deutschsprachige Zusammenfassung des Vortrages vom 16. Dezember 2013: “Penser l’œuvre complète – un paradoxe pour le Moyen Age ?” Lässt sich im Mittelalter bereits die Idee eines ‚Gesamtwerkes‘ denken? Dies ist die Frage, mit welcher wir uns im Laufe unserer … Continue reading →
Philologie für die Zukunft
von Laura Hofmann / Forum Transregionale Studien
Das Studium von alten Texten kann Mentalitäten ändern, sagt Sheldon Pollock (Arvind Raghunathan Professor of South Asian Studies, Columbia University, USA). Im Interview mit dem Journalisten Arno Widmann erklärt der amerikanische Sanskritforscher, wie Zukunftsphilologie „Schurken“ bekämpft und was Berlin als Wissenschaftsstandort dazu beitragen kann. Pollock war auf Einladung des Forum Transregionale Studien nach Berlin gekommen. Das komplette Interview ist in der Berliner Zeitung vom 23./24. November 2013 erschienen.
English abstract: The study of old texts can change mentalities, says Sheldon Pollock. The Sanskrit scholar and University professor at Columbia explains in an interview with the journalist Arno Widmann, how Zukunftsphilologie can fight “villains” and how Berlin as a city of sciences can contribute to that. Pollock followed an invitation of the Forum Transregionale Studien to come to Berlin and be the guest speaker at the annual conference of the Forum and the Max Weber Stiftung in October 2013.
Pollock argues that by studying history – the memory of a people – one can actually influence the future. In his opinion, reading slowly and carefully helps identifying why people have certain ideas of the world and the society, like for example the idea of the Indian society divided in castes. To change these phenomenoa “you have to criticize them. Not only with the idea of equality, but also by analyzing the formation of the mentality”, says Pollock.
He wants the city of Berlin with its big philological tradition to build up a center of philology in which philologists from all over the world could work together: “Philology not as a science of the national state, but as a global trade […] That would be the establishment of a new science.”
Was ist Philologie? Für Sheldon Pollock, Sanskritprofessor an der Columbia University in New York, ist es vor allem eins: Langsam lesen. Diese Worte wiederholt er oft – langsam und auf Deutsch – während des Jahresvortrags des Forum Transregionale Studien am 17. Oktober 2013 in Berlin. Das Interview fand am Rande der Jahrestagung des Forums und der Max Weber Stiftung vom 18. und 19. Oktober 2013 im Berliner Musikinstrumenten-Museum statt.
Im Gespräch mit Widmann erklärt Pollock genauer, was es mit dem langsamen Lesen auf sich hat: „Die Schurken erzählen einem, Gott habe die Unberührbaren für unberührbar erklärt. Die Philologie kann erzählen, wann und warum diese Vorstellung in die Bücher kam, die dann zu heiligen Texten wurden.“
Pollock zog es für seine Forschung nach Indien, sein Interesse an Geschichte sei nie nationalistisch gewesen, sagt er, sondern er sei neugierig, wie es anderswo zugehe, wie es zu anderen Zeiten zuging. „In Indien gibt es eine lange, gut dokumentierte Reflexion über alle Fragen des menschlichen Bewusstseins (…) eine dreitausend Jahre alte Überlieferung von unzähligen Texten, die sich alle Gedanken machen über Sprache und Denken – das gibt es zum Beispiel in Brasilien nicht.“
Es geht Pollock um das Hinterfragen des scheinbar Eindeutigen, darum, Gedächtnis und Erinnerung eines Volkes zu untersuchen. Warum haben sich manche Texte erhalten, welchen Nutzen sahen die Menschen darin? „Warum betrieb man so viel Aufwand dafür und warum vielleicht noch mehr Aufwand, um andere Texte zu zerstören?“ Das sind Fragen, die sich Sheldon Pollock stellt. „Das ist meine Art von Zukunftsphilologie.“ Sie studiert durch alte Texte die Vergangenheit, ist aber immer auf die Zukunft bedacht: „ Ich bin nicht an der Geschichte interessiert, um einer goldenen Vergangenheit nachzutrauern, sondern um dabei helfen zu können, eine bessere Zukunft zu schaffen“, sagt Pollock.
Eine bessere Zukunft – um dieses Ziel zu erreichen, muss man die Köpfe der Menschen erreichen, davon ist Pollock überzeugt. Er bezieht sich auf die Stellung der Unberührbaren in Indien und sagt: „Es gibt eine Verfassung, es gibt Gesetze. Wenn es danach ginge, wären sie gleichberechtigt. Aber es gibt auch Mentalitäten.“ Diese sind häufig festgefahren und schwer zu ändern. Was kann man also tun? „Man muss es kritisieren. Nicht nur mit der Idee der Gleichheit, sondern auch durch die Analyse des Zustandekommens dieser Mentalität“, argumentiert Pollock. Und hier sind wir wieder beim „langsamen Lesen“ angelangt: „Um die Vorstellungen [des Kastendenkens] in den Köpfen aus den Köpfen zu bekommen […] Dabei hilft das genaue, das kritische Lesen.“
Dass immer weniger Leute klassische indische Sprachen sprechen, beunruhigt Sheldon Pollock: „Dieses Wissen ist dabei auszusterben“, und damit sterben ganze Kapitel indischer Geschichte aus. Die Inder, die ganz vorne bei der Software-Revolution dabei sind, seien meist Brahmanen, „Kinder und Enkel derer, die noch jahrelang Sanskrit – eine komplexe Grammatik mit subtilen Unterscheidungen – studiert haben. […] Sie sollten beides machen: Sanskrit und den binären Code“, fordert der Professor. Und er sieht auch Berlin in der Pflicht: „Die Berliner Universität hat die größte moderne philologische Tradition weltweit. Berlin sollte ein zeitgemäßes Zentrum der Philologie aufbauen, einen Ort, an dem Philologen aus aller Welt zusammenarbeiten. Philologie nicht als Wissenschaft des Nationalstaates, sondern als globales Handwerk. […] das wäre ein riesiger Schritt. Glauben Sie mir: Es wäre die Etablierung einer neuen Wissenschaft.“
Quelle: http://trafo.hypotheses.org/372
Oberbayerisches Archiv 137 (2013) erschienen
Druckfrisch fand ich heute bei mir im Briefkasten den 137. Band des Oberbayerischen Archivs, der Zeitschrift des Historischen Vereins von Oberbayern, vor. Darin enthalten ist ein bunter Reigen interessanter Beiträge:
Josef H. Biller, Das tragische Ende eines Frühvollendeten. Der Müncher Kupferstecher Johann David Curiger (1707-1737) – Herkunft, Leben und Werk, 9-63
Der Beitrag behandelt den bisher weitgehend unbekannten Münchner Kupfersticher Johann David Curiger, der 1707 in Augsburg als Sohn eines aus Einsiedeln in der Schweiz stammenden Schreiners geboren wurde. Ab 1734 war Curiger in München tätig. Intensiver behandelt wird u. a. die Tätigkeit für das Kloster Ettal. Das Werkverzeichnis enthält 13 Nummern, hinter denen sich teilweise auch Kupferstichzyklen verbergen. Tragisch ist Curigers Ende, da er sich das Leben nahm.
Richard Bauer, Held und Herzensbrecher. Die illustrierten militärischen und privaten Erinnerungsblätter von Wunibald Henzler (1750-1822), 64-75
Der Historische Verein von Oberbayern verwahrt in seinen Sammlungen ein Konvolut von 100 meist farbigen Zeichnungen von Wunibald von Henzler aus den Jahren 1785-1805. Henzler stammte aus Eglofs diente in der kaiserlichen, österreichischen Armee. Seine Zeichnungen entstanden größtenteils während der Koalitionskriege und wurde 1805 in den Ruhestand versetzt. Er starb 1822 in Friedeck bei Teschen (Österreichisch-Schlesien). Die Nachfahren schenkten die Bilder 1889 dem Historischen Verein. Die Zeichnungen des Autodidakten entstanden während seiner aktiven Militärzeit. Sie zeigen Landschaften, Kriegszenen und Ortsansichten, aber auch Frauen und Liebesszenen, entsprechend der damaligen Auseinandersetzungen zeigen sie Szenen am Balkan, Frankreich, Flandern, Italien, Schlesien, Tirol und Oberbayern. Der Beitrag ist reich illustriert.
Thomas Weidner, Bildungspolitik für den Machterhalt. Kurfürst Karl Theodor von Pfalzbayern in einem Gemälde von Johann Jakob Dorner d. Ä., 146-191
Der Beitrag behandelt das Gemälde “Kurfürst Karl Theodor als Förderer der Künste in Bayern” von 1794 aus dem Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Der wenig bekannte Dorner, immerhin unter Karl Theodor Inspektor der kurfürstlichen Gemäldegalerie, geriet nach dem Regierungswechsel von 1799 in Vergessenheit. Der Beitrag widmet sich umfangreich aus seiner Biographie im Kontext des künstlerischen Lebens in München des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Christoph Bachmann, “[...] tuen kund, allen, die dies hörend oder sehend lesen [...]“. Das Churbaierische Intelligenzblatt als Medium zur Verbreitung normativer, administrativer und politischer Informationen, 192-220
1765 erschien erstmals das Kurbayerische Intelligenzblatt, eines der entscheidenden Organe der regierungsamtlich gesteuerten Aufklärung in Bayern und gleichzeit ein Vorläufer des Regierungsblatts bzw. des Gesetzblatts. Herausgeber war der Hofkammerrat Franz Seraph von Kohlbrenner, Initiator der Mautreform von 1764, ab 1783 der Geistliche-Rats-Sekretär Peter Paul Finauer, auf den 1795 der Buchhändler Johann Baptist Strobl folgte. 1805 war Ernst August Fleischmann Herausgeber des Intelligenzblatts, das aber durch die Abtrennung des Regierungsblatts 1802 an an Bedeutung verloren hatte. 1814 wurde das Blatt eingestellt, als sich die Regierung entschlossen hatte, für jeden Kreis (Regierungsbezirk) ein Intelligenzblatt einzurichten. Der Beitrag ist die erste ausführliche wissenschaftliche Abhandlung zur Gesamtgeschichte dieses bedeutenden Organs.
Ludwig Wolf, Carl Maria von Webers Aufenthalte in München, 222-231
Carl Maria von Weber lebte in München noch als Kind 1798-1800. Als Erwachsener besuchte er die Stadt 1811 und 1815, wo er den Klarinettisten Heinrich Joseph Baermann kennenlernte, mit dem er zeitlebens befreundet blieb.
Gisela Goldberg, Versteigerung von Gemälden durch die Königliche Centralgemäldegalleriedirektion München im Jahr 1852, 232-273
1852 versteigert die heutige Bayerische Staatsgemäldesammlung 1000 von 8000 Gemälden aus ihrem Eigentum, darunter hochkarätige Werke (Dürer, Altdorfer, Grünwald). Aus dem Erlös wurde im Schloss Schleißheim eine Ahnengalerie der Wittelsbacher eingerichtet. Der Beitrag rekonstruiert detailliert die Vorgänge und das Schicksal einiger Gemälde. Auch die heftigen Reaktionen auf den Vorgang werden dokumentiert. Die naheliegende Kontextualisierung mit den Dublettenverkäufen der Hof- und Staatsbibliothek 1858/59 unterbleibt.
Wolfgang Eisenmenger, Der Gerichtsmediziner Hermann Merkel und seine Gutachterätigkeit im Revolutionsjahr 1919, 274-289
Der Beitrag schöpft aus dem Archiv des Instituts für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität, das Sektionsprotokolle seit 1914 verwahrt. Unter den Protokollen des Jahres 1919 finden sich zahlreiche Untersuchungen von Todesfällen im Zusammenhang mit den Revolutionsereignissen, beginnend ab dem 7. Januar 1919. Prominenente Opfer, deren Sektionsprotokolle erhalten sind, sind Kurt Eisner und die beiden anderen Opfer der Attentate des 21. Februar sowie die Opfer der sog. Geiselmorde im Luitpold-Gymnasium. Auffällig ist die Lückenhaftigkeit von Sektionsprotokollen aus dem Zeitraum vom 13. Mai bis zum 30. Juni. Leiter der Sektionen war der Vorstand des Instituts, Hermann Merkel, der von 1914/18 bis 1945 amtierte.
Timo Nüßlein, Hitlers erste Bauvorhaben in München. Anmerkungen zu einem im April/Mai 1933 überschriebenen Stadtplan, 290-301
Der Beitrag stellt einen durch Zufall im Bayerischen Hauptstaatsarchiv entdeckten Stadtplan Münchens vor, in dem bereits im April und Mai 1933 Überlegungen zu städtbaulichen Maßnahmen in der “Hauptstadt der Bewegungen” skizziert wurden. Die Skizzen stammen vermutlich teilweise von Adolf Hitler selbst, teilweise entweder von Paul Ludwig Troost oder Fritz Gablonsky. Dargestellt sind Überlegungen für ein Parteiforum im südlichen Englischen Garten (vermutlich Haus der Kunst, Museum für Zeitgeschichte, Reichsstatthalterbau) sowie im westlichen Hofgarten (Operngebäude). Markiert sind einige größere Flächen, deren Überplanung noch ohne konkrete Vorhaben angedacht wurde, so der Leopoldpark, die Türkenkaserne sowie das Marstallgelände östlich der Residenz. Skizziert sind außerdem verschiedene weitere Bauten.
Reisen in die Niederlande – ein unkalkulierbares Risiko?
Reisen war in der Vormoderne nicht unbedingt ein Vergnügen. Wer sich auf den Weg machte, hatte einen triftigen Grund dafür. Denn Reisen war aufwendig und barg Risiken; gerade die Gefahr von Überfällen auf Reisende, sei es auf Einzelne, sei es auf ganze Konvois, war nicht zu unterschätzen. Dies galt erst recht in Kriegszeiten. Vor einiger Zeit habe ich kurz auf das Beispiel eines Franziskaners hingewiesen, der 1631 auf einer Reise ermordet wurde. Ansonsten interessiere ich mich aber immer noch schwerpunktmäßig für die Situation am Niederrhein.
Gerade hier war das Gefahrenpotential für Reisende besonders hoch, eben weil in dieser Region Truppen der Spanier, der Katholischen Liga, später auch schwedische, französische und solche in Diensten Hessen-Kassels auftauchten. Vor allem aber waren, wenig überraschend, die Generalstaaten in diesen Landen sehr präsent, gerade indem „staatische“ Streiftrupps diese Gegenden unsicher machten, Überfälle verübten und Gefangene nahmen, die gegen Lösegeld freigekauft werden mußten. Die Belastungen für das Rheinland waren immens, entsprechend groß waren auch die Klagen; die Quellen dieser Jahre sind jedenfalls voll davon.
Was aber tat eine Stadt wie Köln angesichts dieses Problems? Als Handelsmetropole war sie auf einen möglichst ungehinderten Verkehr angewiesen; Störungen aller Art waren naturgemäß Gift fürs Geschäft. Natürlich beteiligte sich der Rat der Stadt auch an dem vielstimmigen Chor der Reichsstände, die für eine größere Sicherheit auf den Straßen plädierten und die Soldateska einer härteren Disziplinierung unterworfen sehen wollten. Ein Blick in die Kölner Ratsprotokolle ergibt allerdings einen etwas anderen Befund.
Ende 1630 gab es einen recht spektakulären Überfall, den generalstaatische Soldaten unweit der Rheinmetropole verübten. Einen Effekt auf die Reisetätigkeit hatte dies aber nicht. Denn gemäß den Ratsprotokollen wurden auch in den folgenden Wochen und Monaten viele Passporte für Kölner Bürger ausgestellt, die ihre Heimatstadt verlassen und sich auf Reisen begeben mussten: Die ganz überwiegende Zahl der Antragsteller ersuchte um Passporte für die Niederlande. Die Anliegen der Reisewilligen sind nicht immer explizit genannt oder aus den dürren Angaben eindeutig erkennbar. Viele waren sicherlich im Handel tätig, andere hatten offenbar verwandtschaftliche Bande, deretwegen sie dorthin aufbrechen wollten. Auffällig ist auch die Zahl der Kölner, die in die Niederlande wollten, um dort ein Handwerk zu erlernen oder ihre Fertigkeit dort zu perfektionieren.
Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass die intensiven Verbindungen zwischen Köln und den Generalstaaten durch die Überfälle von Soldaten gelitten hätten (wobei ich mich hier nur auf die Befunde in den Monaten 1630 und 1631 stützen kann). Ob deswegen die Kriegsauswirkungen – denn dazu ist die Unsicherheit auf den Verkehrswegen sicher zu zählen – als weniger dramatisch anzusehen sind, ist allerdings sehr fraglich. Mag sein, daß manche Zeitgenossen recht schicksalsergeben mit dem Risiko umgingen (vielleicht weil sich ihnen keine Alternative bot), mag sein, daß andere wiederum Möglichkeiten kannten, die Gefahren zu minimieren (was aber aus den Quellen nicht ersichtlich ist). Eine abschließende Einschätzung erscheint mir derzeit noch nicht möglich.
Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/360
Fünf Fragen an … Martin Gravel (Paris VIII)
Sie haben vor ihrem Geschichtsstudium Musik studiert. Wie kam es dazu, dass Sie sich im Anschluss daran dazu entschieden haben, Geschichte zu studieren? Die erste Wahl in meinem Leben fiel auf die Musik. Ich habe zunächst einmal Musik studiert und … Continue reading →
Ein Attentat auf Napoleon?
Am 30. Frimaire des Jahres XIII (21. Dezember 1804) wurde der 1768 auf Schloss Broich bei Jülich geborene Freiherr Theodor von Hallberg-Broich von den französischen Behörden des Hochverrats angeklagt. Mehrere Zeugen bezichtigten ihn, in einer Gaststätte Schmähreden auf Napoleon Bonaparte gehalten und ein Attentat auf den frisch zum Kaiser der Franzosen gekrönten Feldherrn geplant zu haben.
Der Arretierung des in bayerischen Militärdiensten stehenden Hallbergs folgte ein längeres Gerichtsverfahren sowie seine Einkerkerung in der Pariser Conciergerie. Aus Sorge um ihren Sohn, der nicht nur seelisch, sondern auch körperlich unter den Haftbedingungen litt, flehte seine Mutter in den folgenden Monaten bei den französischen Behörden, aber auch beim Kaiser selbst um die Freilassung ihres Sohnes.
In ihrem Bittschreiben an Napoleon führte die Mutter als Gewährsmann für die unerschütterliche Treue zu Frankreich und der Person des Kaisers auch den „Comte de Salm“ auf. Hiermit war mit großer Sicherheit Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck gemeint, der durch zahlreiche Ämter einigen Einfluss in Paris besaß.
Die hier nur angedeutete Gegenüberstellung beider Schicksale verdeutlicht, dass längst nicht jeder rheinische Adlige gewillt war, mit dem napoleonischen Regime zu kooperieren. Während Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck aufgrund seines Einflusses in Paris in den Quellen als „Retter in der Not“ erscheint, sollte der schließlich aus der Haft entlassene Theodor von Hallberg-Broich noch längere Zeit unter den Folgen dieses Vorfalls zu leiden haben. Die Planung eines Attentats auf den Kaiser der Franzosen konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, seine Schmähreden ließen sich jedoch nur unweit schwerer aus der Welt schaffen.
Martin Otto Braun
Quelle: http://rhad.hypotheses.org/416
Glossar: Freundschaft (im Netz)
Wer ist ein/e Freund/in? Die Definition der Begriffe “Freunde” und “Freundschaft” ist auch ohne Bezugnahme auf soziale Netzwerke schwierig. Ist ein Freund/in eine Person aus dem nahen Umfeld, mit dem man Interessen oder Aktivitäten teilt, oder für den man gegenseitige kameradschaftliche Gefühle hegt? Welche Rolle spielen Vertrauen, Wertschätzung und Zuneigung in einer frei gewählten Freundschaft? Gibt es funktionierende Freundschaften zwischen Menschen, die nicht gleichgestellt sind? Und vor allem, sind alle Freundschaften in unserem Leben gleich? Wer sind Freunde/innen im Netz? So verschieden die […]
Codices im Netz – Die Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften und ihre Konsequenzen
Ende November 2013 fand in Wolfenbüttel eine kleine, vom Mittelalter-Komitee der Herzog August Bibliothek organisierte Tagung zum Thema “Konsequenzen der Digitalisierung” statt. Zur Einstimmung in die Tagungsthematik hatten die drei Organisatoren (Stephan Müller/Wien, Felix Heinzer/Freiburg und ich) kurze Statements vorbereitet, die aus der jeweils eigenen Perspektive inhaltliche und methodische Herausforderungen der fortschreitenden Digitalisierung von mittelalterlichen Bibliotheksbeständen und Konsequenzen für deren Erforschung reflektieren. Meine Eingangsüberlegungen können hier in leicht überarbeiteter Form nachgelesen werden. Auf der Tagung hielten ferner Erik Kwakkel (Leiden), Björn Ommer (Heidelberg), Manuel Braun (Stuttgart), Sonja Glauch und Florian Kragl (Erlangen) Vorträge zu laufenden Digital-Humanities-Projekten im Bereich der Analyse, Paläographie, Edition und Auswertung mittelalterlicher Handschriften. Die Ergebnisse der Tagung sollen in einem gemeinsamen Konzeptpapier zusammengefasst und als Blogbeitrag auf de.hypotheses publiziert werden.
Noch ein Turn
Von all den intellektuellen und technischen turns, die die Geistes- und Sozialwissenschaften im letzten Jahrhundert durchgeführt haben, ist der digitale zweifellos von einer anderen Natur und einer breiteren Wirkung, auch wenn nicht jeder in der akademischen Welt von uneingeschränkter Euphorie erfüllt ist. Die Entwicklung von Digitalität (digitality), im Sinne der Konzeptualisierung durch Nicholas Negroponte als ‘the condition of being digital’, ist nicht nur von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz, vielmehr birgt sie auch bedeutende Konsequenzen für die akademische Welt und die Art und Weise, wie wir forschen. Hierbei stellt sich, insbesondere auch bei dem Thema der Wolfenbütteler Veranstaltung die grundlegende Frage: Digitalität verändert zweifellos unseren akademischen Alltag, aber wie sind diese Veränderungen methodologisch, und wenn man es so formulieren will, epistemologisch zu begleiten?
Vor allem die Sicherung, Dokumentierung und Bereitstellung des kulturellen Erbes in seiner materiellen Vielfältigkeit und Heterogenität stellen uns vor neue Herausforderungen. Hier sind grundlegende methodische Konzepte nicht nur für die so genannten Digital Humanities, sondern für alle geisteswissenschaftlichen, insbesondere auch die historisch arbeitenden Disziplinen insgesamt zu entwickeln. Die Frage ist also eindeutig nicht mehr die Frage nach dem ob der Digitalität und der digitalen Wissensbestände, sondern die nach dem wie. Der Bogen an Möglichkeiten spannt sich von mittlerweile anerkannten Parametern wie der Entwicklung und Anwendung von internationalen Standards, der prinzipiellen Verfügbarkeit des digitalisierten Materials über den Open Access Gedanken und der langfristigen Sicherung dieses Materials über die systematische Dokumentation der digitalen Erschließungstools bis hin zur Herausbildung und Akzeptanz neuer Publikations-, Evaluations- und Anerkennungskulturen im Rahmen digital-gestützter, geisteswissenschaftlicher Forschungsprozesse.
Kulturelle Artefakte und Forschungsobjekte im Wandel
Insbesondere wird nicht nur das Verhältnis zwischen Objekt bzw. Artefakt und wissenschaftlichem Beobachter neu ausgerichtet, sondern auch die prinzipielle Daseinsform dieser beiden Akteure im wissenschaftlichen Prozess, der unter Umständen entkörpert, entzeitlicht und enträumlicht werden kann. Es geht auch darum, das Verhältnis auszuloten zwischen dem historischen (analogen) Objekt und dessen digitalen Repräsentanten bzw. Abstraktionen, oder wie es unsere Oxforder Kollegin Ségolène Tarte formuliert, deren digitalen Avataren, die durchaus ihre eigene Existenzformen haben und auch eigene Gefahren im wissenschaftlichen Umgang mit ihnen bergen. Ferner gibt es auch die so genannten “digital born objects”, die so intendiert, gezielt produziert und ausschließlich digital existieren, wie etwa die nur virtuell vorhandene 3D-Rekonstruktion einer Handschriftenseite aus einem heute völlig verkohlten Fragment oder die Rekonstruktion eines Artefakts, das nie existierte, dessen Planung jedoch aus schriftlichen Quellen bekannt ist. Und schließlich gibt es Formen der Hybridität, der unterschiedliche Existenzformen vereinen.
In diesem Spannungsfeld der Objektvielfalt sind Forschungsprojekte im Rahmen der digitalen Erschließung und Analyse von Handschriftenbeständen angesiedelt, welche entsprechende Erkenntnismöglichkeiten eben nur durch die Existenz der Digitalisate ermöglichen. Dies betrifft sowohl das Digitalisat im Sinne der Einzelüberlieferung (etwa die Analyse einer Handschrift bzw. kleinerer Quellengruppen) als auch der Möglichkeit der Analyse und Auswertung von sehr großem Datenmaterial, das nur mit computergestützten Methoden zu bewältigen ist (hierzu hat Björn Ommer einen spannenden Vortrag zur Computer Vision gehalten). Die Herausforderung im Bereich der Digitalisierung ist es aber auch, wie bereits vielfach und auch auf der Wolfenbütteler Veranstaltung unterstrichen wurde, nicht nur Antworten auf die Fragen von heute (die wir ja kennen und formulieren können) zu finden, sondern auch zukünftige Fragen, die wir unter Umständen heute noch gar nicht fassen können, zu ermöglichen. Dies erfordert eine teilweise unübliche, noch zu erlernende methodologische Offenheit, und eine über die Perspektiven der Einzelfächer hinausgehende grundlegende Bereitschaft zur Interdisziplinarität.
Im Hinblick auf historische Bibliotheksbestände ist die Ausgangslage eine auf den ersten Blick Erfreuliche: Früh hat sich das “digitale” Augenmerk auf diese einmaligen Kulturbestände gerichtet, so dass inzwischen solide Erfahrungswerte vorhanden sind, und vielfach auch entsprechende Digitalisierungsstandards entwickelt werden konnten. Die Anzahl der Digitalisierungsprojekte oder der virtuellen Rekonstruktionsprojekte zu mittelalterlichen Bibliotheken ist etwa bereits für den europäischen Raum kaum zu überschauen, ganz zu schweigen von Vorhaben zu nicht-europäischen Schriftkulturen. Teilweise entstehen – auch durch besondere Umstände bedingt und abhängig von der jeweiligen Fragstellung oder Schwerpunktsetzung – so genannte Insellösungen, die nicht immer mit gängigen Digitalisierungs- und Kodierungsstandards kompatibel sind, und die somit auch eine Vergleichbarkeit und eine Interoperabilität der unterschiedlichen Digitalisierungsprojekte bereits auf nationaler Ebene erschweren. Hier wird eine der wichtigen Herausforderungen der nächsten Zeit sein, Brücken zu schlagen und Austauschmöglichkeiten der Formate zu ermöglichen, um übergreifende Untersuchungsszenarien zu ermöglichen.
Verlässt man die reine Digitalisierungsebene der Bestände in Richtung wissenschaftliche Erschließung, so können einerseits ausgehend von bereits vorhandenen, digitalisierten und entsprechend annotierten Beständen weiterführende Forschungsprojekte angeschlossen werden. Aus dem Trierer DFG-Projekt „Virtuelles Scriptorium St. Matthias“, das die heute dislozierte, mittelalterlich Bibliothek von St. Matthias in Trier virtuell rekonstruiert, ist zum Beispiel das größere, vom BMBF geförderte Kooperationsprojekt „eCodicology“ entstanden, in dem u. a. Philologen, Buchwissenschaftler und Informatiker aus Darmstadt, Karlsruhe und Trier Algorithmen zum automatischen Tagging mittelalterlicher Handschriften entwickeln, die Makro- und Mikro-Strukturelemente einer Handschriftenseite im Hinblick auf Layout und Aufmachung automatisch erkennen und diese Informationen in die Metadaten zu jedem Image einpflegen. Das geht so weit gut, weil wir uns quasi ins gemachte Bett legen, sprich eigene, homogene Daten zu 500 mittelalterlichen Handschriften zu forschungsfragengetriebenen Analysen verwenden können.
Hybridität der Angebote in den digitalen Wissensräumen und Hürden im Forschungsalltag
Anders sieht es bezüglich der Quellengrundlage bei Vorhaben bzw. forschungsgetriebenen Einzelfragen aus, die man gerne als “traditionelle” Vorgehensweise bezeichnet (aber nicht ganz zutreffend, da diese doch eine zeitlose Daseinsform geisteswissenschaftlicher Forschung darstellt), und die auch nicht mit einem vorhandenen, homogenen digitalen Korpus etwa einer Bibliothek bzw. einem bereits fertigen Digitalisierungsprojekts zu einem bestimmten Thema zu bewältigen ist (bzw. es zur Zeit noch nicht ist). Ich möchte hier von einem eigenen Beispiel ausgehen: Im Rahmen einer Untersuchung zur Kulturgeschichte der Annotation habe ich an einer kleineren interdisziplinären Fallstudie, bei der der Ausgangsgedanke war, die Textgeschichte (und auch Texterfindung) des berühmten Architekturtraktates des antiken Autors Vitruvius durch die Überlieferung annotierter Exemplare vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit zu erforschen. Eine erste Stichprobe ergab, (u.a. auch dank der Existenz einer Online-Vitruv-Datenbank, die zumindest einen Teil der Zeitstrecke abdeckte), dass offenbar genügend Digitalisate entsprechender zentraler Handschriften, Inkunabeln und frühen Drucke für diese Fallstudie zugänglich sein müssten. Soweit die Theorie, die Praxis sah jedoch etwas anders aus: Viele Digitalisate, auch aus bekannten Bibliotheken bzw. auf der Europeana-Plattform, waren qualitativ so heterogen, dass zum Teil im schwarz-weißen Avatar der Buchrand selber und auch die eigentlich im Ausgangsobjekt vorhandenen Marginalien nicht mehr erkennbar waren. Ferner gab es regelmäßig Fehlverknüpfungen bzw. ungenaue Zuweisungen der Digitalisate einerseits innerhalb der Bibliothekskataloge selber und andererseits (wenn auch in geringerer Anzahl) in die vorhandene Vitruvdatenbank. Was hier unter Umständen für eine wissenschafts- oder architekturhistorische Fragestellung zu verschmerzen gewesen wäre (aber wahrscheinlich auch dort nicht), war aus philologischer Sicht methodisch deprimierend. Das Resultat war, dass ich die im Netz gewonnenen Daten zwar genauestens im Sinne einer Quellenkritik und auf dem Hintergrund eines Gesamtkorpus geprüft habe, aber dann entschieden habe, das digitale Angebot eher als Zusatzmöglichkeit zu nutzen und sonst gezielt wiederum das Original in der Bibliothek aufzusuchen. Trotz des vermeintlich überlieferungsgeschichtlich gut dokumentierten Vitruv, hat also das zur Zeit vorhandene, recht üppige digitale Angebot nicht gereicht, um (bereits jetzt) eine digital indizierte Einzelstudie durchzuführen, unter anderem eben wegen der unterschiedlichen Qualität der Digitalisate und deren Erschließung. In diesem Zusammenhang kommen die Historizität und Heterogenität der Bestandsdigitalisierung selber zum Vorschein, die im Laufe der letzten fünfzehn Jahre entsprechende Variabilitäten erzeugt hat. Insgesamt wäre es bestimmt interessant für Vitruv-Forschergemeinschaft, auf eine auch eine unkomplizierte, kollaborative Forschungsplattform zurückzugreifen, in der eigene zusätzliche Digitalisate und Erkenntnisse hätten eingepflegt werden können, und so langsam aus dem vorhandenen digitalen Angebot zu schöpfen bzw. diesen gezielt zu ergänzen.
Als Zwischenfazit bleibt im Bereich der einzelnen forschungsfragengetriebenen Analysen (die man auch als bottom-up-Prozesse verstehen kann) der Befund eines qualitativ hybriden Angebots im Bereich der Digitalisierung und der digitalen Erschließung mittelalterlicher Quellen, bei dem wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr genau darauf achten müssen, womit wir es zu tun haben (bzw. in anderen Worten: Prüfe, bevor du dich bindest). Dies sollte jedoch kein Grund sein, digitale Quellen nicht zu nutzen, sondern auch als Ermutigung verstanden werden, sich für eine Verbesserung des Angebots und dessen transparente Dokumentation zu engagieren, und sich auch konsequent für eine entsprechende heuristische Quellenkritik (“critique des sources”) einzusetzen, wie wir es ja sonst auch bei der “traditionellen” Quellenarbeit mit historischem Material tun.
Brainstorming für eine übergreifende Dokumentation einer bestands- und forschungsorientierte Digitalisierung
Die Frage ist ferner, wie man internationale Standards, offene Schnittstellen und Best Practice-Verfahren für die Digitalisierung und Erschließung dieser Bestände nicht nur entwickeln kann (denn die gibt es ja vielfach schon), sondern auch so propagieren kann, dass Insellösungen eher vermieden bzw. mit ihren Besonderheiten anknüpffähig werden, sowie Anforderungen der disziplinenindizierten Grundlagenforschung (wie etwa mit dem Vitruvbeispiel) aufgefangen werden können.
In dieser Hinsicht wäre der Gedanke eines internationalen Digital Documentation Platform of Manuscript Collections überlegenswert (hier könnte dann Erik Kwakkel zum Beispiel nach allen digitalisierten, westeuropäischen Handschriften des 12. Jahrhunderts sammlungsübergreifend suchen, wie er es sich in seinem Wolfenbütteler Vortrag gewünscht hat). Sinnvoll wären in diesem Sinne auch grenzüberschreitende Zusammenschlüsse versierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die als interdisziplinär aufgestelltes Gremium auch methodologisch-infrastrukturell operieren und das Verhältnis von Digitalisat und analoger Vorlage sowie das Verhältnis zwischen digitalisiertem historischem Objekt und Wissenschaftlern theoretisch ausloten (im Sinne kollaborativer Zusammenarbeit, ohne top-down-Vorgehen). Dabei wären Synergien mit anderen Initiativen zu digitalen Forschungsinfrastrukturen (etwa Nedimah, Dariah u. a.) und Census-Vorhaben zur mittelalterlichen Überlieferung auszuloten und anzustreben.
Auch die Erarbeitung eines Kriterienkatalogs oder “Qualitätssigels” zur wissenschaftlichen Bewertung der digital zur Verfügung stehenden Handschriften bzw. Sammlungen sollte überlegt werden, anhand dessen die Benutzerin auf der jeweiligen Homepage übersichtlich und transparent über das Datenmaterial und dessen Aufbereitung informiert wird, und ihr auch die Möglichkeit eines direkten Feedbacks gegeben wird (etwas was ich mir schon lange für das VD16 und VD17 zum Beispiel wünsche). Notwendig sind ferner die Entwicklung und Auslotung von konkreten Benutzerszenarien und Benutzerstudien, mit deren Hilfe dokumentiert werden kann, welche Anforderungen an Digitalisate sowohl disziplinenorientiert als auch in übergreifender Sicht gestellt werden können und müssen.
Und schließlich sollten Studierende und der wissenschaftliche Nachwuchs frühzeitig für die Gesamtproblematik der Digitalisierung, dem Umgang mit dieser sowie ihrer Konsequenzen sensibilisiert und entsprechend ausgebildet werden – dies nicht nur in den neuen Studiengängen der Digital Humanities, sondern allgemein in den Einzeldisziplinen im Sinne einer traditionellen Heuristik und Quellenkunde im Umgang mit digitalisiertem Kulturgut.
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Für die Diskussion über und Anregungen zu meinem Eingangsstatement danke ich den Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern sowie Vera Hildenbrandt (Trier Center for Digital Humanities), Falko Klaes (Universität Trier, Ältere Deutsche Philologie) und Georg Schelbert (Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Kunstgeschichte).
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Literatur (Auswahl)
Claudine Moulin, Multiples vies paratextuelles: Vitruve, De Architectura, 2013 (abrufbar unter: http://annotatio.hypotheses.org/222)
Nicholas Negroponte, Being Digital, New York 1996
Ségolène Tarte, Interpreting Ancient Documents: Of Avatars, Uncertainty and Knowldege Creation, ESF exploratory workshop on Digital Palaeography, Würzburg, Germany, http://tinyurl.com/esfDPwkshp, Talk given on 22d July 2011(http://oxford.academia.edu/SegoleneTarte/Talks/49627/Interpreting_Ancient_Documents_Of_Avatars_Uncertainty_and_Knowldege_Creation)
Virtuelles Skirptorium St. Matthias: http://www.stmatthias.uni-trier.de/ (DFG-Projekt
ECodicology: Algorithmen zum automatischen Tagging mittelalterlicher Handschriften: http://www.digitalhumanities.tu-darmstadt.de/index.php?id=ecodicology (BMBF-Projekt)
Soziologischer Monatsrückblick November 2013
Der Einsendeschluss für unsere nächste Ausgabe zum Thema „Krisen und Umbrüche. Wie wandeln sich Gesellschaften?” ist abgelaufen – habt’ für die vielseitigen und interessanten Einreichungen vielen Dank! Im Dezember werden wir nun im Redaktionsteam eure anonymisierten Beiträge diskutieren und darüber abstimmen, welche Artikel wir … Continue reading
Psychologie als SozialWissenschaft – die Instrumente der Psychologie
Psychologen messen gerne. Ob bei der Evaluation einer Unternehmensstrategie, bei einem Vorstellungsgespräch oder in der Therapie, eine Frage stellen Psychologen gerne: Wie meinen Sie das genau? Was genau meinen Sie mit Kundenzufriedenheit, woran könnte ich einen zufriedenen Kunden erkennen? Was genau meinen Sie, wenn Sie sagen, dass Sie flexibel sind, können Sie mir Beispiele für flexibles Handeln in Ihrem Leben nennen? Was genau meinen Sie mit Schlafproblemen, bei welcher Schlafmenge und -qualität würden Sie von gesundem Schlaf sprechen? Mit solchen Anstößen zur Konkretisierung versuchen Psychologen die Verbindung herzustellen zwischen dem eher allgemeinen Abstraktionsniveau, auf dem sich alltägliche Gespräche und Gedanken oft bewegen, und der Sphäre des für jedermann Beobachtbaren.
Fragen wie diese können zu einer gewissen Genervtheit führen, weil sie in den Bereich dringen, der für uns selbstverständlich ist (“Ja, Herr Psychologe, Albträume find’ ich nicht so toll…”). Und auch wenn es stimmt, dass in vielen Fällen das für uns Selbstverständliche ebenso für Mitmenschen gilt, so unterschätzen wir aus unserer egozentrischen Sicht doch oft, wie anders die Anderen tatsächlich sind. Es gibt z. B. Studien zur Wahrnehmung von Wahrscheinlichkeits-/Häufigkeitsbegriffen wie ‘wahrscheinlich’, ‘vielleicht’, ‘oft’ und ‘selten’, die zeigen, dass die mit den Begriffen verbundenen Zahlen sowohl zwischen verschiedenen Menschen als auch zwischen verschiedenen Situationen massiv schwanken. “Ich komme wahrscheinlich” kann in Bezug auf ein Vorstandstreffen etwas anderes bedeuten als wenn eine Party gemeint ist und kann von Sabine anders verstanden werden als von Ahmad. Wissenschaft hat aber den Anspruch, erstens für jeden Menschen gleichermaßen wiederholbar zu sein und zweitens konkrete Ergebnisse zu liefern. Darum darf nur das objektiv Selbstverständliche auch für selbstverständlich genommen werden.
Psychologen messen so ziemlich alles. Von der Intelligenz bis zur Fluktuationsrate im Unternehmen, von der Rückfallwahrscheinlichkeit eines Straftäters bis zur Flow-Intensität beim Kochen – alles wird unter die metaphorische Lupe genommen und quantifiziert, d. h. in Zahlen verwandelt. Das Ziel dieser Psychodiagnostik ist dabei immer, zukünftiges Verhalten und Erleben vorherzusagen und Entscheidungshilfen anzubieten. Bei der Berufsberatung bspw. wird versucht, überdauernde Fähigkeiten und Neigungen zu identifizieren und diese mit dem Eigenschaftenprofil verschiedener Berufsgruppen abzugleichen. Der Unterschied zum Ratschlag eines Freundes ist der weitere Horizont der gängigen psychologischen Tests. Standardisierte Persönlichkeits-, Eignugs- und Kompetenztests wurden und werden von so vielen Menschen bearbeitet, dass die Datenbasis weit über die Meinung eines einzelnen Menschen hinausgeht. Die Tests wissen sozusagen besser, wie gut sich jemand konzentrieren kann und wie ausgeprägt die Offenheit für neue Erfahrungen im Vergleich zu Abertausenden von anderen Menschen ist. Sie ermöglichen einen unverstellten Blick auf das eigene Innenleben.
Andererseits kann keine Testbatterie die Einzigartigkeit irgendeines Lebens erfassen und punktgenaue Vorhersagen machen. Es ist ebenso unsinnig, einem einzelnen Testwert sehr viel Gewicht beizumessen wie es kurzsichtig ist, ihm jegliche Relevanz abzusprechen. Die Schwierigkeiten bei der Übersetzung von menschlichem Leben in Zahlen sind niemandem so bewusst wie Psychologen, die, unabhängig von ihrem Spezialgebiet, im Studium zu Experten in Sachen Tests und Untersuchungsdesigns ausgebildet werden. Der diagnostische Blick bleibt nicht auf den Output eines einzelnen Instrumentes beschränkt. Im Gegenteil ist Psychologen daran gelegen, ein möglichst umfassendes Bild von einem Menschen zu bekommen, so dass z. B. Selbstauskünfte (“Ich bin schlau”) sowohl mit Testergebnissen (IQ-Test) als auch mit Verhaltensbeobachtungen (Schachspielen, Sprachgebrauch, …) abgeglichen werden.
Die bunten Fragen konstituieren zwei Screeningfragebögen, von denen einer international bewährt und der andere frei erfunden ist. Augenscheinlich sind sie sich ziemlich ähnlich. Wodurch wird eine Reihe von Fragen zu einem nützlichen psychologischen Instrument? Was unterscheidet psychologische von Dr. Sommer-Diagnostik?
Objektivität
Ein psychologisches Testergebnis sollte so unabhängig von den Umständen der Testung sein wie möglich. Darum entwerfen Psychologen strikte Richtlinien zu Durchführung, Auswertung und Interpretation. Die Reihenfolge der Aufgaben oder Fragen wird festgelegt, die Darbietungsform ist immer die gleiche und sogar die exakten Worte, die der Versuchsleiter bei jedem Schritt sagt, sind im Testmanual nachzulesen. Ebenso werden die Rechenschritte vom ‘Item’ (Fachbegriff für die kleinste Testeinheit, meistens eine Frage im Fragebogen oder eine Aufgabe im Test) bis zum Gesamtergebnis beschrieben. Und zu guter letzt werden auch die konkreten Begriffe vorgeschrieben, mit denen das Ergebnis beschrieben werden soll. Ein IQ von 104 Punkten bspw. wird ’durchschnittlich’, ein IQ von 116 Punkten wird ‘überdurchschnittlich’ genannt. Diese rigorose Standardisierungsunternehmung schafft zwar ein eher kühles und gekünsteltes Ambiente und findet ihre Erfüllung in der Übergabe der Versuchsleitung an einen Computer, doch liegt gerade darin auch die Stärke der Psychodiagnostik: Durch die Entkoppelung des Testergebnisses von zwischenmenschlichen Faktoren lassen sich Entscheidungen fernab von Sympathie und Vetternwirtschaft treffen. Auch wenn Frau Dr. Psycho mich nicht mag, mir etwas Böses will oder mich für extrem dumm hält, kann ich sicher sein, dass sich dies nicht in meinem Testergebnis niederschlagen wird.
Reliabilität
Ein Testergebnis sollte so genau und verlässlich sein wie möglich. Wenn mein IQ gestern 93 war und heute bei 121 liegt, ohne dass ich gestern völlig neben mir stand oder heute geschummelt habe, ist der Test unbrauchbar. Meistens versuchen Psychologen, die Ausprägung relativ stabiler Charakterzüge in Erfahrung zu bringen. Wenn ein Test nun von einem Tag auf den anderen stark schwankt, ist er auf jeden Fall nicht geeignet, etwas Stabiles zu erfassen, sondern misst irgendwelche mysteriösen Zufallsfaktoren, deren Einfluss auf das Testergebnis Psychologen unter dem Begriff ‘Messfehler’ zusammenfassen. Reliabilität ist Unabhängigkeit vom Messfehler und kommt außer in der gerade angesprochenen heute-morgen-Reliabilität (fachsprachlich Retest-Reliabilität) noch in einigen anderen Gewändern daher. Unter anderem umfasst Reliabilität auch das Ausmaß, in dem verschiedene Items dieselbe Eigenschaft messen. Z. B. könnten die Fragen “Mögen Sie Äpfel?”, “Mögen Sie Bananen?” und “Mögen Sie Birnen?” alle die Eigenschaft der Fruchtliebhaberei messen. Aber ob die Fragen “Mögen Sie gebackene Bananen?” und “Mögen Sie Bratäpfel?” denselben Geschmacksvorliebenbereich abdecken, ist fraglich.
Validität
Das Ziel, das psychologische Instrumentenbauer verfolgen, ist letztlich ein einfaches: Sie wollen, dass das Instrument genau das misst, was es messen soll. Wenn ein Test oder Fragebogen dies leistet, nennt man ihn valide und freut sich. Auf dem Weg zur Validität muss man jedoch zunächst die Hürden der Objektivität und der Reliabilität nehmen. Ein Test, der nach Annas Auswertung ein anderes Ergebnis hervorbringt als nach Julians Auswertung, kann nicht zuverlässig und genau sein. Und wenn ein Test nicht zuverlässig und genau ist, wenn er also stark messfehlerbehaftet ist, kann er nicht gut das messen, was er messen soll. Objektivität ist eine Voraussetzung für Reliabilität ist eine Voraussetzung für Validität.
Die Frage, was psychologische Instrumente messen, ist ganz und gar nicht trivial. Führen wir uns noch einmal vor Augen, wie viele gedankliche Schritte zwischen einem praktischen Anliegen wie der Entscheidung, ob ich Selin oder Klaus die attraktive und gut bezahlte Führungsposition anbiete, und einer Aufgabe wie der hier abgebildeten liegen. Einer dieser Schritte ist der zu dem Konstrukt, das wir ‘Intelligenz’ nennen und dem wir als Persönlichkeitseigenschaft eine gewisse, meist nicht allzu geringe Bedeutung beimessen. Aber was ist Intelligenz denn nun eigentlich? Als Laie meine ich, dass Intelligenz etwas mit schnellem Denken zu tun hat und mit dem Erkennen von Mustern und Zusammenhängen – allgemeine geistige Fähigkeiten. Und wenn ich mehr erfahren möchte, komme ich nicht umhin, mir einen Intelligenztest anzusehen. Messinstrumente sind die konkreten Ausformungen eines abstrakten Konstruktes und definieren dieses rückwirkend mit.
Das grundlegende Problem ist, dass es keine absolute Autorität gibt, die ein für alle Mal die Bedeutung von Begriffen festlegt. Die Entscheidung, ob ein Instrument Intelligenz misst oder Kreativität oder Purzelbaumaffinität, treffen Experten auf dem jeweiligen Fachgebiet mit keinem anderen Kriterium als ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer einschlägigen Erfahrung. Wer sagt, dass die Experten tatsächlich Experten sind? Der Rest der Gesellschaft, wir alle gestehen ihnen diesen Status und damit auch die Autorität zu, solche Entscheidungen zu treffen. Die menschlichen Eigenschaften, mit denen forschende Psychologen sich beschäftigen, sind durch und durch sozial konstruiert und stehen für Kritik und Revision weit offen. Wenn wir uns heute alle gemeinsam dazu durchringen würden, einen anderen Haufen Leute als Experten zu betrachten als bisher, würde das den gängigen psychologischen Fragebögen und Tests ihrer Basis berauben. Der Wert jedes psychodiagnostischen Instrumentes ist es, Expertenwissen breitflächig verfügbar zu machen.
Fazit
Psychologen sind Messer. Sie quantifizieren stabile Persönlichkeitseigenschaften mit dem Ziel, Entscheidungshilfen vor einem gesamtgesellschaftlichen Horizont anzubieten. Ihre Messinstrumente sollten so objektiv und genau wie möglich messen und dienen dazu, Expertenwissen breitflächig nutzbar zu machen.
Verwendete Bilder:
NICO looks at himself by Georgia Pinaud, PD, http://en.wikipedia.org/wiki/File:NICO_looks_at_himself.jpg
Empty Wine bottle by Patrick Heusser, CC-BY-SA Unported 3.0, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Empty_Wine_bottle.jpg
Raven-Matrices a11 by Widescreen, PD, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Raven-Matrices_a11.jpg
Quelle: http://psych.hypotheses.org/107