ViFa Geschichte Nr. 07 (2012): Zeitgeschichte-online. Themenportal für die Zeitgeschichte im Internet

http://www.zeitgeschichte-online.de Nach Art einer breit aufgestellten “Virtuellen Fachbibliothek Zeitgeschichte” bietet Zeitgeschichte-online (ZOL) einen Einstieg in zeithistorisch relevante Internetressourcen sowie eigene Inhalte mit zeitgeschichtlichem Bezug. Das Portal gliedert sich in Bereiche mit eigenen redaktionellen Inhalten (Themen, Film, Austellungen) und auf den Daten von Clio-Online aufbauenden Verzeichnisdiensten (Institutionen, Personen, Projekte, Texte/Quellen, Portale/Kataloge). ZOL angegliedert ist das crossmediale [...]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/07/3076/

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Einblicke in die Strafvollzugsgeschichte

So lange es Verbrechen gibt, so lange gibt es auch Gefängnisse. Weit gefehlt! Das Gefängniswesen so wie wir es in unserer heutigen Zeit kennen, ist relativ neu. Gewisse Ansätze des Gefängniswesens sind zwar schon in der Antike bekannt: Zum Beispiel wird in der Bibel von mehreren Gefängnissaufenthalten von Paulus gesprochen, jedoch waren das keine Freiheitsstrafen, die vom Staat vollzogen wurden. Solche Haftaufenthalte dienten vielmehr zur Aufbewahrung des Täters bis zur Aburteilung oder Hinrichtung.1

Auch im Mittelalter wurden keine Freiheitsstrafen durchgesetzt, denn das Strafsystem sah ausschließlich sogenannte Leib- und Lebensstrafen (Prügel- und Todesstrafe) vor. Auch den heutigen Grundgedanken der Besserung und Wiedereingliederung von Straftätern gab es nicht. Zwar gab es Gefängnisse in Klöstern, aber  auch diese dienten keiner Besserung, sondern allein der Sanktion durch Umkehr und Buße von Nonnen und Mönchen. Weiterhin dienten andere Gefängnisse allein zu Folter- oder Hinrichtungszwecken.

Erst im späten 16. Jahrhundert entstanden in vielen europäischen Ländern Arbeits- und Zuchthäuser, in denen unter anderem Bettler und Landstreicher eingesperrt wurden. Eines der ersten und „modernen“ Zuchthäuser war das Amsterdamer Tuchthuis von 1596, welches das Gefängniswesen revolutionierte. Hier traf zum ersten Mal die Besserung der Straftäter in den Vordergrund und verdrängte den Vergeltungsgedanken.2Durch harte Arbeit sollten die Gefangenen an ein anständiges Leben in Freiheit gewöhnt werden. Des Weiteren erteilte man den Gefangenen Unterricht um ihre Chancen auf ein späteres gesellschaftlich-angesehenes Leben zu erhöhen. Die Ursache für diese Entwicklung „war im Wesentlichen die soziale, religiöse und  wirtschaftliche Situation. Die stetig wachsende Kleinkriminalität konnte nicht mehr nur durch die Vollstreckung von Leibesstrafen begegnet werden – gefordert war eine andere Reaktionsform“3.

Um 1790 entstand in den Vereinigten Staaten ein neues Gefängnissystem: Das Pennsylvanisches System oder auch „Separate System“ genannt. Dies bedeutete für alle Insassen strenge Einzelhaft, ohne Möglichkeit zu arbeiten. Es wurde daraufhin auch das „solitary-system“ genannt.4 Jeder Häftling war komplett abgeschottet und getrennt von anderen Insassen. (Architektonisch stand dieses Modell konträr zum Modell des Panoptikums, bei dem der Wärter aus der Mitte des kreisförmigen Gefängnisbaus Augenkontakt zu jedem der Häftlinge hatte, weil die Zellen sich im Kreis um den Wärterposten formierten). Weiterhin hatten im Pennsylvanischem System  die einzelnen Insassen nur Kontakt zu den Wärtern, mit denen es jedoch verboten war zu reden. Insgesamt hatten die Insassen immer zu schweigen. Die Wärter kannten auch weder die Namen noch die verübten Straftaten der Insassen. In den Zellen gab es jeweils nur die Bibel zu lesen (andere Bücher waren verboten). So sollte den Insassen zur inneren Einkehr geholfen werden. Allerdings wurde damit oftmals das Gegenteil erreicht: Viele Insassen wurden apathisch und psychisch krank und versuchten Suizid zu verüben. Dieses System wurde später von ca. 300 anderen Gefängnissen weltweit nachgeahmt, jedoch musste es im Laufe der Jahre modifiziert werden, da es dem Staat zu teuer wurde Insassen in Einzelhaft ihre Strafe abbüßen zu lassen.

Eine Modifizierung dessen ist das sogenannte „Auburn System“: Es folgte eine gemeinsam verrichtete Arbeit mit Schweigegebot,5  bei sonstiger Isolation. Diese Methode wurde auch das „silent system“6 genannt. Nicht die Stille und die Einsamkeit sollen den Straftäter zur Einkehr bewegen, sondern die schwere Arbeit.  Zwei weitere Merkmale des Systems waren die einheitlichen Uniformen, die jeder Häftling tragen musste und der „Lockstep“, das bedeutet, dass die Füße der Häftlinge mit seinen vorderen und hinteren Nachbarn verbunden wurden und sie sich nur im Gleichschritt fortbewegen konnten.

Doch auch dieses System wurde als unmenschlich angesehen und zum Ende des 19. Jahrhunderts in den USA fast vollständig abgeschafft. Eine neue Art des Gefängniswesens brachte der „Stufenstrafvollzug“ oder auch „Englisches Progressivprogramm“ genannt. Dieser sah drei Stufen für den Häftling vor. Als erstes neun Monate Einzelhaft mit harter Arbeit, aber auch Unterricht und Zuspruch. Bei guter Führung kam der Häftling in die Gemeinschaftshaft, auch dort musste er weiterhin Arbeit verrichten. Zudem konnte er durch ein „Mark-System“ sich weitere Marken verdienen oder sie wurden ihm bei schlechtem Benehmen entzogen, das heißt dass er auch wieder in die unterste Stufe degradiert werden konnte. Die dritte Stufe sah eine frühzeitige Entlassung vor. In Deutschland wurde der Stufenstrafvollzug aufgrund der Machtübernahme Hitlers nicht mehr eingeführt.7

Heutzutage wird in den meisten westlichen Ländern der „Individualvollzug“ durchgeführt, der im Gegensatz zum Stufenmodell noch variabler ist und auf jeden einzelnen Gefangenen genau abgezielt werden kann, zumindest in der Theorie.

Was aus der sogenannten früheren Zeit der Strafvollzugsgeschichte geblieben ist, ist die Tatsache, dass das Gefängnis auch heute noch als Hinrichtungsort dient.

Insgesamt erkennt man die sich ständig veränderte Funktion des Gefängnisses. Zunächst als Ort der Verwahrung vor der Verhandlung oder Hinrichtung entwickelte sie sich zum zentralen Strafinstrument. Dies geschah oftmals aus gesellschaftlichen und ökonomischen Gründen. Erst relativ spät setzte die Entwicklung hin zum Resozialisierungsvollzug ein. Auch heute noch wird die Institution Strafvollzug modernisiert und entwickelt. In Deutschland wurde 2007 in Hessen das erste Gefängnis (teil-)privatisiert8. Was in den Vereinigten Staaten völlig normal scheint, ist in Deutschland umstritten. Natürlich wirft diese Entwicklung der Privatisierung von Gefängnissen viele Fragen auf. Allen voran jedoch die Frage danach inwieweit dadurch der Grundgedanke der Besserung und Wiedereingliederung für die Produktivität und Effizienz der Gefängnisanstalten aufgehoben werden soll?

Exkurs: Eine Welt ohne Gefängnisse?

Aktuell gibt es auch einige Befürworter der Abschaffung der Gefängnisse.  In der Sozialkriminologie nennt man diesen theoretischen Ansatz Abolitionismus (lat. für Abschaffung). Damit ist der absolute Verzicht auf Gefängnisse und totale Institutionen gemeint. Des Weiteren wird auch die Abschaffung des Strafrechts gefordert. Zu ihren bedeutendsten Vertretern gehören u.a der deutsche Kriminologe Sebastian Scheerer sowie der niederländische Soziologe Louk Hulsman.

Als totale Institution definiert Erving Goffman eine Anstalt in der alle Lebensäußerungen eines Menschen von außen geregelt und zu kontrolliert werden. Als Beispiel nennt er dabei Klöster oder eben Gefängnisse.

Der Mensch wird in der Institution für eine bestimmte Zeit isoliert und muss somit mit seiner früheren sozialen Rolle brechen.

Eine Totale Institution weist nach Goffman folgende Merkmale auf9:

  • Eine Totale Institutionen umfasst das ganze Leben des sozialen Akteurs. Das bedeutet, dass das Leben aller Mitglieder ausschließlich an einem Ort stattfindet und ist einer einzigen zentralen Autorität unterworfen ist.
  • Alle Mitglieder der Institution führen ihre alltägliche Arbeit mit anderen Schicksalsgefährten aus.
  • Alle Tätigkeiten und sonstigen Lebensäußerungen sind exakt geplant und vorgeschrieben.
  • Die verschiedenen Tätigkeiten und Lebensäußerungen werden beobachtet und überwacht dienen dazu offizielle Ziele der Institution zu erreichen.

Weitere Kritiker sind natürlich Michel Foucault mit seinem Werk „Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses.“ Hierbei wird in Gefängnissen durch Wärter (am effektivsten durch die Organisation wie im Panoptikum10) Wissen produziert , welches als Machtinstrumentarium gegen den Gefangenen angewendet werden kann. Das Panoptikum in dem der Wärter jeden Gefangenen immer und von überall überwachen und beobachten kann, kann laut Foucault auch auf weitere, aktuellere Gesellschaftsformen angewendet werden. Genau diese subtilen Machtmechanismen sind eine Bedrohung für andere Gesellschaftsformen, wie zum Beispiel die Disziplinargesellschaft11.

Auch der französische Soziologe  Loïc Wacquant steht dem Gefängniswesen kritisch gegenüber. Laut Wacquant werden (vornehmlich in US-Gefängnissen) keine Kriminellen eingeschlossen, um zu verwahren und Gerechtigkeit zu erlangen, sondern aus vollkommen anderen Gründen:

„Wir müssen daher die Funktionen des Gefängnisses in den Blick nehmen, die mit Bestrafen und Kontrolle von Kriminalität nichts zu tun haben. Das Gefängnis dient nicht dazu, Verbrechen zu bekämpfen, sondern dazu, die Armen zu regulieren, soziale Unruhen einzudämmen und diejenigen zu verwahren, die durch die neue gesellschaftliche Arbeitsteilung, den technologischen Wandel und die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse überflüssig gemacht worden sind. Darüber hinaus hat das Gefängnis den Nutzen, die Souveränität und Autorität des Staates zur Schau zu stellen“12.

 

 

Weitere interessante Literatur unter:

http://www.falk-bretschneider.eu/biblio/biblio-index.htm

 

Empfohlene Zitierweise: Goździelewska, Agnieszka (2012): Einblicke in die Strafvollzugsgeschichte. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Rössner, Dieter: Geschichte des Strafvollzugs, Vorlesung Strafvollzug – Sommersemester 2008 am Institut für Kriminalwissenschaften der Philipps-Universität Marburg, S. 1. http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/strafrecht/roessner/roessner_vermat/roessner_archiv/ss08-0110400064vl/strafv_mat02 (Abrufdatum: 12.07.2012)
  2. Weitere Informationen unter: http://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/djsg/ajv/dienstleistungen/JVASennhof/Geschichtliches/Seiten/EntwicklungimStrafvollzug.aspx (Abrufdatum: 11.07.2012).
  3. Rössner, Dieter: Geschichte des Strafvollzugs, Vorlesung Strafvollzug – Sommersemester 2008 am Institut für Kriminalwissenschaften der Philipps-Universität Marburg, S. 2. http://www.uni-marburg.de/fb01/lehrstuehle/strafrecht/roessner/roessner_vermat/roessner_archiv/ss08-0110400064vl/strafv_mat02 (Abrufdatum: 12.07.2012).
  4. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 55.
  5. Anm.: Dem Separate System wurde immer angekreidet, dass es zu einfach wäre in Einzelhaft zu schweigen. In Gruppen sei dies logischerweise schwieriger.
  6. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 55.
  7. Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, Springer-Verlag Berlin 2011, S. 56f.
  8. Reißman, Oliver: Die ziehen die Schrauben ganz schön an, Artikel vom 31.01.2007, Spiegel-Online unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/private-gefaengnisse-die-ziehen-die-schrauben-ganz-schoen-an-a-463009.html (Abrufdatum: 11.07.2012).
  9. Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, S. 15f.
  10. Siehe dazu:  Bentham, Jeremy: Panopticon; Or, The Inspection-House: London 1791.
  11. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994, S. 39 ff.
  12. Zitiert aus Heigl, Richard: Geschichte des Gefängnisses: Eine Bibliographie und eine aktuelle Diskussion, vom 31.10.2009 http://kritischegeschichte.wordpress.com/2009/10/31/geschichte-des-gefangnisses-eine-bibliographie/ (Abrufdatum: 12.07.2012).

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/07/einblicke-in-die-strafvollzugsgeschichte/

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Pop als Zeitgeschichte


Der Pop ist tot – es lebe die Popgeschichte, so könnte eine voreilige Antwort auf die Frage lauten, ob der Pop nicht mehr Aufmerksamkeit als Gegenstand der zeithistorischen Forschung verdient hätte. Kaum hat man dieses Motto aus dem Feuilleton ausgesprochen, wird jedoch klar, dass es ein bequemes Klischee bedient. Die Popkultur ist bereits des Öfteren für tot erklärt worden. Als Indiz für den behaupteten Verfall dient dabei die Beobachtung, dass sich Pop nicht mehr als eine sichtbare Gegenwartskultur identifizieren lasse, die im sprichwörtlichen Sinne die Massen bewege. Beklagt werden die durch das Internet zusätzlich ausdifferenzierten und fragmentierten Öffentlichkeiten und Szenen, die sich nicht mehr wie in den „guten alten Tagen“ zu politisch relevanten Generationsrevolten aufschaukeln. Hinzu kommt dann noch das Staunen über die ewigen Retrowellen, jene von Simon Reynolds sezierte Besessenheit der Popkultur von ihrer eigenen Geschichte: „We live in a Pop age gone loco for retro and crazy for commemoration.“

Da hat man noch nicht zu Ende gedacht, wie man die 14 CDs der „Original Recording Remastered Edition“ von Pink Floyd im Discovery Boxset mit der eigenen begrenzten Lebenszeit in Einklang bringt, da folgen schon Nirvana mit der künstlich aufgeblähten „Nevermind“, Brian Wilson mit auch noch dem letzten Studiorauschen der Sessions seines grandios gescheiterten „Smile“-Projekts, die ewigen Weltverbesserer von U2 mit 20 Jahren „Achtung Baby“ oder The Who mit 40 Jahren „Quadrophenia“: Man kann getrost den ausgewaschenen Fishtail Parka mit dem Target Patch aus dem Schrank holen. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Auch im aktuellen Popgeschäft dominieren Souldiven im Retrostyle und vergangenheitsverliebte Stilsymbiosen wie etwa jüngst Lana Del Rey, die gekonnt ihre Reminiszenzen an Nancy Sinatra und den Look von Hollywood mit einer Portion Gangsta Rap mixt.

Die Historiker können dieses Geschehen mit Gelassenheit beobachten. Dass die Popkultur ihre eigene Geschichte in immer höheren Dosen inhaliert, erleichtert ihnen vielleicht das Geschäft. Die Vermarktung der Vergangenheit des Pop bringt neben viel Erinnerungskitsch manch interessante Quelle hervor. Sicher ist die Frage, ob die Ära der Popkultur zu Ende geht, nicht völlig abwegig. Die Digitalisierung scheint zumindest einen Bruch zu markieren, der alte Modelle der Distribution radikal in Frage stellt und den Tod der Musikindustrie in ihrer bisherigen Form in den Bereich des Wahrscheinlichen rückt. Bis die Popgeschichtsschreibung sich aber an Erklärungen für das vermeintliche Ende machen sollte, sind noch viele andere Fragen zu beantworten.

Es wäre auch übertrieben, bereits von einer Konjunktur der zeithistorischen Popforschung oder gar ihrem Siegeszug zu reden. Im Gegenteil. Im Vergleich zur Blüte anderer Forschungsfelder der Zeitgeschichte fällt auf, welches Nischendasein die Popgeschichte noch immer führt. Insofern geht es zunächst um etwas ganz Elementares: die zahlreicher werdenden Pioniere der Pophistory zusammenzubringen, einen Gesprächs- und Verständigungsraum über die theoretischen und methodischen Grundlagen des eigenen Tuns zu schaffen und die Forschungsrichtung auf Dauer und Geltung zu stellen. In diesem Sinne wurde mit der vom ZZF gemeinsam mit dem Arbeitskreis Popgeschichte vom 3. bis 5. November 2011 im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz veranstalteten Tagung „PopHistory. Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären“ ein Forum zu einer ersten Bestandsaufnahme und Vernetzung verschiedener Ansätze geschaffen.

Dabei zeigte sich: Die Zeichen stehen insgesamt nicht schlecht. Diejenigen, die über Pop forschen, bringen eigene Sozialisationserfahrungen ein und können letztere als Resonanzboden voraussetzen. Was schon für die Nachkriegszeit und die umbruchslangen 1960er-Jahre gilt, trifft erst recht zu, wenn die „Wanderdüne“ Zeitgeschichte nun die 1970er, 1980er und 1990er Jahre erreicht: Ohne Popkultur geht da gar nichts mehr. Es gibt inzwischen keine Tabus bei den Themen, und das Verständnis von Pop hat sich deutlich geweitet. Die Zeiten sind gottlob vorbei, wo bestenfalls die Abenteuergeschichten von Rock ´n´ Roll und politischer Revolte oder der hochkulturfähige Jazz die Weihen von ernstzunehmenden Themen erfuhren. Inzwischen ist es schick, über Punk, Disco, Mode und die ganzen anderen habituellen und performativen Welten der Popkultur und deren Wandel zu forschen.

Bodo Mrozek hat in einem Beitrag für „Spiegel Online“ darauf verwiesen, dass die alten Gegensätze zwischen elitärer Hochkultur und Massenunterhaltung für die unteren Schichten schon seit längerem aufgeweicht sind, nicht zuletzt durch die Beschäftigung von Vordenkern wie Greil Marcus, Jon Savage oder Diedrich Diederichsen mit der Popkultur. Plattensammeln und Fanwissen hätten ein ähnliches Prestige erlangt wie vormals die Klavierstunde oder der Museumsbesuch. Am Pop könne man „den kulturellen Wandel ablesen – etwa die Liberalisierung und Nivellierung traditioneller Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten“.[1]. Aus dieser Perspektive öffnet sich ein breites Terrain für eine zeithistorische Forschung, die solche überholten kulturellen Dichotomien hinter sich lässt.

Aus der Feststellung, dass es nicht mehr ohne den Pop geht, wenn man den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts untersuchen will, sollte man jedoch keine falschen Schlüsse ziehen. Den Pop in den Rang einer neuen Meistererzählung zu erheben wäre falsch. Vielmehr geht es darum, dass die neu gewonnene Forschungsperspektive in andere Bereiche der Zeitgeschichte diffundiert. Dies gilt natürlich auch in die umgekehrte Richtung. Blickt man auf die wachsende Zahl der popgeschichtlichen Arbeiten und Projekte, so werden diese Transfers sichtbar: Geforscht und publiziert wird über Pop und Politik, Pop und Konsum, über Popgenerationen, Pop und Dekolonisierung, Pop und Medien, Pop im Kommunismus oder über Pop und Subjektivierungsprozesse.

Um die Popkultur zu historisieren, müssen eigene Begriffe, Konzepte und methodische Zugänge gefunden werden. Dabei gilt es, zur Kenntnis zu nehmen, was in den Nachbardisziplinen an theoretischen Zugängen bereits erarbeitet wurde, etwa in der Ästhetik oder der Kritik. Hier hat die Geschichte definitiv Nachholbedarf. Konsequente Historisierung heißt aber auch, dass die In- und Exklusionen der popintellektuellen Agenda-Setter zur Frage, was Pop ist oder zu sein hat, wie auch die damit verbundenen Diskursrituale selbst zum historischen Quellenmaterial werden. Der Satz von Benjamin von Stuckrad-Barre, Pop sei für ihn, „dass es wahnsinnig darauf ankommt, wann hört man das, von wem hört man das und wie sieht denn der Typ aus, der das sagt“, wäre im Sinne einer intellectual history des Pop zu historisieren.

Das ist für diejenigen, die plötzlich zum Forschungsgegenstand werden, gewöhnungsbedürftig – das wissen wir schon aus der Begegnung einer gegenwartsnäheren Zeitgeschichte mit den Diagnosen der Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Für die Pophistorikerinnen und Pophistoriker auf der anderen Seite bedeutet dies, nicht den Fehler zu machen, jene feinen Unterschiede, die der Pop als intellektuelle Strömung mit seiner „sophistication“ (Nadja Geer) postuliert hat, unreflektiert bei der Wahl der eigenen Forschungsgegenstände zu übernehmen. Berührungsängste gegenüber dem Mainstream, dem allzu Kommerziellen oder dem Banalen im Pop sind aus einer historiographischen Perspektive unangebracht.

Darüber, wie der Pop zeitlich zu verorten ist und welche Phänomene darunter zu fassen sind, gib es unterschiedliche Positionen. Da wird dann auch schon mal Mozart zum Pop erklärt und das Phänomen weit in die Geschichte zurückprojiziert. Eine zweifache Eingrenzung erscheint jedoch sinnvoll. Erstens sollte zwischen Pop und populärer Kultur unterschieden werden. Letztere wäre das aus historiographischer Perspektive breiter zu fassende Gebiet. Pop als Forschungsfeld hingegen sollte zunächst enger gefasst werden. Hier kann man sich an einem Verständnis orientieren, das Diedrich Diederichsen und andere entwickelt haben. Es zielt im Kern auf eine spezifische Form der elektroakustischen Musikproduktion, ihre Performanz und Verbreitung über die modernen Massenmedien und ist nicht normativ angelegt. Pop wäre demnach über spezifische Bedingungen seiner Produktion und Reproduktion sowie über seine performativen und habituellen Dimensionen zu fassen. Hinzu käme die Verschmelzung des Pop als Praxis mit den Diskursen über das Phänomen.

Daraus ergibt sich, zweitens, eine zeitliche Verortung des Pop, die seine Anfänge in den 1950er Jahren und seine Blütezeit im Kontext der Entwicklung der westlichen und zeitversetzt auch der östlichen Gesellschaften zu modernen Konsum- und Freizeitgesellschaften und einer fortschreitenden Medialisierung sieht. Pop könnte so als ein Phänomen untersucht werden, das die gesellschaftlichen Krisen- und Transformationsprozesse der Zeit „nach dem Boom“ begleitet. Auch dies ließe sich angesichts der kulturellen Transferprozesse in einer Ost und West verklammernden Perspektive untersuchen. Dabei wäre auch zu fragen, welche Rolle der Pop für die Erosion der inneren Bindungskräfte der staatssozialistischen Gesellschaften und für den Umbruch von 1989 gespielt hat.

Neben der Gretchenfrage, was wir eigentlich unter Pop in einer historischen Perspektive verstehen und wie er zeitlich zu verorten wäre, gibt es noch einige praktische Probleme für die pophistorische Forschung. Damit sich Zeitzeugenschaft und Historiographie nicht gegenseitig im Wege stehen, müssen diejenigen, die auf dem Gebiet der Popgeschichte arbeiten, ihre eigenen Sozialisationserfahrungen mit Pop kritisch als vorwissenschaftliche Prägungen reflektieren, um sie nicht unter der Hand zum Maßstab für die historische Betrachtung zu machen. Sonst könnte die begrüßenswerte Affinität zum methodischen Problem werden.

Eine Popgeschichte sollte auch technisch informiert sein und sich mit den sich wandelnden Medien der Produktion, Reproduktion und des massenhaften Konsums von Pop beschäftigen. Was bedeuteten etwa das Kofferradio, die Möglichkeit populäre Musiksendungen auf Tonband aufzunehmen, die Mobilität des von Sony eingeführten Walkmen, die erschwingliche Hi-Fi-Anlage im Wohnzimmer oder der Vormarsch von Musikkassette und CD für den Wandel von Kulturtechniken und die Diffusion des Pop in alle Lebensbereiche?

Nachzudenken wäre ferner darüber, wie wichtige Quellen der Popgeschichte dauerhaft gesichert und wie die Archive dafür sensibilisiert werden könnten. Oft sind es private Sammler oder Vereine, die sich um die Erhaltung popkultureller Überlieferungen bemühen, und die bedürfen der Unterstützung. In diesem Zusammenhang wäre auch über Mindeststandards für die Präsentation insbesondere der audiovisuellen Zeugnisse der Popgeschichte in Vorträgen und Publikationen zu reden: Wie zitiert man Schallplatten, und mit welchen Kontextinformationen sollte ein Videoclip versehen sein? Hinzu kommen die Fragen des Urheberrechts und der ganze Komplex der Digitalisierung bis hin zur Frage nach der Zukunft des Pop im Zeitalter des Internet.

All dies sind Aspekte, die bei der wünschenswerten Konjunktur pophistorischer Forschungen mitgedacht werden sollten. Die damit verbundenen Schwierigkeiten werden jedoch den Trend nicht stoppen können. Im Gegenteil. Die Popgeschichte wird auf absehbare Zeit einen festen Platz im Arsenal der Zeitgeschichte erobern. Darauf darf man in jeder Hinsicht gespannt sein.

Cover des ZZF-Jahresberichts 2011

Dieser Beitrag resümiert grundlegende Überlegungen der Tagung “PopHistory – Perspektiven einer Zeitgeschichte des Populären“  des Arbeitskreises Popgeschichte und des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) im November 2011. Er basiert wurde im soeben erschienenen Jahresbericht 2011 des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) abgedruckt.

[1] Vgl. Bodo Mrozek, Neuer Trend in der Geschichtswissenschaft. Verschwindet Pop in den Archiven?“ – Artikel auf Spiegel.de, erschienen am 12. September 2011 (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,783978,00.html).

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/227

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Schmerzhafte Geburt der Popkultur: Vor 50 Jahren brachen die “Schwabinger Krawalle” aus

  Eine Rekonstruktion von Bodo Mrozek Das Wort Krawall leitet sich aus dem mittellateinischen “charavallium” her und bezeichnete ursprünglich eine “Katzenmusik”, eine durch Lärm vorgetragene studentische Unmutsäußerung aus vormoderner Zeit. Bei den Schwabinger Krawallen handelte es sich weder um einen Studentenulk noch um ein bajuwarisches Volksvergnügen. Das “rätselhafte Ereignis” markiert vielmehr die Reibungskonflikte im Übergang vom autoritären Obrigkeitsstaat zur liberalen Massengesellschaft westlicher Prägung. Sie begannen aus heiterem Himmel. Niemand hatte sie heraufziehen sehen. Und doch sollten diese fünf Tage im Juni das Verhältnis zwischen Ordnungskräften und Bürgerschaft tief greifend verändern. Die “Schwabinger Krawalle”, die heute vor fünfzig Jahren in München ausbrachen, gelten als rätselhaftes Ereignis, das sich lange Zeit der Deutung sperrte. Mal wurden sie als “halbstarke Zerstörungswut” heruntergespielt, mal zum heimlichen Beginn der Studentenproteste hochpolitisiert. Tatsächlich waren sie Ausdruck eines tief greifenden Kulturbruchs. Um ihn zu verstehen, muss man sich ins München des Jahres 1962 begeben. Der 21. Juni ist ein ungewöhnlich heißer Sommerabend. Mit hochgekrempelten Ärmeln sitzen die Münchner vor ihren Biergläsern. Die Straßencafés sind bis auf den letzten Klappstuhl besetzt. Im Englischen Garten singen ein paar Jugendliche zur Klampfe: russische Volkslieder. Als eine Polizeistreife die Musikanten vertreibt, ahnt noch niemand die Konsequenzen. Die Jugendlichen setzen ihr Spiel am Monopteros fort. Als abermals Polizei anrückt und die Musiker diesmal festnehmen will, regt sich spontaner Widerstand unter den etwa vierzig Zuhörern. Es kommt zu Wortgefechten, dann zu Rangeleien. Die Beamten werden als “Verbrecher in Uniform” und “Vopos in Blau” beschimpft, und auch der Abtransport der gefangenen Ruhestörer gestaltet sich schwierig, da dem Streifenwagen plötzlich ein Ventil fehlt. Als Verstärkung eintrifft, sind die paar Dutzend Musikfreunde bereits auf eine bedrohliche Menge von 400 Protestierern angewachsen. Über das, was danach geschieht, gehen die Interpretationen auseinander. Einigkeit herrscht unter den Zeugen jedoch darüber, dass die Polizisten ungewöhnlich hart vorgingen: “Zuerst ungeschickt, dann kopflos und schließlich sogar brutal”, wie ein Student später der “Welt am Sonntag” sagt. Kaum ist die Polizei abgerückt, da laufen immer mehr Protestierer zusammen. Auf der Leopoldstraße setzen sie sich mit ihren Gläsern auf den Asphalt. Aus den umliegenden Cafés und Biergärten tragen Passanten Stühle auf die Straßen, der Verkehr kommt zum Erliegen. Schaulustige sammeln sich auf den Gehwegen, Zeitungsberichten zufolge sind es Tausende. Anwohner treten im Nachthemd auf ihre Balkone. Auf den Fotos herbeigeeilter Pressefotografen sieht man lachende Menschen in dünnen Sommerkleidchen und gelockerten Krawatten. Gewaltbereite Randalierer sehen anders aus. Zeitzeugen beschreiben die Stimmung als ausgelassen. Es kommt zu Handgemengen. Der Polizeibericht vermerkt mehrere Würfe mit Gegenständen; aus den Gaststätten “Café Europa” und “Schwabinger Nest” werden Glühbirnen auf Polizeiwagen geworfen. Einige Papierkörbe stehen in Brand. Zweimal rücken die Räumketten der Polizei vor. Erst um 1.40 Uhr ist die Ordnung wieder hergestellt. Die erste Bilanz: 41 vorläufige Festnahmen, drei beschädigte Polizeiwagen. Ein Wachtmeister wird von einem Stuhl am Fuß getroffen, ein Oberinspektor erleidet durch einen Schlag gegen die Hand einen Bruch des kleinen Fingers. Hier weiterlesen.    

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/174

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“Jugendstile und Popkultur nach 1945 aus transnationaler Perspektive”

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu kontroversen Debatten über neuartige Jugendstile, die sich international vor allem in Metropolen herausgebildet hatten. In diesen Konflikten, die sich nach dem Muster der moral panics beschreiben lassen, wurden Images von Jugend, Pop und Kriminalität verschmolzen. Das Dissertationsvorhaben “Jugendstile und Popkultur nach 1945 aus transnationaler Perspektive” (Arbeitstitel) analysiert mediale und politische Diskurse, arbeitet die darin konstruierten Stereotypen heraus und sucht diese zeithistorisch zu kontextualisieren. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts; räumliche Schwerpunkte sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA.

Anhand exemplarischer Fallstudien (etwa über britische teddy boys, deutsche Halbstarke oder amerikanische juvenile delinquents) wird die allmähliche Etablierung und transnationale Verbreitung einer multiethnisch geprägten Popkultur gegen teils vehemente gesellschaftliche Widerstände nachvollzogen. Quellen sind neben Archivalien und Medienberichten Selbstzeugnisse, Oral History und audiovisuelle Quellen. Auf theoretischer Ebene setzt sich die Arbeit vor allem mit den Cultural Studies auseinander. Deren Theorien und Methoden sollen auf eine Operationalisierbarkeit für die Historiographie überprüft und mit jüngeren Ansätzen einer transnationalen Kulturgeschichte konfrontiert werden.

Die Dissertation wird am Arbeitsbereich Zeitgeschichte der Freien Universität Berlin betreut (Prof. Dr. Paul Nolte) und ist am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam assoziiert.

Quelle: http://pophistory.hypotheses.org/124

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Die Notwendigkeit des „History Managements“ in der heutigen Zeit

Wie wichtig die Aufarbeitung von Unternehmens- und Markengeschichte in der heutigen Zeit ist, soll im Folgenden im Zusammenhang mit dem sogenannten „History Management“, erläutert werden. „History Management bedeutet, in der Gegenwart die Potenziale der Vergangenheit zu nutzen, um in der Zukunft erfolgreich zu sein.“1

Die Historie oder Geschichte eines Unternehmens beginnt mit ihrer Gründung und erstreckt sich bis ins Heute. „History Management“ bezieht sich auf das gesamte Unternehmen mit allen zugehörigen Produkten und Marken. Dementsprechend nimmt die Markenhistorie einen wesentlichen Teil im „History Management“ ein. Laut Herbrand/Röhrig soll die Historie „als erfolgsrelevante Ressource“ verstanden werden und „zum Zwecke der Erreichung der Unternehmens-/Markenziele effektiv und effizient“2 in das Unternehmensmanagement einbezogen werden.

Bedingt durch die globalisierten Wirtschaftsmärkte, die Fusionen, Insolvenzen, Übernahme von Unternehmen und die Entstehung von „ Markenfriedhöfen“ mit dem Verschwinden von traditionsreichen Marken und Unternehmen wie z.B. Mannesmann und Telefunken, sind wesentliche Aspekte der „corporate identity“ wie Werte, Tradition, Kontinuität und Identität von Produkten und Unternehmen in der heutigen Wirtschaftswelt schwer zu vermitteln. Auch die Marken sind als Aushängeschilder und Assoziationsfelder der Unternehmen durch die „brand parity“3: die Vielzahl der Produkte, die Austauschbarkeit der Produkte („weil sie mit identischen Markenwerten [… ] wie Qualität, Preis, Design [….] etc. aufgeladen werden können“4) schweren Bedingungen unterworfen.5 Analog dazu steigt bei Konsumenten „das Bedürfnis nach Kontinuität, Orientierung, Vertrautem und Sicherheit. Marken bieten“, laut Herbrand und Röhrig, „in diesem Kontext Orientierungs- und Identifikationspotenziale.“6 So bietet das „History Management“ gerade an dieser Stelle viel Potenzial, denn die Lehren die man aus seiner Unternehmensgeschichte zieht, schaffen Orientierung und Klarheit, sie helfen die eigene Unternehmensstrategie zu korrigieren und stärken die eigene „coporate identity“. Die Geschichte eines Unternehmens und seiner Marken sagt viel über die Identität des Unternehmens aus, dementsprechend bietet eine charaktervolle und lebensnahe Unternehmensidentität viel Identifikationspotenzial für die Kunden. Kontinuität, Tradition, Integrität und Dynamik sind als Teil der Unternehmensgeschichte vertrauenserweckende Attribute.7 Doch auch wenn die Unternehmensgeschichte weniger ruhmreich ist, zählt doch entscheidend der Umgang des Unternehmens mit seiner Geschichte in der Gegenwart. Manch kritischer Betrachter wird fragen: Wählt das Unternehmen den Umgang mit der eigenen Unternehmensgeschichte aus einer Traditionsverbundenheit und mit dem Ziel die Potenziale der vergangenen Unternehmensgeschichte (im Sinne des „History Managements“) zu nutzen? Oder bezieht sich das Unternehmen bewusst auf positive Aspekte der eigenen Geschichte (wie z.B. historische Unternehmensbilder, -persönlichkeiten und die Markengeschichte) um die Geschichte des Unternehmens ins rechte Licht zu rücken und von dunklen Kapiteln der Unternehmensgeschichte abzulenken?8

Die Maxime des „History Managements“ – nämlich „in der Gegenwart die Potenziale der Vergangenheit zu nutzen, um in der Zukunft erfolgreich zu sein“9 , bedeutet auch, sich den Fehlern und schweren Kapiteln seiner Vergangenheit zu stellen, um Glaubwürdigkeit in der Gegenwart zu erhalten, seine Lehre aus der Vergangenheit ziehen, um in der Gegenwart authentisch zu bleiben. Dokumentiert man diese Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte und präsentiert die bewältigten Lernprozesse öffentlich, kann mit Zuversicht davon ausgegangen werden, dass begangene Fehler in der Zukunft vermieden werden können. Die Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte wird wahrgenommen und von Öffentlichkeit und Presse aufgegriffen und weiter verbreitet, was wiederum für weitere Unternehmens- bzw. Markenbekanntheit sorgen kann. Denn das jeweilige Unternehmen kann im Bereich „corporate social responsibility“ verdeutlichen, dass es seine Rolle als „Bestandteil der Alltagskultur“10, nämlich als „corporate Citizen“ verantwortungsvoll wahrnimmt, indem es durch seine

„Entscheidungen, Produktentwicklungen und […] [sein] Marketing die Gesellschaft in ihren Strukturen sowie das Leben der Menschen und ihre Gewohnheiten, mithin deren Geschichte, entscheidend prägt.“11

Der offene und transparente Umgang mit der eigenen Unternehmensgeschichte fördert im Zusammenhang mit der Vorstellung der Marken-, Produktgeschichte und der Unternehmenstraditionen die Glaubwürdigkeit des Unternehmens in der Öffentlichkeit und schafft Vertrauen und Nähe bei Kunden.

Zusammengefasst ist das sogenannte „History Management“ eines Unternehmens der verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Unternehmensgeschichte sowie das Ausschöpfen der Potenziale und vermittelt dem Kunden, dass das Unternehmen selber seine Vergangenheit, mit den positiven (daher erwähnenswerten) Kapiteln der Unternehmensgeschichte, aber auch vor allem mit allen Schattenseiten und Krisen (umso erwähnenswerter),  aufarbeitet, sich zu Fehlern bekennt und daraus die notwendigen Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft des Unternehmens zieht.

 

Empfohlene Zitierweise: Blümel, Jonathan (2012): Die Notwendigkeit des „History Managements“ in der heutigen Zeit. In: JBSHistoryBlog.de. URL: http://jbshistoryblog.de [Zugriff: DD:MM:YYYY]

 


Bibliographie:

  1. Siehe Herbrand, Nicolai Oliver / Röhrig, Stefan: History Management – Grundzüge eines umfassenden Ansatzes zur Ausschöpfung des Erfolgspotenzials Markenhistorie, in: Herbrand, Nicolai Oliver / Röhrig, Stefan: Die Bedeutung der Tradition für die Markenkommunikation. Konzepte und Instrumente zur ganzheitlichen Ausschöpfung des Erfolgspotenzials Markenhistorie. Stuttgart 2006. S. 564.
  2. Ebenda S. 563.
  3. Vgl. Janssen, Philip / Krawietz, Marian: Geschichte als Kapital, in: Pressesprecher, 05/2004. Berlin 2004. S. 26.
  4. Siehe Schug, Alexander: History Marketing. Ein Leitfaden zum Umgang mit Geschichte in Unternehmen. Bielefeld 2003. S. 16
  5. Vgl. Herbrand / Röhrig 2006. S. 565.
  6. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 566.
  7. Vgl. Buß, Eugen: Die gesellschaftliche Bedeutung von Traditionsbildern, in: Herbrand, Nicolai Oliver / Röhrig, Stefan: Die Bedeutung der Tradition für die Markenkommunikation. Konzepte und Instrumente zur ganzheitlichen Ausschöpfung des Erfolgspotenzials Markenhistorie. Stuttgart 2006. S. 199-212.
  8. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 570.
  9. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 564.
  10. Siehe Herbrand / Röhrig 2006. S. 573.
  11. Vgl. Schug, Alexander: History Marketing. Ein Leitfaden zum Umgang mit Geschichte in Unternehmen. Bielefeld 2003. S. 18.

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Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/05/die-notwendigkeit-des-„history-managements-in-der-heutigen-zeit/

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“Es hat keinen diktaturfreien Alltag gegeben”

Die Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen des Kalten Krieges ist nach wie vor relevant für die Entwicklung der europäischen Demokratien und eines europäischen Gemeinschaftsgefühls, so Anna Kaminsky. Im MONTAGSRADIO, Ausgabe 07/2012, sprechen Markus Heidmeier und Kaja Wesner mit der Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur über die bisherige Arbeit der Bundesstiftung, kommende Themen und das europäische Geschichtsjahr 2014.

Wie funktionierten die kommunistischen Diktaturen in Mittel-Ost-Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Ist eine Versöhnung der Täter und Opfer ein Ziel der Aufarbeitung? Und kann die Aufarbeitung der historischen Ereignisse, der Mechanismen und Folgen irgendwann abgeschlossen sein? Neue Forderungen von ehemaligen DDR-Zwangsarbeitern zeigen, dass die Debatten um Entschädigung und Wiedergutmachung von Unrecht nach wie vor aktuell sind.

Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat seit 1998 von der Bundesregierung den gesetzlichen Auftrag, sich mit der Geschichte der SED-Diktatur auseinanderzusetzen, geschehenes Unrecht und die Verantwortlichkeiten aufzuarbeiten, Mechanismen aufzuzeigen und die Folgen zu analysieren. Im MONTAGSRADIO spricht Anna Kaminsky über das Selbstverständnis der Bundesstiftung, den hohen Vermittlungsbedarf bei Jugendlichen und die europäische Dimension der Aufarbeitung.

Und hier die Timeline zum Gespräch

01:01 Gibt es ein Ende der Aufarbeitung

06:00 Wie funktionieren Diktaturen?

09:29 Auftrag der Bundesstiftung: Aufarbeitung des geschehenen Unrechts

12:05 Verortung der Bundesstiftung im wissenschaftlichen Umfeld

16:06 Vermittlungsbedarf bei Jugendlichen ist noch hoch

18:00 Von der Geschichte der Funktionsträger zur Alltagsgeschichte

24:03 Ist der Erfolg von Aufarbeitung messbar?

27:09 Die Bundesstiftung als Ratgeber und Informationsspeicher

29:33 Versöhnung als Ziel der Aufarbeitung

32:34 Stand die Aufarbeitung der Akten vor der Auseinandersetzung mit den Menschen?

36:03 die europäische Dimension von Aufarbeitung

42:03 Das Interesse an der Aufarbeitung der osteuropäischen Geschichte wächst

49:30 Montagsradio-Fragebogen

Quelle: http://www.montagsradio.de/2012/05/23/es-hat-keinen-diktaturfreien-alltag-gegeben/

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Zur Debatte um die Wiederauflage von "Mein Kampf"

Von Stefan Sasse

Dem Freistaat Bayern ist überraschend aufgefallen, dass das Urheberrecht auf Hitlers Nachlass - prominent darunter "Mein Kampf" - bald ausläuft (das Urheberrecht lag für 70 Jahre bei Bayern). Danach darf jeder, der will, das Buch drucken und verkaufen. Bislang hatte Bayern sich beharrlich geweigert, auch nur eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe zuzulassen - wer "Mein Kampf" lesen wollte, musste es sich in einem der 193 anderen Staaten dieser Welt besorgen. Die Debatte, die nun entsteht, ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Als Paradebeispiel dafür kann "Anne Will" von 2.5.2012 herhalten, wo Norbert Geis (CSU), Wibke Bruhns (Journalistin), Volker Beck (Grüne), Serdar Somuncu (Kabarettist), Gabriele Baring (Therapeuthin) und Wolfgang Herles (Journalist) redeten. Die Forderung des CSU-Politikers Geis, "Mein Kampf" im Geschichtsunterricht in der Schule zu besprechen, diente dabei als Aufhänger der Sendung. Die Journalistin Wibke Bruhns, deren Vater als "Mitwisser" vom 20. Juli im August 1944 hingerichtet wurde, widersprach Geis aufs Schärfste. Sie empfiehlt "den Jugendlichen", die "eh nicht mehr lesen, sondern nur noch in Ausschnitten googeln" (aha) stattdessen die "seriöse" Widerstandsliteratur. Und damit sind wir auch mittendrin in einer Gespensterdebatte alter Menschen. 

Im Folgenden gehen sich die Diskutanten darüber aus, ob "Mein Kampf" an den Kiosken zum neuen Bestseller werden könne und Jugendliche vielleicht zum Neonazismus ziehen könnte. Die Vorstellung ist so unsäglich albern, dass einem die Synapsen knacken. "Mein Kampf" ist ein 700-Seiten-Wälzer in einer Sprache und mit einem Stil, der schon in den Zwanziger und Dreißiger Jahren dafür gesorgt hat, dass niemand das Buch wirklich lesen wollte. Somuncu, der so etwas wie die Stimme der Vernunft an dem Abend darstellte, bewies mit seinem Programm der kommentierten Mein-Kampf-Lesungen, wie lächerlich Hitlers verschriftliche Gedanken und wie eigentlich unlesbar sein Stil sind. Die Vorstellung, dass Jugendliche aus reiner Neugier sich durch diese siebenhundert Seiten lesen und dann, puff, zu Neonazis konvertiert werden ist vollkommen albern. "Mein Kampf" eignet sich höchstens als Paraphernalium für Neonazis, ein Objekt, das man sich in den Schrank stellt um zu zeigen, dass das Herz rechts schlägt. Diese Gefahr besteht selbstverständlich, aber daran können alle kommentierten Ausgaben dieser Welt nichts ändern. Ernsthaft lesen wird das Buch immer noch kaum jemand, und schon gar nicht jemand, der in der Neonazi-Szene als Sympathisant mitläuft. Wer so determiniert ist, sich Hitlers Gedanken en detail anzutun, der hat eh längst Mittel und Wege gefunden, das Ding zu lesen und zu vervielfältigen.

Bleibt die Forderung nach einer Behandlung an der Schule. Wenn ich Geis richtig verstanden habe, schlägt er vor, das Buch an der Schule in Auszügen zu behandeln und textkritisch zu analysieren. Wibke Bruhns, im Angriffsmodus, bezweifelt einfach einmal pauschal, dass alle Geschichtslehrer dafür ausgebildet sind. Danke, Frau Bruhns. Ich habe zwar im "Mein Kampf"-Didaktik-Kurs gefehlt, aber Auszüge daraus mit meinen Schülern zu besprechen traue ich mir dann doch zu. Die Sportpalastrede nutzen wir Geschichtslehrer seit Generationen, ohne dass wir bisher die Jugend zum Totalen Krieg verzogen haben; man kann es sich kaum vorstellen. Und wo ich gerade schon dabei bin kann ich mich an Bruns gerne noch ein bisschen mehr abarbeiten. Ihr Vorschlag, dass Jugendliche stattdessen seriöse Literatur kaufen und lesen sollten, also beispielsweise Texte zeitgenössischer Schriftsteller, ist sicherlich von ehrenwerter Intention. Von der Realität ist sie genausoweit entfernt wie ihre Vorstellungen davon wie ihre Theorie, wie Jugendliche sich durch das Internet bewegen.Die Geschichte des Dritten Reiches und auch des Widerstands dagegen ist genau das - Geschichte. Einige wenige sehr interessierte Jugendliche werden sich sicher über den Geschichtsunterricht hinaus darüber informieren, aber auch von denen wird nur ein Bruchteil soweit gehen, Originaldokumente der damaligen Zeit zu lesen. Selbst im Studium macht man das größtenteils im Rahmen der Forschungsarbeit und nicht zum persönlichen Vergnügen. 

Bruhns kommt hier schlicht ihre eigene Vergangenheit in den Weg. Es ist nachvollziehbar, aber bringt die Debatte kein Stück voran. Die Zeit ist mittlerweile über die wenigen verbliebenen Zeitzeugen hinweggerollt. Die Kämpfte um die Deutungshoheit der NS-Zeit finden inzwischen an anderen Fronten statt. Es wird Zeit, einer neuen, weniger vorbelasteten Generation das Feld zu überlassen. Es ist sicher kein Zufall, dass Anne Wills Talkrunde am Ende scheiterte. Volker Beck war mit 51 der zweitjüngste Teilnehmer der Runde, nach Somuncu. Wenig überraschend hatte auch Somuncu die pragmatischsten und angemessensten Ansätze an das Thema. Der Großteil der Wortmeldungen, ob nun von Geis, Bahring oder Bruhns, wirkte völlig aus der Zeit gefallen. Und das liegt schlicht daran, dass er aus der Zeit gefallen ist. Es wird Zeit, das einzusehen.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/05/zur-debatte-um-die-wiederauflage-von.html

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Zur Debatte um die Wiederauflage von "Mein Kampf"

Von Stefan Sasse

Dem Freistaat Bayern ist überraschend aufgefallen, dass das Urheberrecht auf Hitlers Nachlass - prominent darunter "Mein Kampf" - bald ausläuft (das Urheberrecht lag für 70 Jahre bei Bayern). Danach darf jeder, der will, das Buch drucken und verkaufen. Bislang hatte Bayern sich beharrlich geweigert, auch nur eine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe zuzulassen - wer "Mein Kampf" lesen wollte, musste es sich in einem der 193 anderen Staaten dieser Welt besorgen. Die Debatte, die nun entsteht, ist an Lächerlichkeit kaum zu überbieten. Als Paradebeispiel dafür kann "Anne Will" von 2.5.2012 herhalten, wo Norbert Geis (CSU), Wibke Bruhns (Journalistin), Volker Beck (Grüne), Serdar Somuncu (Kabarettist), Gabriele Baring (Therapeuthin) und Wolfgang Herles (Journalist) redeten. Die Forderung des CSU-Politikers Geis, "Mein Kampf" im Geschichtsunterricht in der Schule zu besprechen, diente dabei als Aufhänger der Sendung. Die Journalistin Wibke Bruhns, deren Vater als "Mitwisser" vom 20. Juli im August 1944 hingerichtet wurde, widersprach Geis aufs Schärfste. Sie empfiehlt "den Jugendlichen", die "eh nicht mehr lesen, sondern nur noch in Ausschnitten googeln" (aha) stattdessen die "seriöse" Widerstandsliteratur. Und damit sind wir auch mittendrin in einer Gespensterdebatte alter Menschen. 

Im Folgenden gehen sich die Diskutanten darüber aus, ob "Mein Kampf" an den Kiosken zum neuen Bestseller werden könne und Jugendliche vielleicht zum Neonazismus ziehen könnte. Die Vorstellung ist so unsäglich albern, dass einem die Synapsen knacken. "Mein Kampf" ist ein 700-Seiten-Wälzer in einer Sprache und mit einem Stil, der schon in den Zwanziger und Dreißiger Jahren dafür gesorgt hat, dass niemand das Buch wirklich lesen wollte. Somuncu, der so etwas wie die Stimme der Vernunft an dem Abend darstellte, bewies mit seinem Programm der kommentierten Mein-Kampf-Lesungen, wie lächerlich Hitlers verschriftliche Gedanken und wie eigentlich unlesbar sein Stil sind. Die Vorstellung, dass Jugendliche aus reiner Neugier sich durch diese siebenhundert Seiten lesen und dann, puff, zu Neonazis konvertiert werden ist vollkommen albern. "Mein Kampf" eignet sich höchstens als Paraphernalium für Neonazis, ein Objekt, das man sich in den Schrank stellt um zu zeigen, dass das Herz rechts schlägt. Diese Gefahr besteht selbstverständlich, aber daran können alle kommentierten Ausgaben dieser Welt nichts ändern. Ernsthaft lesen wird das Buch immer noch kaum jemand, und schon gar nicht jemand, der in der Neonazi-Szene als Sympathisant mitläuft. Wer so determiniert ist, sich Hitlers Gedanken en detail anzutun, der hat eh längst Mittel und Wege gefunden, das Ding zu lesen und zu vervielfältigen.

Bleibt die Forderung nach einer Behandlung an der Schule. Wenn ich Geis richtig verstanden habe, schlägt er vor, das Buch an der Schule in Auszügen zu behandeln und textkritisch zu analysieren. Wibke Bruhns, im Angriffsmodus, bezweifelt einfach einmal pauschal, dass alle Geschichtslehrer dafür ausgebildet sind. Danke, Frau Bruhns. Ich habe zwar im "Mein Kampf"-Didaktik-Kurs gefehlt, aber Auszüge daraus mit meinen Schülern zu besprechen traue ich mir dann doch zu. Die Sportpalastrede nutzen wir Geschichtslehrer seit Generationen, ohne dass wir bisher die Jugend zum Totalen Krieg verzogen haben; man kann es sich kaum vorstellen. Und wo ich gerade schon dabei bin kann ich mich an Bruns gerne noch ein bisschen mehr abarbeiten. Ihr Vorschlag, dass Jugendliche stattdessen seriöse Literatur kaufen und lesen sollten, also beispielsweise Texte zeitgenössischer Schriftsteller, ist sicherlich von ehrenwerter Intention. Von der Realität ist sie genausoweit entfernt wie ihre Vorstellungen davon wie ihre Theorie, wie Jugendliche sich durch das Internet bewegen.Die Geschichte des Dritten Reiches und auch des Widerstands dagegen ist genau das - Geschichte. Einige wenige sehr interessierte Jugendliche werden sich sicher über den Geschichtsunterricht hinaus darüber informieren, aber auch von denen wird nur ein Bruchteil soweit gehen, Originaldokumente der damaligen Zeit zu lesen. Selbst im Studium macht man das größtenteils im Rahmen der Forschungsarbeit und nicht zum persönlichen Vergnügen. 

Bruhns kommt hier schlicht ihre eigene Vergangenheit in den Weg. Es ist nachvollziehbar, aber bringt die Debatte kein Stück voran. Die Zeit ist mittlerweile über die wenigen verbliebenen Zeitzeugen hinweggerollt. Die Kämpfte um die Deutungshoheit der NS-Zeit finden inzwischen an anderen Fronten statt. Es wird Zeit, einer neuen, weniger vorbelasteten Generation das Feld zu überlassen. Es ist sicher kein Zufall, dass Anne Wills Talkrunde am Ende scheiterte. Volker Beck war mit 51 der zweitjüngste Teilnehmer der Runde, nach Somuncu. Wenig überraschend hatte auch Somuncu die pragmatischsten und angemessensten Ansätze an das Thema. Der Großteil der Wortmeldungen, ob nun von Geis, Bahring oder Bruhns, wirkte völlig aus der Zeit gefallen. Und das liegt schlicht daran, dass er aus der Zeit gefallen ist. Es wird Zeit, das einzusehen.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/05/zur-debatte-um-die-wiederauflage-von.html

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Das Parteiensystem der Weimarer Republik

Von Stefan Sasse

Das Kabinett der "Weimarer Koalition" 1919
Das Parteiensystem der Weimarer Republik besitzt sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten mit dem Parteiensystem der Bonner und Berliner Republik. Die Funktion der Parteien selbst, ihre Rolle für das Funktionieren und Scheitern der Republik sind sowohl unterschiedlich als auch für das Verständnis für die Geschichte Weimars und ihres Scheiterns essentiell. Es ist viel von den Geburtsfehlern Weimars gesprochen worden. Retrospektiv ist das Scheitern natürlich leicht festzustellen; dazu bedarf es nicht viel. Der langsame, siechende Tod der Republik in den frühen Dreißiger Jahren ist dafür viel zu offenkundig. Es ist jedoch die Rolle der Parteien und ihre Funktionsweise in Weimar, die wichtig für dieses Siechen ist, und hier kann es nicht nur um die Rolle der inhärent demokratiefeindlichen Parteien von rechts und links gehen, die ab 1930 eine demokratische Mehrheit unmöglich machten. Bereits in der Anlage der Parteien in Weimar finden sich Probleme, Probleme, die ihrerseits aus dem Kaiserreich mitgeschleppt wurden und die 1949 die Gründung der BRD entscheidend mitprägten. 

Nimmt man die Verfassung der Weimarer Republik, so fällt vor allem das Fehlen der Parteien auf. Ihnen ist keine substantielle konstitutionelle Rolle zugewiesen. Stattdessen konstituiert sie ein reines Verhältniswahlrecht mit relativ großen Wahlkreisen; für jeweils rund 60.000 Stimmen wird ein Sitz im Reichstag vergeben (was mit sinkender Wahlbeteiligung zu einem schrumpfenden Reichstag und entsprechend einem Interesse der Abgeordneten am Vermeiden von Auflösung und Neuwahl führt, was besonders in der Endphase Weimars relevant wird). Der Grund für das fast schamhafte Vermeiden einer Festlegung der Rolle der Parteien in der Verfassung liegt im (selbst heute noch) notorisch schlechten Ruf der Parteien begründet. Im Kaiserreich war die Exekutive aus Kanzler, Kaiser und Regierung dem Parlament nicht verantwortlich, das über seine Budgetrechte aber eine starke Oppositionsrolle ausüben konnte. Es wurde sowohl von der Bevölkerung als auch von den Abgeordneten selbst vorrangig als ein solches Oppositionsinstrument empfunden. Die Parteien fühlten sich den Anliegen ihrer Wähler verantwortlich, nicht dem Staatswesen als Ganzes.

Kapp-Putsch 1920
Diese Einstellung wurde fast nahtlos in die Weimarer Republik überführt. Die zögerliche, fast widerwillige Machtübernahme von SPD, Zentrum und DDP in der Revolution legt davon beredtes Zeugnis ab; die Schaffung der starken Kompetenzen des Reichspräsidenten gerade in Unabhängigkeit vom Parlament ist Ausdruck dieses generellen Misstrauens. Die Parteien waren nicht dazu bereit, tatsächlich Verantwortung für das Staatswesen zu übernehmen und Kompromisse zu schließen. Waren Kernforderungen nicht umsetzbar, weil Rücksicht auf Koalitionspartner genommen werden musste, lies man im Zweifel eher die Regierung platzen und zog sich in die Opposition zurück. Sehr spezifisch für Weimar war außerdem das Problem, dass eine große Zahl der im Reichstag vertretenen Parteien der Republik feindlich oder bestenfalls neutral gegenüberstanden. Hinter dem neuen Staat standen rückhaltlos eigentlich nur SPD und DDP. Das Zentrum war wohlwollend neutral, konnte aber auch mit monarchisch-reaktionären Kräften zusammenarbeiten, genauso wie die DVP. KPD, DNVP und später NSDAP waren klar republikfeindlich. Nur in einem sehr kurzen Zeitraum 1925 bis 1928 stellten sich auch die Rechtsparteien hinter die Republik. Bevor eine detailliertere Analyse dieser Situation durchgeführt werden kann müssen wir uns die Parteien aber genauer ansehen. 

Ganz links in diesem System befindet sich die KPD. Sie ging aus dem radikalen Flügel der USPD und dem Spartakusbund hervor und lehnte die Demokratie als System des Klassenfeindes ab. Stattdessen propagierte sie ein an die Sowjetunion angelehntes Rätesystem. War sie 1919/20 noch eine Splitterpartei, klein, unbedeutend und von inneren Machtkämpfen und politischen Säuberungen erschüttert, brachte ihr das Auseinanderbrechen der USPD bis 1922 einen massiven Mitgliederschub, der sie durch die Weimarer Republik hindurch trug. Obwohl die Partei bereits in den frühen 1920er Jahren schwere Niederlagen einstecken musste (unter anderem in den Ruhrkämpfen und bei einem missglückten Aufstand) und dabei fast die Hälfte ihrer Mitglieder verlor, gelang es ihr, sich zu einer straff organisierten Kaderpartei zu entwickeln. Sie machte der SPD, die sich getreu der Moskauer Vorgabe („rot lackierte Faschisten“) zu ihrem Hauptgegner auserkoren hatte, stets Druck von links. Zusammen mit der NSDAP gehörte die KPD zu den großen Gewinnern am Ende der Weimarer Republik und kam am Ende auf beinahe 20% der Wählerstimmen. 

Ernst Thälmann, KPD-Chef, 1932
Die Ausrichtung der Partei war dabei stramm auf Moskau ausgerichtet. Die KPD war geradezu eine Marionette des Komintern und gehorchte allen Weisungen aus der Sowjetunion. Am weitreichendsten war dabei sicherlich die Direktive, nicht die extreme Rechte als Hauptgegner zu betrachten – wie es ja auch angesichts der verschiedenen Ideologien Sinn gemacht hätte – sondern sich auf die Sozialdemokratie einzuschießen. Jegliche Zusammenarbeit zwischen beiden Strömungen wurde dadurch verhindert, was sich in der Endphase Weimars als tödlich herausstellen sollte. Als die NSDAP und die KPD 1932 örtlich begrenzt bei Streiks gegen die Republik Hand in Hand arbeiteten war die fatale Absurdität dieser Situation klar ersichtlich. 

Auf dem linken demokratischen Flügel der Republik findet sich die SPD, anfangs noch mit Elementen der USPD (beide Parteien vereinigten sich 1922). Die Spaltung der Sozialdemokratie während des Krieges hatte dazu geführt, dass die gemäßigten Elemente der SPD die Oberhand vor den radikaleren Strömungen erhielten und Koalitionsregierungen mit den Bürgerlichen bildeten. Zu Beginn der Republik unternahm die SPD eine zaghafte Öffnung ihrer Wählerbasis von den Arbeitern hin zu den Angestellten und Intellektuellen, die jedoch im Großen und Ganzen erfolglos blieb. Als die gemäßigten Elemente der USPD sich 1922 mit der SPD wiedervereinigten, rückte die Partei deutlich nach links, was Koalitionen mit den Bürgerlichen erschwerte. Das resultierende Heidelberger Programm 1925 war rhetorisch stark von den Ideen des Klassenkampfes a la Marx geprägt, ohne den Worten dabei Taten folgen zu lassen, wodurch die SPD sowohl die linke Basis als auch mögliche Koalitionspartner misstrauisch machte und ihr entfremdete. 

Plakat der USPD, 1919
Die Sozialdemokraten standen unter einem furchtbaren Dilemma: einerseits hatten sie sich einen demokratischen Staat und die Regierungsverantwortung immer erstrebt, andererseits war die Republik mehrheitlich nicht sozialdemokratisch, so dass das Bekenntnis zu ihr stets mit Bauchschmerzen verbunden war. In jeder Regierung konnten Kernforderungen, besonders im Bereich sozialer Reformen, nicht umgesetzt werden, weil Zentrum und Liberale sich dagegenstellten. Entsprechend verliefen Regierungen für die SPD enttäuschend und mit Wählerverlusten, was eine Lust nach der Oppositionsrolle nach sich zog, wo man klare Gegner hatte und die eigenen Anhänger wieder mobilisieren konnte.

Die demokratische "Mitte" der Republik wurde von den Liberalen gebildet. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 erhielt die DDP, die die Hoffnung auf eine liberale Sammlungspartei gehabt hatte, noch ein gutes Ergebnis. In ihr sammelten sich die republikanisch gesinnten, aber individualistischen Liberalen der Kaiserzeit. Eine echte Parteistruktur konnte nicht etabliert werden; ein verlässlicher Partner konnte die DDP deswegen selten sein. Zudem misslang die Sammlung; in der DVP fand sich von Beginn eine nationalliberale, tendenziell rechtsliberale Partei. Ohne eine Parteiorganisation waren die Liberalen stark auf Spenden aus in der Industrie angewiesen, die die großen Wahlkreise ausnutzend starken Einfluss auf die Listen der Partei nahm und die Liberalen schnell zu einer Interesenvetretung des Großkapitals machte. Konsequent schwierig waren Koalitionen etwa mit der SPD, und die DDP verlor immer mehr Wähler, bis sie zum Ende Weimars auf den Status einer Splitterpartei reduziert war. Die liberal gesinnten Bürger fanden keine neue politische Heimat und stärkten tendenziell die Rechtsparteien.

Gustav Stresemann, 1925
Beständig zwischen diesen beiden Polen mäanderte die DVP, die mal rechte, mal liberale Tendenzen dominieren ließ und mit demokratischen wie autoritären Kräften koalitionsfähig war. Sie wurde nie zu einer großen Partei, war jedoch elementar für die Stabilisierung der Republik ab 1923/24. Das Schlagwort, geprägt vor allem von ihrem Vorsitzenden Gustav Stresemann, war "Republikanismus aus Vernunft". Man stellte sich hinter den neuen Staat, nicht begeistert, aber immerhin loyal. Dieser Sinneswandel der DVP brachte sogar die autoritär-radikale DNVP mit ins Boot, die in verschiedenen Koalitionsregierungen beteiligt war. Ab 1929/30 aber rutschte die DNVP unter ihrem Vorsitzenden Hugenberg stark nach rechts ab, während die DVP in der Bedeutungslosigkeit verschwand. 

Die letzte der demokratischen Parteien war das Zentrum. Zusammen mit der DDP hatte es bereits im Krieg mit der SPD zusammengearbeitet und arbeitete mit diesen die Verfassung aus. Sie war die einzige klassenübergreifende Partei Weimars, war aber durch die Konfessionszugehörigkeit scharf von vielen Milieus abgetrennt. In ihr fanden sich sowohl patriarchische Unternehmer als auch ungelernte Facharbeiter, strenge Pfarrer und emsige Hausfrauen. Ihnen war ein konservatives Weltbild gemein, streng und patriarchalisch organisiert, sowie eine starke Orientierung an der katholischen Kirche, was ihr bereits zur Zeit des Kaiserreichs den Vorwurf der Fremdgesteuertheit, des „Ultramontismus“, eingetragen hatte. 

Das Zentrum verfügte zudem über relativ ausgeprägte Flügel. Der rechte dieser Flügel war stets latent monarchisch und autoritär und strebte eher einen ständisch organisierten Staat an. Überspitzt könnte man formulieren, dass ihm eine konservative Variante der Räteideen der Linken vorstrebte; mit republikanisch-demokratischen Idealen vereinbar war sie jedoch sicher nicht. Der linke Flügel des Zentrums dagegen, der auch nach 1945 kurzzeitig und unter Kohls Sozialminister Blühm eine gewisse Rolle spielen sollte kam von der katholischen Soziallehre her und bekannte sich auch eindeutig zu Republik und Demokratie. Verbesserungen für die Arbeiter wurden durchaus angestrebt, sollten aber dem eher konservativen Ideal nach im Konsens mit den Arbeitgebern erreicht werden. Zwischen diesen Flügeln befand sich der Großteil der Partei, der je nach Koalitionspartner mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung neigte und dem Zentrum damit großen koalitionspolitischen Spielraum gab. 

DNVP-Plakat 1932
Auf dem rechten Rand des Parteienspektrums in Weimar fand sich eine ganze Reihe von Parteien. Stets vorhanden, aber nie besonders stark war etwa die Bayernpartei, in der der rechte Flügel des Zentrums der linke Flügel gewesen wäre und die für eine Abspaltung oder doch zumindest weitgehende Autonomie Bayerns vom Reich eintrat. Auch andere Splitterparteien entstanden und vergingen. Eine gewisse Dauerhaftigkeit dagegen besaß die DNVP, die Deutsch-Nationale Volkspartei. Sie wanderte im Lauf der Weimarer Republik von rechtskonservativer Opposition gegen die Republik auf eine Stelle an ihrem rechten, aber demokratischen Rand und zu Beginn der 1930er Jahre zurück. Die Anhänger der DNVP waren monarchistisch und revisionistisch und lehnten die Republik ab. In der Zeit zwischen 1924 und 1928 setzte sich allerdings eine Strömung durch, die bereit war, die Republik als eine Art Zwischenzustand zu akzeptieren und von innen heraus zu transformieren. Dies änderte sich mit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Hugenberg, einer Art deutschen Randolph Hearst, der sie zu einer Kaderpartei umfunktionierte. Sein Plan ging nicht auf; am Ende war die DNVP nur der Steigbügelhalter Hitlers. 

Dies lag auch an einem fundamentalen Problem der Rechten in der Weimarer Republik: sie waren sich zwar einig darin, dass sie Weimar ablehnten, aber sie waren sich keineswegs einig darin, was sie an ihre Stelle setzen wollten. Sollte es ein ständisch organisierter, patriarchalischer Staat sein, eine Art romantischer Reminiszenz an eine so nie existierende deutsche Vergangenheit? Ging es um die Restauration der Monarchie, und wenn ja, mit wem? Sollte das Reich gänzlich zerteilt und eine Fürstenherrschaft hergestellt werden? Sollten Technokraten herrschen und „pragmatische“ Politik machen? Oder sollte ein charismatischer Führer die Macht an sich reißen? Die Modelle wurden alle erprobt, und eines nach dem anderen scheiterte. Das Kabinett der „Fachminister“, das Wilhelm Cuno 1923 erprobte, scheiterte kläglich. Die Monarchisten fanden nie einen Anwärter auf den Thron, der halbwegs vernünftig war, und die autoritären Kräfte fanden ebenfalls keinen tragbaren Staatsaufbau, wie sich in der Dauerkrise 1932/1933 deutlich zeigte. 

Es waren Hitler und seine NSDAP, die den Schlüssel fanden und radikal mit konservativen Traditionen brachen. Ihren Erfolg verdankte die NSDAP dem autoritären Führerprinzip auf der einen und der Betonung ihrer Massenbasis auf der anderen Seite. Mit Revolutionsrhetorik, einem scheinbaren Egalitätsanspruch und der uniformierten Anlehnung an das Kriegserlebnis hob sie sich deutlich von dem Elitendünkel der alten Eliten ab und stand gleichzeitig in radikaler Opposition zu Weimar. Aus dieser Attraktivität, und nicht einfach nur aus den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen, speist sich ihr Aufstieg in den frühen 1930er Jahren. 

Kabinett der "Großen Koalition" 1928
Es stellt sich zum Ende hin die Frage, ob diese Parteien Weimer überhaupt tragen konnten. Der allgemeine Hass, die Verachtung oder doch zumindest stille Resignation, die den Parteien entgegen schlug, machte ihre Arbeit von Anfang an sehr schwer. Dazu kam, dass eigentlich nur drei Parteien die demokratische Verfassung des Staates trugen, von denen eine – das Zentrum – auch mit die Republik ablehnenden Rechtsextremen zusammenarbeitete und die andere – die DDP – rapide an Bedeutung verlor. Obwohl die SPD, sehr zum Missvergnügen ihrer Anhänger und ihrer verlorenen Söhne bei USPD und KPD, bei der Verfassungskonstruktion Weimars viel Boden preisgegeben hatte, war sie die einzige Partei, die den Staat vorbehaltlos trug. Die Weimarer Republik war sehr weit vom sozialdemokratischen Ideal entfernt, und trotzdem war er der Staat der SPD. Dass nicht einmal sie sich wirklich für ihn erwärmen mochte, und wohl auch nicht konnte, zeigt die Probleme deutlich auf. 

Trotzdem gab es zwei Perioden, in denen der Staat eine Chance zu haben schien. Dies waren die Regierungszeit der „Weimarer Koalition“ aus DDP, Zentrum und SPD zu Beginn der 1920er Jahre und, zusammen mit der DVP, als „Große Koalition“ 1928-1930, sowie die Zeit der Rechtskoalitionen zwischen 1925 und 1928. Die Weimarer Koalition und später die Große Koalition litten stets unter dem Flügelproblem: nie waren ihre äußeren Flügel mit den Ergebnissen zufrieden, musste blockierende Symbolpolitik zur Besänftigung betrieben werden, die schließlich zum Koalitionsbruch führte, weil niemand zum Gesichtsverlust bereit war. Die SPD kompensierte dies über ausgedehnte Perioden dadurch, dass sie liberal-konservative Minderheitsregierungen unterstütze, aber eine stabile Regierung konnte dadurch nie entstehen. 

Verfassungsfeier 1929
Die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 eröffnete der Republik dann eine zweite Chance: die DNVP kam plötzlich als Spieler im demokratischen System mit an Bord und eröffnete der Republik ein rechtes Standbein. Was bisher reine Opposition gegen den Staat gewesen war, arbeitete nun mit – ein Novum in ihrer Geschichte, und ein kurzlebiges dazu. Die Regierungsbeteiligung der DNVP markierte trotzdem eine Zäsur, die nicht unterschätzt werden darf. Wäre es möglich gewesen, die Partei längerfristig an die Republik zu binden, hätte sie vielleicht eine Chance gehabt. So aber wandelte sich die DNVP nach dem Bruch der Regierung 1928 und dem Antritt der Großen Koalition erneut zur radikalen, die Republik ablehnenden Oppositionspartei, die durch ihren neuen Vorsitzenden Hugenberg deutlich verschärft wurde. Das Spiel von Opposition und Regierung und der reibungslose Übergang zwischen diesen politischen Aggregatszuständen aber ist elementar für das Funktionieren einer Demokratie; sein erstes Anstehen daher immer eine Wasserscheide in ihrer Geschichte, ob in Weimar 1928, in den USA 1800 oder in der BRD 1969. Verweigert sich eine Partei diesem Wechsel und den demokratischen Spielregeln, ist das System zum Scheitern verurteilt.

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2012/05/das-parteiensystem-der-weimarer.html

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