Art between History and Practice

Bericht vom Panel 4 der Tagung „Areas and Disciplines“ in Berlin, 19. Oktober 2013

Von Luise Neubauer und Katrin Kaptain / Forum Transregionale Studien

Teilnehmer/innen:

  • Hannah Baader, Kunsthistorisches Institut Florenz / ART HISTORIES AND AESTHETIC PRACTICES
  • Mohamed Kamal Elshahed, New York University / EUME Fellow 2013-14
  • Monica Juneja, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
  • Viola König, Ethnologisches Museum Berlin

Moderation: Andreas Beyer, Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris

Area Studies Tagung 2013 010

Abstract

The participants of the fourth panel “Art between History and Practice” concordantly agreed that art history as a discipline and the practice of the European museums have been shaped by the notion of nation ever since their institutional establishment in the nineteenth century. This founding moment and its specific context seemed to be a topic that most of the discussed disciplines shared at the conference “Areas and Disciplines”. Nevertheless, visual studies generally have to deal with transregional processes – since the artifacts and objects examined were travelling and often obtained by conquests or exchange. With the opening up to new global perspectives, calls for a renewal of the discipline repeatedly emerged over the last couple of years. The panel participants discussed these demands not only in methodological terms but even more specific – in terms of the study and preservation of objects and archival materials that often were untended or neglected, sometimes forgotten due to political developments. Several times participants emphasized the urge for close collaborations between museums and university institutions, despite the problems and traps of these co-operations, that the participants were equally aware of.

Zusammenfassung

Die Teilnehmerinnen1 des Panels 4 „Art between History and Practice“ konstatierten einstimmig, dass die Disziplin Kunstgeschichte und die Praxis der europäischen Museen seit ihrer institutionellen Etablierung im 19 Jh. grundständig national geprägt sind – ein Entstehungskontext, mit dem sich fast alle auf der Tagung „Areas and Disciplines“ vertretenen Disziplinen auseinandersetzen müssen. Gleichwohl widmen sich visuelle Studien im Allgemeinen solchen Gegenständen und Artefakten, die durch Reisen, Eroberungen und Austausch von jeher als transregional zu definierten sind. Die im Zuge der Öffnung auf globale Perspektiven in den vergangenen Jahren wiederholt geforderte Erneuerung des Fachs Kunstgeschichte wurde von den Teilnehmerinnen nicht nur im Bereich der Methodik verortet, sondern im Speziellen auch in der Erschließung und Bewahrung von Objekten und Archivmaterial, denen bislang keine oder nicht genügend Beachtung geschenkt worden ist, oder die aus politischen Gründen ins Vergessen geraten sollen. Die Zusammenarbeit von Museen und universitären Einrichtungen wurde mehrfach und nachdrücklich gefordert, obwohl die Teilnehmerinnen zugleich von verschieden gelagerten Problemen und auch Fallstricken dieser Kooperationen zu berichten wissen.

Nationale Kunstgeschichtsschreibung vs. Transregionalität der Kunst

Alle vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Panels 4 „Art between History and Practice“ waren sich in einer Frage einig: Sowohl die Disziplin Kunstgeschichte als auch die museale Praxis in Europa sind seit ihrer institutionellen Etablierung im 19 Jh. grundständig national geprägt und haben sich dementsprechend vornehmlich Objekten unter der Fragestellung der eigenen nationalen Identität gewidmet. Die Objekte selbst, mit denen sich beide Bereiche befassen, sind freilich schon immer transregional gewesen: Nicht nur Goldschmiedearbeiten, Grafiken, Skulpturen oder illuminierte Bücher wurden zwischen unterschiedlichsten Orten und Kulturen zirkuliert, auch Künstlerinnen sind immer schon gereist, haben sich Techniken angeeignet und Wissen weitergegeben. Die den Artefakten eigene Mobilität hat sich ebenso in Architekturen niedergeschlagen, wie von den Panelistinnen an mehreren Beispielen anschaulich gezeigt wurde. Wie jedoch mit dem nicht selten hoch politisch aufgeladenen Konflikt umzugehen ist, der sich zwischen den historisch gewachsenen Methoden einer Disziplin bzw. staatlichen Institution und ihrem zu untersuchenden Gegenstand auffächert, hat an diesem Tag unterschiedliche Antworten, vor allem aber offene Fragen hervorgebracht. Die im Zuge der Öffnung auf globale Perspektiven in den vergangenen Jahren vielfach geforderte Erneuerung des Fachs Kunstgeschichte wurde von den Teilnehmerinnen dabei nicht nur im Bereich der Methodik verortet, sondern im Speziellen auch in der Erschließung und Bewahrung von Objekten und Archivmaterial.

BeyerDer Moderator Andreas Beyer vom Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris beurteilte eingangs die Situation der Kunstgeschichte im Vergleich zu anderen geisteswissenschaftlichen Fächern durch die Einrichtung neuer Lehrstühle zu unterschiedlichen Themenbereichen als gut und inhaltlich breit aufgestellt. Was Andreas Beyer jedoch unerwähnt ließt, war der Umstand, dass bei Kürzungen in der Regel zuerst die kleinen „Orchideenfächer“ dem Rotstift zum Opfer fallen, wie jüngst die Südasiatische Kunstgeschichte an der FU Berlin. Das Beispiel zeigt, dass der Erforschung einer als „europäisch“ definierten Kunst in Deutschland nach wie vor die unhinterfragte Vorrangstellung zukommt.

Absage an Universalmuseen als Aneignung von Welt

Hannah Baader, Kunsthistorisches Institut Florenz, Max-Planck-Institut, und wissenschaftliche Leiterin des Forschungsprogramms Art Histories and Aesthetic Practices am Forum Transregionale Studien, erkannte einen deutlichen Wandel der Disziplin Kunstgeschichte. In ihren Augen sind die größten Herausforderungen die wissenschaftlichen und museologischen Methoden, die verändert und angepasst werden müssen. Dies könne nur auf der Basis der Erschließung, Erhaltung und Zugänglichkeit von Objekten sowie historischen Quellen erfolgen, ohne dabei der Gefahr eines „neuen Kolonialismus“ anheim zu fallen. Dabei mag vor allem das grundlegende Handwerk der Kunsthistorikerin, die genaue und dichte Beschreibung der formalen Aspekte von Objekten, also ihrer Qualität im Sinne einer Materialität sowie der Herstellungsweise, vor allzu vorschnellen Interpretationen und Zuweisungen schützen.

Wie eng dabei allerdings die Arbeit der Kunsthistorikerinnen mit ihren Objekten Hanna Baaderverknüpft ist, zeigte der kleine wissenschaftsgeschichtliche Exkurs Baaders in die Zeit der Entstehung der wissenschaftlichen Objektivität im 19. Jahrhundert. Wie Lorrain Daston und Elisabeth Lunbeck in ihrem Buch „Histories of Scientific Observation“ aufgezeigt haben, spielten vor allem künstlerische Praktiken der Beobachtung eine zentrale Rolle bei der Wissensgenerierung der modernen Disziplinen. Diese Form der Betrachtung und Beobachtung wurde nicht nur prägend für das Selbstverständnis von Kunsthistorikerinnen. Aus dem Verfahren der Analyse von Objekten, der Herauslösung aus dem Kontext und schließlich der Neuanordnung in Glasvitrinen, ging die Idee des Universalmuseums hervor. Diese Form der Aneignung der Welt war immer auch eine Manifestation ungleicher Machtverhältnisse, dessen Erbe heute Kuratorinnen und Wissenschaftlerinnen vor enorme kulturelle und moralische Konflikte stellt. Zur Lösung muss, laut Baader, vor allem die Lücke zwischen Universitäten und Museen geschlossen werden, wie dies beispielsweise durch das Kooperationsprojekt des KHI Florenz – Max-Planck-Institut mit den Staatlichen Museen zu Berlin „Connecting Art Histories in the Museum“ bereits mit dem dritten Jahrgang an Doktorandinnen und Postdoktorandinnen erfolgreich realisiert wurde.

Plädoyer für die gemeinsame Arbeit vor Ort

Anhand eines Fallbeispiel aus dem vorangegangenen Fellowprogramm „Art, Space and Mobility“, eine Kooperation zwischen der Getty Foundation und dem KHI Florenz, zeigte Baader das enge Beziehungsgeflecht auf, das zwischen Raum, Geschichte und Architektur besteht, ebenso wie neue Herangehensweisen einer „Global Art History“. Eine Exkursion führte die Gruppe von Doktorandinnen und Postdoktorandinnen in die Geisterstadt Ani, die an der stark umkämpften Grenze zwischen der Türkei und Armenien liegt. Der Bauschmuck der noch heute erhaltenen Ruinen zeugt von der wechselhaften religiösen und politischen Geschichte Anis, die im 10. Jahrhundert als Hauptstadt des muslimischen Königreichs Armenien gegründet, in Folge vom christlich-orthodoxen Georgischen Königreich wiederholt erobert und wieder verloren, bis sie schließlich 1319 durch ein Erdbeben zerstört und verlassen wurde. Beispielsweise schließen islamische Muqarnas die Zwickel an der Kirche Tigran Honents ab, in der die orthodoxe Liturgie nach gregorianischer Tradition gefeiert wurde. Die kulturellen Verflechtungen, die sich an diesem Ort verdichteten, ebenso wie das noch heute starke politische Interesse an Geschichte und Tradition dieses Ortes (der Armenischen Bevölkerung wird der Zugang zu ihrer alten Hauptstadt auf türkischem Staatsgebiet verweigert), ließen sich kaum durch eine Expertin allein erfassen. Hingegen eröffnet die Auseinandersetzung einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen mit unterschiedlichem regionalem und kulturellem Hintergrund vor Ort eine Dimensionsvielfalt, die der Komplexität des Ortes Rechnung trägt.

Eine weitere Problematik, die von Baader ebenso wie später von Elshahed angesprochen wurde, ist die Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Kunstwerken sowie von Archivalien. Der Fall des Nationalmuseums in Sarajewo mache deutlich, dass dessen Schließung auf unbestimmte Zeit und die damit entstandene Unzugänglichkeit der Objekte immer auch im Zusammenhang mit politischen Interessen steht und substantielle Auswirkungen auf das nationales Gedächtnis hat. In Anlehnung an Gayatri Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, stellte Baader abschließend fest, dass die Notwendigkeit einer ästhetischen Sensibilisierung und Bildung die Grundvoraussetzung für die Idee einer globalen Gerechtigkeit und einer internationalen Demokratie ist.

“Hybridität” als wissenschaftliche Zwangsjacke

Area Studies Tagung 2013 021Monica Juneja (Cluster of Excellence “Asia and Europe in a Global Context”, Universität Heidelberg) stellte die im Zusammenhang des „global turn“ durchaus kontroverse und – wie es scheint – an alle Konferenzteilnehmerinnen gerichtete Frage, inwieweit das Bestreben, verschiedene Regionen in einen gemeinsamen Rahmen einzupassen, mit der Gefahr verbunden ist, die Diversität dieser Regionen zu verflachen. Sie zweifelte daran, ob etablierte Begriffe des Postkolonialismus wie „blurred boundaries“, „Hybridität“, „Kreolisierung“ oder „fuzzieness“ auch heute noch erklärende Funktion haben können. Vielmehr scheinen diese in den vergangenen Jahren zu einer Art Zwangsjacke bzw. wissenschaftlichen Orthodoxie geworden zu sein. Indem sie eine Fülle von ganz unterschiedlichen Erfahrungen als kommensurabel behandeln, folgen sie der Logik einer „Herstellung von Vergleichbarkeit“. Juneja plädierte daher dafür, immer auch die Möglichkeit von Unvergleichbarkeit zuzulassen.

Dieses Problem sah Juneja besonders in Hinblick auf distinkte kulturelle Praktiken, allen voran Praktiken des Sehens und der Visualität. In vielen Kulturen ist das Sehen nicht isoliert zu verstehen, sondern als synästhetische Erfahrung stets mit anderen Sinnen verbunden, wie beispielsweise dem gleichzeitigen Betrachten eines Manuskripts und der oralen Rezitation, sodass das Hören und Sehen in einem performativen Akt miteinander korrespondieren. Ein rein europäisches Verständnis von Sehen nivelliere hingegen derartige Verhandlungsprozesse. Ein gelungenes Beispiel sich derartigen Fragen interaktiver Dynamiken und kultureller Alteritäten zu widmen, sah sie in der Forschergruppe der Freien Universität „Transkulturelle Verhandlungsräume von Kunst“ verwirklicht.

Ähnlich wie für Baader stellte auch für Juneja die Zusammenarbeit von Museen und universitären Einrichtungen eine dringende Notwendigkeit dar, um die kolonialen Voraussetzungen der heutigen Existenz von Objekten in den europäischen Museen zu unterminieren und aufzuzeigen. Wie schwer sich dieser Anspruch jedoch realisieren lässt und wie tief die historischen Klassifizierungen im europäischen Verständnis verankert sind, zeigte Juneja am Fall des Musée du quai Branly in Paris. Im Neubau wird seit 2006 die nationale Sammlung kolonialer Artefakte in einem Display präsentiert, das den Anspruch hat, die Objekte aus Afrika, Asien, Ozeanien, Süd- und Nordamerika nicht als ethnologische Funde zu behandeln, sondern sie in ihrer formalen Gestaltung als Kunstobjekte zu privilegieren. Juneja hegte jedoch begründeten Zweifel, inwieweit hier wiederum die alten kolonialen Weltanschauungen – quasi „durch die Hintertür“ – Eingang finden, indem die als „primitiv“ konnotierten Objekte erst durch die Allianz mit der modernen Abstraktion (Europas) in den Rang des Kunstwürdigen gehoben werden. In Anspielung auf das geplante Humboldtforum in Berlin, merkte Juneja ebenso kritisch an, dass der Versuch der Universalmuseen, die Welt unter einem Dach bzw. hinter einer Schlossfassade zu vereinen, dem Zweck dienen könnte, ein kosmopolitisches Image eines Nationalstaats zu kreieren.

Der Fall des Musée du quai Branly, Paris

Die dringenden Fragestellungen einer transregional ausgerichteten Kunstgeschichte waren für Juneja daher, unter welchen Aspekten der Westen die Welt in institutionellen Räumen assimiliert und was genau die Bedingungen des visuellen Displays im Sinne eines kuratorischen Framings sind. An die links neben ihr sitzende Leiterin des Ethnologischen Museums, Viola König, adressierte sie daher die durchaus ernst gemeinte Frage, wieviel historischen Kontext ein Museumsdisplay integrieren solle. Dabei kam es ihr augenscheinlich nicht darauf an, dass zwingend immer alle Geschichten erzählt werden müssen, die die Museumsobjekte während ihrer Reisen durch die ganze Welt und verschiedene Kulturen „erlebt“ haben. Viel wichtiger wäre es für Juneja, die Bedeutung dieser Reisen und Geschichten für diese Kulturen hervorzuheben.

Eine ähnliche Kritik an der gegenwärtigen Ausstellungspraxis zweier der Area Studies Tagung 2013 040renommiertesten westlichen Museen – des Louvre in Paris und des Metropolitan Museums in New York – übte eingangs auch Mohamed Elshahed, Fellow des Programms Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa und Herausgeber des „Cairo Observers“. Als selbsterklärter Modernist sei er schockiert gewesen, dass die beiden jüngst umgestalteten Abteilungen für Islamische Kunst äußerlich zwar einen neuen Anstrich bekommen hätten, aber die Displays nach wie vor denselben Narrativen folgten.

An seinem Curriculum zeigen sich einige der auf der Tagung adressierten Probleme von „Areas and Disciplines“: Elshahed hat zuerst Architektur in Kairo studiert und ist in Folge zu den Middle East Studies gewechselt, um über Architektur der 50er und 60er Jahre zu arbeiten. Er musste jedoch feststellen, dass die Area Studies zum Mittleren Osten nicht an architektonischen Fragestellungen dieses Zeitraums interessiert waren, sodass er als Nachwuchswissenschaftler stets mit dem Problem konfrontiert ist, mit seinen Fallstudien zu moderner Architektur Kairos in keines der Fächer zu „passen“. Die Geringachtung der eigenen architektonischen Hervorbringungen der 50er und 60er in Ägypten sah er nun aber darin begründet, dass im Mittleren Osten die Moderne per se als zweifach illegitim angesehen werde: Entweder sei sie dem westlichen Vorbild zu ähnlich und damit irrelevant oder aber sie versuche sich so sehr vom beherrschenden westlichen Vorbild abzusetzen, dass sie nur scheitern könne.

Wertschätzung der Moderne in Ägypten

Über die meisten seiner Forschungsgegenstände gibt es nahezu keine Informationen oder Archivalien. Viele der sich elegant mit geschwungenen oder kantigen Formen in den städtebaulichen Kontext einfügenden Villen, Bürogebäude, Strandpromenaden oder Hochhäuser existieren nicht mehr, allein ihre fotografischen schwarz/weiß-Reproduktion in alten Magazinen und Zeitschriften zeugen von ihrer früheren Existenz, in den meisten Fällen aber ohne Angaben zum Erbauungszeitpunkt, Auftraggeber oder Architekten. Elshahed muss, in Ermangelung entsprechender Archive für moderne Architektur im Mittleren Osten, Grundlagenarbeit mit der Erschließung von Ressourcen betreiben. Dabei erschien es ihm paradox, dass der Forschung über das 15. und 16. Jahrhundert sehr viel mehr Archivmaterial zur Verfügung steht als seiner Arbeit über Gebäude, die vor nicht mal 60 Jahren entstanden sind.

Die Frage von Archiven, deren Unzugänglichkeiten und geschlossenen Museen brachte ihn, wie Baader, zu der übergeordneten Frage, wie wir als Wissenschaftlerinnen generell mit dem – bisweilen kriegsbedingten – Verschwinden von visueller Evidenz umgehen sollten und welche Auswirkungen diese Dynamiken auf das gesellschaftliche Gedächtnis haben. Im Gegensatz zu Europa und Nordamerika existieren in Ägypten jedoch generell keine Nationalmuseen der Moderne oder Museen für Photographie, Film oder Architektur. Elshahed erklärte, dass die ägyptische Bevölkerung keinen Zugang zu wichtigen Momenten ihres eigenen kulturellen Erbes hat.

Im Kontext der auf dieser Tagung diskutierten Fragen der globalen Öffnung der europäischen Wissenschaften war es mehr als unglücklich, dem ägyptischen Nachwuchswissenschaftler Elshahed als einzigem Redner das Wort vor dem Ende seiner Ausführungen abzuschneiden.

Wer hat das Recht, die materielle Kultur von anderen zu besitzen und zu präsentieren?

Viola KönigDie aufgefächerte Breite der Perspektiven des Fachs Kunstgeschichte wurde mit dem Beitrag der Direktorin des Ethnologischen Museums in Berlin, Viola König, abgerundet. Zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen steht sie vor der aktuellen Herausforderung, die rund 500.000 Objekte umfassende Sammlung des Ethnologischen Museums bis 2019 in das Konzept des Humboldt-Forums zu integrieren. Dabei muss sie sich mit der kritischen Frage auseinandersetzen, die beständig an ethnographische Sammlungen gerichtet wird: Wer hat das Recht, die materielle Kultur von anderen zu besitzen und zu präsentieren? König fragte dementsprechend, wie das Berliner Museum dem Dilemma entgehen könne: entweder die altbewährte Ausstellungspraxis und damit die Formen der kolonialen Aneignung sowie europäischer Machtansprüche fortzuführen oder aber – als anderes Extrem – alle Objekte zurück zu geben und das Museum zu schließen, wie vom Soziologen Tony Bennett gefordert.

Dabei sah sie das derzeit in den Museen Dahlem installierte Künstlerlabor „Humboldt Lab Dahlem“ nicht unkritisch. Die im Lab installierte „Probebühne“ experimentiert mit neuen Formen der Ausstellungspraxis „nicht-europäischer“ Objekte, um die Möglichkeiten eines modernen ethnologischen Museums auszuloten. Auf den ersten Blick erscheint die Einbeziehung zeitgenössischer Künstlerinnen aus den Herkunftsländern der Objekte vielversprechend, um eine durch den europäischen Aneignungsprozess verlorengegangene Bedeutungsebene zurückzugewinnen und um den kulturellen Diskurs auf eine neue Ebene zu heben. Zugleich sah König jedoch die Schwierigkeiten einer dadurch entstehenden Involvierung in aktuelle politische Interessen. Die im Lab entwickelten Projekte eröffnen neue Möglichkeiten, Fragen wie die des Perspektivismus neu zu verhandeln. Jedoch stand für die Direktorin fest, dass es nicht Aufgabe zeitgenössischer Künstlerinnen und deren Installationen sein könne, den „historischen Wert“ der Museumsobjekte darzulegen. Zwar seien die Grenzen der Geschichte beweglich, aber man müsse, um die Gegenwart zu begreifen, zuerst die Vergangenheit verstehen.

Forschen und Präsentieren

In einer nicht ganz unproblematischen Verallgemeinerung forderte König, dass dementsprechend zuallererst die gemeinsame Anstrengung unternommen werden müsste, die „historischen Codes zu entschlüsseln“. Wie sie selbst als Ethnologin auf ihren vielfachen Feldstudien festgestellt habe, fänden sich die Schlüssel nicht selten auch im lebendigen Gedächtnis der Bevölkerung. Eine solche Unternehmung entspringe letztendlich einer zutiefst menschlichen Neugier, die grundlegenden Prinzipien künstlerischer und ästhetischer Praktiken zu verstehen. Ihre derart umrissene Vorstellung eines universellen, jedem Menschen auf der Welt innewohnenden Forscherdrangs sollte hinterfragt werden – zumal wenn König aus der Perspektive einer europäischen Ethnologin von einem „wir“ spricht, das die erkenntnisgetriebene Erforschung der „ursprünglichen Kulturen“ unternehmen müsse. Die von Juneja geäußerte Vorsicht hinsichtlich allgemeiner Vergleichbarkeiten im Sinne anthropologischer Grundkonstanten könnte an dieser Stelle angebracht sein.

Abschließend berichtete König von einer Kooperation mit der zeitgenössischen mexikanischen Künstlerin Mariana Castillo Deball (im Rahmen des Exzellenzclusters „Topoi“), die 2013 den Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst für eine raumgreifende Installation einer prekolumbianischen Karte von Tenōchtitlan im Hamburger Bahnhof verliehen bekommen hatte. Mit ihrer eigenen, historisch ausgerichteten Arbeit der Dekodierung dieser Karte, die von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. gesandt wurde, konnte König einen entscheidenden Beitrag leisten, die historische Weltanschauung dieser Karte zu verstehen – eine Aufgabe, die die zeitgenössische Künstlerin, laut König, nicht auch noch hätte leisten können. Es war Königs erklärtes Anliegen, eine Lanze dafür zu brechen, dass auf dem Feld transregionaler Studien nur mit der Entschlüsselung von kulturellen und historischen Coes die „wahre“ Forschung betrieben werden könne.

Disziplinäres Re-Framing oder nationale Selbstversicherung?

Trotz aller Einigkeit hinsichtlich der notwendigen Öffnung der Kunstgeschichte auf globale Fragestellungen hat das Panel „Art between History and Practice“ gezeigt, wie schwierig sich besonders die geforderte institutionelle Zusammenarbeit von akademischer Forschung und musealer Praxis gestaltet, um eigene, ganz neue Lösungen für den adäquaten Umgang mit dem kolonialen Erbe zu finden. Im Veranstaltungstext des Panels wurde ein „methodologisches re-framing“ gefordert, damit sich die Kunstgeschichte über die eigenen „Grenzen ihrer traditionellen Perspektiven“ hinwegsetzen kann. Die Lösung sollte jedoch nicht darin liegen, mit einer allgemeinen Theorie von Wechselbeziehungen eine neue Deutungshoheit über globale Prozesse zu generieren. Schwieriger erscheint im postkolonialen Kontext vielmehr eine selbstkritische Reflexion der eigenen Ziele: Vor allem die oft geäußerte Absicht, über die „eigenen“ Grenzen hinaus zu gehen und das „Andere“ zu erforschen. Denn beinhaltet nicht bereits der Akt, das „Andere“ als „anders“ bzw. als „nicht – europäisch“ zu bezeichnen, eine durch koloniales Denken bestimmte europäische Selbstversicherung und dient allem voran der Stabilisierung von Differenz?

Vergleichbare Fragen muss sich die Disziplin Kunstgeschichte im Kontext der interdisziplinär ausgerichteten Tagung „Areas and Disciplines“ stellen. Bereits im ersten, wissenschaftssoziologisch ausgerichteten Panel „Thinking Transregional Studies“ identifizierte Engseng Ho, Duke University Durham, die westliche Theorie- und Wissensproduktion generell als Resultat des Konzepts von Nation und Staat: „A powerful internal-constitutionalist sociology which has kept us thinking along national lines and has banished the external.“ Diese „mächtige Soziologie“ scheint sich im Umgang mit Artefakten in besonderer Weise niederzuschlagen: Zu- und Abschreibungen, Klärung von Besitzverhältnissen und Ansprüchen auf kritische Objekte gehören noch immer zu den Kernkompetenz der Kunstgeschichte, welche ihr anschauliches Gegenüber in der musealen Praxis der „Aus-Stellung“ staatseigener und staatsfremder Artefakte in eigens errichteten, aber getrennten Häusern hat. So wird beispielsweise das Berliner Schloss sowohl als architektonischer Neubau als auch als konzeptuelles Museum „nicht-europäischer“ Kulturen der Museumsinsel gegenüberstehen, die vorwiegend europäische Kunst beheimatet. In diesem Zusammenhang gewann Hos Aufruf, zukünftige transregional ausgerichtete Forschungen mit einer integrativen Gesellschaftsvision zu vereinbaren, eine dringende Aktualität. Der ambitionierte Ruf des Anthropologen und Historikers nach grenzüberschreitenden Konzepten wie „Mobilität“ mag im Falle kunsthistorischer Artefakte vielleicht nicht neu sein, freilich aber mit Blick auf die disziplinär-strukturellen und damit wissensgenerativen Prozesse der Kunstgeschichte selbst. Dominic Sachenmaier, Jacobs Universität Bremen, machte im selben Panel wie Ho auf das zentrale Problem der westlichen Zitations-Indices aufmerksam, die zwar im westlichen Kontext eines der wichtigen Werkzeuge zur Diskursivierung darstellen. Zugleich werden durch dieses System aber Wissenschaftlerinnen, die außerhalb dieses Systems publizieren, durch Geringbeachtung nahezu ausgeschlossen – abgesehen von den in westlichen Institutionen ansässigen „intellektuellen Migranten“.

Der von allen Teilnehmerinnen des kunsthistorischen Panels konstatierten Mobilität visueller Artefakte steht die eigene Unbeweglichkeit der auf den Westen konzentrierten Kunstgeschichte und Museen gegenüber. Zugleich hat das Panel „Art between History and Practice” aber auch gezeigt, dass sich hier und da Bewegungsversuche des recht schwerfälligen kunsthistorischen Körpers regen.

  1. Im Tagungsbericht wird das generische Femininum für allgemeine Personenbezeichnungen verwendet.

Quelle: http://trafo.hypotheses.org/1113

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Reisefreiheit für die Fantasie: Eine Ausstellung über den DDR-Comic “Mosaik”

Die Kobolde Dig, Dag und Digedag brachten Generationen von DDR-Bürgern zum Lachen – und gingen dabei manchmal an die Grenzen des Erlaubten. Eine Ausstellung in der Berliner Dependance des Bonner Hauses der Geschichte widmet sich den knollennasigen Helden des DDR-Comics Mosaik.

Die Legionäre staunten nicht schlecht. Eben haben sie die Stadtmauern Roms noch gegen Angreifer gesichert, da tauchen am antiken Himmel seltsame Vögel auf: An adlerförmigen Fallschirmen segeln abtrünnige Kämpfer des verräterischen Julius Gallus auf die Verteidiger nieder. Die fliegenden Römer, die ihren fantasievollen Angriff auf den Seiten des DDR-Comics Mosaik starteten, ärgerten nicht nur die Verteidiger Roms, sondern auch die Zensoren. Anstoß erregte die Form der Fallschirme: Der römische Adler erinnere zu sehr an das Wappentier der verfeindeten Bundesrepublik.

Wie mit Feder und Retuschier-Pinsel die gezeichneten Fallschirme kurzerhand entpolitisiert wurden, lässt sich anhand von Skizzen nachvollziehen, die in der gerade eröffneten Ausstellung „Dig, Dag und Digedag“ zu sehen sind. Die Episode gilt als Treppenwitz der DDR-Zensur. In der Geschichte der wohl populärsten Helden der Republik ist sie eher eine Ausnahme. Die zeitreisenden Knollennasenkobolde wichen nicht nur äußerlich stark von der sozialistischen Heldennorm ab. Sie waren auch weitgehend ideologiefrei, wenngleich sie gelegentlich aneckten.

Dass es sie überhaupt geben durfte, ist erstaunlich. Comics galten einst als Schmutz und Schund. In Ost wie West verbrannten Jugendschützer und Bildungskonservative die Hefte demonstrativ auf Scheiterhaufen. Galten Comics im Westen als Ursache von Jugendkriminalität und Verrohung, so sah man sie in der DDR als „Gift des Amerikanismus“ vor dem die sozialistische deutsche Jugend bewahrt werden musste. Heute füllt der „Schund“ von einst Museumsvitrinen. Eben erst zog eine Ausstellung im Berliner Tiergarten-Museum eine kritische Bilanz des im DDR-Comic vermittelten Geschichtsbildes, nun widmet sich die Berliner Dependance des Bonner Hauses der Geschichte in der Alten Schmiede der Kulturbrauerei mit 320 Original-Zeichnungen, Dokumenten, unveröffentlichten und zensierten Entwürfen den Digedags.

Das erste “Mosaik”-Heft erschien im Dezember 1955
© Tessloff-Verlag, Nürnberg

Erfunden hatte sie 1955 der Zeichner Hannes Hegen. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der 1925 geborene Sudetendeutsche Johannes Hegenbarth. Der gelernte Glasmaler hatte ein Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig abgebrochen, als er Anfang der Fünfziger begann, Karikaturen im Dienste der DDR-Propaganda zu zeichnen. Sein erfolgreichstes Projekt, die Mosaik-Hefte im FDJ-eigenen Verlag Junge Welt waren dagegen erstaunlich unpolitisch. Die drei Kobolde Dig, Dag und Digedag reisten darin durch ferne Welten und vergangene Epochen. Sie begleiteten den mittelalterlichen Ritter Runkel von Rübenstein auf Schatzsuche, trafen Piraten in der Südsee, waren in London und Paris und sogar im verfeindeten Amerika – und boten damit wenigstens der Fantasie ein Stück Reisefreiheit. Statt Comics waren allerdings „sozialistische Bildgeschichten“ gewünscht und so wichen die anfänglichen Sprechblasen bald Bildunterschriften, die mitunter gereimt daherkamen.

Das “Mosaik”-Team, 1962 (von vorn): Lona Rietschel, Horst Boche, Edith und Johannes Hegenbarth, Egon Reitzel, Manfred Kiedorf, Gisela Zimmermann, Lothar Dräger.
© Privatarchiv Lona Rietschel

Die Ausstellung zeichnet die Produktion der Hefte vom getippten Storyboard über erste Konturen bis zum Endprodukt nach. Die Bleistiftskizzen fertigte Hegenbarth meist selbst an. Doch es werden auch seine künstlerischen Partner gewürdigt, wie die spätere Ehefrau Edith Szafranski oder der österreichische Hintergrundzeichner Egon Reitzl. Charakteristisch waren die oft doppelseitigen Wimmelbilder von Gisela Zimmermann. Eine interaktive Computeranimation illustriert Vorstufen des Vierfarbdruckes, den die auf Noten spezialisierte Leipziger Traditionsdruckerei C.G. Röder besorgte. Wie erzürnte Briefe an die Abteilung Literatur und Buchwesen belegen, ärgerten die „greulichen Zeichnungen“ immer wieder die Verteidiger der Hochkultur.

Kleine Abweichungen entgingen den Zensoren, etwa eine Zeichnung des Berliner Stadtschlosses, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon längst gesprengt worden war. Ob man allerdings in eine Geschichte zur Entdeckung der Kartoffel einen kritischen Subtext zur Lebensmittelrationierung hineinlesen kann, möchte man bezweifeln – hier schießen die Ausstellungsmacher interpretatorisch etwas über das Ziel hinaus. Ebenso zweifelhaft dürfte die als Frage formulierte Wegbereiter-These sein, die suggeriert, die international erfolgreichen Asterix-Comics seien eine Nachahmung der ostdeutschen Digedags gewesen, die schon einige Jahre vor den Galliern mit Römern rauften.

Trotz Rekordauflagen von bis zu 660.000 Exemplaren pro Heft blieb die Reihe nicht nur in Zeiten von Papierknappheit Bückware. Oft waren gute Beziehungen zum Kioskverkäufer nötig. Die rare erste Nummer gilt heute als die Blaue Mauritius der DDR-Comicsammler. In Audio-Interviews berichten Fans, wie sie lernten, Papier zu restaurieren und handgefertigte Kopien in Umlauf brachten, um Lieferengpässe auszugleichen.

Das plötzliche Verschwinden der Digedags nach 223 Episoden hatte keine politischen Gründe. Nach Streitigkeiten über die personelle Ausstattung und die Zahl der Ausgaben brach Hegenbarth mit dem Verlag. Ab 1975 trieben in den Mosaik-Heften die bis heute existierenden Abrafaxe ihren Schabernack. Obwohl er sich selbst bei westlichen Vorlagen bedient hatte, strengte Hegenbarth einen Urheberrechtsprozess gegen den Verlag an, der mit einem Vergleich endete. Der Zeichner arbeitete frei weiter. Die erste Wechselausstellung im neuen Museum zum Alltag in der DDR ist daher als späte Würdigung des Zeichners zu verstehen. Sie beruht auf dem Vorlass Hegenbarths, einer Schenkung von 35 000 Objekten, die nun für die Forschung und den internationalen Leihverkehr archivalisch aufbereitet werden.

Zwar bricht die Ausstellung mit dem Klischee, der Alltag der DDR sei gänzlich ideologisch durchherrscht gewesen, doch will sie auch keine Ostalgie aufkommen lassen. Sie bietet dennoch nur das halbe Bild. Zur Geschichte des DDR-Comics gehört auch die Heftserie Atze, die von Ideologie und Propaganda nur so durchtränkt war. Dies dokumentiert die weniger aufwendig gestaltete, aber ideologiekritische Ausstellung „Atze und Mosaik“ des Literaturwissenschaftlers Thomas Kramer, die man bis zum 22. Juni im Kunstmuseum Dieselkraftwerk in Cottbus sehen konnte. Nicht alle Wege in die Comicgeschichte der DDR führen nach Rom.

“Dig, Dad, Digedag” – DDR-Comic Mosaik
Ausstellung im Museum Kulturbrauerei,
Knaackstr. 97, Berlin Prenzlauer Berg,
noch bis 3. August 2014,
Di-So 10-18,
Do 10-20 Uhr.
Eintritt frei.

 


(Dieser Text erschien zuerst im Feuilleton des Tagesspiegels vom 24. April 2014.)

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1518

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Die Spur der Steine: 1965 drohte ein Beat-Verbot im Westen

Heute kehren die Rolling Stones auf die Berliner Waldbühne zurück. Hier spielten sie vor knapp 50 Jahren ihr legendäres Konzert, das in Ausschreitungen endete und in Deutschland einen Kulturkampf um die Beat-Musik entfachte. Eine Polizeiakte verrät, wie verhärtet die Fronten damals waren.

Bis zum Abend lief alles ganz normal. Um 15.45 Uhr des 15. September 1965 war eine Maschine der Air France auf dem West-Berliner Flughafen Tegel gelandet. Unter den Passagieren befanden sich die Mitglieder der Band, die in jenen Jahren die öffentliche Meinung spaltete wie keine andere. Ihre harten R&B-Rhythmen und Liedtexte provozierten schon, bevor sie “Sympathy for the Devil” und für harte Drogen bekundeten. Die Rolling Stones waren angereist, um auf einem von der deutschen Jugendzeitschrift “Bravo” mitorganisierten Beat-Konzert aufzutreten.

Die Fahrt durch Berlin lief noch nach Plan und bis zum Abend lief auch der Zustrom von Fans zur Charlottenburger Waldbühne weitgehend ungestört. Das Motto des Konzerts lautete “Heißer geht’s nicht mehr” – im Nachhinein sollte es vielen als selbst erfüllende Prophezeiung erscheinen. Es war eines der größten Rockkonzerte, die es bis dato in Deutschland gegeben hatte, und auch die internationale Tournee war noch ein junges Format, mit dem man wenig Erfahrung hatte. Rund 21.000 Menschen befanden sich in der Freiluftbühne, vor den Toren noch weitere tausend Fans, die keine der mit 20 Mark sehr teuren Karten mehr bekommen hatten. Pünktlich traten nacheinander deutsche Vor-Bands auf, darunter die Racketts sowie Didi und die ABC-Boys. Der britische Haupt-Act war für 21.30 Uhr vorgesehen und sollte um 22 Uhr enden. Als aber vorzeitig das Licht erlosch, brach das los, was ein Kommentator später mit einem “Inferno” vergleichen sollte. Was war geschehen?

Die Antwort findet sich in einem nüchternen Leitz-Ordner mit vergilbtem Etikett, der heute in einem Stahlschrank der polizeihistorischen Sammlung am Flughafen Tempelhof steht. Verglichen mit anderen dort befindlichen Exponaten der Berliner Kriminalgeschichte, mit Fingerabdruckkarten, Projektilen und Mordwaffen, nehmen sich die 400 überwiegend maschinenschriftlichen Blätter unspektakulär aus. Doch die Funksprüche und Protokolle der “Aktion Steinschlag”, wie die Medien den Polizeieinsatz vom Herbst 1965 tauften, sind ein Stück deutscher Kulturgeschichte. Anhand dieser Akten lässt sich nicht nur minutiös nachvollziehen, was aus Perspektive der Berliner Polizei in der Waldbühne geschah, sondern auch das politische Nachbeben ablesen.

Der obenauf abgeheftete Einsatzbefehl S 1-524/65 formuliert in klarem Amtsdeutsch, was sich die Polizei vorgenommen hatte: “Durchführen der erforderlichen verkehrspolizeilichen Maßnahmen”, “Verhinderungen von Ordnungsstörungen”, “Unterbinden strafbarer Handlungen”. Prophylaktisch hatte die Polizei Greiftrupps und “starke Eingreifreserven in der Nähe der Bühne” zur Festnahme von Straftätern und Fototrupps in Zivil aufgestellt. Auch eine eigene Sammelstelle für Festnahmen in einem Polizeigefängnis wurde eingerichtet. Dass es zu solchen kommen könnte, hatten zahlreiche Zeitungsartikel nahegelegt, die das Konzert schon im Vorfeld zum Beat-Krawall hochstilisiert hatten, obwohl der letzte Großkrawall auf einem Rockkonzert Bill Haleys im Sportpalast schon sieben Jahre zurücklag. Mit allzu schweren Ausschreitungen rechnete man aber offenkundig nicht, denn als Ausrüstung waren nur “Dienstanzug, Plastikmütze, Polizeiknüppel” angeordnet worden.

Dass das nicht reichen würde, deutet sich schon gegen 21.10 Uhr an, als laut Protokoll vor der Bühne die ersten Flaschenwürfe gemeldet wurden. Schon vorher ist es vereinzelt zum “Polizeiknüppelgebrauch” durch Beamte der Reserve gegen Jugendliche gekommen, die Absperrungen überklettern wollten. Ein Jugendlicher erlitt Bisswunden durch einen Polizeihund. Als daraufhin mehrere Autos umgeworfen wurden, kam auch der Wasserwerfer zum Einsatz und größere Gruppen von Jugendlichen wurden zu den Häftlingssammelstellen transportiert. Auch die Ereignisse in der Bühne selbst sind minutiös dokumentiert. Ab 20.10 gilt die Stimmung als “angeheizt”, Feuerwerkskörper werden abgebrannt, vereinzelt fliegen Gegenstände über die Köpfe: Grasnaben, Schuhe, Flaschen. Die Ordner haben nun “Schwierigkeiten, die Bühne freizuhalten”. Um 21.31 Uhr eskaliert schließlich die Lage:

Die Absperrung vor der Bühne wird jetzt von stärkeren Gruppen durchbrochen, Polizisten knüppeln die Bühne wieder frei. Nach kurzer Unterbrechung setzen die Stones das Konzert fort, doch das Werfen mit Gegenständen und Zünden von Feuerwerkskörpern nimmt zu. Als das Konzert nach nur wenigen Songs schließlich abgebrochen wird, macht das Management einen schweren Fehler: Es lässt die grellen Scheinwerfer ausschalten, weil sich die Fans davon provoziert gefühlt hatten. Für die Dauer von 15 Minuten liegt die Arena in völliger Dunkelheit. Einige geraten in Panik. Unterdessen spricht sich herum, dass die Band nach dem nur 20-minütigen Auftritt nicht wieder auf die Bühne kommen wird. Wut greift um sich, auf die Veranstalter, auf die Stones, auf die Polizei. Hunderte versuchen, die Bühne zu stürmen. Zur Vermeidung weiterer Zerstörungen beginnt nun das, was im Polizeiprotokoll “Räumung der Waldbühne unter Anwendung des Polizeiknüppels” heißt.

Der Rundfunkreporter Matthias Walden, der auf der Presse-Tribüne dem Spektakel beiwohnt, schreibt seine Beobachtungen in der Sprache eines Kriegsberichterstatters nieder. “Ich sah das Wogen und Zucken der 20.000 in der Waldbühne, sah nicht mehr Wald, sah kaum noch Bühne”, hebt er an. “Jugendliche Leiber, bewegt wie von verschluckten Pressluftbohrern, sich selbst mit den Fäusten auf die Köpfe schlagend, blicklos aufgerissene Augen, stampfende Füße, schleudernde Arme.” Dann ertönt ein anderes Konzert, “das harte Geräusch, das beim Zertrümmern der Sitzbänke entsteht, das Jaulen und Bellen der Polizeihunde, das Johlen und Pfeifen der Masse, Hilferufe nach Sanitätern, Scherbenklirren.” Einige Sitzreihen brennen, andere sind zertreten, ein Absperrgitter wird auf die Tobenden geworfen. Räumketten der Polizei rücken gegen die Bühne vor.

Die Bilanz des Polizeiberichts addiert nüchterne Zahlen, von denen später einige nach oben korrigiert werden müssen: 89 vorläufige Festnahmen, 61 Fälle von erster Hilfe, 28 ambulant in Krankenhäusern behandelte, 26 verletzte Polizisten, von denen sechs in Krankenhäusern behandelt werden müssen, ein verletztes Polizeipferd, ein demolierter S-Bahnzug und 300.000 DM Sachschaden an der Waldbühne. Die Holzbretter der Sitzbänke sind zu achtzig Prozent beschädigt, die Holzzäune zu 90 Prozent. Der Wiederaufbau wird sich noch Jahre hinziehen, denn die Versicherung deckt nur einen Teil der Kosten.

Am Morgen des 16. Septembers liegt nicht nur die Waldbühne in Trümmern. Ernstlich beschädigt ist auch das Ansehen der noch jungen angloamerikanischen Beat-Musik – und abermals das eines Teils der deutschen Jugend. Auch die Polizei und der Veranstalter stehen in der Kritik. Der Kommandeur der Berliner Schutzpolizei fordert umgehend das Verbot von Beat-Konzerten. Nicht nur in Berlin, auch in der Bundesrepublik debattiert man nun öffentlich über Kulturverbote.

Hier weiterlesen (erschienen im Feuilleton der WAMS vom 8. Juni 2014).

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1498

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“Europäisch-amerikanische Wahrheiten sind nur partielle Wahrheiten”


Ein Plädoyer für die Überwindung alter Weltbilder in den Sozialwissenschaften

“Wie sieht die Welt eigentlich aus, wenn man sie von Bangladesch aus betrachtet?

Anders als in Berlin, so viel ist sicher.” Um Phänomene wie den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Demokratie oder das Konzept des Föderalismus weltweit vergleichen zu können, müssen SozialwissenschaftlerInnen heute mit Methoden arbeiten, die disziplinäre sowie regionale Grenzen überwinden.

In Der Tagesspiegel plädiert Andreas Mehler, Direktor für Afrika-Studien am Hamburger GIGA German Institute for Global and Area Studies, für einen Blick über den Tellerrand und eine stärkere Forcierung der Vergleichenden Regionenforschung (Comparative Area Studies), die unter anderem auch die Perspektiven und Impulse des sogenannten globalen Südens, das heißt Afrika, Südasien und Lateinamerika, miteinbezieht.

Den vollständigen Artikel lesen Sie hier.

Quelle: http://trafo.hypotheses.org/955

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Essbare Wappen II: Lebkuchen und Marzipan als Medien der Wappendarstellung

 

In dem “Hausbuch der Landauerschen Zwölfbrüderstiftung” aus dem Jahre 1520 lässt sich die Abbildung einer erstaunlichen Form von Wappendarstellungen finden (Siehe Abb. 1): Der Lebküchner Hanns Buel begutachtet hier einen frisch gebackenen Lebkuchen mit kritischem Blick. Deutlich sind auf dem Lebkuchen sowohl in seinen Händen als auch auf denen, die neben ihm auf einem Tisch liegen, Wappendarstellungen zu erkennen. Zur Herstellung dieser Lebkuchen benötige Buel zuvor wahrscheinlich einen sogenannten Model, eine Holzform mit eingekerbtem Muster, um damit Backwerk zu formen. Mit solchen Modeln konnte auch Marzipan mit verschiedensten Motiven – ob religiös oder profan – bereichert werden. Hinweise gibt es u.a. auf Abbilder von Herrschern, Allegorien, Tierfabeln und auch auf erotische Szenen.[1] Wieso Wappen auf Lebensmitteln dargestellt wurden, wer die dafür benötigten Backformen produzierte und wer sie in Auftrag gab, untersucht Ronald Salzer exemplarisch in seinem Aufsatz “Des Kaisers süße Propaganda”. Dabei stützt er sich auf einen in der niederösterreichischen Burg Grafendorf entdeckten Wappenmodel aus Keramik. Seine Untersuchung soll daher im Folgenden mit Blick auf die Verwendung heraldischer Kommunikation im Mittelalter näher vorgestellt werden. Der Wappenmodel von Grafendorf – ein Beispiel Anhand heraldischer Indizien datiert Salzer die Scheibe mit einem Durchmesser von 18 cm zwischen die Jahre 1508 und 1519. […]

 

 

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/1022

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Konkretes Abbild oder abstrakte Vorstellung? Zur Interpretation des Wappenfrieses im Festsaal des Kardinals Gaillard de La Motte in Avignon (Les fastes du cardinal Gaillard de La Motte)

Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte wurde im Jahr 1334 die Stadt Avignon zum Austragungsort einer Papstwahl, obwohl bereits 25 Jahre zuvor unter Clemens V. die päpstliche Residenz dorthin verlegt worden war. Seinem Neffen, dem ebenfalls aus Bordeaux stammenden Gaillard de La Motte wurde als Kardinal und Apostolischer Protonotar die Ehre zuteil, den erwählten Benedikt XII. im Januar 1335 zum Papst zu krönen und damit in sein Amt einzuführen. Der Kardinal besaß einen noblen Stadtwohnsitz in der Rue du Collége in Avignon, unweit des späteren Papstpalastes gelegen. Innerhalb des Stadtwohnsitzes des Kardinals Gaillard de La Motte befindet sich ein Festsaal, welcher der Zeit gemäß üppig ausgemalt ist und Vergleiche mit anderen Wandbemalungen des 14. Jahrhunderts nicht zu scheuen braucht. Die bildlichen Darstellungen des 140 m² großen Saals zeigen eine Vielzahl von wilden Tieren, von denen sich die meisten auf der Flucht befinden. Bei diesem sogenannten Jagdfries steht die Hirschhatz als Königsdisziplin der adligen Hochwildjagd für den Betrachter im Mittelpunkt. Dieses Bildprogramm wird in einem engen Zusammenhang zur Raumnutzung gesehen, indem die vorgestellten Wildtierarten zum einen konkret auf die im Festsaal dargereichten Speisen verweisen, zum anderen aber auch generell die elitären Gäste in einem standesgemäßen, repräsentativen Rahmen in Szene setzen könnten. […]

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/954

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Propaganda im mittelalterlichen Mailand – das Wappen der Visconti

Die Schlange der Visconti ist ein noch heute sehr bekanntes, in italienischen Firmenlogos weiterlebendes Wappenbild. Auf den ersten Blick scheint es gerade durch seine einzigartige Komposition leicht zu entschlüsseln. Bei einer näheren Beschäftigung zeigt sich jedoch, wie schwer eine eindeutige … Continue reading

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/788

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Essbare Wappen I: Von der Heraldik eines Festmahls

Ob an Gebäudewänden, in Büchern verschiedener Gattungen, als Blasonierungen oder plastisch an Denk- und Grabmälern, Wappen begegnen uns als medial äußerst vielseitiges Phänomen. Daher erstaunt es auf den ersten Blick kaum, dass Wappendarstellungen auch vor mittelalterlichen Festmahlen nicht Halt machten. … Continue reading

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/806

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Popgeschichte wird Sektion auf dem 50. Deutschen Historikertag 2014

Das Jahr beginnt für uns mit einer guten Nachricht: Der 50. Deutsche Historikertag, der vom 23. bis 26. September 2014 unter dem Thema “Gewinner und Verlierer” in Göttingen tagen wird, hat eine Sektion zur Popgeschichte angenommen. Hier das Konzept der Sektion:

“The Winner Takes It All”.
Popgeschichtliche Narrative des 20. Jahrhunderts zwischen Ausbeutung und Emanzipation

Vom Lastwagenfahrer zum Welt-Star, vom Punk zur Modezarin, vom Ghetto-Kid zum Plattenproduzenten: Die Popgeschichte hat viele Erfolgsgeschichten hervorgebracht. Der Star ist der geradezu emblematische Akteur einer massenkulturellen Aufmerksamkeitsökonomie des 20. Jahrhunderts, denn wo die Bestätigung einer institutionalisierten Kultur fehlt, haben Siegergeschichten legitimatorische Funktion. Als moralisches Korrektiv dienen Verlierergeschichten: vom raschen Abstieg, frühen Drogentod oder dem Niedergang ganzer Branchen, etwa der Musikindustrie. Derartige Narrative spiegeln individuelle Auffassungen vom richtigen Leben und legitimen Streben wider und konstituieren auf überindividueller Ebene gesellschaftliche und wirtschaftliche moral economies.

Die Sektion möchte nicht nur solche populären Erzählungen von Erfolg und Scheitern auf den Prüfstand stellen, sondern auch etablierte akademische Narrative. Auch den wissenschaftlichen Diskurs über die Popkultur des 20. Jahrhunderts prägen Dichotomien, in denen die Rollen von Gewinnern und Verlierern je nach Denkschule klar verteilt sind: Mal erscheinen darin Jugendliche als widerständige Opponenten gegen eine Hegemonialkultur, mal sind sie willenlose Opfer der Manipulation einer kommerzialisierten Konsumindustrie. Die Fallstudien des Panels hinterfragen solche Zuschreibungen und stellen damit ein neues Themenfeld in den Mittelpunkt, das als eines der zentralen medialen, ökonomischen und politischen Handlungsfelder des 20. Jahrhunderts mehr Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung verdient.

Anhand von Fallbeispielen werden unterschiedliche Forschungsperspektiven vorgestellt, die sich teils ergänzen, teils aber auch im Widerspruch zu einander stehen. Seinen Schwerpunkt hat das Panel in der Zeitgeschichte nach 1945, schlägt aber einen Bogen in die erste Hälfe des 20. Jahrhunderts um Brüche und Kontinuitäten mit älteren Epochen zu thematisieren, etwa in einem ersten Beitrag mit dem „Jazz Age“. Solche Kontinuitäten lassen sich anhand von Tanz-Spektakeln nachverfolgen, die im späten 20. Jahrhundert die Form massenmedial vermittelter Wettbewerbe angenommen haben.

Diese “dance circles” im Streetdance wurzeln teils ebenso wie der urbane Cakewalk um 1900 im „Black Atlantic“ und ermöglichten Formen von Öffentlichkeit, in denen neben ästhetischen auch ethische Fragen verhandelt wurden, etwa von Anpassung und Widerstand. Alles zu geben, um zu gewinnen, ist bis in die Tanz-Fernsehshows der Gegenwart ein zentrales Narrativ, in dem eine Geschichte der Moderne präsent ist, die Freiheit nicht im Projekt der Selbstverwirklichung durch Arbeit suchte: Auch im “dance circle” gibt es Wettbewerb zwischen den Tänzern, er findet aber unter anderen institutionellen Bedingungen statt. (Astrid Kusser)

Nach diesem medien- und körpergeschichtlichen Einstieg öffnet das Panel in einem zweiten Schritt das Spannungsfeld zwischen Konsumption und Produktion indem es den Siegeszug anglophoner Popmusik in Westdeutschland seit den 1960er Jahren in den Blick nimmt. Bisher wurde dieser Erfolg zumeist mit dem Bedürfnis jugendlicher Konsumenten erklärt, die als wichtigste Käuferschaft für populäre Musik nach einem Sound verlangten, der ihren gewandelten Bedürfnissen Ausdruck gab und aus den USA und Großbritanniens importiert wurde.

Gegen dieses Narrativ, das dazu tendiert, die Eigendynamik der Musikproduktion und -vermarktung auszublenden, wird mit einem produktionsorientierten Ansatz argumentiert: Verglichen mit den USA stand die westdeutsche Musikwirtschaft der drei Nachkriegsjahrzehnte in einer personellen, kognitiven und stilistischen Kontinuität, die das heimische Pop-Produkt auf die Verliererstraße brachte. Eine Trendwende zeichnete sich erst um 1980 ab, als Strukturveränderungen auf globaler wie nationaler Ebene bis dahin unerprobten deutschen Produzenten, Musikern und Repertoires Vermarktungschancen eröffneten. Das Beispiel plädiert für das Thema „Kulturproduktion“ als neues Forschungsfeld für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. (Klaus Nathaus)

Dieser Interpretation steht, drittens, eine stärker auf die Konsumenten bezogene Perspektive gegenüber. Kulturindustrielle Produkte wurden auch in einer von den Produzenten nicht intendierten Weise zu Sinn-Konstruktionen herangezogen. Dies lässt sich etwa anhand der Mitte des 20. Jahrhunderts zahlreich entstehenden Star- bzw. Fanclubs beobachten, die Hundertausende überwiegend jugendliche Mitglieder auf die Figuren ihrer jeweiligen Stars einschworen, deren erfolgreiche Karrieren ihnen als Vorbild dienten.

Gegen diese organisierten Formierungen des Generationengeschmacks regte sich Protest von links und rechts über die „falschen Vorbilder“ – ein Narrativ, das teils auch den akademischen Diskurs prägt. Dabei wird zumeist die aktive kulturpolitische Rolle von Fan-Clubs übersehen: In Nachfolge bürgerlicher Geschmacksgemeinschaften des 19. Jahrhunderts (Wagner-Gesellschaften, Kunst- und Museumsvereine) betrieben organisierte Schlager- und Pop-Fans den Übergang von imagined zu organized communities und setzten zunehmend erfolgreich ihren Anspruch auf Repräsentation in der Medienöffentlichkeit durch. Dabei bildeten sie eigenen kulturellen Praxen im Sinne jenes „listenreichen“ Umgangs mit den Produkten (de Certeau) heraus, der einen „aktiven“ Konsum kennzeichnet, und trugen so zur Formierung einer zunehmend pluralistischen Popkultur bei. (Bodo Mrozek)

Mit deren Ausbreitung und Etablierung wandelten sich – viertens – auch biographische Entwürfe. Anhand der Erzählungen von (Auto-)Biographien in den Kategorien von Verlierern und Gewinnern lässt sich der Wandel in zeitgenössischen und retrospektiven Selbst- und Fremddeutungen der 1970er und 1980er Jahre thematisieren. Lange Zeit wurden vor allem negative Folgen von deviantem Verhalten beschrieben: soziales Außenseitertum, Abdriften in Kriminalität und Sucht, Versagen und Scheitern in einem Lebensabschnitt, in dem Bildung und Ausbildung sowie die Gewöhnung an Verantwortung und Pflichterfüllung im Vordergrund stehen sollten.

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gewinnt ein anderes Narrativ an Bedeutung, das die „Verschwendung der Jugend“ als ein Gelingen interpretiert. Jugendkulturelle Lebensentwürfe renitenter Punks oder hedonistischer Beatniks, deren Wurzeln sich bis in die Romantik zurückverfolgen lassen, werden als erfülltes, weil intensiv und kompromisslos subjektiv gelebtes Leben interpretiert: Diese affirmativen (Selbst-)Beschreibungen der Popkultur als befreiend, individualisierend oder widerständig bedürfen der Historisierung und rücken die für die Popgeschichtsschreibung originäre Quellengattung der Selbstzeugnisse in den Mittelpunkt. (Alexa Geisthövel)

Mit diesen vier unterschiedlichen Fallbeispielen will das Panel Popgeschichte als ein breites Set von Methoden und Problemen vorstellen. Dabei wird weder für einen neuen „Turn“ plädiert, noch ein radikaler Bruch mit bewährten Methoden behauptet. Vielmehr geht es um den Ausblick auf ein junges Forschungsfeld, das inhaltlich zu etablierten Bereichen der Wirtschafts-, Protest- oder Konsumgeschichte anschlussfähig ist, aber neue Quellen erschließt und andere Forschungsperspektiven einnimmt. Die Sektion will somit den Gewinn popgeschichtlicher Ansätze und Fragestellungen für die Historiographie des 20. Jahrhunderts aufzeigen.

Liste der ReferentInnen und vorläufige Referatstitel:

1. Prof. Dr. Detlef Siegfried (Universität Kopenhagen):
Popgeschichte: Probleme und Perspektiven“ (Einleitung)

2. Dr. Astrid Kusser (Universidade Federal Rio de Janeiro):
“Dance Craze, dance circle. Wettbewerb in medialen Tanzspektakeln um 1900 und um 1980“

3. Dr. Klaus Nathaus (University of Edinburgh):
“Erfolgswege und Sackgassen: Pfadabhängigkeit als Erklärung für die anglo-amerikanische Dominanz der Popmusik in (West-)Deutschland 1900-1980“

4. Bodo Mrozek, M.A. (Freie Universität Berlin / ZZF Potsdam):
„Losers united: Fan-Clubs als Geschmacks-Avantgarden von den 1950er bis in die 1980er Jahre“

5. Dr. Alexa Geisthövel (Medizinhistorisches Institut der Charité, Berlin):
„Gelebtes Leben: Wie verschwendete Jugend wertvoll wurde“

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/1134

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Konrad Grünenberg IV: Konstanz, Rosgartenmuseum Hs 1971/54, die Zweite

In diesem Beitrag soll die Konstanzer Handschrift, die Christof Rolker kurz beschrieben hat, genauer vorgestellt werden. Die heute im Rosgartenmuseum (Konstanz) befindliche Abschrift von Grünenbergs Wappenbuch ist wohl Mitte/Ende des 16. oder Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden. Sie wurde um … Continue reading

Quelle: http://heraldica.hypotheses.org/678

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