Die Soziologie untersucht Heiratsverhalten und Ehescheidungen. Aber würden wir von SoziologInnen jemals eine Empfehlung dazu erwarten, wann man zu heiraten und unter welchen Umständen sich wieder zu trennen habe? Und was ist das überhaupt für eine „Praxis“, die Richtlinien und Handlungsanweisungen von gar nicht unmittelbar Zuständigen zu empfangen begehrt? Schließlich: So wie das Lernen von Geschichte genau nicht heißt, die Geschichten der HistorikerInnen auswendig zu kennen, sondern seine eigenen mit jenen zu vermitteln, meint das Lernen von der Geschichtsdidaktik nicht, deren Konzepte ungeprüft zu übernehmen, sondern mit der selbst erfahrenen Optionenvielfalt in ein fruchtbares Verhältnis zu setzen.

Blog-Journal für welches „Public“?

Mein Kontrahent blinzelte. Nun, dass die Geschichtsdidaktik ein ziemlich selbstbezügliches System sei, beweise sich wieder einmal an jenem neuen Blog-Journal, für das ich wohl auch schriebe. Schrill und übertrieben alarmistisch erschienen ihm darin manche Wortgefechte um Einheitstendenzen und Separatismen innerhalb der Disziplin – wohlgemerkt soweit er ihnen überhaupt folgen könne. Dabei frappiere ihn, dass zur Absteckung der claims zuweilen ein argumentatives, d.h. buchstäblich kämpferisches Waffenarsenal aufgefahren werde, mit dem jenes „Public“, das man doch laut Titel des Blog-Journals erreichen wollte, garantiert verfehlt werde. Von heiterer Positionsregie oder spielerischer Theorieproliferation, wie sie doch wohl einzig ein eben nur interessiertes, nicht schon advokatorisches Publikum angingen, keine Spur. Eher schon wünschte man wohl die jeweils anderen vor sich stramm stehen zu sehen. Appellativ eben.

Ich fasste mir an den Kopf und schaute dem Mann tief in die Augen. Was soll man von so einem halten?

 

Siehe auch Demantowsky, Marko: Praxis vs. Theorie und Rüsen neue Historik. In: Public History Weekly 1 (2013) 14, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-889.

Literatur

  • Curthoys, Ann / McGrath, Ann: How to Write History that People Want to Read, Sydney 2009.

 

Abbildungsnachweis
Eingang zur einer Grundschule (ehem. nur für Mädchen) in Mailand, März 2013. © Michele Barricelli.

Empfohlene Zitierweise
Barricelli, Michele: Worüber sprechen wir eigentlich? In: Public History Weekly 1 (2013) 11, DOI: DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-629.

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Buchvorstellung: E. Künzl, Die Thermen der Römer (Stuttgart 2013)



Die aktuelle Ausgabe von "Der Limes. Nachrichtenblatt der Deutschen Limeskommission" (2013, 7/2, S.39) enthält eine Buchvorstellung zu E. Künzl, Die Thermen der Römer (Stuttgart 2013).

Das Rezensionsexemplar und die Coverabbildung wurden mir freundlicherweise vom Konrad Theiss Verlag überlassen, wofür ich mich herzlich bedanke.


Abb. Konrad Theiss Verlag

Quelle: http://provinzialroemer.blogspot.com/2013/11/buchvorstellung-e-kunzl-die-thermen-der.html

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Jörg Fisch: Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Selbstbestimmungsrecht der Kolonialvölker

Abstract für die Konferenz Das 20. Jahrhundert und der Erste Weltkrieg

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist  ein Prinzip internationaler Unordnung, dessen Geschichte wesentlich die Geschichte seiner Bändigung und Einschränkung ist. Es ist eng mit der Entkolonisierung seit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten verbunden. Seinen ersten Höhepunkt erreicht es am Ende des Ersten Weltkrieges. Lenin setzte es als Waffe gegen die Siegermächte ein. Wilson versuchte es zu seinem eigenen Instrument zu machen, scheiterte aber an den Kolonialmächten. In der Zwischenkriegszeit  setzte insbesondere Hitler das Recht als Mittel des Revisionismus ein. Nach 1945 hingegen gelang es den von der Sowjetunion unterstützten Entwicklungsländern, ein Recht auf Entkolonisierung durchzusetzen, das als Selbstbestimmungsrecht definiert wurde. Die anarchischen Folgen wurden – und werden – durch vielfältige Einschränkungen in Schranken gehalten, gerade auch von den ehemaligen Kolonialvökern.

Prof. Dr. Jörg Fisch ist Lehrstuhlinhaber für allgemeine neuere Geschichte an der Universität Zürich. Einen Schwerpunkt bildet in seiner Forschung die Geschichte des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen.

Quelle: http://grandeguerre.hypotheses.org/1242

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Zur chinesischen Bezeichnung der “Verbotenen Stadt”

Der Kaiserpalast in Beijing – in diesem Blog bislang lediglich im Zusammenhang mit der Einführung moderner Kommunikation etwas näher erwähnt[1], mit den “goldenen” Dächern aber im Header prominent vertreten – wird nach wie vor gerne “Verbotene Stadt” genannt[2].

Wumen 午門 ("Meridian Gate"), seen from the north

Blick vom Taihemen 太和門 (“Tor der Höchsten Harmonie”) nach Süden auf das Wumen 午門 (“Mittagstor”) – Foto: Georg Lehner

Im Chinesischen wurde die Palastanlage mit dem Begriff zijincheng 紫禁城 (“Purpurne Verbotene Stadt”) bezeichnet (heute Gugong 故宮, d.i. “Alter Palast”). Man könnte meinen, dass diese Bezeichnung “Purpurne Verbotene Stadt” mit den roten Mauern des Palastes (im Bild rechts das imposante “Mittagstor”) zu tun hat. Tatsächlich bezieht sie sich auf den so genannten “verborgenen purpurnen Bereich” (ziweiyuan 紫微垣). Darunter versteht man jenen Ring aus fünfzehn Sternen, der den Polarstern (ziweixing 紫微星) umgibt. Der Polarstern stand nach althergebrachter Auffassung für das Zentrum des Himmels[3] und galt als Sitz des “Obersten Herrschers” (shangdi 上帝).[4]

In Sinne einer irdischen “Spiegelung” der im Universum herrschenden Ordnung symbolisiert der Kaiser den Polarstern und sein Palast den “verborgenen purpurnen Bereich.” Diese Deutung basiert auf der konfuzianischen Vorstellung, dass “der, der die Regierung durch seine Tugend führt, wie der Polarstern ist, der seinen Platz behält, während alle anderen Sterne sich ehrfurchtsvoll vor ihm neigen.”[5]

  1. Vgl.: “Ein Telefon im Kaiserpalast”.
  2. Zum ehemaligen Kaiserpalast und zum Palastmuseum Peking vgl. http://www.dpm.org.cn/index1024768.html.
  3. Zur Bedeutung vgl. etwa Grand Dictionnaire Ricci, Bd. 6, S. 409 (Nr. 11830). – Zur Bedeutung der Farbe Purpur vgl. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Chinesen und ihre Schrift (München, 5. Aufl. 1996) 177 (“Lila”).
  4. Vgl. dazu J. J. M. de Groot: Universismus. Die Grundlage der Religion und Ehtik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas (Berlin 1918), 129 f. und Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 223 (“Purple”).
  5. Otto Franke: Geschichte des chinesischen Reiches, Bd. 1 (Berlin 1930) 79.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/874

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SdK 65: Daniel Siemens über die Geschichte der SA

Die SA zählte zu den wichtigsten nationalsozialistischen Organisationen, deren Geschichte eng mit dem Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler verbunden ist. Die Niederlage im internen Machtkampf gegen die SS unter Heinrich Himmler nach der Eskalation im sog. »Röhm-Putsch«, führte allerdings dazu, dass sie nach 1934 aus dem Blickfeld der Aufmerksamkeit verschwand. Zu Unrecht, wie der Historiker Daniel Siemens argumentiert. Er wagt sich an eine neue Gesamtgeschichte der SA, in der die Geschichte der SA nach 1934 nicht nur Nachklang oder Epilog darstellt, schließlich blieb die SA eine paramilitärische Millionenorganisation, die weiterhin im nationalsozialistischen Machtgefüge wichtige Funktionen erfüllte und identitätsstiftend wirkte.

Links: Daniel Siemens, SA (Wikipedia), Ernst Röhm (Wikipedia), Potempa-Mord (Wikipedia), Nürnberger Prozesse (Wikipedia), Horst Wessel: Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten (Amazon)

Quelle: https://stimmen.univie.ac.at/podcast/sdk65

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SdK 65: Daniel Siemens über die Geschichte der SA

Die Niederlage im internen Machtkampf gegen die SS unter Heinrich Himmler nach der Eskalation im sog. »Röhm-Putsch«, führte allerdings dazu, dass sie nach 1934 aus dem Blickfeld der Aufmerksamkeit verschwand. Zu Unrecht, wie der Historiker Daniel Siemens argumentiert. Er wagt sich an eine neue Gesamtgeschichte der SA, in der die Geschichte der SA nach 1934 nicht nur Nachklang oder Epilog darstellt, schließlich blieb die SA eine paramilitärische Millionenorganisation, die weiterhin im nationalsozialistischen Machtgefüge wichtige Funktionen erfüllte und identitätsstiftend wirkte.

Quelle: http://feedproxy.google.com/~r/kulturwissenschaften/~3/iToyr2cuPlI/sdk65

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Archivwesen: Langzeitarchivierung von Links durch perma.cc

http://perma.cc/ Das Projekt verschiedener amerikanischer bibliothekarischer und akademischer Institutionen setzt es sich zum Ziel, jegliche Links optiional persistent zitationsfähig zu machen. Hier können Nutzer sich einloggen und von einer einzelnen Internetseite einen Snapshot anlegen, welcher die Seite als Grafik speichert und somit auch dynamische Ressourcen und solche mit graphischen Medienelementen archivierbar macht. perma.cc versieht das […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/11/4763/

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NS-Raubgutforschung an der Bayerischen Staatsbibliothek

Die Bayerische Staatsbibliothek gab am Freitag, 8. November 2013, 136 Titel in 121 Bänden aus der Büchersammlung der Münchner Freimaurerloge “Zum aufgehenden Licht an der Isar” an den Distrikt Bayern der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland zurück. Zur Sammlung zählte eine größere Anzahl von Büchern und Zeitschriften überwiegend freimaurerischen und philosophischen Inhalts aus dem frühen 19. bis 20. Jahrhundert. Die Loge wurde im Sommer 1933 aufgelöst.

Raubgutforschung an der BSB

Die Bayerische Staatsbibliothek sucht seit 2003 in ihren Beständen nach NS-Raubgut. Sie orientiert sich damit an der Verpflichtung, die alle öffentlichen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland 1999 in einer gemeinsamen Erklärung zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz eingegangen sind. Die Förderung durch die Arbeitsstelle für Provenienzrecherche und Provenienzforschung am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz ermöglicht es nun, ihre Recherchen zum Abschluss zu bringen und Rückgaben durchzuführen.

Bücher der Freimaurer-Loge “Zum aufgehenden Licht an der Isar” in der BSB

1933 kam es wenige Wochen nach der Machtübernahme Hitlers zu ersten Ausschreitungen gegen Freimaurer in Deutschland. Ihr Zweck war es, die Brüder einzuschüchtern und zur Selbstauflösung ihrer Logen zu bewegen. Im August 1935 wurde die Schließung aller Logen angeordnet und die Freimaurerei verboten.

In München bestanden Anfang 1933 zehn Freimaurerlogen mit insgesamt über 800 Brüdern. Sämtliche Münchner Logen hörten noch im Lauf des Jahres 1933 auf zu existieren, darunter die “Loge zum aufgehenden Licht an der Isar”. Der gerichtlich bestellte Liquidator bot die Büchersammlung dieser Loge zum Kauf an. Zum Preis von 65 Reichsmark erwarb die Bayerische Staatsbibliothek daraufhin 186 Bände und arbeitete sie in den eigenen Bestand ein.

136 Bücher und Zeitschriften gelang es nun im Rahmen der NS-Raubgutforschung zu identifizieren. Da die “Loge zum aufgehenden Licht an der Isar” nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht neu gegründet wurde, erfolgte die Rückgabe der Publikationen an den Distrikt Bayern der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland als übergeordneter Einrichtung. Dieser wird die Bücher und Zeitschriften dem Deutschen Freimaurermuseum in Bayreuth überlassen.

Geplante weitere Rückgaben

Weitere Rückgaben von NS-Raubgut werden derzeit vorbereitet, neben anderen Freimaurerlogen aus Deutschland und Österreich vor allem auch an jüdische Vorbesitzer sowie an den Verband katholischer Religionslehrer und Religionslehrerinnen an den Gymnasien in Bayern, an die Zeugen Jehovas und an Organisationen der Arbeiterbewegung.

Weitere Informationen zur Raubgutforschung an der Bayerischen Staatsbibliothek:

http://www.bayerische-landesbibliothek-online.de/ns-raubgut

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Dr. Stephan Kellner
Bavarica-Referent
Bayerische Staatsbibliothek
Ludwigstr. 16, 80539 München

E-Mail: Stephan.Kellner at bsb-muenchen.de
Tel. +89/28638-2278
Fax +89/28638-2804
URL: www.bsb-muenchen.de

www.bayerische-landesbibliothek-online.de
www.historisches-lexikon-bayerns.de
www.literaturportal-bayern.de

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https://lists.lrz.de/pipermail/geschichte-bayerns/2013-November/002299.html
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E-Mail Forum „Geschichte Bayerns“

Redaktion:
redaktion at geschichte-bayerns.de
http://www.geschichte-bayerns.de/
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Quelle: http://histbav.hypotheses.org/663

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Kurz notiert: Blogs im Buch “Klug recherchiert für Historiker”

Zwe978-3-8252-3940-4imal Freude, zweimal Leid: Im Buch “Klug recherchiert für Historiker” von Estella Kühmstedt geht es ab S. 52 um das Web 2.0 als Rechercheort((1)). Wir befinden uns im zweiten Kapitel mit dem Titel: “Wo beginne ich? Quellen”, im zweiten  Unterkapitel “Die Form der Publikation”, Punkt 7 “Web 2.0″.  In diesem Abschnitt werden auch Weblogs erwähnt, insbesondere Hypotheses. Auf S. 54 liest man:

So stellt das Blogportal Hypotheses für Geistes- und Sozialwissenschaftler kostenlos einen Server zur Verfügung mit der Möglichkeit, wissenschaftliche Blogs begleitend zu Forschungsprojekten oder Dissertationen, aber auch Blogs zu Tagungen und Seminaren etc. zu erstellen, die unter einem Dach versammelt und archiviert werden (http://de.hypotheses.org). Schauen Sie dort nach Blogs, die Sie interessieren, z.B. gibt es dort den Frühneuzeit-Blog der RWTH Aachen (http://fruehneuzeit.hypotheses.org), oder Sie gehen auf die Website Historik.de Geschichte im Blog (http://www.historik.de).

So weit, so erfreulich, sowohl für de.hypotheses als auch für das Frühneuzeit-Blog und für Historik.de, obwohl natürlich von Hypotheses streng genommen nicht “ein Server” zur Verfügung gestellt wird (es sind, glaube ich, an die 20), sondern “ein Service”. Aber das ist eine Kleinigkeit, und ich war wirklich positiv überrascht, dass Blogs und de.hypotheses in der Darstellung überhaupt auftauchen, deren Internetverzeichnis übrigens umfangreich ist und neben den “üblichen Verdächtigen” auch recensio.net und Archivalia listet.

Jetzt zum Leid: Es folgen auf S. 54/55 ein paar Linkadressen zu Blogs, u.a. erneut de.hypotheses (hier aber als de.hypothesis aufgeführt). Dazu sind noch zwei durch Kastenumrandung abgesetzte Hinweise aufgeführt. Auf S. 54 steht der vorsichtig-kritische “Tipp” zum Umgang mit Blogs:

Bleiben Sie bei der Auswertung von Blogbeiträgen kritisch und vergessen Sie nicht, dass es sich dabei oftmals um persönliche Meinungen, Absichten, Schnellschüsse oder unbestätigte Informationen handelt, also nicht unbedingt um Tatsachen. Eine Kontrolle durch die Blogger-Gemeinde ist zwar vorhanden, aber eben nur “mehr oder weniger”, je nach Blog. Und schließlich: Bei allen Vorteilen und nützlichen Eigenschaften von Blogs sollten Sie nicht unnötig lange in ihnen hängen bleiben, denn das kann ganz schnell sehr viel Zeit fressen.

Der Absatz enthält zumindest eine versteckte Andeutung auf Open Peer Review durch den Hinweis auf die “Kontrolle durch die Blogger-Gemeinde”. Bleibt ansonsten zu hoffen, dass sich die angehenden Historiker nicht allzu sehr abschrecken lassen und sich doch mal ausführlicher in der Wissenschaftsblogosphäre umsehen. Denn unnötig lange hängen bleiben, kann man natürlich auch in Druckwerken jedweder Art, die gerade im geisteswissenschaftlichen Bereich in der Regel ebenfalls ohne traditionelles Peer Reviewing erscheinen…

Und auf S. 55 steht in einem mit “Info” übertitelten Kasten der Hinweis:

So fundiert und interessant die Blog- oder Foren-Beiträge sein mögen, sie sind, was wissenschaftliches Arbeiten betrifft, nicht zitierfähig!

Hier wünscht man sich eine Kommentarfunktion im gedruckten Buch, denn Blogbeiträge sind durchaus zitierfähig. Schade, dass zum einen Blog- und Forenbeiträge in einen Topf geworfen werden und zum anderen an dieser Stelle nicht deutlich genug auf die Kompetenz zur Bewertung von Information im Internet hingewiesen wird, die sich die Studierenden aneignen müssen. Dem Thema “Literatur bewerten und verwalten” wird ja durchaus ein eigenes Kapitel am Ende der Darstellung gewidmet. Dorthin hätte man verweisen können.

Die rasanten Entwicklungen rund um geisteswissenschaftliche Blogs in den letzten beiden Jahren zeigen, dass Blogs eben doch wissenschaftliches Arbeiten und Zitieren ermöglichen. Auch in Deutschland bekommen Blogs mittlerweile eine ISSN verliehen. Diese Blogs werden archiviert, was de.hypotheses für “seine” Blogs ohnehin übernimmt. Nicht zuletzt zeigt die exponentiell wachsende Zahl von Blogs unserer Plattform, dass es in der wissenschaftlichen Community einen Bedarf an dieser Form der Kommunikation und Publikation gibt und dass man sich nicht länger davor verschließen kann, Blogs als wissenschaftliches Medium wahr- und ernstzunehmen und zu nutzen.

Estella Kühmstedt, Klug recherchiert: für Historiker, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, ISBN 978-3-8252-3940-4, 201 S., 14,99 Euro http://www.v-r.de/de/title-0-0/klug_recherchiert_fuer_historiker-1008374/

 

  1. Estella Kühmstedt, Klug recherchiert: für Historiker, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, ISBN 978-3-8252-3940-4, http://www.v-r.de/de/title-0-0/klug_recherchiert_fuer_historiker-1008374/

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/1802

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