Edition der Faulhaber-Tagebücher beginnt

Michael (von) Faulhaber (1869-1952) war eine der Schlüsselfiguren des bayerischen und deutschen Katholizismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zunächst Theologieprofessor wurde er 1910 Bischof von Speyer und 1917 Erzbischof von München und Freising, letzteres bis zu seinem Tod. Seit 1921 war er Kardinal. Sein Wirken fällt damit in die Zeit von Monarchie, Erstem Weltkrieg, Revolution und Räterepublik, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und den ersten Nachkriegsjahren bis in die frühe Bundesrepublik Deutschland. Faulhaber polarisierte schon Zeitgenossen und bis heute ist er Ziel heftiger, oft auch unsachlicher Kritik.

Daher dürfte die heute, am 15. Oktober 2013, angekündigte Edition seiner Tagebücher von großem wissenschaftlichen Wert sein und zahlreiche neue Erkenntnisse zu Faulhabers Biographie und zur bayerischen (Kirchen-)geschichte erwarten lassen. Faulhaber führte seit 1911 Tagebücher (Besucherbücher), ergänzt durch Gesprächsnotizen.

Diese Unterlagen standen der Forschung bisher nur eingeschränkt zur Verfügung, da sie Faulhabers letzter Privatsekretär, Johannes Waxenberger, nach dem Tod des Erzbischofs an sich genommen hatte. Erst 2010 gelangten die Tagebücher und weitere Unterlagen an das Erzbischöfliche Archiv in München. Doch noch ein zweiter Grund behinderte bisher die Auswertung der Tagebücher – sie sind fast durchgängig in Gabelsberger-Kurzschrift geschrieben. Gabelsbergers Kurzschrift war zwar um 1900 eines der am weitesten verbreiteten Kurzschriftsysteme; mit der Einführung der deutschen Einheitskurzschrift 1924 verlor sie jedoch an Bedeutung und ist heute kaum mehr bekannt.

Die Edition der Tagebücher erfolgt in Zusammenarbeit des Instituts für Zeitgeschichte in München und des Lehrstuhls Kirchengeschichte, Prof. Hubert Wolf, Münster, als DFG-Projekt, das auf auf zwölf Jahre angelegt ist. Erfreulich ist die Ankündigung, dass die Edition auch online erfolgen soll.

Links:

- Pressemitteilung des Erzbistums München und Freising vom 15. Oktober 2013

- Statement von Archivleiter Dr. Peter Pfister mit Hintergrundinformationen zur Überlieferungsgeschichte und zur Quelle

- Gemeinsame Pressemitteilung des Instituts für Zeitgeschichte und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Münster

 

 

 

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/413

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Buchbesprechung: BACK, Dorf und Revolution

 

BACK, Nikolaus: Dorf und Revolution. Die Ereignisse von 1848/49 im ländlichen Württemberg (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 70), Ostfildern 2010.

Von der Existenz dieses Buches hat der Rezensent mit viel Freude und einer kleinen Beimischung von Ärger erfahren. Die Freude bezieht sich auf das Vorliegen einer neuen substantiellen Forschungsarbeit zu diesem Thema; der Ärger auf den Umstand, von ihr nicht rechtzeitig Kenntnis erhalten zu haben, um sie vor der Drucklegung der eigenen Dissertation noch berücksichtigen zu können.

Cover: Nikolaus BACK, Dorf und RevolutionCover: Nikolaus BACK, Dorf und Revolution

Freilich ist es heute nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahrzehnten, der Fall, dass wir von den Ereignissen von 1848/49 im ländlichen Raum fast gar nichts wüssten, aber abgesehen von einer regional sehr unterschiedlichen Qualität und Dichte der vorliegenden Erkenntnisse sind auch manche wichtigen Fragestellungen noch kaum systematisch aufgegriffen worden, während andere als verhältnismäßig gut untersucht gelten können. Dies geht auch aus der Einleitung der vorliegenden Monographie deutlich hervor, welche 2009/10 an der Universität Tübingen als Dissertation angenommen wurde1. Eine beträchtliche Menge an Literatur kann der Verfasser insbesondere zu den ländlichen Unruhen des März und April 1848 in verschiedenen deutschen Staaten anführen (S. 3–11); dabei zeigt sich auch, welche Fortschritte in den vergangenen Jahrzehnten bei ihrer Deutung und Einordnung gemacht worden sind. Hatten sie noch vor einem halben Jahrhundert als letzter Ausläufer des Mittelalters, „noch auf der gleichen Stufe“ mit dem Bauernkrieg von 1525, gegolten2, so haben sich seither wesentlich differenziertere Einschätzungen hinsichtlich der Beweggründe, Akteure und Handlungsformen durchgesetzt, etwa mit den Arbeiten von Andreas Düwel, Robert von Friedeburg und Manfred Gailus3.

Demgegenüber ist der weitere Verlauf des Geschehens im ländlichen Raum während der Jahre 1848 und 1849 noch verhältnismäßig selten systematisch untersucht worden, in erster Linie deshalb nicht, weil sich eine so aufsehenerregende Welle von Unruhen nicht mehr wiederholte. Die schon bald nach der Niederschlagung der Revolution vor allem von konservativen Beobachtern – großer Einfluß kam hier den Schriften von Wilhelm Heinrich Riehl zu4 – aufgebrachte Deutung, nach einem kurzen rauschhaften Intermezzo in den „tollen Märztagen“ sei die Landbevölkerung rasch und nachhaltig zu einer konservativen, weil im Grunde unpolitischen Haltung zurückgekehrt, hat in der Historiographie sehr lange nachgewirkt und tut dies mitunter sogar bis heute5. Immerhin liegen für einige wenige, besonders aktive Regionen bereits Pionierstudien vor, die nachweisen konnten, dass verschiedene Formen zeittypischer politischer Aktivität auch auf dem Land Platz griffen, vor allem Petitionsbewegungen und das politische Vereinswesen. Als Marksteine erscheinen hier vor allem die Arbeiten von Michael Wettengel zu Hessen-Darmstadt und Nassau6 sowie von Jonathan Sperber zum Rheinland7.

An diese Vorbilder anschließend will der Verfasser des hier gegenständlichen Buches für den Raum des ehemaligen Königreichs Württemberg „untersuchen, ob und wie sich die Politisierung der Landbevölkerung nach den Märzunruhen 1848 fortsetzte“ (S. 15). Er geht dabei vor allem insofern noch einen Schritt weiter als Wettengel und Sperber, als er den ländlichen Raum nicht auch, sondern ausschließlich ins Auge fassen und die Entwicklung in den Städten nur so weit behandeln will, wie dies zum Verständnis und zur Erklärung des in den Dörfern Beobachteten erforderlich ist. Wie sich im Verlauf der Untersuchung erweist, waren die Verflechtungen dicht, der Blick auf die Städte bleibt somit durchgehend notwendig, aber – und dies ist von größter Wichtigkeit – die Entwicklung auf dem Land kann dennoch nicht allein als Folge städtischen Einflusses gedeutet werden, sondern ist als Resultat der Interaktion urbaner Impulse mit autochthonen Initiativen in und aus den Landgemeinden zu verstehen. Das Spektrum der in Betracht kommenden „politischen Äußerungen“ wird erfreulich breit abgesteckt: „Volksversammlungen, Petitionen, der so genannte ‚Rau-Ausmarsch‘ vom September 1848, vor allem aber die Entstehung von politischen Vereinen und schließlich in einzelnen Gebieten Ausmärsche zur Unterstützung der Nationalversammlung im Juni 1849“ (S. 15–16). Daneben werden noch andere Aktivitäten wie Spendensammlungen, öffentliche Feiern oder die Verbreitung und Lektüre von Zeitungen und politischen Broschüren, weiters Institutionen wie Bürgerwehren, Gesangs- und Turnvereine mehr oder weniger detailliert behandelt.

Dass sich die Untersuchung auf das ganze Königreich Württemberg erstreckt, wird in erster Linie mit der schütteren Quellenlage begründet, die einen näheren Fokus unergiebig gemacht hätte (S. 16). In der Tat liegt ein großer Vorzug der Studie in der sehr ausgedehnten und zugleich sorgfältigen Quellenarbeit. Der Verfasser hat neben den Akten der württembergischen Zentralstellen jene der Oberämter und der Gerichte benutzt, zudem kirchliche Archive, das Heilbronner Stadtarchiv sowie in Einzelfällen weitere Gemeindearchive. Darüber hinaus hat er eine Vielzahl regionaler und lokaler Zeitungen – vom Boten von Aalen bis zum Amts- und Unterhaltungsblatt für den Oberamtsbezirk Urach – penibel ausgewertet und ihnen selbst kleinste Erwähnungen und Annoncen im Zusammenhang mit politischer Aktivität abgerungen. Ihm ist dabei stets bewusst, dass in den wenigsten dieser Quellen die zentralen Subjekte seiner Untersuchung, die Dorfbewohner, sich aus eigenem Antrieb äußern. Was Angehörige des urbanen Bürgertums oder der Beamtenschaft zu ihnen oder über sie zu sagen hatten, spiegelt oft mehr die Wahrnehmungen und Intentionen dieser Sprecher, als dass es unmittelbar als Information über das Leben in den Dörfern dienen könnte; und nicht selten handelt es sich dabei um Standpunkte, die der pro-revolutionären politischen Aktivität der Landbewohner ablehnend gegenüberstanden. In einer jener Situationen, in denen die Worte dörflicher Aktivisten am ehesten verschriftlicht wurden, nämlich bei behördlichen Vernehmungen, hatten sie ein markantes Interesse daran, sich unwissend und unpolitisch darzustellen. Der Verfasser ist dem mit einer vorsichtig abwägenden Quellenkritik begegnet und hat auch, wo es möglich war, die Aussagen unterschiedlicher Quellen miteinander abgeglichen. Dies verschafft seinen Befunden ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit.

Ein kurzes erstes Kapitel skizziert die wirtschaftliche und soziale Situation im Vormärz und am Vorabend der Revolution (S. 24–36). Hervorgehoben werden dabei die vielfachen Unterschiede zwischen den alt- und den neuwürttembergischen Gebieten im Hinblick etwa auf das Erbrecht und die dadurch bedingte Sozialstruktur der Dörfer, auf den Stand der Grundentlastung (in den erst im 19. Jh. durch Mediatisierung von Kleinterritorien an Württemberg gekommenen Gebieten war diese viel weniger weit fortgeschritten) sowie auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung. Das ländliche Handwerk und das Verlagswesen hatten in Württemberg eine hohe Bedeutung, hingegen gab es wenig fabriksmäßige Industrie; die sozial und politisch stabilisierende Wirkung, die sich Regierungskreise von diesem durchaus erwünschten Zustand versprachen (S. 29), hielt allerdings der Wirtschaftskrise der 1840er Jahre nicht stand.

Den Unruhen im März und April 1848 ist der erste Hauptabschnitt gewidmet. Der Autor hat sie in mehrere Kategorien unterteilt: Proteste gegen Adelsherrschaften (S. 37–68), gegen Schultheißen und Gemeinderäte (S. 68–98), gegen staatliche Amtsträger (S. 98–105) sowie antisemitische und xenophobe Ausschreitungen (S. 106–114). Ein beträchtliches – und bisher nicht vollständig wahrgenommenes – Ausmaß nahmen insbesondere die kommunalen Unruhen an: Zwischen März und August 1848 gab es in 353 von insgesamt 1.919 württembergischen Gemeinden einen Wechsel im Amt des Schultheißen, wovon nur die wenigsten ganz ohne Zusammenhang mit der Revolution gewesen sein dürften (S. 71–73)8. Demgegenüber hielten sich die Widersetzlichkeiten gegen die Staatsbeamten sehr in Grenzen; nennenswert sind in erster Linie Konflikte mit dem staatlichen Forstpersonal um die hier wie in vielen Teilen Europas sehr virulenten Fragen der Nutzungsrechte an öffentlichen Wäldern. Die Darstellungsweise ist in diesem wie in den folgenden Kapiteln vorwiegend systematisch, zu jedem Typ von Unruhen wird der Reihe nach auf die zeitliche und räumliche Verteilung, auf verschiedene Aktionsformen, auf Ziele und Anliegen sowie auf die Identifikation und die Haltungen der verschiedenen Akteursgruppen eingegangen. Dabei ergeben sich interessante und originelle Beobachtungen gerade hinsichtlich der oft komplexen Überschneidungen von Konfliktlinien, wenn etwa gezielt den Fragen nachgegangen wird, wie sich Schultheißen und staatliche Beamte zu Unruhen gegen den Adel stellten, wie Oberamtleute auf Konflikte in den Gemeinden reagierten und so fort.

Im folgenden Abschnitt über den Zeitraum bis Ende 1848 findet sich zunächst eine eher knappe Darstellung der Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung und zum Landtag (S. 115–121), die nicht nur von einer Welle von Volksversammlungen begleitet waren, sondern auch Anlass zu ersten Bemühungen um die Etablierung politischer Vereine im ländlichen Bereich boten. Diese Bezirksvereine des Frühjahrs 1848 blieben allerdings vorerst meist kurzlebig (S. 130–137). Auch zu Gründungen von Vereinen in einzelnen Dörfern kam es in diesem Zeitraum schon, doch waren es wenige, die der Verfasser nahezu einzeln aufzählen und schildern kann (S. 146–172). Die Septemberkrise 1848 löste in Württemberg auch im ländlichen Raum spürbare Resonanzen aus, der auffälligste Vorfall war der von Gottlieb Rau organisierte „Ausmarsch“ im Oberamt Rottweil, an dem sich auch die Bewohner etlicher Dörfer der Umgebung beteiligten. Anhand gerichtlicher Untersuchungsakten lassen sich die dazu führenden Vorgänge in einigen Fällen recht genau nachzeichnen, wobei wiederum systematisch die Positionen und Handlungsweisen verschiedener Akteure herausgearbeitet werden (S. 172–199).

Seine größte Intensität erreichte das ländliche politische Vereinswesen in Württemberg zwischen dem Winter 1848/49 und dem folgenden Sommer, wie im dritten Hauptabschnitt eingehend dargestellt wird. Wichtige Impulse lieferten die Trauer- und Solidaritätskundgebungen nach der Erschießung von Robert Blum in Wien sowie die Veröffentlichung der von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossenen „Grundrechte des deutschen Volkes“. Die demokratische Vereinsbewegung, die sich in diesem Zeitraum mit dem Centralmärzverein für ganz Deutschland und dem Landesausschuss in Württemberg wirksame Dachorganisationen schuf, profitierte von der Stimmungslage, indem sie durch eine massenhaft verteilte Broschüre – die von Carl Mayer verfasste Ansprache an unsere Mitbürger auf dem Lande – gezielt zu Vereinsgründungen auch in den Landgemeinden aufrief. Die Wirkung im Verlauf der ersten Jahreshälfte war beträchtlich, wie der Verfasser zeigen kann; dabei gelangt er wiederum über bisher vorliegende Ergebnisse hinaus9, die sich zu sehr auf amtliche Berichte gestützt hatten, in denen die Oberamtleute offenbar darauf bedacht waren, die Verbreitung demokratischer Vereine kleinzureden (S. 217–222). Vor allem durch die systematische Auswertung von Zeitungen lassen sich ihre Meldungen wesentlich ergänzen, wobei sich nicht weniger als 453 Vereine in Dörfern und Kleinstädten finden (S. 304); dabei räumt der Verfasser freilich selbst ein, dass auch Einzelnennungen berücksichtigt sind, bei denen es nach der Gründungsversammlung keinen Beleg für eine weitere Aktivität gibt.

Während von den meisten also gerade einmal die Existenz nachweisbar ist, können einige wenige Vereine aufgrund einer besonders günstigen Quellenlage eingehend dargestellt werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Vereinsarchive in die Hände der Behörden fielen – schon deshalb eine seltene Situation, weil es im Interesse der Vereinsvorstände lag, dies zu verhindern, und in den meisten Fällen das Schriftgut vorsorglich vernichtet wurde. Für die demokratischen Vereine in Schrozberg, Neckargartach und Großgartach sind die Vereinsakten auf diesem Weg bis heute überliefert und bieten, in dieser Untersuchung großenteils erstmals ausgewertet, viele wertvolle Einblicke. Dazu gehört das Kommunikationsverhalten der dörflichen Vereine untereinander und mit den Organisationen in den städtischen Zentren ebenso wie ihre soziale Zusammensetzung samt interner Konfliktpotentiale, nicht zuletzt aber auch inhaltliche Angaben über die Diskussionen in den Versammlungen. Das Geheimnis einer erfolgreichen demokratischen Vereinstätigkeit lag sichtlich darin, eine Verbindung zwischen politischen Zielen auf der staatlichen und nationalen Ebene einerseits und lokalen Interessen andererseits herzustellen. In Großgartach etwa beschloss der am 18. Januar 1849 gegründete Volksverein, der sich umgehend dem Centralmärzverein anschloss, bereits wenige Tage nach seiner Entstehung Resolutionen gegen ein deutsches Erbkaisertum und für eine republikanische Staatsspitze, befasste sich aber auch mit dem erwünschten Verbleib des Pfarrers in seinem Amt oder mit der Errichtung einer Vieh-Leihkasse. In ein und derselben Sitzung wurde über die Verminderung der Zivilliste und über die Kosten der Gemeindeschäferei debattiert (S. 236–237).

Hervorzuheben ist weiters, dass zwar überwiegend das demokratische Vereinswesen behandelt wird, aber nicht nur dieses. Einen eigenen Teilabschnitt widmet der Verfasser den konstitutionellen Vaterländischen Vereinen und den katholischen Piusvereinen. Während die Ersteren nur in geringem Maße auf die Dörfer ausgriffen, waren die Letzteren in einigen Gegenden deutlich erfolgreicher (S. 282–300). Dies zeigt, dass Mittel und Methoden der politischen Aktivität sich zwar durchaus zwischen den Gruppierungen unterschieden, grundsätzlich aber auch von konservativer Seite die neu aufkommenden Praktiken mitunter aufgegriffen und mit Erfolg eingesetzt werden konnten. Freilich räumt der Autor ein, dass die Präsenz oder Absenz von Vereinen dieser Richtungen keineswegs indikativ für deren faktische Stärke war; dies zeigen etwa die zahlreichen Solidaritätsadressen von Schultheißen und Gemeinderäten für die konstitutionelle Regierung Römer auf dem Höhepunkt der Reichsverfassungskampagne.

Als Führungspersonal dörflicher Vereine traten oft Angehöriger lokaler Bildungseliten hervor, wobei vor allem Lehrer und niedere Beamte (Aktuare) häufig aktiv waren. Mitunter waren auch dörfliche Autoritätspersonen wie Schultheißen und Pfarrer selbst in diesen Vereinen in leitender Stellung präsent (S. 249–278). Gewerbetreibende und Wirte scheinen solche Funktionen ebenfalls oft wahrgenommen zu haben, doch sind ihre Aktivitäten meist schlechter dokumentiert als jene der schreibfreudigeren Aktivisten mit höherer Bildung. Bauern als Vorsitzende oder Schriftführer sind verhältnismäßig selten nachzuweisen. In einer besonders interessanten Schlusspassage dieses Hauptabschnitts spürt der Verfasser den Kontinuitäten zwischen den verschiedenen Typen und Phasen der Aktivität auf den Dörfern nach. Er kann dabei zeigen, dass die Lokalisierung von Agrar- und Kommunalunruhen im Frühjahr 1848 zwar keineswegs perfekt, aber doch auffällig mit der späteren Verteilung des demokratischen Vereinswesens übereinstimmt (S. 301–308). Der Umfang und das hohe Maß an Homogenität der von ihm gesammelten Daten hätten freilich durchaus etwas ausgefeiltere statistische Verfahren erlaubt als die bloße Berechnung von Prozentanteilen, was wahrscheinlich zu klareren Aussagen über die Signifikanz bestimmter Korrelationen geführt hätte.

Ein letzter, knapp gehaltener Abschnitt (S. 309–329) ist den in der bisherigen Literatur bereits gut dokumentierten Ereignissen der Monate April bis Juni 1849 im Zusammenhang mit der Reichsverfassungskampagne und der Verlegung der Nationalversammlung nach Stuttgart gewidmet. Der Verfasser bemüht sich hier, das vorhandene Wissen gezielt im Hinblick auf die Vorgänge im dörflichen Bereich zu ergänzen. Wiederum kann er ein beträchtliches, wenn auch regional und lokal sehr unterschiedliches Maß an Mobilisierung nachweisen und bestätigt damit die Einschätzung von Dieter Langewiesche, „wonach in Württemberg nicht die Metropolen, sondern vor allem die Provinz der hauptsächliche Träger der Reichsverfassungskampagne war“ (S. 329). Dass auch die nach dem Juni 1849 einsetzende Repression den Einfluss der demokratischen Vereine nicht sofort brechen konnte, zeigen die großen Erfolge der Demokraten bei den Wahlen zur verfassunggebenden Landesversammlung im folgenden August (S. 329–333).

Die umfangreichen Datensammlungen des Verfassers sind in einem beinahe 100 Seiten starken Anhang dokumentiert (S. 341–423). Hier finden sich taxative Aufstellungen, jeweils mit detaillierten Quellennachweisen, über die Adelsunruhen im Frühjahr 1848, die Schultheißenwechsel, die Gesangsvereine, die Lesevereine sowie schließlich die Volksvereine. Dieses Material ist von außerordentlichem Wert, keineswegs nur für die künftige lokalgeschichtliche Forschung, und die Entscheidung, es in dieser Form zu präsentieren, ist ausdrücklich zu begrüßen. Dadurch ist eine gut lesbare und klar strukturierte systematische und synthetisierende Darstellung im Text der Abhandlung möglich, ohne dass die weiteren Nutzungsmöglichkeiten der zugrundeliegenden Daten den Nutzerinnen und Nutzern des Buches vorenthalten würden. Die bereits eingangs erwähnte, überaus verdienstliche Rechercheleistung wird bei der Durchsicht dieser Seiten höchst augenfällig.

Insgesamt ist dies ein ausgesprochen wertvolles Buch für die Geschichte der Revolution von 1848/49 wie für jene der Veränderungen der Politik im ländlichen Raum im 19. Jahrhundert überhaupt. Es sind nur ganz wenige Vorbehalte anzubringen. Zum einen hätte sich der Rezensent zu manchen zentralen Konzepten etwas eingehendere Begriffs- und Theoriearbeit gewünscht. Es ist angesichts der neueren Entwicklungen in der Politikgeschichte, aber auch in der Geschichtswissenschaft allgemein nicht mehr als ganz unproblematisch zu sehen, dass etwa die Ausdrücke „modern“ und „Modernisierung“ immer wieder wie selbstverständlich gebraucht werden. Ähnliches gilt für „Politik“ und „Politisierung“, die immerhin den deklarierten Forschungsgegenstand bilden; zur Absteckung dessen, was er unter „Politik“ versteht (und was ihm dementsprechend als „unpolitisch“ gilt), hätte sich der Autor durchaus äußern können. Soweit es sich aus dem Gebrauch ableiten lässt, den er von diesen Worten macht, scheint er ein recht konventionelles, unter Umständen schon veraltet zu nennendes Verständnis dieser Begriffe weiterzutragen: „Politisierung“ beginnt offenbar erst, wenn Interesse an verfassungs- und nationalpolitischen Fragen einsetzt; die antifeudalen Proteste, aber auch die lokalen Anliegen – die Vieh-Leihkassen, Waldnutzungsfragen und so fort – wären demnach wohl (was jedoch nie explizit gemacht wird) als unpolitisch oder vorpolitisch einzustufen?

Der zweite Punkt, der leider angesprochen werden muss, ist formaler Natur. Das Buch ist ungewöhnlich rasch, nämlich offenbar innerhalb eines Jahres nach Annahme als Dissertation, in den Druck gegangen. Diesem Umstand ist möglicherweise anzurechnen, dass es nicht das gründliche Lektorat erhalten hat, das eine so wertvolle Arbeit verdient hätte. Im Fließtext treten Kasusfehler10, Anakoluthen11 und andere sprachliche Unebenheiten12 in einer Frequenz auf, die von diesbezüglich sensiblen Lesenden gewiss als störend wahrgenommen werden muss; sie beeinträchtigen aber immerhin kaum jemals die Verständlichkeit und die Benutzbarkeit des Buches. Dasselbe lässt sich vom Umgang mit Literaturzitaten in den Anmerkungen leider nicht uneingeschränkt sagen. Dieser ist von einer verwirrenden Uneinheitlichkeit; Vollzitate – von nicht immer gleicher Bauweise, insbesondere bei Sammelbänden – wechseln anscheinend ohne konsequent gebrauchtes Prinzip mit Kurzbelegen unterschiedlichster Form. Von diesen sind jene, die nur aus Verfassername und Seitenangabe bestehen, spätestens dann als unzureichend zu bezeichnen, wenn mehrere Texte von Verfassern des fraglichen Namens im Literaturverzeichnis stehen13. In diesem fehlt zudem einige Literatur, die in den Anmerkungen zitiert wird. Das ist umso mehr zu bedauern, als gerade hinsichtlich der Auswertung auch sehr entlegener lokalgeschichtlicher Forschung die bibliographische Leistung des Verfassers fast ebenso verdienstlich ist wie die archivalische Quellenarbeit; durch die ungenauen Belege kommt dies nicht in vollem Maße zur Geltung. Eine konsequente Kontrolle und Vereinheitlichung hätte hier Not getan14.

Dessen ungeachtet kann das Fazit nur lauten: Dieses Buch ist ein auf ausgedehnter und gründlicher Recherche beruhender, wesentlicher Beitrag zu einem Forschungsfeld, das noch große Lücken aufweist. Es verdient, neben die erwähnten Arbeiten von Wettengel und Sperber gestellt zu werden, und ergänzt deren Ergebnisse nicht nur in räumlicher Hinsicht für Württemberg, sondern fügt auch neue Perspektiven hinzu. Eine Verfolgung ähnlicher Ansätze wäre für manche anderen Regionen Deutschlands, geschweige denn für Österreich, unbedingt zu wünschen.

  1. Betreuer war Sönke Lorenz, Zweitgutachter mit Dieter Langewiesche einer der profiliertesten deutschen Historiker der Revolution von 1848/49.
  2. FRANZ, Günther: Die agrarische Bewegung im Jahre 1848, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 7 (1959) 176–193, hier 193.
  3. DÜWEL, Andreas: Sozialrevolutionärer Protest und konservative Gesinnung. Die Landbevölkerung des Königreichs Hannover und des Herzogtums Braunschweig in der Revolution von 1848/49, Frankfurt am Main u. a. 1996; FRIEDEBURG, Robert von: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 117), Göttingen 1997; GAILUS, Manfred: Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847–1849 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 96), Göttingen 1990.
  4. Vgl. dazu ROUETTE, Susanne: Der Bürger, der Bauer und die Revolution. Zur Wahrnehmung und Deutung der agrarischen Bewegung 1848/49, in: JANSEN, Christian – MERGEL, Thomas (Hrsg.): Die Revolution von 1848/49. Erfahrung – Verarbeitung – Deutung, Göttingen 1998, 190–205.
  5. Unangenehm ist beispielsweise, diese Sicht in einem gerade erst erschienenen, sehr um eine avancierte theoretische Position zum Revolutionsbegriff bemühten Artikel wiederzufinden: LEONHARD, Jörn: Über Revolutionen, in: Journal of Modern European History 11 (2013) 170–186, hier 180. Der Verfasser verweist dabei auf mehr als dreißig  Jahre alte Literatur.
  6. WETTENGEL, Michael: Die Revolution von 1848/49 im Rhein-Main-Raum. Politische Vereine und Revolutionsalltag im Großherzogtum Hessen, Herzogtum Nassau und in der Freien Stadt Frankfurt (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 49), Wiesbaden 1989.
  7. SPERBER, Jonathan: Rhineland Radicals. The Democratic Movement and the Revolution of 1848–1849, Princeton 1991. Eine Erfassung sämtlicher politischen Vereine in Stadt und Land für eine weitere Region bietet auch RUPPERT, Karsten: Die politischen Vereine der Pfalz in der Revolution von 1848/49, in: FENSKE, Hans – KERMANN, Joachim – SCHERER, Karl (Hrsg.), Die Pfalz und die Revolution 1848/49, Bd. 1 (Beiträge zur pfälzischen Geschichte 16), Kaiserslautern 2000, 57–242.
  8. Zu diesem Thema liegt zwar bereits eine neuere Arbeit vor, die der Verfasser auch eingehend rezipiert hat, über deren Ergebnisse er jedoch gerade hinsichtlich der quantitativen Auswertung hinausgelangt: BAYER, Birgit: Ich bleibe nicht mehr über Nacht Schultheiß! Die Bewegung gegen die Schultheißen in Württemberg im Frühjahr 1848 (Europäische Hochschulschriften – Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 1033), Frankfurt am Main u. a. 2006.
  9. Vor allem die Untersuchung von BOLDT, Werner: Die württembergischen Volksvereine von 1848 bis 1852 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg – Reihe B 59), Stuttgart 1970.
  10. Beispiele aus einem zufällig gewählten Bereich von wenigen Seiten: „in den fünf zu einfachen Städten ohne Oberamtssitz ‚degradierten‘ Reichsstädte Bopfingen, Buchau [...]“ (S. 147); „das Vorhaben, den ländlichen Raum mittels Bezirksvereine zu politisieren“ (S. 148).
  11. „Stabilisierend für eine Gesellschaft sei [nach W. H. Riehl] ein ‚gesunder Bauernstand‘, die den Unruheherden der Großstadt etwas entgegenzusetzen hat“ (S. 144 Anm. 147).
  12. „Nur eine Woche war Süskind Redner auf einer Versammlung in Suppingen“ (S. 149), gemeint wohl: „Nur eine Woche später“; „Lina Benz sieht denn Grund darin, dass [...]“ (S. 149 Anm. 170).
  13. Etwa „B. Mann, S. 276f.“ (S. 283 Anm. 414). Beide im Literaturverzeichnis angeführten Arbeiten von Bernhard Mann enthalten eine Seite 276, und beide kommen auch inhaltlich in Frage. Keine davon wird in der näheren Umgebung der fraglichen Fußnote mit Vollzitat angeführt. Bei einem vernünftigen Zitiersystem sollten alle diese Formen von Denksport aber gar nicht nötig sein, um den zitierten Text eindeutig zu identifizieren.
  14. Sachliche Irrtümer oder Widersprüche finden sich hingegen kaum – jedenfalls keine, die ohne intime Kenntnis der württembergischen Lokalgeschichte zu erkennen wären. Am Rande sei lediglich darauf hingewiesen, dass auf S. 230 „die in Darmstadt erscheinende demokratische ‚Deutsche Zeitung‘“ erwähnt wird, die ein Volksverein abonnierte. Es muss sich um die Neue Deutsche Zeitung handeln, auf welche die genannten Merkmale zutreffen; die berühmte Deutsche Zeitung von Gervinus, Mathy, Bassermann u. a. wurde dagegen nicht nur nie in Darmstadt herausgegeben, sondern kann auch selbst mit viel Phantasie nicht als demokratisches Blatt eingestuft werden.

 

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/363

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Digitalisierte Quellen – Segen oder Fluch für die universitäre Lehre?

In diesen Tagen beginnt das neue Semester, in dem ich eine Veranstaltung zum Dreißigjährigen Krieg anbiete. In den Mittelpunkt werde ich wie üblich eine intensive Quellenlektüre stellen. Auf diese Weise möchte ich grundsätzliche Probleme dieser Zeit und mögliche historische Herangehensweisen exemplifizieren. Das Angebot an verfügbaren Quellen für diese Epoche ist mehr als üppig: Eine lange Wissenschaftstradition hat vorzügliche Quelleneditionen auf den Weg gebracht; zu den gedruckten Sammlungen kommen seit einigen Jahren Digitalisate der zeitgenössischen Publizistik in geradezu unübersehbarer Menge. Eigentlich ein Traum für jeden, der sich mit dieser Zeit beschäftigt. Und doch ist mir, gerade mit Blick auf die universitäre Lehre, nicht sonderlich wohl dabei.

Denn der Effekt, den ich damit in der Seminarsituation erziele, ist nicht frei von Enttäuschungen: Die Studierenden fremdeln sehr mit dem Frühneuhochdeutschen, und bevor sie überhaupt die Schwierigkeit der Sprache erfahren, müssen sie die Hürde der Fraktur überwinden. Dabei geht es oftmals so mühsam zu, daß es weniger ein Lesen als vielmehr ein Decodieren wird. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort. Bei den in dieser Zeit nicht unüblichen syntaktischen Ungetümen verliert man schnell den Sinnzusammenhang. Am Ende sehe ich bei den Teilnehmern oftmals viel Frustration.

Ich kann nicht verhehlen, daß auch meinerseits Frustration aufkommt. Denn meine unerschütterliche Naivität läßt mich immer wieder glauben, daß die Studis sich schon durchbeißen werden, daß sie es irgendwann einfach wissen wollen und daß ihre Zähigkeit am Ende siegt. Dann würden wir nicht nur über verwechselte Binnen-f und ‑s reden, sondern endlich auch zum historischen Inhalt kommen – auf den es ja eigentlich ankommt.

Am Ende muß ich oftmals sehr viel an Analyse und Ergebnissen in die Lerngruppe hineingeben, um überhaupt inhaltliche Fortschritte zu erzielen. Damit läßt sich leben. Aber der Reiz, sich selbst mit zeitgenössischen Druckwerken auseinanderzusetzen, scheint nicht mehr wirklich zu verfangen. Wo ist die Faszination geblieben, nicht nur wissenschaftliche Editionen inklusive umfassender Erläuterungen zu lesen, sondern sich selbst ganz unmittelbar auf die Drucke dieser Zeit einzulassen? Mein Eindruck ist, daß es über die Jahre immer schwieriger wird, die Faszination für diese historische Epoche anhand von Druckwerken zu vermitteln.

Ja, jetzt spricht der alte Mann: Früher war alles besser! Mir selbst gefällt diese Rolle überhaupt nicht, aber was ist da zu tun? Klar, ich kann meine Didaktik überprüfen, und tue mich auch nicht schwer damit, grundlegende Kenntnisse zu Schrift und Druck der Frühmoderne zu vermitteln: Dann muß man eben einige Schritte zurückgehen, von mir aus auch Ansprüche zurückschrauben. Was ich in diesem Kontext aber wirklich bedaure, ist, daß darüber die Zeit für die inhaltliche historische Analyse nur so dahinschmilzt. Die Möglichkeiten, sich im Schrifttum des 17. Jahrhunderts geradezu zu suhlen, waren für einen Historiker nie besser als heute. Und doch scheint es – zumindest in der universitären Lehre – schwieriger denn je geworden zu sein. Oder sehe ich hier einfach zu schwarz?
(Keine Sorge, die Veranstaltung werde ich wie gewohnt durchziehen …)

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/327

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“People want to see this”: Inszenierte Entmachtung und ihre Wirkweise in found footages anhand von ‘The Secluded House’

found footages: Ein Überblick

In den frühen 00er-Jahren gewann das Subgenre found footage unter den Horrorfilmen an Popularität.1Found footages inszenieren meist pseudo-authentische Handkamera-Aufnahmen2, die als von verschwundenen oder toten Protagonisten des Films gemacht und als im Nachhinein aufgefunden proklamiert werden. Die Handlung des Films wird also durch eine wackelige und meist unorientierte Kameraperspektive wiedergegeben, die einen Ich-Blickwinkel simuliert.3 Die Charaktere sind in der Regel nur schwach gezeichnet und ihre Rollen sind ausgesprochen naturalistisch gespielt, ihr Sprechen und Handeln ergibt sich also weniger aus zu vermittelnder Bedeutung als viel mehr aus einer möglichst authentischen, reaktiven Darstellung.

Der rapide Zuwachs der unter dieser Prämisse produzierten Filme in den 00er-Jahren ist vermutlich am ehesten mit der aufkommenden großflächigen Verbreitung von Amateur-Videoaufnahmen, seit Neurem vor allem über Videoportale wie z.B. Youtube, zu erklären. Die wackelige Kameraperspektive4 ist zwar ein schon seit den 20er-Jahren üblicher Effekt5, allerdings ist sie als Perspektive des filmischen Erzählens salopp gesagt eher unkomfortabel und für die Zuschauerlenkung erst einmal kontraproduktiv, da sie so gut wie keine Fokussierung erlaubt; sie macht auf das Gefilmtsein des Gezeigten aufmerksam, ein Effekt, der erwünscht sein kann, in der konventionellen Praxis des Films aber trotz mehrfacher Anwendung über die Jahrzehnte hinweg eher untypisch bleibt. Erst die Sensibilisierung des Publikums für diese wackelige Präsentationsweise durch weitverbreitete Privataufnahmen und das damit einhergehende Gattungswissen – wenn man bei reellen Amateuraufnahmen von einem solchen überhaupt sprechen möchte – machen eine wirkungsvolle Funktionalisierung der Handkamera-Perspektive möglich. Zudem sorgen die leichte und wenig kostenintensive Produzierbarkeit, da ja beinahe jeder Anspruch an die Ästhetik und technische Hochwertigkeit des Filmens hinfällig wird, und die enorme Verbreitung von Handkameras und äquivalenter Technologie in etwa den letzten zwei Jahrzehnten für einen Boom an nicht-kommerziellen und nicht selten über das Internet zugänglich gemachten Laienproduktionen, die sich des Formats bedienen.

Diese Produktionen folgen oftmals einem auf den ersten Blick sehr simplen, dabei aber wirkungsvollen Schema, das sich an anderen Horrorfilm-Formaten6 orientiert. Ich möchte dieses Schema exemplarisch an einem Beispiel ausführen und darauf erzähltheoretische Schlüsse aufbauen. Die Verallgemeinerbarkeit dieser Schlüsse auf das Genre, selbst noch in seinem spezifischen Vorkommen als Laienproduktion, muss notwendigerweise infrage stehen; ein Defizit, das ich im Rahmen dieses Beitags sicherlich nicht beheben können werde. Es geht mir allerdings auch viel eher um die Beschreibung eines spezifischen Vorgehens zur Zuschauerlenkung, das m.E. grundsätzlich nur mit gewissen Anstrengungen verallgemeinert werden könnte, weil es sich erst in der Spannung von Erzählschema, Erzählform und Erzählmedium ergibt – die Abhängigkeit der Lenkungsstrategien von dieser Trias wird hoffentlich im Folgenden klarer werden können.7

‘The Secluded House’: Zusammenfassung und Schema des Erzählens

Im australischen found footage-Horrorfilm The Secluded House von 2012 (Freeze Frame Films, Autoren: Dion Cavallaro, Paul Thomas) dokumentieren vier Jugendliche ihren nächtlichen Ausflug in ein verlassenes und stark heruntergekommenes Haus in Südaustralien, in dem es in den vergangenen Jahren zu unerklärlichen Vorkommnissen gekommen sein soll. Als Exposition dient eine Erklärung durch Paul darüber, was die Protagonisten vorhaben und warum sie ihren Ausflug filmen wollen.8 Die „Trägerschaft” der Kamera wechselt hier wie auch im weiteren Verlauf zwischen Paul und Dion, die Cain und Joel auf dem Weg zu besagtem Haus abholen. Nach einer längeren Autofahrt am Haus angekommen erkunden die vier ein Stück der Umgebung und begeben sich dann in die Ruine, die ausführlich inspiziert wird. Nach einer Weile sind erste, schlecht identifizierbare Laute zu hören und wenig später weist Dion darauf hin, dass er etwas an einer Türöffnung vorbeifliegen sehen hat. Cain begibt sich daraufhin allein durch die Tür nach draußen und ist plötzlich spurlos verschwunden. Die Gruppe sucht nach ihm und findet seine Taschenlampe auf dem Boden, Joel glaubt Cain gehört zu haben und rennt in die Dunkelheit davon, daraufhin ist auch er verschwunden. Paul und Dion suchen daraufhin das Gelände nach ihnen ab, sie hören Joel nach Cain rufen und laufen den Rufen entgegen, dann hören sie Geräusche aus der Richtung eines Schuppens. Als sie hineingehen, fällt Paul in ein Kellerloch; Dion kommt ihm die Treppe hinab zuhilfe. Als sie sich kurz umsehen und Paul seine Taschenlampe, die beim Fall gelitten hat, wieder zum Laufen bringen will, kracht plötzlich die Falltür zu, gefolgt von einem weiteren Knall, durch den Dion sein Mobiltelefon fallen lässt. Im durch einen Wackelkontakt gestörten Licht von Pauls Taschenlampe und in Panik suchen sie nach Orientierung, nach mehreren Schwenks durch Halbdunkel und komplette Dunkelheit ist Paul zu sehen, den plötzlich eine Hand von hinten greift; die beiden stürmen panisch aus der Luke nach draußen. Sie durchsuchen erneut die Ruine, immer wieder sind Geräusche zu hören, schließlich stößt Joel an der Hinterseite des Hauses zu ihnen, er erzählt ihnen von einem weiteren Schuppen, von dem er meint, dass Cain sich dort aufhalten könnte. Als sie sich dort umsehen, hören sie einen Schrei aus dem Haus dringen. Sie vermuten Cain und laufen dorthin zurück, finden Cain, der unvermittelt im Gang steht und sich plötzlich steif verrenkt; als sie ihm näher kommen, greift er sie offenbar an, die Kamera fällt zu Boden und Cain wird von seinen drei Freunden gebändigt und dann zurück zum Auto geschleift, er ist bewusstlos. Auf der Rückfahrt sieht man Cain aufwachen und völlig abwesend aus dem Fenster starren, der Film endet mit einem dokumentarisch über die Ereignisse hinausweisenden Kommentar: Am nächsten Tag sei eine Polizeisuche initiiert worden, nachdem die Jugendlichen nicht nach Hause gekommen sind. 27 Stunden später sei ihr Auto auf einem abgeschiedenen Feldweg gefunden worden, alle Türen seien geöffnet gewesen. Beim Absuchen der Umgebung seinen keine Spuren gefunden worden, ein genaues Durchsuchen des Wagens aber habe dazu geführt, dass die Polizei die Videokamera gefunden habe, die teilweise ins Kofferraumfach eingeschmolzen gewesen sei. Die Aufnahmen haben zu weiteren Ermittlungen und zur Sperrung des verfallenen Geländes geführt, der Verbleib der Jungen sei ungeklärt geblieben.

Der sich hieraus ergebende schematisierte Aufbau beginnt mit (A) einer Exposition, in der kurz der Ausgangspunkt des Erzählens umrissen und die Handlungsrelevanz innerhalb der Erzählrealität besprochen wird (meist der Ort, häufig z.B. das haunted house). Es folgen (B) die Darstellung des Normalen und Erwartbaren, etwa für das Publikum belanglose Gespräche (in The Secluded House dienen hierfür vor allem die Autofahrt und die Ankunft auf dem Gelände), die vor allem auch das Ausbleiben von Ereignissen in Szene setzt (das Durchsuchen des haunted house; Spannungsmomente, die sich vorerst als nichtig und logisch begründbar herausstellen oder zumindest durch Rationalisierung übergangen werden können), und (C) die Zuspitzung, in der noch immer nichts Übernatürliches oder Angsteinflößendes geschieht, jedoch die Kontrolle der Protagonisten entgleitet (das Verschwinden Cains und dann Joels, das Ausfallen der Lichtquellen). Danach kommt es (D) zum Hervortreten des Bedrohlichen, des Übernatürlichen (die Hand auf Pauls Schulter), verbunden mit der Gewahrwerdung der Protagonisten über ihr Ausgeliefertsein, die sie allerdings aufgrund (E) eines vorher motivierten Zwangs nicht verlassen können (die Suche nach Cain und Joel; typische Alternativen bilden Gefangenschaft am Ort des Geschehens oder die Unmöglichkeit zur Umkehr). Während andere Horrorfilm-Formate an dieser Stelle in der Regel umschwingen, um in ein Happy-End zu geraten, muss die found footage-Sparte, denn das setzt das Auffinden des Amateur-Material ja gewissermaßen voraus, (F) im ungeklärten Verschwinden oder zumindest für das Publikum erahnbaren Tod der Protagonisten münden.

Vergleicht man dieses Schema beispielsweise mit dem des Spukhaus-Horrors, ergeben sich hier nur wenige Abweichungen, die unter anderem mit dem Erzählraum „Spukhaus”9 zusammenhängen: Im Spukhaus-Schema wird im Vergleich zum found footage-Schema in der Regel nur (D) an (B) angelagert, denn der Kontrollverlust in (C) kommt nicht zustande: Der Einzug in das Spukhaus inszeniert anfänglich eine Form der Kontrolle der Protagonisten über den Erzählraum, die nachträglich durch die übernatürliche „Heimsuchung” als zutiefst gefährdet herausgestellt wird, in aller Regel führt das Spukhaus-Schema in die (Zurück-)Eroberung der Kontrolle (z.B. durch Aussöhnung oder Auslöschung des Übernatürlichen). Während die Zuspitzung in (C) also für found footages funktioniert und Teil einer Steigerung hin zur Überwältigung der Protagonisten zum Schluss in (F) ist und vor dem Hervortreten des Übernatürlichen geschieht, wird die Machtposition der Spukhaus-Bewohner überhaupt erst durch das Übernatürliche infragegestellt.

Rezeptionsreiz und Informationslimitation

Doch was ist nun der Reiz am Erzählformat von found footages? Die wackelige Kamera bleibt ja ein „unkomfortables” Wahrnehmungserlebnis, selbst unter dem Umstand der aktuellen Sensibilisierung; die Charaktere bleiben ja austauschbar und beinahe leer; das Erzählte bleibt trotz pseudo-authentischer, dokumentarisierender Inszenierung befreit von zumindest informativer Relevanz für den Rezipienten. Ton- und Bildqualität sind qualitativ minderwertigen Amateuraufnahmen nachempfunden; und was einen nachsichtigen Rezipienten an 34 Minuten Laienfilm nicht abzuschrecken vermag, sollte spätestens auf Spielfilmlänge mit orientierungslosem Handlungsablauf und empathieunwürdigen Charakteren unerträglich werden. Der Rezeptionsreiz dieser Filme ist allerdings als hoch einzuschätzen, seit dem Erfolg von Blair Witch Project haben mehrere solcher Filme Bekanntheit erlangt und die Produktionskosten verdutzendfacht wieder eingespielt: im Falle von The Devil Inside, 2012, mit US$1 Mio. Produktionsbudget und etwas mehr als US$100 Mio. Ticketeinnahmen verhundertfacht; im Falle von Paranormal Activity, 2009, stehen sogar US$15 000 an Produktionsbudget über US$100 Mio. Ticketeinnahmen gegenüber.10 Hieran hat sicherlich die Vermarktungsstrategie einen großen Anteil, The Devil Inside zum Beispiel wurde trotz seines Erfolges an der Kinokasse überwiegend negativ rezensiert, und es scheint opportun zu mutmaßen, dass die kostensparende Produzierbarkeit von found footages als Grund, weshalb sowohl Studios als auch Laienproduzenten das Format gern bedienen, am meisten ins Gewicht fällt. Dennoch muss ja ein Rezeptionsreiz bestehen, der den Erfolg derartiger Projekte im micro-budget-Bereich rechtfertigt.

Über das Moment des sich zuspitzenden Kontrollverlusts habe ich bereits einige Worte verloren. Anhand von The Secluded House möchte ich ausführen, weshalb ich dieses Moment für einen entscheidenden Faktor halte, Rezeptionslust zu wecken: Auf der Ebene des Erzählschemas hat sich gezeigt, wie der Verlust von Kontrolle und das Ausgeliefertsein gegenüber dem Übernatürlichen in der im Unklaren belassenen Katastrophe kulminieren, die wiederum eigentlich erst eine Bestätigung der novellenähnlichen Erzählrelevanz vortäuscht. Das Erzählmedium Film verspricht seinem Rezipienten in der Regel, dass er das relevante Geschehen audiovisuell gezeigt bekommt; hingegen besteht ja gerade das Gezeigte aus jener wackeligen Perspektive, die oftmals noch ins Dunkel abgleitet, nur Hinterköpfe zeigt oder bedeutungslose Teile der näheren Umgebung fokussiert, auch handlungsinitiierende Geräusche sind kaum hörbar und das zwar einigermaßen deutlich vernehmbare sprachliche Handeln ist weitestgehend die leere Veräußerung des aufgestachelten Gemütszustands der Protagonisten, die ja oft nicht mehr als “What the fuck?!” und ähnliches zu sagen haben.

Die audiovisuellen Defizite der Handkamera gegenüber dem gewohnten, lenkenden und fokussierenden filmischen Erzählen über hochwertige Bild- und Tontechnik stehen also divergent zu den generellen Ansprüchen an das Erzählmedium, der Rezipient wird dieser Ansprüche geradezu enthoben. Während er im als herkömmlich zu bezeichneten filmischen Erzählen eine gewisse Machtposition innehat, indem er in der Draufschau aus mehreren statischen oder geordnet bewegten Blickwinkeln das Geschehen ausgeleuchtet bekommt, in der Regel perfekten auditorischen Einblick erhält, der darüber hinaus durch das Mittel der Filmmusik um die Dimension der Stimmung und inneren Vorgänge bereichert wird, ist er hier auf bestimmte und meist nicht einmal erzählrelevante audiovisuelle Informationen beschränkt; Markus Kuhn spricht deshalb – vorwiegend Bezug nehmend auf The Blair Witch Project – treffend von Informationslimitation, auch “im Sinne eines Weniger-Vermittelns, als die Figuren wissen und wahrnehmen. [...] Maximal zeigt die Handkamera das, was die Figuren selbst wahrnehmen, was einer internen Fokalisierung entspricht. Allerdings hinkt die oft spontan angeschaltete Kamera der Wahrnehmung der Figuren etwas hinterher. Der Zuschauer hört, dass es etwas Unheimliches gibt, sieht es aber – im Gegensatz zu den Figuren – erst etwas später, wenn die Kamera in die richtige Richtung gewendet wird.”11

Hat der Zuschauer also im herkömmlichen Film zumindest in gewisser Weise die Illusion einer quasi-auktorialen Perspektive, woraus sich erwartbare Rezeptionsansprüche ergeben, wird er im Erzählen durch die Perspektive der Handkamera gewissermaßen entmachtet und er ist es nun, der eigentlich um Information bettelt, indem er weiter zuschaut: Dadurch erst werden Grundlagen für die Identifikation mit den Protagonisten geschaffen, die gewissermaßen genauso entmachtet sind gegenüber dem Übernatürlichen, die abhängig sind von ihrem Sehen und Hören, wobei letzteres ein unspezifisches ist (auch die vier Jugendlichen können die unheimlichen Geräusche ja nicht genau identifizieren) und ersteres durch Technologie vermittelt – und sie sehen durch Taschenlampen oder Kameralicht, die beide zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen bestimmten Ausschnitt der Umgebung erhellen können, ebenso defizitär wie der Rezipient durch die Kameraperspektive, die ebenfalls nur einen bestimmten Ausschnitt des Erzählraumes zeigen kann.

„Im selben Boot”: Gleichschaltende Figuration des Rezipienten

Figuren und Rezipienten sitzen dadurch „im selben Boot”. Selbst schon der Exposition in (A) kann man unterstellen, dass sie ihren Rezipienten figuriert, indem sie parallel zu einem vermutbaren Rezeptionsanlass steht: ‚Komm, wir gehen uns gruseln.’ Darüber hinaus verhalten sich die Protagonisten ähnlich, wie man es auch vom Publikum eines Horrorfilms erwarten würde, irgendwie auf Grusel aus, aber dennoch (zumindest anfangs) versucht, die Fassade des Rationalen und Kalkulierenden zu wahren. Das macht es möglich, den Rezipienten mit den Figuren einigermaßen gleichzuschalten: Der Rezipient will erwartbarermaßen, dass, vereinfacht gesagt, irgendetwas Sehenswertes passiert, die Figuren haben dasselbe Interesse; vor allem Dion und Paul als Perspektivträger und einzig stetige Protagonisten der Gruppe thematisieren ihre steigende Angst, die reaktiv auf unerklärliche Vorfälle folgt und so dem Rezipienten entweder ein Bewertungsspektrum vorlegt oder ihn zu spiegeln sucht. Vor allem die Rationalisierungsversuche in (B) und der Kontrollverlust in (C) entsprechen dem zu erwartenden Verhaltenszustand des Rezipienten, der womöglich erst einmal skeptisch ist (B, Rationalisierungsversuch), dem aber die üblichen Bewertungsgrundlagen (C, Kontrollverlust, vor allem auch durch Abhängigkeit von Technologie, die Wahrnehmung nur begrenzt ermöglicht) entzogen sind und der auf die Situationsbewertung und die limitierten Informationen seiner Träger, also der Träger der Ich-Kamera, durch die der Rezipient blickt, angewiesen ist. Und so ist zum Zeitpunkt, als sich das Übernatürliche in (D) zumindest ankündigt bereits eine starke Rezipientenmotivation geschaffen, die zwar nicht der der Figuren in (E) entspricht, jedoch an sie rückgebunden ist: Ein Auffinden von Cain und Joel kann zumindest versprechen, dass die Informationslimitation gewissermaßen aufgehoben wird und der Zuschauer Klarheit über das Geschehen bekommt. Dieses Versprechen wird allerdings nicht eingelöst, selbst wenn der Rezipient, dann losgelöst von der Ich-Kamera, wie als einzige Überlebende des Geschehens über das Gezeigte hinausschauen darf – nur um weiterhin im Unklaren darüber zu bleiben, was genau vor sich gegangen ist, und spekulieren zu müssen, was den vier Jugendlichen widerfahren sein könnte.

Die Informationslimitation dient also dazu, den Rezipienten gegenüber einer herkömmlichen Stellung als anvisierter Zuschauer zu entmachten. Die Ausschnitthaftigkeit und geringe Reichweite der Handkameraperspektive führt außerdem zu einer Isolation von Rezipient und Protagonistengruppe von der Umgebung, es entsteht keine Außensicht, der Blickwinkel bleibt innerhalb der Szene. Daraus erklärt sich im Übrigen auch, warum im Erzählraum stets Technologie fehlt, die zur Überbrückung von zumindest räumlicher Distanz dient: Dion besitzt zwar ein Mobiltelefon, verwendet allerdings nur dessen Lichtfunktion – rein aus der alltäglichen Erfahrung heraus könnte man ja erwarten, dass versucht wird verlorengegangene Gruppenmitglieder damit zu kontaktieren. Da das Geschehen in Südaustralien, abgelegen von großen Siedlungsgebieten spielt, kann man vermuten, dass das Telefon keinen Empfang besitzt; thematisiert wird das allerdings nicht. Das Fehlen solcher Technologie ist ein einigermaßen stabiles Moment für found footages mit einem haunted house, ähnlich wie Horrorfilme im Allgemeinen gern mit der Begrenzung der Sichtweite auf einen Lichtkegel spielen: Das Versagen von Reichenweiten überwindender Technologie ist topisch für ein Kontrollverlust-Erzählen und steht quasi pars pro toto für das Versagen der menschlichen Bemächtigung über seine Umwelt durch eben solche Technologie. Wissensvorsprünge gegenüber dem Übernatürlichen, das ganz offensichtlich nicht auf Licht oder Reichweiten angewiesen ist, werden negiert, das menschliche Personal eines solchen Erzählens ist salopp gesagt in einen frühzeitlichen Zustand mit Fackeln im Wald zurückversetzt.

Gerade hier würde ich den Reiz eines solchen Erzählformates verorten. Gehen wir von einer Gattung Mensch aus, die prädispositorisch für das Überleben in einer feindlichen Natursphäre ausgestattet ist, befriedigt das Horrorerzählen in found footages eine prähistorisch in das menschliche Wesen eingeschriebene Gefahrenlust, sie ermöglicht den Ausbruch aus einer technologisierten und sicherheitsbetonten Kultursphäre. Die Perspektive der Ich-Kamera emuliert dabei first person view, trotz der konstanten Gewahrsamkeit über die sichere Rezipientensituation auf der Couch außerhalb des erzählten Raumes – denn die wackelige Kamera verweist ja stetig auf sich selbst und auf das Gefilmtsein des Gezeigten – wird er durch die Informationslimitation und die Spiegelung seines antizipierten Verhaltens in den Protagonisten mit der Erzählsituation gleichgeschalten; während es den Figuren um Leben und Tod zu gehen scheint, wird sein Schicksal eher auf der Ebene des definiten Bewertungswissens verhandelt. Dion bemerkt gegenüber Paul nach dem Schreckmoment unterhalb der Kellerluke: “People want to see this”, denn irgendetwas sei dort draußen – und gibt damit eine Motivation vor, warum die Kamera jetzt weiterlaufen und das Geschehen sich weiter zuspitzen muss. Und tatsächlich macht ja vorwiegend nur der Paratext – das Video ist übertitel mit “The Secluded House – Found Footage Horror Film” – erkennbar, dass es sich um Fiktion handelt: Das Format selbst gibt sich alle Mühe authentisch und dokumentarisch zu wirken.12 Die inszenierte Authentizität, die also wie angeführt eine novellenähnliche Erzählrelevanz vorgaukelt, gepaart mit der in Szene gesetzten Entmachtung der Rezipientenposition (in Extension: der gleichgeschalteten Entmachtung von Rezipient und Figuren) und dem Appell an den prädispositorischen Gefahrentrieb, der sich erst in dieser Entmachtung entfalten kann, schafft nicht nur einen starken Rezeptionsreiz, sondern auch die Motivation zur weitergeführten Rezeption: Unterstellt man dem Rezipienten nämlich, wie Dion das tut, einen prinzipiellen Informationsdrang, der initiiert, aber nicht befriedigt wird, ist die limitierte und gegenüber den herkömmlichen Rezeptionsgewohnheiten defizitäre Vermittlungssituation ein fast ideales Mittel, den Zuschauer im “Bann” zu halten, ihn der Limitation zu unterwerfen. Lässt der Rezipient sich darüber hinaus auf den inszeniert-authentischen Dokumentarcharakter des Formats ein, erhält sein Informationsdrang eine Relevanzkomponente: Irgendetwas ist da draußen, das dem zivilisierten, technologisierten und sicherheitsbestimmten Menschen noch gefährlich werden kann; eine Lust am potentiellen Übel im unzivilisierten bzw. entzivilisierten Raum, die sich mindestens im abendländischen Kulturkontext mannigfaltig manifestiert.13

Entmachtung macht Bemächtigung?

Darüber hinaus bedeutet diese Entmachtung auch gleichzeitig eine Bemächtigung, denn der Rezipient wird ja in (F) wieder ins Außerhalb, in einen quasi-auktorialen Blickwinkel versetzt, er überlebt die Figuren sozusagen, obwohl das Erlebensschicksal der Figuren und das Rezeptionsschicksal des Zuschauers auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verschaltet gewesen sind. Schaut man sich andere Entmachtungsformate an, etwa den Spukhaus-Horror, so steht hier auf der Ebene der Figuren am Ende meist die individuelle (Wieder-)Bemächtigung der Protagonisten, die ursächlich erst durch die Negation von zivilisationsgegebener Kontrolle zustandekommen kann. Im Genre der Zombieapokalypse oder des Endzeiterzählens werden die Protagonisten ihrer zivilisationsgegebenen Kontrolle expositorisch beraubt, sie stehen meist bar von höherer Technologie oder zumindest isoliert von den Möglichkeiten der Zivilisationstechnologie14 gegenüber einer in Zahl und Gewalt übermächtigen Bedrohung, derer sie im Verlauf des Erzählens Herr zu werden suchen. Das Erzählen nimmt den Figuren ihren durch Zivilisationstechnik gewonnenen Sicherheitsvorsprung, isoliert sie auf kleine Gruppen, die sich spannenderweise in ihren Organisationsstrukturen frühzeitlichen Sippschaften annähern15, und liefert sie „dem da Draußen” aus, dem Bedrohlichen, Unheimlichen, Übernatürlichen; meist etwas, das mit Tod, Abscheulichkeit oder Naturgewalt konnotiert ist. In diesem Setting aber werden die Protagonisten erst zu handelnden, es verspricht den Umsturz des gesellschaftlichen Systems, in dem der eine anonym ist und das sich scheinbar ohne aktives Zutun des einzelnen selbst organisiert und beherrscht, und die Bemächtigung des einzelnen in der überschaubaren Gruppe; es appelliert an eine um sich greifende Zivilisationsverdrossenheit.

Found footages greifen zwar keineswegs derart weit und sie erzählen, wie dargestellt, eher bis in den kompletten Kontroll- und Machtverlust, in die mindestens vermutbare Auslöschung durch das Übernatürliche. Ihnen gelingt aber m.E. potentiell die Übertragung der Entmachtung auf den Zuschauer in seiner Rolle als Rezipient durch die geschilderten Lenkstrategien auf Ebene des Erzählschemas, der Erzählform und des Erzählmediums am eindrucksvollsten. Mit höchster Sicherheit handelt es sich dabei nicht um ein Erzählen am Höhenkamm, nicht einmal die Nadelwaldgrenze scheint in Sicht, allerdings erfüllt das found footage-Erzählen durch diese Übertragung eine ausgesprochen wichtige und für den Kulturerhalt notwendige Funktion von Kunst: Als game of make believe zieht es den Rezipienten (bzw. zumindest die Ich-Kamera, durch die er blickt) in die Erzählszenerie hinein und vollführt im Spiel (auch) an ihm die Bloßstellung gegenüber einer übermächtigen Bedrohung, wodurch der prädispositorisch angelegte Gefahrentrieb, den ich hier weiterhin, wenn auch relativ unfundiert, unterstellen möchte, zumindest aber eine zu antizipierende Gefahrenfaszination mittelfristige Befriedigung findet. Herkömmliche und meist kostenintensive Techniken des Films, die durchaus stark deutungs- und verfassungsabhängig ist, wie z.B. die Fokussierung, die explizite Darstellung über hochwertige Simulationstechnik, die filmmusikalische Untermalung zur Intensivierung der zu erzeugenden Gefühle – all das können found footages zumindest weitestgehend außer Acht lassen, weil durch die Ich-Kamera-Perspektive ein billiger, aber umso wirkungsvollerer Immersionseffekt erzeugt werden kann, der sich allerdings paaren muss mit pseudo-authentischer Dokumentationsillusion und der Spiegelung des Rezipientenverhaltens in Reaktion auf den auserzählten Kontrollverlust.

  1. Beginnend mit Blair Witch Project, 1999. Als erster found footage-Film gilt Cannibal Holocaust von 1980, der Boom kam aber erst nach der Jahrtausendwende zustande, die Gründe hierfür werden im Folgenden weiter eruiert.
  2. Als ein Gegenbeispiel kann hierfür Paranormal Activity, 2007, herhalten, dort werden neben Handkamera-Aufnahmen vor allem Aufnahmen einer privaten Überwachungskamera eingesetzt.
  3. Markus Kuhn (Das narrative Potenzial der Handkamera. Zur Funktionalisierung von Handkameraeffekten in Spielfilmen und fiktionalen Filmclips im Internet. In: Diegesis 2.1, 2013. S. 92-114. →Link) spricht von einer anthropomorphen Perspektive bzw. einer Anthropomorphisierung der Kamera und schlägt den Begriff „Ich-Kamera-Film” vor.
  4. Die populäre Kritik spricht hierbei u.a. vom shaky camera-Effekt. Vgl. z.B. Mekas, Jonas: A Note on the Shaky Camera. In: Film Culture, issues 24-27, 1962, sowie: Bordwell, David/Thompson, Kristen: Unsteadicam chronicles. On: Observations on film art (blog), August 17, 2007 (→Link, letzter Zugriff am 6. Oktober 2013); andere mögliche Schlagwörter sind unsteady camera oder hand-held camera.
  5. Der letzte Mann, 1924, der als erste Umsetzung der Entfesselten Kamera gilt, bediente sich beispielsweise des Vor-die-Brust-Schnallens der Kamera. Vgl. Kuhn 2013, S. 93.
  6. Dem geneigten Leser werden im Folgenden sicherlich annähernde Parallelen etwa zu Spukhaus-Horror, den ich dementsprechend an einigen ausgewählten Stellen als Vergleichspunkt anführen möchte, auffallen.
  7. Damit sei auch gleich auf die Grundproblematik hingewiesen, die mich seit einer Weile beschäftigt und die in folgenden Einträgen noch weiter zu problematisieren ist: Inwieweit lässt sich überhaupt eine an z.B. strukturalistischen Erkenntnismethoden orientierte narratologische Matrix herausarbeiten, die Strategien zur Rezipientenlenkung im Rahmen ganz unterschiedlicher Erzählanlässe allgemein beschreibbar macht.
  8. Hierbei finden Ansätze einer Charakterzeichnung für Paul statt, die im weiteren Verlauf keine Rolle mehr spielen bzw., so könnte man äußerst vorsichtig spekulieren, karrikiert werden. Im Allgemeinen finden sich in derlei Filmen so gut wie immer leicht austauschbare Charaktere, ohne dass das eine Aussage über die Erzählqualität ermöglichte. Der Grund hierfür wird im Folgenden besprochen.
  9. Der englische Begriff haunted house wird zwar für beide Fälle verwendet, also sowohl für das von Protagonisten im Spukhaus-Horror bewohnte Haus als auch das auszukundschaftende Haus in found footages. Hier lohnt sich jedoch eine Unterscheidung aufgrund der völlig unterschiedlichen Ausgangslage, denn das Auskundschaften eines verlassenen hauted house-Raumes steht absolut divergent zum Bewohnen des Spukhaus-Raumes.
  10. s. hierzu Zusammenfassungen auf boxofficemojo.com (The Devil Inside: →Link, Paranormal Activity: →Link; letzter Zugriffe am 12. Oktober 2013), vgl. auch die Sektion “Related Stories”.
  11. Kuhn 2013, S. 104; Kuhn verweist desweiteren auf den Begriff der externen Fokalisierung im Film; vgl. ders.: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin/New York: de Gruyter 2011. S. 158ff.
  12. The Secluded House schafft es auch, anders als beispielsweise The Blair Witch Project (vgl. Kuhn 2013, S. 103), die Montage der Aufnahmen unauffällig zu gestalten, der Film kommt z.B. mit wenigen offensichtlichen Schnitten aus. Zur Problematisierung der Montagetechniken in Handkamerafilmen s. Kuhn 2013, v.a. S. 94ff. sowie passim.
  13. Man denke hierbei an Wolf, Bär, Hexe und bösen Zwerg im Märchen, oder an die prähistorischen chthonischen Wesen in der griechischen Mythologie.
  14. Auch solcher zur Überwindung von Reichweiten. Es wäre sehr interessant zu schauen, wie gerade das Mobiltelefon, dass ja zeitgenössisch einen massiv hohen Stellenwert im alltäglichen Leben einnimmt und ein typisches Hilfsmittel in Privat- und Berufsphäre darstellt, als Objekt des Erzählens in den angesprochenen Formaten tabuisiert oder zumindest seiner Bemächtigungsfunktion beraubt wird.
  15. Besonders found footages und Zombieapokalypse neigen sehr dazu, einen Herdenzwang auszuerzählen. In The Secluded House geraten die Protagonisten ja erst durch ihre sukzessive Trennung voneinander, angefangen mit Cains Verschwinden, in Bedrängnis.

Quelle: http://enkidu.hypotheses.org/234

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Crowdsourcing-Projekt des DHAK

“…. Wir entwickeln derzeit verschiedene Tools, die das Arbeiten mit Digitalisaten im DHAK deutlich komfortabler machen werden. Eines davon, das wir Ihnen heute vorab schon einmal vorstellen wollen und das sich derzeit in der Programmierung befindet, ist das Transkriptions-Tool. Hier werden Sie zukünftig die Möglichkeit haben, Abschriften der Digitalisate zu erstellen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Damit geben Sie Nutzern mit geringeren Paläographie-Kenntnissen eine Lesehilfe, gleichzeitig werden unsere Archivalien so im Volltext durchsuchbar.
Sie sind sich bei der Entzifferung eines Texts nicht ganz sicher? Kein Problem! Alle Nutzereingaben bleiben permanent veränderbar und werden versioniert. Sie können unsere Archivalien also auch für Leseübungen nutzen und gemeinsam mit allen Nutzern an einer ständigen Verbesserung der Einträge mitwirken.
Freuen Sie sich mit uns auf die neuen Funktionen im Lesesaal des digitalen Historischen Archivs Köln!”
Quelle: Facebook-Seite des DHAK

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/919

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Auf den Spuren eines Frevlers

Lisa Fagin Davis, eine junge Handschriftenexpertin, berichtet in ihrem lesenswerten Weblog über eine (virtuelle) Reise zu wenig bekannten Sammlungen abendländischer mittelalterlicher Handschriften in den USA. Sie schreibt so anschaulich, dass man leicht vergisst, dass ihr “Trip” gar nicht real ist. Der Bestand an mittelalterlichen Handschriften in den USA wird sehr stark geprägt von Einzelblättern, die durch das Zerlegen ganzer Handschriften erzeugt wurden. Eine aus meiner Sicht abscheuliche Praxis, auf die ich immer wieder hingewiesen habe. Eine Zusammenstellung einschlägiger Links habe ich in Archivalia im Dezember 2012 mitgeteilt. Dieses Schlachten von Kulturgütern ist keineswegs Vergangenheit, wie beispielsweise Dietrich Hakelberg 2008 zeigen konnte: Im Antiquariatshandel wurde ein Stammbuch mit einem Telemann-Autograph zerlegt.

Immer wieder – nicht nur auf Ebay – stoßen Handschriftenforscher auf diese Machenschaften, die von den Antiquaren gern bagatellisiert werden. Nur weil es sich um eine schon im 19. Jahrhundert beliebte kulturelle Praxis handelt (“cut missal up in evening — hard work” lautet ein berühmtes Zitat aus John Ruskins Tagebüchern 1854) bedeutet dass nicht, dass diese Form, Kulturgut zu zerstören, Schonung verdient. Keinen Denkmalschutz für die Praxis der Zerstörung von Denkmälern!

In ihrem jüngsten Blogeintrag nimmt sich Davis das Frevelwerk von Otto Ege (1881-1951) vor. Ege war einer der berühmtesten Buchzerstörer (“biblioclast”, er nannte sich selbst so) des 20. Jahrhunderts, der zahlreiche kostbare mittelalterliche Codices auseinanderschnitt, um die einzelnen Stücke mit großem Profit in Sammelausgaben zu verkaufen. Damit wollte Ege, der selbst in der Lehrerausbildung tätig war, es auch kleineren Bildungsinstitutionen ermöglichen, mittelalterliche Handschriftenseiten in der Lehre einzusetzen. Diverse dieser Sets wurden inzwischen digitalisiert, und es gibt auch Websites (am wichtigsten: ege.denison.edu), die versuchen, die zertsreuten Ege-Einzelblätter virtuell wieder zusammenzuführen, um auf diese Weise auch die zerschnittenen Codices zu rekonstruieren.

David macht anhand des Beauvais-Missale aus dem 13. Jahrhundert klar, welcher enorme Verlust an Quellenwert mit dem Zerschneiden der Handschrift einherging. Es sind inzwischen viele Seiten nicht mehr auffindbar, darunter auch der nur durch einen Sotheby’s-Eintrag von 1926 (als das Manuskript noch intakt war) bekannte Vermerk, ein Kanoniker Robert de Hanges habe den Codex der Kathedrale von Beauvais übergeben. Es fehlt aber auch fast das ganze Kalendar des Missales. Davis: You can see why taking manuscripts apart can be so devastating to scholars and booklovers alike: art historical and textual evidence may be lost forever along with armorial bindings, marginalia, inscriptions or bookplates that preserve evidence of the manuscript’s origins and early ownership.

Wer Handschriften zerlegt, zerstört Geschichtsquellen. Diese unersetzlichen und einzigartigen Geschichtsquellen haben den gleichen Schutz verdient wie Pfostenlöcher oder andere unscheinbare Befunde in der Archäologie, wie der frühneuzeitliche Bildstock am Wegesrand. Pfostenloch und Bildstock sind durch Denkmalschutzgesetze geschützt, dem Frevelwerk der Antiquare oder Sammler, die durch das Zerschneiden von Handschriften Aussagemöglichkeiten über unsere Vergangenheit vernichten, gebietet niemand rechtlich Einhalt. Viele seriöse Antiquare beteiligen sich nicht an der Praxis oder verurteilen sie sogar. Aber eine Ächtung in einem antiquarischen Ethik-Code gibt es nicht. Denn in diesem halbseidenen Gewerbe herrscht Korpsmentalität, die auch schwarzen Schafen zugutekommt.

Angesehene Wissenschaftler unterstützen mitunter das Zerstückeln. Im Fall einer Inkunabel von 1462 habe ich das in einem Blogeintrag von 2009 belegt. Das dort zitierte Urteil des Inkunabelexperten Paul Needham ist eindeutig: It was really barbaric to break up that copy; and I’m committed to criticizing all scholars who participate in leafbook projects. The common response I have heard is “well, of course I don’t really approve of leafbooks, but this one is a little different, and no harm is done, because yadda yadda…”, which I translate into English as “somebody offered me money.”

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/286

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Ein Tweetup und was man mit ARTigo-Bildern noch so machen kann

Ich bin von den Kulturkonsorten zu einem Tweetup der Sonderklasse eingeladen worden: “Tweetup in einer Ausstellung, die es nicht gibt”. Also das macht mich doch neugierig! Und für mich ist eins klar: Ich nehme ein Bild, dass man mit ARTigo spielen kann, und zwar dieses:

Rote Dächer unter Bäumen, Christian Rohlfs

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es heißt “Rote Dächer unter Bäumen”, wurde 1913 von Christian Rohlfs gemalt und hängt in der Kunsthalle Karlsruhe.

Warum ich dieses Bild nehme? Hier die Gründe:

  1. Für die Tags der ARTigo-Spieler interessiere ich mich besonders. Ich beschäftige mich schließlich in meiner Diss damit.
  2. Für mich im Moment deshalb interessant, weil es besonders viele Farb-Tags hat.
  3. Ich bin gespannt, was die anderen Teilnehmer zu dem Bild twittern werden. Das könnte ich mit den Tags der Spieler vergleichen, zum Beispiel. Und vielleicht ergeben sich noch mehr Ideen.

Wenn Sie sich das Bild in ARTigo anschauen, werden die dazugehörigen Tags angezeigt (Tipp: klicken Sie auf “alle anzeigen”, dann werden es noch mehr).

Während des Tweetups soll ich 5 Minuten über dieses Bild twittern und die anderen Teilnehmer werden auf meine Tweets reagieren, so heißt es. Ich bin gebeten, mich vorzubereiten und ein paar Tweets vorab zu formulieren. Das könnte ich natürlich auch im stillen Kämmerlein tun, aber warum sollte ich nicht versuchen, das crowdzusourcen?

Deshalb meine Frage an Sie, liebe Leserin, lieber Leser: Was könnte ich twittern? Welche Fragen könnte ich stellen, die die anderen beantworten sollen? Welche Gedankenanstöße könnte ich geben, um Reaktionen zu erhalten?

Über Ihre Vorschläge würde ich mich sehr freuen.

Weiterführende Links:
Marion Schwehr: Out Of The Blue – Die These
Kulturkonsorten: “Tweetup in einer Ausstellung, die es nicht gibt”
Sabine Scherz: Blau, blauer am blauesten. Welches ist das blaueste Bild?
Twitter: #outofblue

 

 

Quelle: http://games.hypotheses.org/1266

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1 Jahr MinusEinsEbene auf de.hypotheses

Mein Doktorandenblog MinusEinsEbene ist vor einem Jahr „umgezogen“ zu der geisteswissenschaftlichen Plattform de.hypotheses.

Alles in allem ist zu sagen: Ich fühle mich dort sprichwörtlich „sauwohl“. Das Blog lief bei blogger.com nicht besonders gut und mir fehlten Ideen und der Antrieb weiterzumachen. De.hypotheses zeigte sich dann als Alternative und ich dachte: Warum eigentlich nicht? Und füllte den Antrag aus.

Das Blog sollte und soll meine Dissertation begleiten, wurde aber mit den Monaten auch eine Art Spielwiese. Ich konnte mal Sachen veröffentlichen, die ich NIEMALS bei einer Zeitschrift eingereicht hätte. Ich denke da an meine drei Posts zu StarTrek und Archäologie, die bis heute die meist gelesenen Beiträge sind.

Es war zudem möglich Teilaspekte meiner Dissertation vorzuformulieren, die dann später in einem gedruckten Vorbericht Verwendung fanden. So geschehen mit dem Post „Historische Überlieferung und ihre archäologische Glaubwürdigkeit“ und meinem neuesten Vorbericht mit dem sperrigen Titel: „Der Einfluss des franziskanischen Armutsgedankens auf die Interpretation der Befunde in und um die Elisabethkirche in Marburg an der Lahn“, der erst vor wenigen Wochen erschienen ist und auch online vorliegt.

Das Blog wurde damit so was wie ein Online-Notizbuch. Es ist schlicht etwas anderes, wenn man für sich selbst Notizen macht, oder wenn man einen Aspekt für die Öffentlichkeit ausformuliert. Ich denke auch, dass das die Zukunft von Wissenschaftler-Blogs ist. Die Website stellt den Wissenschaftler in seiner jeweiligen akademischen Station als Studierenden, Doktoranden, Postdoc usw. vor und dient gleichzeitig als Notizbuch.  Zumindest würde ich mir das so wünschen.

MinusEinsEbene ist kein Nachrichtenportal. Das kann ich als Einzelperson nicht leisten und habe dazu auch gar keine Lust. Da draußen gibt es Scharen von jungen Journalisten, die das Internet nutzen, um sich zu profilieren. Was mich nicht davon abhält, meinen Senf zu aktuellen Ereignissen abzugeben, wofür ich dann und wann auch unfreundliche Kommentare bekam.

Ein letzter Teilaspekt, der unter jungen Bloggern heiß diskutiert wird, ist: Ist Bloggen schädlich für meine wissenschaftliche Zukunft? Ich kann das nicht beantworten. Ich weiß nur: Die Situation für junge Geisteswissenschaftler in der Forschung ist so schlecht, dass es auch schon egal ist. Die Arbeitssituation an Universitäten, Dankmalpflege-Behörden und Museen ist so, dass Forschung und Publizieren nur einen ganz geringen Teil der Arbeitszeit ausmachen. Forschen und Publizieren ist in Deutschland zu einem Hobby geworden und da ist es auch fast nebensächlich, womit man sein Geld verdient.  Am Ende kann man mit seinem eigenen Blog in einer Bewerbung „Einschlägige Erfahrungen in den Neuen Medien und Sozialen Netzwerken“ angeben.  Wichtig ist nur, sich von Ewig-Gestrigen nicht erzählen zu lassen, dass Online-Publizieren schädlich ist. Das Ende einer Karriere beginnt nur nämlich dann, wenn man aufhört, nach vorne zu blicken.

Quelle: http://minuseinsebene.hypotheses.org/849

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Landesgeschichtliches Kolloquium an der Uni Freiburg

Das traditionsreiche „Landesgeschichtliche Kolloquium“ ist das wissenschaftliche Forum des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte I und der Abteilung Landesgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Kooperationspartner von Archivum Rhenanum). Die Spannbreite der Themen ergibt sich aus den Schwerpunktsetzungen in Forschung und Lehre am Lehrstuhl (Politische Geschichte des Früh- und Hochmittelalters in europäischer Perspektive) und an der Abteilung Landesgeschichte (Raumbezogene Studien für den Oberrhein und den deutschsprachigen Südwesten – gesamtes Mittelalter mit Ausblicken auf die Neuzeit). Die sachbezogene Interdisziplinarität und methodische Vielfalt der ausgewählten Beiträger soll nicht nur die wissenschaftlichen Diskussionen am Lehrstuhl vorantreiben, sondern ist bewusst auch als sinnvolle Ergänzung zu den Lehrveranstaltungen konzipiert. Studierende sind deshalb vom ersten Semester an herzlich willkommen!
Das ausführliche Semesterprogramm finden sie hier.

Quelle: http://archives.hypotheses.org/533

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Die neun Dreifüße

Unter den frühesten Gefäßtypen der chinesischen Kunstgeschichte kam dem Dreifuß (ding 鼎) besondere Bedeutung für die politische Symbolik zu. Die Entwicklung der Dreifüße dürfte ihren Anfang mit urtümlichen Kochtöpfen genommen haben. Als politisches Symbole wurden Dreifüße in ein mythisches Altertum zurückdatiert. Die Legende will es, dass der mythische Urkaiser Huangdi 黃帝 (der “Gelbkaiser”) den Besitz von neun Dreifüßen mit der Herrschaft über China gleichsetzte. Während der Zhou-Zeit (11.-3. Jh. v. Chr.) symbolisierten die neun Dreifüße die neun Provinzen des Landes. Sollte einer dieser neun Dreifüße in Verlust geraten, ging man vom baldigen Ende der Dynastie aus.[1]

In seinem Buch Das chinesische Denken schrieb Marcel Granet über die neun Dreifüße:

Das Metall hierfür hatten die Neun Hirten als Tribut geliefert, und Yü konnte auf diesen seinen Kesseln die ‘Embleme’ der Wesen aller Länder darstellen, den diese ‘Embleme’ hatte er als Huldigungsgeschenke aus den 9 Gebieten empfangen. Die in diesen Symbolen beschlossene Macht war derartig, daß die Neun Kessel als Entsprechung der Welt gelten konnten; sie bewirkten, daß im ganzen Kosmos Ordnung und Frieden herrschte.[2]

Die neun Dreifüße waren schließlich während der Zhou-Zeit verloren gegangen. Der Erste Kaiser, der 221 v. Chr. den Einheitsstaat gründete, wollte diese neun Dreifüße wiederfinden: “Dies gelang auch, aber als ein Dreifuß gerade bis zur Wasseroberfläche hochgezogen war, tauchte ein Drache aus dem Bronzegefäß empor und zerbiß das Seil, an dem es hing.”[3]

  1. Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Chinesen und ihre Schrift (München: 5. Aufl., 1996) 66 (‘Dreifuß’) sowie Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Singapore 2008) 262 (‘Tripod’).
  2. Marcel Granet: Das chinesische Denken. Inhalt – Form – Charakter. Übers. und eingel. von Manfred Porkert; mit einem Vorw. von Herbert Franke (Frankfurt a.M., 5. Aufl. 1997 [frz. 1934; dt. Übers. 1963]) , 128.
  3. Lothar Ledderose: “Die Kunstsammlungen der Kaiser von China.” In: Ders. (Hg.): Palastmuseum Peking. Schätze aus der Verbotenen Stadt (Frankfurt a. M. 1985) 42; vgl. dazu Jeannette Shambaugh Elliott: The Odyssey of China’s Imperial Art Treasures (Seattle 2005), 6. Belege für die historiographische Überlieferung der Legende bei Dorothee Schaab-Hanke: “Wenn die Dreifüße zu versinken drohen …. Zu Grant Hardys Worlds of Bronze and Bamboo.” In: Oriens Extremus 42 (2000/01) 213 f.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/824

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