VO+SE Visual Surveillance – Bilder der Überwachung

Im kommenden Sommersemester 2014 werde ich am Institut für Soziologie der Universität Wien gemeinsam mit Roswitha Breckner und Robert Rothmann die VO+SE VISUAL SURVEILLANCE – BILDER DER ÜBERWACHUNG lehren. Die VOSE wird im Masterstudium Soziologie angeboten.

Termin: montags 14.15 – 16.45 Uhr, ab 03.03.2014

Ort: Inst. f. Soziologie, Seminarraum 3, Rooseveltplatz 2, 1.Stock, 1090 Wien

Anmeldung zur LV über UNIVIS von 28. Februar 2014, 10:00 Uhr bis 02. März 2014, 10:00 Uhr

Inhalte: Die Lehrveranstaltung verbindet Konzepte der ‘Visual Studies’ mit jenen des interdisziplinären Forschungsfeldes der ‘Surveillance Studies’ und beschäftigt sich mit der fortlaufenden Ko-Produktion von visuellen Überwachungspraktiken und gesellschaftlichen Ordnungen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Phänomen der Videoüberwachung (CCTV) als Zeichen gesellschaftlichen Wandels (Hempel, Metelmann). Die VOSE geht dabei auf historische Vorläufer ebenso ein wie auf jüngste Entwicklungen im Bereich der algorithmusbasierten Bildverarbeitung und automationsunterstützten Ereigniserkennung. Zudem wird die breite gesellschaftliche Akzeptanz von Videoüberwachung im Hinblick auf den grundrechtlichen Anspruch auf Privatsphäre und Datenschutz diskutiert und in Beziehung zu Tendenzen medialer Inszenierungen und “freiwilliger” Selbstüberwachung gesetzt, wobei über Videoüberwachung hinaus auch andere Facetten visueller Repräsentation (TV-Shows, Social Media etc.) ins Auge gefasst werden.

Weitere Informationen im Vorlesungsverzeichnis

Quelle: http://www.univie.ac.at/identifizierung/php/?p=5621

Weiterlesen

Wallensteinische Werbungen in Köln

Im Dezember 1630 wurden dem Rat der Reichsstadt Köln Patente zur Werbung von Söldnern vorgelegt. Dies passierte durchaus häufig, und da es sich um Werbungen für die kaiserliche Armee handelte, hatte der Rat bei seinen Beratungen am 18. Dezember auch keine Bedenken, diese Werbungen zu erlauben. Allerdings ist diese Angelegenheit nur auf den ersten Blick klar; wenn man sich den Passus in den Ratsprotokollen anschaut, fallen doch Besonderheiten, vielleicht auch Ungereimtheiten auf.

Zunächst wird offenbar, daß es sich nicht um die Neuaufstellung einer Einheit handelte. Vielmehr ging es um die Zuwerbung zu einem bereits existierenden Regiment. Es war, wie das Protokoll vermerkt, das Regiment des Obersten Kaspar von Gramb. Dieser war nicht selbst in der Stadt, sondern hatte einen seiner Hauptmänner, Dietrich Grave, als einen Werbeoffizier geschickt. Auffällig ist jedoch, daß ausgerechnet so spät im Jahr, mitten im Winter, das Regiment verstärkt werden sollte. Normalerweise lagen die Einheiten in den Winterquartieren; eigentlich wurden erst im Frühjahr, im unmittelbaren Vorfeld eines neuen Feldzugs, die Einheiten durch Zuwerbungen ergänzt. Eine Erklärung für diesen Zeitpunkt ergibt sich aus den Umständen, in denen sich das Regiment des Obersten Gramb befand.

Der Oberst fungierte damals als Stadtkommandant in der Hansestadt Wismar; sein Regiment lag dort in Garnison. Die Situation im Herbst 1630 wurde zunehmend kritisch: Die Versorgung der Soldaten war miserabel, viele waren krank, angeblich starben täglich 10-15 Mann. Bedenklich war zudem die feindselige Haltung der Bewohner von Wismar, denen der Oberst nicht mehr traute. Er forderte daher dringende Verstärkungen an und drohte, falls diese nicht bewilligt würden, mit seiner Resignation (siehe die Angaben in den Documenta Bohemica Bellum Tricennale illustrantia, Bd. 5, hrsg. v. Miroslav Toegel, Prag 1977, S. 21 u. 30). Vor dem Hintergrund wird zumindest klar, warum Gramb mit Werbungen nicht mehr bis zum Frühjahr warten konnte.

Auffällig bleibt ein anderes Detail. Im Ratsprotokoll ist explizit von „patenten des Hertzogen zu Friedtlandt“ die Rede (Historisches Archiv der Stadt Köln, Ratsprotokolle Bd. 76, fol. 493‘). Abgesehen davon, daß Wallenstein selbst lieber als Herzog von Mecklenburg tituliert worden wäre, verwundert dies insofern, weil er seit seiner Entlassung im August des Jahres 1630 nicht mehr als Feldherr des Kaisers agierte. Auf welcher Rechtsgrundlage konnte er also noch Patente ausgeben, mit denen er Söldner anwerben ließ? Eine Erklärung wäre, daß dieses Patent noch vor August 1630 datiert war, doch selbst in dem Fall bliebe die Frage, ob es dann noch gültig wäre.

Über die Frage der Legitimität hinaus ist aber zu klären, welches Interesse Wallenstein überhaupt noch hatte, Werbepatente auszustellen, falls er doch zum Zeitpunkt der Ausstellung gar nicht mehr für die Armee zuständig war. Hier bleibt – zumindest sehe ich derzeit keine andere Erklärung – nur der Hinweis auf die Geographie: Die Hansestadt lag im Herzogtum Mecklenburg, und wenn Wallenstein auch das Amt als Feldherr verloren hatte, wollte er definitiv nicht auf das ihm übertragene Herzogtum verzichten. Wismar war ein Einfallstor nach Mecklenburg, das es zu schützen galt. Grund genug also, die kaiserlichen Truppen in der Stadt zu verstärken, unabhängig von der Rechtsgrundlage. Interessant ist allerdings zu sehen, dass diese Bemühungen sogar die Reichsstadt Köln erreichten, die ansonsten mit Wallenstein und dem Krieg im Nordosten des Reiches nicht viel zu tun hatte.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/377

Weiterlesen

Piraterie: Der Mythos Klaus Störtebeker

Die Legende des furchtlosen Seeräubers, des Schreckens der Hanse und ihrer Pfeffersäcke ist wohl die beliebteste und bekannteste Geschichte der deutschen Piraterie. Ihr Ende soll sie in Hamburg gefunden haben. Betrachten wir das Legendengespinst einmal genauer, sieben wir Fiktion und dramaturgische Zusätze heraus – was bleibt übrig von der norddeutschen Heldengestalt Klaus Störtebeker?

von Dennis Störtebecker

Der historische Kontext

Klaus, Nicolaus oder Clawes Störtebeker hat als historische Figur eine Präsenz in unserer Gesellschaft, welche auf eine reichhaltige Quellenlage hindeutet. Betrachten wir die tatsächlich vorhandenen Dokumente über ihn, wird schnell klar: Die Gestalt des Piraten, wie wir sie heute kennen, ist historisch nicht fassbar. Zu wenige Quellen überliefern Informationen zur Person Klaus Störtebeker. Die jüngere Forschung zu seiner Biografie ist eng mit dem Wandel im Forschungsfeld der Piraterie verbunden. Sie konzentriert sich auf die Sozialgeschichte; auf das soziale Elend, das Piraterie hervorbringt und ihre Auswirklungen. Das vorrangige Problem, welches sich dem Historiker daher stellt, ist das Herausfiltern der wenigen Fakten über Störtebeker, von denen mit größtmöglicher Sicherheit gesagt werden kann, dass sie wahrscheinlich sind. Die konkrete Aufgabe lautet nun, die Sagengestalt des Klaus Störtebeker mit Hilfe der historischen Quellen zu entwirren und die wahre Person (soweit möglich) zu rekonstruieren. Die Trennung von Legende und historischer Person fällt nach über 600 Jahren Zeitspanne schwer, auch durch den Einfluss des Bildes von Störtebeker, welches sich (unabhängig von der Quellenlage) schon in der Gesellschaft verfestigt hat.

Wo und wann Störtebeker genau geboren wurde, ob er als einfacher Sohn eines Landarbeiters oder als Erbe eines Adelsgeschlechtes das Licht der Welt erblickte, wurde uns nicht überliefert. Seine Existenz kann erstmalig auf das Jahr 1380 datiert werden, in der Stadt Wismar, welche vermutlich seine Geburtsstadt war (wobei noch um die 20 weitere Städte dieses von sich behaupten).  Im liber proscriptorum1 der Stadt, dem Verfestigungsbuch, taucht der Name Nicolao Störtebeker als Opfer einer Schlägerei auf. Die Schläger werden aus der Stadt verbannt; mehr sagt uns die Quelle nicht. Bei einem Abgleich derartiger Überlieferungen mit dem angeblichen Wissen, welches wir heute über Störtebeker besitzen, zeigt sich eine tiefe Kluft.

Die Entstehung der Vitalienbrüder

Viele Jahre lang deutet nichts auf eine Karriere Störtebekers als Freibeuter hin, bis 1389 Königin Margarete von Dänemark zunächst Norwegen ihrem Reich zufügt und dann Schweden erobert, den schwedischen König gefangen nimmt und Stockholm belagert, welches sich der dänischen Belagerung allerdings widersetzen kann. In dem durch Familienbande mit dem König von Schweden verbundenen Mecklenburg, in den Städten Wismar und Rostock, werden alle Leute willkommen geheißen, die der Dänenkönigin schaden wollen und können, so auch „omnes malefici, omnes profugi, sive proscripti“. Zwielichtigen Seeleuten, Übeltätern und Geächteten wird eine sichere Zuflucht und Reichtum versprochen. Der versprochene Reichtum und die Aussicht auf einen sicheren Aufenthaltsort lockt große Gruppe von Menschen an, die sich einen Vorteil aus dem laufenden Konflikt versprechen. Sie sollen das belagerte Stockholm mit Lebensmitteln versorgen und werden mit herzöglichen Kaperbriefen ausgestattet, um Seeraub zu betreiben. Ausgerufenes Ziel der Piraterie waren dänische Schiffe und jene, die mit Margarete verbündet sind. Die Seeräuber lassen diese feine Unterscheidung jedoch schon bald über Bord gehen und rauben, plündern und entern jedes Schiff, das ihnen auf der Ostsee in die Hände fällt, ungeachtet der Herkunft und Nationalität.

Diese Gruppe von Seemännern wird schon bald unter dem Namen „Vitalienbrüder“ (die Lebensmittelbeschaffer) bekannt und mit ihr einer ihrer Hauptmänner, Klaus Störtebeker. Klaus Störtebeker selbst wird, wie bereits beschrieben, nur in wenigen Quellen direkt erwähnt. Informationen über die so genannten Vitalienbrüder, jene Söldner- und Kapergruppe, die im 14. Jahrhundert die Nord-und Ostsee unsicher machte, finden sich in Dokumenten, Verträgen und Briefen dagegen vielfach.

In einem Auszug aus der Lübecker Stadtchronik, der sogenannten Detmar-Chronik, ist die Gründung der Vitalienbrüder beschrieben: „In deme sulven iare warp sik tosamende en sturlos volk…unde heten sik vitalienbroder. Se spreken, se wolden tenn up de koninghinnen van Denemarken to hulpe deme koninghe von Sweden…” (In dem Jahr bildete sich eine nicht kontrollierbare Gruppe von Menschen… diese nannten sich Vitalienbrüder. Sie sagten, sie wollen wollten Krieg führen gegen die Königin von Dänemark, um dem König von Schweden zu helfen…).2

Das organisierte Treiben der Vitalienbrüder und der rege Schiffsverkehr auf der Ostsee machte sie, besonders aus dem Blickwinkel der Hanse, zur größeren Gefahr als der Krieg selbst. Ein Zoll wird von den Hansestädten erhoben, um Frieden erzwingende Schiffe auszurüsten, die sogenannten Vredeschepen. Auch lassen die Herren der Hanse verkünden, dass jeder, der den Seeräubern in irgendeiner Weise helfen sollte, das – beinhaltet die Ausrüstung mit Lebensmitteln, Waffen, Unterkünften oder auch einfach den Handel mit ihnen – mit Strafen bis hin zum Tode rechnen müsse.

Beutezug in der Nordsee

Eine weitere Nennung Störtebekers können wir auf den 15. August 1400 datieren, da sein Name in einem Vertrag zwischen dem Herzog von Holland und den Vitalienbrüdern genannt wird. Der Herzog befindet sich im Streit mit der Hanse, und die Vitalienbrüder sollen diesen Streit für ihn ausfechten. Der Herzog heuert die Vitalienbrüder als Söldner an, um die Hanse an ihrer fundamentalsten Stelle zu schädigen, dem Handel. In dem Vertrag werden Störtebeker und weitere Hauptleute erwähnt: „…dat wii een voerwarde ende gemacct heben mit…Stortebeker…van hore gemeenre vitaelgebroedere wegen tot honderte ende 114 manne toe“3 (…das wir einen Vertrag gemacht habenmit…Störtebeker…wegen der gemeinen Vitalienbrüder genannt, insgesamt 114 Mann…)

 

Mittelalterliche Karte des Nord- und Ostseeraums / Grafik: University of Texas Libraries

Mittelalterliche Karte von Nord- und Ostsee – Störtebeker war auf beiden Meeren zuhause / Grafik: University of Texas Libraries
 
 
 

Im Gegenzug für das Plündern der Schiffe der Hanse bietet der Herzog den Vitalienbrüdern einen Rückzugsorts und sichere Häfen an, in welchen sie ihr Beutegut verkaufen können. Die Vitalienbrüder sind wie elf Jahre zuvor mit herzoglichen Kaperbriefen und einem sicheren Rückzugsgebiet ausgestattet und bedrohen die Hanse erneut: „dat wii se tot onser vriensscap nehmen ende gheven him ludden goet, vry, vaste ende zeker geleide…”4 (Wir sie in unser Freundschaft aufnehmen und ihren Leuten ein gutes freies Geleit geben).

Die Aktionen der Vitalienbrüder ab dem Jahr 1400 führen auf Seiten der Hanse, insbesondere der Englandfahrer, welche von den Machenschaften der Seeräuber besonders schwer getroffen werden, zu der Entscheidung, eine Flotte auszurüsten, welche das Treiben der Piraten endgültig beenden soll. Auf Helgoland enden die Aktivitäten der Vitalienbrüder – und damit Störtebekers – mit der Niederlage gegen die hanseatische Flotte. Ob wirklich Klaus Störtebeker gefangen genommen wurde, kann nicht mit historisch genauer Sicherheit gesagt werden, aber da den Historikern aus der nachfolgenden Zeit keine größeren Piratenaktivitäten überliefert sind, können wir annehmen, dass wir das Ende des Seeräubers Störtebeker und den Beginn der Legendenbildung erreicht haben.

Historie und Legendenbildung

Im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts erfuhr die Legende (beziehungsweise war es zu jener Zeit noch eine Erzählung oder Geschichte) relativ wenig Veränderung; der historische Störtebeker und die Vitalienbrüder dürften noch im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung verblieben sein. Ab dem 16. Jahrhundert verfestigten sich jedoch die Geschichten, die sich mehr oder weniger von realen Geschehnissen unterschieden und sich mit den Ausschmückungen der Erzähler und deren Phantasie vermischten. Die Legende unterlag einer Um- und Überarbeitung, welche die Erfindung neuer und angeblich wahrer Tatsachen zur Folge hatte, die oft von aktuellen, zeitgenössischen Ereignissen beeinflusst wurden. Da die karge Quellenlage viel Interpretationsspielraum gelassen hatte (und immer noch lässt), konnte die Geschichte des Freibeuters immer so angepasst und umgedichtet werden, dass sie auf zeitgenössische Ereignisse anwendbar war.

Störtebeker wurde im Laufe der Zeit zum Ideal der einfachen Leute stilisiert, seine Piratenbande zu einer Gruppe von Sympathieträgern erhoben, welche den reichen Pfeffersäcken der Hanse zusetzten. Störtebeker wurde als Heldengestalt wahrgenommen, so wie es mit Piraten oft geschieht. Das Freibeutertum besitzt ein leicht als heldenhaft zu klassifizierendes Attribut: Freiheit. Piraten erscheinen uns als freiheitsliebende Romantiker, den Kampf gegen die Mächtigen suchend und niemandem als sich selbst verpflichtet. Dieses Attribut prägt das Bild Störtebekers noch im 21. Jahrhundert.

Historisch gesehen wurde der Seehandel durch die Piraterie Störtebekers und seiner Kumpane stark beeinträchtigt. Im Jahr 1392 stellte ein Beschluss auf dem Hansetag den gesamten Schonenverkehr der westlichen Ostsee für drei Jahre ein. Chroniken aus jener Zeit sowie Überlieferungen der Hanse berichten von enormen Preissteigerungen in Bezug auf die Güter, welche per Seeweg gehandelt wurden. Auch Lebensmittel, wie etwa Hering, wurden teurer. Sogar zu Hungersnöten soll das Treiben der Vitalienbrüder geführt haben. Aus einem Eintrag der Magdeburger Schöppenchronik wird die Situation deutlich: „…starben viele Leute und vor allem ungezählte Kinder. In diesen vier Jahren gab es einen großen Mangel an Korn, Nahrung, an Heringen und vielen Arten von Waren…“5 Als Held dürfte Störtebeker somit nicht auf alle seiner Zeitgenossen gewirkt haben.

Wer nach Bildern von Störtebeker sucht, trifft in der Regel auf einen Irrtum, welcher sich fest in der Geschichte Störtebekers verankert hat.

Anders als lange vermutet, stellt es nicht den berühmten Seeräuber dar, sondern Kunz von der Rosen, einen Berater des deutschen Kaisers Maximilian I. Dennoch zeigt die Abbildung das Bild Störtebekers, das die Menschen lange Zeit von ihm gehabt haben mögen: Ein wilder, zugleich edler Kumpane – natürlich mit verwegenem Barte.

Störtebekers Ende?

Besonders um die letzten Ereignisse im Leben des berühmten Seeräubers hat sich der legendenhafte Aspekt der Geschichte Störtebekers gerankt. Die Legende berichtet von einem heimtückischen Akt der Feinde Störtebekers, welche flüssiges Blei in die Ruderösen seines Schiffes gossen und die Seeräuber somit hilflos den hanseatischen Feinden auslieferten. Die historisch korrekte Version klingt allemal nüchterner: Störtebeker lag vor Helgoland im Schutz der Bucht (damals bestand noch eine Verbindung zwischen dem Inselfelsen und der östlich gelegenen Düne, welche einen nur von Nordwesten befahrbaren Naturhafen bildete) und ein starker Ostwind machte es seinem Schiff schlicht unmöglich, vor der aus Hamburg heraneilenden Flotte der Hanse zu fliehen. Dass Klaus Störtebeker wirklich am 22. April bei Helgoland von der Hanse gefangen wurde, wird durch einen Auszug aus der Chronik des Rufus (die Chronik der Hansestadt Lübeck im 12. und 13. Jahrhundert) bekräftigt, in dem es heißt : „Desser vytalien vovetlude weren genomet Wichman unde Clawes Störtebeker.“6 (Die Hauptleute der Vitalienbrüder Wichman und Klaus Störtebeker wurden gefangen genommen.) Dafür spricht zudem, dass der Name Klaus Störtebeker nach diesem Datum nicht mehr in den Berichten über Piraterie zu finden ist.

Auf dem Grasbrook im Süden Hamburgs sollen Störtebeker und seine Kumpanen schließlich ihr Ende gefunden haben. Und auch hier ist die Legendenbildung zu erahnen. Um seine Mannschaft vor dem Henker zu retten, schlägt Störtebeker einen Handel vor: Jeder seiner Leute, an welchen er nach seiner Enthauptung noch vorbeischreiten kann, soll begnadigt werden. Somit findet sich in nahezu jeder Geschichte über Störtebeker – sei es in Büchern, bei Festspielen oder in Filmen – die augenscheinliche Bestätigung dafür, dass der Geköpfte an elf seiner Kumpanen vorbeigeschritten sei und so ihr Leben gerettet hätte, wenn die anwesenden Offiziellen der Hanse die Abmachung nicht gebrochen hätten und daher alle Vitalienbrüder hinrichten ließen.

Eine historische Quelle, die dieses belegt, gibt es nicht. Von der Hinrichtung Störtebekers wissen wir nicht viel, nicht einmal, ob sie tatsächlich auf dem Grasbrook stattfand. Als 1887 auf dem Grasbrook zwei Schädel gefunden wurden, war schnell klar, dass einer der Schädel von Störtebeker sein müsse und man entschied sich, dass es der besser erhaltende von beiden sei.

Im Museum für Hamburgische Geschichte ist eine Rekonstruktion zu besichtigen, die nach diesem Schädel angefertigt wurde; eine wissenschaftliche Zusicherung, dass es sich bei dem erschaffenen Abbild wirklich um den Schädel des Piraten handelt, gibt es nicht.

Dem Quellenmangel zum Trotze

Das Interesse an der Geschichte des verwegenen Piraten führte über die Jahrhunderte dazu, dass die Lücken und leeren Seiten der Geschichte Störtebekers von den Menschen gefüllt wurden. Der Mythos hat ein Eigenleben entwickelt. Wir wissen heute so gut wie nichts über Störtebeker. Wer er wirklich war, ist nicht belegbar. Die Quellen schweigen beharrlich, oder sie sind uns nicht erhalten geblieben. Doch gerade das lückenhafte Wissen und das Verlangen der Menschen, der Geschichte ein Gesicht zu geben, beflügelt die Fantasie seit Jahrhunderten. Die wenigen Daten und Fakten, die wir aus dem Umfeld Störtebekers haben, werden dabei fest in die Legende eingebunden. Gut verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel des Schiffes Bunte Kuh: Mal taucht es als das Schiff Störtebekers auf, mal als hanseatisches Schiff, auf welchem Störtebeker nach Hamburg gebracht wurde. Ein anderes Mal wird es zum Flaggschiff der hanseatischen Flotte, die gegen die Vitalienbrüder kämpft. Dabei wissen wir lediglich, dass die Bunte Kuh ein Schiff ist, das an der Aktion gegen die Vitalienbrüder teilgenommen hat. Allein der Name wurde, dank einer Rechnung über die Reparatur von Kampfschäden, in diesem Zusammenhang überliefert. Weder wurde es von Störtebeker kommandiert, noch war es das Schiff von Simon von Utrecht, dem Ratsherren, welchem fälschlicherweise der Sieg über die Vitalienbrüder zugesprochen wurde.

Betrachten wir diese Art der Legendenbildung, liegt der Schluss nahe, dass Klaus Störtebeker – der Quellenlage zum Trotze – nicht aus den Köpfen der Menschen verschwinden wird. Der Pirat, der Vitalienbruder, der einfache Mann Klaus Störtebeker mag uns zwar nicht überliefert sein, doch die Legende um die norddeutsche Heldengestalt wird nichts von ihrer Bedeutung einbüßen, denn ihre Hauptfigur, der Seeräuber Störtebeker, verkörpert das Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit.

 

Quellen:

1 Wismarisches Verfestigungsbuch, Wismar, 1380.

2 MUB (Mecklenburgisches Urkundenbuch)XXII12442, Anm.

3+4HR (Hanserezesse) I 4, 605, Vertrag Herzog Albrecht –Vitalienbrüder.

5 Magdeburger Schöppenchronik, Magdeburg 1350.

6 Chronik des franciscaner Lesemeisters Detmar.

Literatur:

  • Bents, Harms: Störtebeker. Dichtung und Wahrheit. Norden, 2003.
  • Puhle, Matthias: Die Vitalienbrüder. Klaus Störtebeker und die Seeräuber der Hansezeit. Frankfurt a. M., 1992.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1147

Weiterlesen

Reemtsma: Ein Stück frühe Werbegeschichte

von Merle Strunk – Als der Erfurter Zigarettenhersteller Reemtsma in den 1920er-Jahren seinen Sitz nach Altona verlegte, revolutionierte das Unternehmen mit seinem neuen und professionellen Auftreten erst den Hamburger und schließlich den gesamtdeutschen Zigarettenmarkt.  Damit legte der Konzern den Grundstein  für die Herausbildung vieler prominenter Marken, die der Firma langjährigen Erfolg bescherten: 2010 konnte das Traditionsunternehmen 100-jähriges Bestehen feiern.

Die Firmengeschichte des Zigarettenherstellers Reemtsma beginnt 1910, als der Kaufmann Bernhard Reemtsma die Erfurter Zigarettenfabrik Dixi aufkauft, die lediglich sechs Mitarbeiter beschäftigt. Das Unternehmen schafft es den Ersten Weltkrieg finanziell zu überleben. Alle Söhne Bernhard Reemtsmas steigen nach dem Krieg in das Unternehmen ein und ermöglichen so einen Neuanfang, begünstigt durch das Marktvakuum, welches durch das Fehlen von qualitativem Rohtabak während des Krieges entstand.

1923 zog das Familienunternehmen, inzwischen geführt von den Brüdern Alwin, Hermann und Philipp Reemtsma, auf ein ungenutztes Kasernengelände in Altona-Bahrenfeld um. Die Firma hatte viele Neuerungen mit im Gepäck: ein neues Logo, ein professionelles und einheitliches Auftreten des Unternehmens sowie die Möglichkeit zur industriellen Massenfertigung. Damit  unterschied sich Reemtsma deutlich von den meisten anderen Hamburger Zigarettenherstellern, die zum großen Teil noch in Handarbeit in Hinterhoffabriken und ohne die Absicht eines markenbewussten Auftretens produzierten.

 

01_Firmenlogo_700

Leinwand mit dem Firmenlogo, entworfen von Wilhelm Deffke, 1920                      / Grafik: MdA ReeA MA.D 2012/001.17

 

Domizlaff und Deffke, zwei Ikonen der modernen Werbung

Schlüsselereignis für den Innovationsschub bei Reemtsma war die Bekanntschaft der Unternehmer mit dem Grafiker und Werbefachmann Hans Domizlaff im Jahr 1921. Dieser galt zwar als erfindungsreicher Visionär, aber auch als schwieriger und exzentrischer Charakter. Dennoch wurde Domizlaff Reemtsmas Werbeberater und bleib bis 1958 für das Unternehmen tätig. Seine Ideen formten Reemtsmas Bild nach außen und innen nachhaltig. Bereits durch dieses Anstellungsverhältnis bewies das Unternehmen ein Gespür dafür, Trends in der Konsumindustrie- und gesellschaft frühzeitig zu erkennen. Gezielte Werbung war in den 1920er-Jahren in vielen Branchen noch ein Novum, ebenso eigens Personal zum Entwickeln von Werbestrategien und Unternehmenskommunikation anzustellen.

Domizlaff erschuf ein homogenes und einprägsames Auftreten der Firma in allen Bereichen und war immer um einen Wiedererkennungswert Reemtsmas bemüht. Mit solchen Ansätzen, die Vorläufer der heutigen Corporate Identity[1] waren, kann er als einer der Begründer der modernen Markentechnik gesehen werden.

Bereits vor dem Engagement mit Domizlaff unternahm Reemtsma einen wichtigen Schritt in Richtung eines professionellen Erscheinungsbildes. 1920 führte das Unternehmen ein neues Signet ein, gestaltet vom Gebrauchsgrafiker Wilhelm Deffke. So wie Hans Domizlaff als Begründer der Markentechnik bezeichnet werden kann, so wird Deffke oftmals als Vater des modernen Logos  gehandelt. Deffke, vom Bauhaus inspiriert, entwarf für Reemtsma ein stark reduziertes, fast strenges Logo. Es zeigt einen stilisierten Bug eines Wikingerschiffes vor einer roten Sonne.

 

02_Wikingerschiff_700

Werbeplakat Eugen Schmidt mit Wikingerschiff und Reemtsma-Logo, ca. 1921    / Grafik: MdA ReeA MA.D 2012/001.14 

 

Ab diesem Zeitpunkt war auf allen Reemtsma-Produkten das neue Logo in angepasster Form zu finden. Dieses Vorgehen bezog sich nicht nur direkt auf die Produkte, also die Zigarettenpackungen, sondern setzte sich auch in Anzeigen und Plakaten fort. Dies war einer der Verdienste Domizlaffs. Mit seiner neuartigen Auffassung von Kommunikation zwischen Unternehmen und Verbraucher war er darauf bedacht, dass alle Marken des Hauses, auch wenn sie unterschiedliche Kundentypen ansprechen sollten, die gleiche Linie verfolgten. In Reemtsmas Fall hieß diese Linie hohe Qualität für den anspruchsvollen Kunden, da das Unternehmen überwiegend höherpreisige Marken für den gehobenen Bedarf herstellte. Domizlaff, der schnell in der Unternehmenshierarchie Reemtsmas aufstieg, war daher besonders darauf aus, ein breites Angebot an Marken zu schaffen, die jedoch den gleichen verlässlichen Standard beibehielten. Das Reemtsma-Logo sollte dies als eine Art Versprechen an den Verbraucher garantieren. Dieses Versprechen gewinnt an Bedeutung, wenn berücksichtigt wird, dass die Qualität von Tabakprodukten während der Kriegsjahre stark abgenommen hatte.

Auch war diese Art der Vermarktung für die Zigarette als einem Produkt ohne oder mit sehr wenigen Eigenschaften bedeutsam; sie ermöglichte es dem Produkt, sich von seiner Konkurrenz abzuheben. So entstanden in den zwanziger Jahren unter der Ägide von Hans Domizlaff beispielsweise Marken wie R6 und Ernte 23, beide in einer schlichten Aufmachung, die für technische Überlegenheit und ausgewählte Qualität stehen soll. Sie zählen auch heute noch zur Reemtsma Produktpalette.[2]

 

09_Dreiersachsen_700

Zigarettenpackung Marke Dreiersachsen, 1925 – Steht für die alte Symbolstruktur / Grafik: MdA ReeA MA.O 2007/003.3224
 
 

Trotz der Strategie, für jeden Kunden die passende Marke anbieten zu wollen, beschränkt sich Reemtsma auf die Herstellung einiger weniger, dafür aber stark charakteristischer Marken. Auch damit hebt sich das Unternehmen von der Masse der Zigarettenproduzenten ab. Anders als heute waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehrere hundert verschiedene Zigarettenmarken auf dem Markt. Viele von ihnen jeweils nur für sehr  kurze Zeit. Erreichte eine Marke nicht den gewünschten Umsatz, wurde sie ohne langes Zögern vom Markt genommen. Reemtsma hingegen war eine der ersten Firmen, die bewusst Markenkonzepte entwickelte und diese umsetzte.

Kampf gegen alte Symbolwelten

Das strenge Design Deffkes und die autoritäre Art Domizlaffs schienen als treibende Kräfte des noch jungen Unternehmens gut zu korrespondieren. Die Entscheidung, gleich zwei so visionäre Köpfe zu beschäftigen, mag den Reemtsma-Brüdern dennoch nicht leicht gefallen sein. Obwohl sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Abkehr von der wilhelminischen Wert- und Weltvorstellung vollzog, und damit auch in den Bereichen Konsum, Design und Werbung die Türen für einen Neuanfang offen standen, hielten viele Unternehmen noch lange Zeit an der traditionellen Symbolik des Kaiserreiches fest. Reemtsmas Entscheidung, sich der Strömung der Moderne und Erneuerung anzuschließen, war also mit einem gewissen Risiko verbunden.

 

03_Reemtsmagold_700

 Zigarettenpackung der Marke Reemtsma Gold, 1920                                             / Grafik: MdA ReeA MA.O 2007/003.4179

 

Die Gestaltung typischer Zigarettenpackungen der Vorkriegs- und Kriegsjahre war geprägt von Ornamentreichtum und heraldischen Zeichen wie Wappen, Adler und Flaggen, mit denen Bezug auf das Kaiserreich genommen wurde. Aus heutiger Sicht wirken diese dadurch oft mit Symbolen „überladen“ und standen im Kontrast zu den im Verhältnis schlichten Verpackungen der Reemtsma-Produkte. Das Gleiche gilt auch für die Markennamen. Eine große Anzahl der frühen Marken wie „The Kaiser“, „General Goeben“, „Unsere Marine“ und „v. Hindenburg“, trugen Bezeichnungen, die ganz offen eine Loyalität zur Monarchie sowie einen gewissen Nationalismus bekundeten. Die Reemtsma-Produkte der 1920er-Jahre waren weitgehend frei von solchen Botschaften. Nach dem Ersten Weltkrieg änderten Firmen die Namen ihrer Marken und ähnelten in diesem Punkt dem Reemtsma-Sortiment, doch ihre klassische Vorkriegsoptik blieb zunächst bestehen. Vermutlich auch, um die traditionelle Käuferschaft nicht zu verlieren.

Wie sehr diese noch in den alten Symbolstrukturen und Bildwelten verwurzelt war, zeigen die Reaktionen auf die Veröffentlichung des umgestalteten Reemtsma-Logos. 1920 wurde das Logo erstmals plakatiert –  insgesamt 6000-mal entlang wichtiger Bahnstrecken Deutschlands. Viele Käufer zeigten sich empört über dieses als aggresiv[3] empfundene Zeichen. Sogar das Entfernen dieser Reklame wurde mehrfach  verlangt. Das Unternehmen hielt jedoch an der Kampagne fest und ließ sich vom Reichkunstwart Edwin Redslob die Funktionalität und damit die Existenzberechtigung für das Logo bestätigen.

05_R6_700

Zigarettenpackung der Marke R6, entwickelt von Hans Domizlaff, ca. 1921    / Grafik:  MdA ReeA MA.O 2007/003.4438

 

„Der volkswirtschaftlich so wichtigen Hinwendung zum Markenartikel“, so Redslob, „entspricht hierbei die Notwendigkeit, alle Markenartikel durch Warenzeichen zu kennzeichnen, die sich leicht einprägen. Hierfür bietet das Reemtsma-Warenzeichen eines der besten Beispiele, die mir bisher bekannt geworden sind.“[4]

Diese Einschätzung bestärkte Reemtsma in seinem Kurs und nach den ersten anfänglichen Schwierigkeiten setzte sich das Reemtsma-Logo auch bei den Käufern durch.

Diese Kombination aus einem offen zur Schau gestellten Bekenntnis zu Moderne, Technik und Fortschritt und einer Produktpalette, die dem Käufer suggerierte, für jeden ganz persönlichen Geschmack die perfekte Marke bieten zu können, bescherte den Reemtsma Cigarettenfabriken nachhaltigen Erfolg. Das gezielte Bewerben ihrer Produkte und das Wahren eines hohen Qualitätsanspruchs ermöglichte es dem Unternehmen, das Stigma einer Kleinfirma nach und nach zu überwinden. Gegen Ende der 1920er-Jahre stieg Reemtsma, noch vor seinem 20-jährigen Bestehen, zum Marktführer[5] auf.



[1] Gries, Rainer; Ilgen, Volker, Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995, S. 47.

[2] Böllert, Susanne: 100 Jahre Deutsche Industriegeschichte. 1910-2010. Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Hamburg 2010, S. 34.

[3] Jacobs, Tino: Zwischen Institution und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, S. 148-178. In: Berghoff, Hartmut (Hrsg.): Marketinggeschichte. Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt a.M., 2007, S. 153.

[4] Jacobs: S. 153.

[5] Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen“ Die Erfindung der Markentechnik als Herrschaftsinstrument, in: Forum Schulstiftung (Nr. 45, 12/2006), S. 85.

 

Literaturhinweise

  • Böllert, Susanne: 100 Jahre Deutsche Industriegeschichte. 1910-2010. Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Hamburg 2010.
  • Gries, Rainer; Ilgen, Volker, Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse krichen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995.
  • Jacobs, Tino: Zwischen Institution und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, S. 148-178. In: Berghoff, Hartmut (Hrsg.): Marketinggeschichte. Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt a.M. 2007.
  • Lindner, Erik: Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie. München 2008.
  • Rahner, Stefan; Museum der Arbeit (Hrsg.): Werbewelten made in Hamburg. 100 Jahre Reemtsma. Hamburg 2010.
  • Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen“ Die Erfindung der Markentechnik als Herrschaftsinstrument, in: Forum Schulstiftung (Nr. 45, 12/2006), S. 80-92,
  • URL: http://www.schulstiftung-freiburg.de/de/forum/pdf/pdf_218.pdf.
  • Weisser, Michael: Cigaretten-Reclame. Über die Kunst, blauen Dunst zu verkaufen. Münster 1980.
  • Writes, Houston: Reemtsma. Von der Feldzigarette zur Anti-Wehrmachtsausstellung. Selent 2002.

 

 

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1238

Weiterlesen

Martin Grosch: Johann Victor Bredt – Konservative Politik zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Eine politische Biographie. Workshop Weimar / Personengeschichte

Das Promotionsvorhaben stellt eine Biographie des vor allem in der Weimarer Republik bedeutenden Politikers Johann Victor Bredt (1879 – 1940) dar. Der Schwerpunkt liegt dabei auf seiner politischen Wirkung im Kaiserreich und insbesondere während der Weimarer Republik, da diese hier in ihrem Höhepunkt mündete: Reichstagsabgeordneter, führender Kopf seiner Partei (der Wirtschaftspartei) und Justizminister im 1. Kabinett Brüning.

Johann Victor Bredt war ein Politiker und Wissenschaftler, der heute nur noch einem historisch interessiertem Fachpublikum sowie Spezialisten und lokalen Heimatforschern ein Begriff zu sein scheint. Auch die aktuelle Forschungsliteratur greift den Politiker Bredt in der Regel nur beiläufig in Verbindung mit den beiden schon angedeuteten Komplexen auf – also Partei und Ministeramt.

Bredt war in einem Zeitraum von rund acht Jahren (1924 – 1932/33) Reichstagsabgeordneter. In dieser Eigenschaft war er in zahlreichen Ausschüssen vertreten und galt als herausragender Vertreter seiner Partei, der Wirtschaftspartei. Höhepunkt in Bredts Politikerkarriere war von der Bedeutung des Amtes her unbestritten seine neun Monate währende Tätigkeit als Reichsjustizminister im Jahr 1930. In seiner Eigenschaft als Politiker und Wissenschaftler machte er sich aber auch als Autor bedeutender verfassungsrechtlicher Werke einen Namen: Sein persönlicher Verfassungsentwurf aus dem Jahr 1919 und sein Kommentar bzw. seine Analyse „Der Geist der Deutschen Reichsverfassung“ von 1924 sind an dieser Stelle exemplarisch zu nennen.

In Bredts Biographie bündeln sich fast zwangsläufig alle zentralen innen- wie außenpolitischen Probleme, Kontroversen und Diskussionen der Weimarer Republik. Aber auch Fragen nach möglichen Traditionen und somit Kontinuitäten, jedoch auch Brüchen vom Kaiserreich hin zu Weimar, ja teilweise bis hin zum Nationalsozialismus, können bzw. sollen an der Person Bredt nachvollzogen und untersucht werden.

Die Arbeit will somit nicht nur einen Beitrag zur Struktur- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik leisten, sondern auch neue Erkenntnisse zur Parteiengeschichte dieser Epoche liefern. Bredt war als führender Kopf der Wirtschaftspartei eine wichtige Figur im politischen Prozess Weimars. Er verkörperte zwar nicht einen Politiker der ersten Reihe wie beispielsweise Ebert, Stresemann, Hindenburg, Hugenberg oder Brüning, aber als ein politischer Repräsentant der „zweiten Reihe“ stellt er eine interessante Persönlichkeit dar, die hinsichtlich ihrer exemplarischen Bedeutung nicht übersehen werden darf. Als eine, wenn nicht gar die wichtigste Figur einer zeitweise ebenso wichtigen Partei muss sich zwangsläufig die Frage nach ihrer politisch-gesellschaftlichen Einordnung stellen:

  • War Bredt für oder gegen die Republik?
  • War er ein restaurativer bzw. reaktionärer Monarchist? oder
  • war er ein Vernunft-, Verlegenheits- oder Herzensrepublikaner? und
  • wie positionierte er sich somit auch gegenüber rechten bzw. rechtsradikalen Strömungen?

Auch die Funktion einer ausgeprägten, aber doch insgesamt eher kleineren Interessenpartei im vielfältigen Parteiensystem Weimars kann anhand der Wirtschaftspartei bzw. „Partei der Haus- und Grundbesitzer“ nachvollzogen werden; eine Partei, der zeitweise ein gewisser machtpolitischer Einfluss zukommen sollte. Hier ist zu untersuchen, inwieweit die Wirtschaftspartei die Republik stabilisierte oder destabilisierte. Die Wirtschaftspartei und die soziale Schicht des Mittelstandes – als deren herausragender Repräsentant Bredt in seiner Eigenschaft als Abgeordneter und quasi „Chefideologe“ fungierte – verdienen von daher auch eine ausführliche Betrachtung. Die Rolle der Konservativen, die Positionen des z.T. noch in der Tradition des Kaiserreichs stehenden Bildungs- und auch Besitzbürgertums sowie des sicher weit zu fassenden Begriffs des Mittelstandes können ebenfalls auf einer multiperspektivischen Ebene biographisch – exemplarisch an der Persönlichkeit Bredts analysiert werden.

Es gilt also zu klären, inwieweit bzw. wo Bredt als eine durch das Kaiserreich und speziell Bismarck geprägte Persönlichkeit seinen Platz in dem republikanischen System Weimars eingenommen hat. Zu fragen ist weiterhin, wie sich Bredt als Vertreter der Wirtschaftspartei von antidemokratischen Tendenzen abhob und wie er sein Verhältnis zum Nationalsozialismus definierte. Gab es programmatische Gemeinsamkeiten und politische Annäherungen bzw. Kooperationen? Kernfragen, die wesentliche historische Kontroversen zur Struktur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik sowie Mentalitätsdiskussionen und der Parteienforschung aufgreifen.

Zusammengefasst lautet die zentrale Leitfrage: Trat Bredt für nur soviel Veränderungen, Fortschritt und Modernität ein wie es ihm nötig bzw. der jeweiligen politischen Situation für angepasst erschien, um dadurch zentrale konservative Inhalte zu bewahren? War Bredt also ein aus seiner Perspektive realitätsbezogener Pragmatiker oder doch ein widersprüchlicher Politiker mit den Facetten eines „Januskopfs“?

Methode

Die oben knapp formulierten Thesen bzw. Arbeitshypothesen werden im Verlauf der Untersuchung zunächst anhand grundlegender theoretischer Überlegungen und politischer Konzeptionen Bredts, hier mittels exemplarischer Analysen seiner einschlägigen Publikationen überprüft werden. Die Untersuchung und Wertung der praktischen Umsetzung durch Bredt in seiner Funktion als Abgeordneter, Parteipolitiker und Minister führt zu einer Synthese der Ausgangsüberlegungen und Fragestellungen, die – eingeordnet in den jeweiligen historischen Kontext – dann vor dem Hintergrund aktueller Forschungsdebatten bewertet und somit abschließend verifiziert bzw. falsifiziert werden.

Was die konkrete Vorgehensweise bei der empirischen Untersuchung angeht, so schied eine Befragung von Zeitzeugen aus Bredts Verwandten- und Bekanntenkreis aus, da Bredts einzige Tochter, Ada Rambeau, am 2. Dezember 2001 verstorben ist und keine weiteren Nachfahren bzw. näheren Angehörigen ermittelt werden konnten. Daher wurde der biographische Zugang gewählt, um so ausführlich, ausgehend von der Sozialisation im Kaiserreich, Motive, politische Ideen und Maßnahmen Bredts aus seiner Zeit – das heißt aus den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Umständen heraus –analysieren und innerhalb des jeweiligen historischen Kontexts interpretieren zu können. Persönliche Aspekte, wie beispielsweise seine Ehe und sein Familienleben, können allerdings aufgrund der in dieser Hinsicht dürftigen Quellenlage nicht vertiefend untersucht werden.

Bei der Untersuchung wird insgesamt ein vom Lebensweg Bredts ausgehender chronologischer Zugang gewählt, der allerdings einen strukturell angelegten Abschnitt zur Weimarer Republik einschließt, da diese Phase den Höhepunkt des Politikerdaseins von Bredt bildet. Struktur und Person werden hier verbunden, die Bedeutung individueller Entscheidungen und Handlungen für den historischen Prozess soll sichtbar gemacht werden. Hier ist z.B. Bredts Haltung zur preußischen Wahlrechtsfrage 1917/18 zu klären, oder sein Mitwirken bei der Gründung der DNVP. Das Denken und die Handlungsmotive einer Person, aber somit auch einer Generation, hier Bredt als Vertreter eines im Kaiserreich sozialisierten intellektuellen Bürgertums, gilt es aufzuzeigen.

Die Biographie über Bredt versucht verschiedene historische Ansätze auf politik-, struktur-, sozial-/milieu- und auch mentalitätsgeschichtlicher Ebene zu einem neuen, übergreifenden Ansatz zu vereinen. Dabei spielen sowohl grundlegende Fragestellungen (z.B. die Sozialisation des Bildungsbürgertums im Kaiserreich) wie auch Detailaspekte beispielsweise des rheinischen Protestantismus in Form der reformierten Kirche eine Rolle.

Ebenso wichtig bei der Persönlichkeit Bredts ist die kritische Differenzierung zwischen seiner intendierten und seiner tatsächlichen Wirksamkeit. Glaubt man seinen Erinnerungen und auch der zeitgenössischen Presse, scheint Bredt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gehabt zu haben. Betrachtet man hingegen den aktuellen Forschungsstand und den heutigen Bekanntheitsgrad dieses Politikers, so scheint eher das Gegenteil der Fall sein. Auch hier versucht diese Arbeit zu einem fairen und abgewogenen Urteil zu gelangen. Schwerpunkt dieser Arbeit ist also in weiten Teilen die politische Tätigkeit Bredts unter Einschluss einer milieu- und mentalitätsgeschichtlichen Perspektive.

Auch der Ansatz des Generationenbegriffs bzw. der Generationenforschung findet im Rahmen dieser Untersuchung Beachtung, um zu diskutieren, inwieweit Bredt in ein – mehr oder weniger eindeutiges – Generationenschema eingeordnet werden kann. Zudem können Generationen die Funktion des „Ordnens von Geschichte“ besitzen. Mögliche Probleme eines derartigen Ansatzes sind allerdings die mangelnde Repräsentativität oder eine oft angenommene Homogenität. Die Herstellung einer Generation, das „generation building“, verläuft als ein im privaten und öffentlichen Raum stattfindendes Kommunikationsgeschehen, das vor allem durch ein an Generationsobjekte gebundenes Gemeinschaftsgefühl charakterisiert ist. Bei Bredts Generation mögen dies Inhalte aus dem Kaiserreich, wie das Militär, die schwarz-weiß-rote Flagge oder der Primat der Nation gewesen sein. Der Begriff der „Transgenerationalität“ geht davon aus, dass die genealogisch weitergegebene Erfahrung Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der nachfolgenden Generation strukturiert. Bredts Bismarckverehrung z.B. lässt sich sicherlich nicht mit seiner politischen Analyse als Jugendlicher allein erklären. Vielmehr dürfte hier die Generation seines Vaters und Großvaters prägend und somit ausschlaggebend gewesen sein. Der Generationenbegriff stellt eine Kollektivbeschreibung mittlerer Reichweite dar, der auf der einen Seite Identifikationspotenzial bietet, auf der anderen Seite Unterscheidungsbedürfnissen Rechnung trägt. Die Ideale des Kaiserreichs wirkten z.B. in der Weimarer Republik bei vielen bürgerlichen Politikern identitätsstiftend und hatten auf politischer Ebene oft eine radikale Abgrenzung vom politischen Gegner zur Folge. Inwiefern diese Unterscheidungsbedürfnisse auch für Bredt eine Maxime dargestellt haben, gilt es zu untersuchen.

 

Zurück zum Themenbereich Personengeschichte

Quelle: http://histbav.hypotheses.org/1430

Weiterlesen

Smartphone-Web-App »Orte jüdischer Geschichte«

smartphone-app-orte-juedischer-geschichte-01Eine Gedenktafel für die 1938 zerstörte Synagoge, an deren einstigen Standort das Stadtbild längst nicht mehr erinnert, der alte jüdische Friedhof, unscheinbar und versteckt gelegen, ein ehemaliges ›KZ-Außenlager‹ mitten in der City – nur zu leicht läuft man, unwissend bleibend, daran vorbei. Das wäre es doch: Irgendwo aus dem Zug steigen, das Smartphone anschalten, und nachsehen: was gab es (und gibt es vielleicht noch) hier zur deutsch-jüdischen Geschichte? Das war meine Idee für die hier nun vorgestellte Web-App.

Doch woher die Daten nehmen? Wikipedia natürlich, die naheliegende (und für den digitalen Stand der Humanities vielleicht auch vielsagende) Antwort.

Iteriert man in der Wikipedia rekursiv über die Artikel, die dem Kategorienbaum Judentum in Deutschland angehören, so erhält man etliche Tausend Seiten als Ergebnis. Circa 1.500 davon sind georeferenziert. Die Smartphone-WebApp Orte jüdischer Geschichte1 erschließt und gruppiert diese mit Ortskoordinaten versehenen Wikipedia-Artikel zur deutsch-jüdischen Geschichte und zeigt sie (als Vorschau und mit Entfernungsangabe) im Umkreis eines gegebenen Ausgangspunktes an. Dieser »Point of View« lässt sich hier auf verschiedenen Wegen bestimmen. Der einfachste: Man startet die App im Browser des Smartphones, das ja die momentane geografische Position ermitteln kann (eventuell fragt der Browser nach, ob die Positionsbestimmung erlaubt wird). Alternativ lassen sich auch direkt Koordinaten eingeben. Besonders interessant aber wird es, wenn wir den praktischen DARIAH-DE-Service Getty Thesaurus of Geographic Names nutzen. Man gibt einen Ortsnamen ein, darauf wird dieser Dienst abgefragt und erlaubt, den von uns gemeinten Ort auszuwählen: Ein Klick (oder besser »Touch«) in die zurückgesendete Liste versetzt uns an einen beliebigen Ort, dessen Name bekannt ist, und lässt uns die Situation »vor Ort« erforschen.

Erfreulicherweise ist aber auch die Integration weiterer Datenquellen in Vorbereitung. Im Zusammenhang mit Projekten des Steinheim-Instituts ist das mit der Datenbank zur jüdischen Grabsteinepigraphik »epidat« (steinheim-institut.de) schon gelungen. Gespräche finden zudem statt im Rahmen des Netzwerks deutsch-jüdische Geschichte Nordrhein-Westfalen und Potenzial für Zusammenarbeit haben auch Angebote wie Stolpersteindatenbanken oder Webseiten wie »Orte jüdischer Geschichte und Gegenwart in Hamburg« (gis.hcu-hamburg.de). Ich selbst habe begonnen, einen Datensatz zu den NS-Bücherverbrennungen 1933 mit ihren brutalen antijüdischen Ausfällen zusammenzustellen.

Ebenfalls in Vorbereitung ist der naheliegende Zugang über eine Kartenvisualisierung. Entsprechend der ursprünglichen Idee ist die Anwendung für mobile Geräte konzipiert, sie funktioniert aber in jedem Webbrowser. Und tritt man einen Schritt zurück, zeichnet sich ja vielleicht eine generische Applikation ab, die für beliebige Wikipedia-Kategorien, etwa Kunst in Deutschland mit georeferenzierten Inhalten zu Kunst im öffentlichen Raum, Denkmalen, Skulpturen etc. funktionierte – oder darf es lieber Industriekultur oder Archäologischer Fundplatz sein?

Es gibt hier also etliche Aspekte, die demnächst eine genauere Betrachtung verdienen: Wikipedia und die Wissenschaft, das Potenzial generischer Schnittstellen, die zu (hoffentlich kreativer) Programmierung einladen, die jüngst angekündigte Linked-Open-Data-Zukunft der Getty Vocabularies (»Vocabularies as LOD«, getty.edu), die der App zugrunde liegende XML-Technik, die Frage nach dem geeigneten Datenmodell für weitere Datensätze, die infrastrukturellen Rahmenbedingungen, unter denen ein solches Angebot nachhaltig gedeihen kann, schließlich mobile first als vielleicht ein wenig provokante, aber wie mir scheint auch zeitgemäße Devise für Digital-Humanities-Anwendungen.

app-juedische-orte.de.dariah.euVielleicht ist es ja nicht nur mein Eindruck, dass eine solche Software eine neue, andere Perspektive auf verfügbare Daten erlaubt, die nicht nur aus fachlicher Sicht durchaus überraschen kann. Der schon recht zuverlässig funktionierende Prototyp hat gleichwohl noch unübersehbare Ecken und Kanten – über Feedback würde ich mich deshalb sehr freuen. Die App ist im Begriff, sich in die DARIAH-DE-Infrastruktur einzugliedern und ist erreichbar über die URL app-juedische-orte.de.dariah.eu/ sowie über den nebenstehenden QR-Code. Nur zu, Probieren geht über Studieren!

  1. Die Benennung gehört zu den anspruchsvolleren Aspekten des Projekts, und will zufriedenstellend nicht gelingen, geht es doch, je nach Sujet, hier vielleicht eher um »Kultur«, da eher um »deutsch«, dort um »deutsch-jüdisch«, um »mit«, um »gegen« … ein Smartphone-Display ist damit hoffnungslos überfordert.

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/36

Weiterlesen

Kommunikation und Konfrontation – Diplomatie und Gesandtschaftswesen Kaiser Maximilians I. (1486-1519)

1000 Worte Forschung: Abgeschlossenes Dissertationsprojekt an der FU Berlin

Johannes Cuspinian, Öl auf Holz, Lucas Cranach d. Ä., um 1502 (Quelle: Wikimedia Commons)

Johannes Cuspinian, Öl auf Holz, Lucas Cranach d. Ä., um 1502 (Quelle: Wikimedia Commons)

Ob es sich bei dem Tagebuch des diplomatischen Routiniers Johannes Cuspinian wirklich um das „Memoirenwerk eines Staatsmannes“ (H. Ankwicz-Kleehoven) im Sinne eines Kissinger oder Gorbatschow handelt, sei dahingestellt. Ein kritischer Blick in diese Aufzeichnungen zu den sich im Frühjahr des Jahres 1515 konkretisierenden Verhandlungen Kaiser Maximilians I. mit dem ungarisch-böhmischen König Wladislaw II. und Sigismund von Polen lohnt sich jedoch allemal: Schließlich wurde bei diesem, von Cuspinian maßgeblich arrangierten Herrschertreffen der Grundstein gelegt für die habsburgische Nachfolge in Böhmen und Ungarn, dito also für jenes komplexe Gebilde der österreichischen Donaumonarchie, das nach rund fünfhundertjährigen Bestehen erst durch die umwälzenden Erschütterungen des 1. Weltkriegs auseinanderbrechen sollte. Der Mythos des Jahres 1515 wirkt bis heute nach: In zahlreichen Historiengemälden wurde die Wiener Doppelhochzeit der Enkel Maximilians I. mit den jagiellonischen Thronfolgern gefeiert, zusammen mit dem berühmten Distichon „Tu, felix Austria, nube“ fand er sogar Eingang in die verschiedenen Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas.

Eine akteurszentrierte Analyse der Wiener Zusammenkunft im Sinne einer „Geschichte der Diplomatie hinter verschlossenen Türen“ lenkt jedoch den Blick verstärkt auf dessen eigentliche Verhandlungsführer. Das waren weniger die repräsentativ auftretenden Monarchen, als vielmehr deren rhetorisch und juristisch versierte Bevollmächtigte. Sie trafen schon im April 1515 im ungarischen Pressburg zusammen und bedienten sich bereits damals meisterlich all jener Instrumentarien, die wohl auch heute noch einen nicht unwesentlichen Bestandteil langwieriger diplomatischer Geheimverhandlungen ausmachen: umfangreiche Schmiergeldzahlungen, Beleidigungen und emotionale Entgleisungen zwischen den Beteiligten. Diese lassen sich jedoch weniger mithilfe des eingangs erwähnten, vom Kaiser offiziell bestellten Auftragswerk Johannes Cuspinians nachweisen, sondern vielmehr in den bislang für diesen Kontext noch kaum ausgewerteten Berichten der venezianischen und polnischen Gesandten.

Die Wiener Doppelhochzeit, Ausschnitt aus dem Druckwerk „Ehrenpforte“, Albrecht Dürer, 1515 (Quelle: Wikimedia Commons)

Die Wiener Doppelhochzeit, Ausschnitt aus dem Druckwerk „Ehrenpforte“, Albrecht Dürer, 1515 (Quelle: Wikimedia Commons)

Dabei wird deutlich, dass sich makrogeschichtliche Faktoren in den spätmittelalterlichen Aussenbeziehungen wohl am anschaulichsten mithilfe eines mikrohistorischen Querschnitts durch die europäische Politik darstellen lassen. Während die konventionelle, einseitig ereignis- oder herrscherzentrierte Diplomatiegeschichtsschreibung dazu tendierte, die maximilianische Politik als eine wechselnde Abfolge von Kriegen und Friedenschlüssen nachzuzeichnen, begibt sich diese Studie bewusst auf die Ebene der eigentlichen Handlungsträger. Der komplexe Aufstieg des Hauses Österreich um 1500 hin zur global operierenden Casa de Austria Karls V. wird hier aus der mikrohistorischen Perspektive der habsburgischen Gesandten nachvollzogen. Sie werden als Schlüsselfiguren der vormodernen Politik, speziell der Politik Maximilians I. verstanden, da gerade er seine größten Erfolge, die Begründung der habsburgischen Herrschaft in den spanischen Königreichen sowie in Böhmen und Ungarn, eben nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf diplomatischem Wege verwirklichte.

Ausgehend von der Frage nach den elementaren Rahmenbedingungen der zwischenhöfischen Kommunikation bietet die Arbeit einen Einblick in die politischen Austauschprozesse jener Zeit. Insgesamt lässt sich unter Maximilian I. eine erhebliche Intensivierung des Gesandtschaftsverkehrs im Vergleich zu seinen unmittelbaren Vorgängern auf dem römisch-deutschen Königsthron konstatieren. Trotz seines nach wie vor ausgeprägten kaiserlichen Selbstverständnisses, wonach es angemessener sei, eine Vielzahl von Herrschaftsvertretern an seinem Hof zu empfangen, statt selbst solche zu entsenden, erweiterte er kontinuierlich seinen diplomatischen Aktionsradius. Erstmals wurden auch der Moskauer Großfürst und der osmanische Sultan in die Bündnis- und Friedensverhandlungen einbezogen. Der Ausbau der politischen Beziehungen zog naturgemäß eine beträchtliche personale Aufstockung des kaiserlichen Gesandtschaftswesens nach sich. Die stets mehrköpfigen Delegationen waren nach unterschiedlichen Rang- und Kompetenzkriterien zusammengestellt, so dass ihre Mitglieder entscheidende Eigenschaften wie Status, juristischer Sachverstand, sprach- und landeskundliche Kenntnisse sowie nicht zuletzt auch persönliche Kontakte im Kollektiv abdecken konnten. Bemerkenswert ist dabei der unter ihnen hohe Anteil des Niederadels und der bürgerlichen Räte, vor allem aus den österreichischen Erbländern beziehungsweise aus den königsnahen Landschaften im Elsass, Bayern und Schwaben. Eine ganze Reihe fähiger Gesandter übernahm der Kaiser zusätzlich aus den habsburgischen Niederlanden und Italien. Die Zahl der „Berufsdiplomaten“, zu denen man im engeren Sinne einzig die ständigen Vertreter Maximilians I. an der Kurie und allenfalls noch einige ausgewählte Spezialisten rechnen kann, blieb allerdings bis zuletzt gering. Statt der von der Forschung wiederholt postulierten Professionalisierung lässt sich für das kaiserliche Gesandtschaftswesen um 1500 eher eine Tendenz zur Spezialisierung auf bestimmte geopolitische Räume und Aufgabenfelder konstatieren. Neben den zeitbedingten Schwierigkeiten in der Verwaltung und bei der Nachrichtenübermittlung bildeten vor allem die kontinuierlich steigenden Kosten der imperialen Politik Maximilians I. ein bis zuletzt ungelöstes Problem. Eine Folge davon war die in der diplomatischen Praxis zunehmende Zahlung von Sporteln und Handsalben, aber auch die Ausbildung von Doppel- oder Mehrfachloyalitäten seiner Gesandten gegenüber anderen Herrschaften.

Die Rolle der Diplomaten als einflussreiche Akteure der europäischen Mächtepolitik wird exemplarisch anhand der Beziehungen des Kaisers zum König von Frankreich, zum Papst, zu Venedig sowie zu den Königen von Ungarn und Polen analysiert. Im Unterschied zu älteren Untersuchungen werden dabei die Argumentationsstrategien und Ziele der jeweiligen Verhandlungspartner nahezu gleichberechtigt miteinbezogen, so dass man den gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozesses stets aus unterschiedlichen Perspektiven nachvollziehen kann. Zudem ermöglicht erst der Vergleich mit Diplomaten anderer Machthaber jener Zeit sinnvolle Aussagen über den Handlungsspielraum der habsburgischen Bevollmächtigten. Ein weiterer Analyseschwerpunkt liegt auf der großen Vielfalt verbaler und nonverbaler Austauschprozesse in der vormodernen Diplomatie: So wurden der jeweils anderen Seite bereits über die Wahl des Ortes, der Kleidung und des Gefolges erste Botschaften subtil übermittelt, die von den Zeitgenossen gleichsam als Spiegelbild der realen Mächtebeziehungen interpretiert wurden. Die kulturwissenschaftlich sensibilisierte Einbeziehung performativer Elemente wie Musik oder Geschenkübergaben als kommunikative Praktiken unterstreicht deren essentielle Bedeutung für das diplomatische Zeremoniell. Dabei fällt auf, dass die beteiligten Herrscher die häufig diffizile Verhandlungsführung und die Klärung der juristischen Vertragsinhalte nicht zuletzt auch aus Angst vor einer direkten Konfrontation mit der Gegenseite lieber ihren jeweiligen Bevollmächtigten überließen. Die oft langwierigen Disputationen sowie die in speziellen Ausschüssen von den Gesandten erarbeiten

Kardinal Matthäus Lang (1468-1540), Federzeichnung, Albrecht Dürer, um 1518 (Wikimedia Commons)

Kardinal Matthäus Lang (1468-1540), Federzeichnung, Albrecht Dürer, um 1518 (Quelle: Wikimedia Commons)

Lösungsansätze waren für die politische Entscheidungsfindung jedoch letztlich wichtiger als die sorgfältig arrangierten Empfänge und Antrittsaudienzen. Immer wieder lassen sich dabei auch spontane Reaktionen jenseits von Demonstration und gezielter Inszenierung nachweisen: Das breite Spektrum diplomatischer Praktiken umfasste die sachlich-persuasive Argumentation ebenso wie verdeckte Finten und offene Provokationen.

Jenseits von ihrem diplomatischen Aufgabenprofil bezieht diese Arbeit erstmals auch die vermeintlich unpolitischen Aktivitäten und Lebensumstände der Gesandten abseits der Verhandlungsräume mit ein. So nutzten beispielsweise die in Rom akkreditierten Vertreter des Kaisers ihre Kontakte an der Kurie tatkräftig zur Beförderung ihrer eigenen Kirchenkarriere, während sich etwa bei den nach Frankreich oder nach Venedig entsandten Bevollmächtigten der Einfluss klientelarer oder familiärer Interessen verstärkt nachweisen lässt. Solange dieses Engagement nicht das Loyalitätsverhältnis gegenüber Maximilian I. in Frage stellte, ließ dieser seinen Untergebenen diesbezüglich einen gewissen Handlungsspielraum. Im Einzelfall unterstützte er sogar die intellektuellen Neigungen seiner Gesandten, so dass Männer wie Johannes Cuspinian oder Matthäus Lang auf ihren zahlreichen Reisen in seinem Auftrag auch als europaweit agierende Gelehrte und Kunstmäzene in Erscheinung treten konnten.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2897

Weiterlesen

Über das geozentrische Weltbild des Mittelalters III – die Planeten und Ihre Bewegungen

Nachdem im letzten Beitrag der sublunare Bereich des Kosmos thematisiert wurde, nähert sich die Reihen heute der himmlischen Welt mit einigen Erklärungen zu den Planeten, die auf sieben Sphären die Erde umwandern. In den Ausführungen zur sublunaren Welt habe ich mich vor allem auf die Vorstellung von Aristoteles gestützt, der die vier Elemente unter der Sphäre des Mondes anordnet. Bis ins 12. Jahrhundert ging aber man davon aus, dass das Element des Feuers den Raum der Planeten einnehmen würde, den Äther. So schreibt Wilhelm von Conches in seinem Erstwerk, der Philososphia mundi:

„Also das Feuer: es ist die Erstreckung vom Mond nach oben hin, die auch Äther genannt wird. Seine Ausstattung aber ist all das, was oberhalb des Mondes erblickt wird, d.h. die Fixsterne und Wandelsterne.“[1]

Vor der Rezeption von Aristoteles naturphilosophischen Schriften, also vor dem 13. Jahrhundert, war das die gängige Beschreibung der himmlischen Sphären. Die himmlischen Sphären beherbergten zunächst die Planeten, die man von den Fixsternen am Firmament unterschied (dazu im nächsten Beitrag). Der angelsächsische Mönch Beda schreibt im frühen Mittelalter in seiner Enzyklopädie De natura rerum:

„The stars [gemeint sind die Fixsterne], borrowing their light from the sun, are said to turn with the world since they are fixed in one place, as opposed to being carried unfixed, with the world standing still. The exception is those that are called planets, that is, wanderers.”[2]

Bei Macrobius, einem im Mittelalter hoch geschätzten spätantiken Autor, lesen wir:

„The errant planets were thus named by the ancients because they are borne along in their own course, moving from west to east in a contrary direction to that of the greatest or celestial sphere; moreover, they all have similar movements and travel at the same rate of speed, and yet they do not all complete their orbits in the same amount of time.“[3]

Zunächst zu den Planeten selbst. Sieben kannte man an der Zahl, wobei man Sonne und Mond ebenfalls als Planeten ansah. Die Erde galt natürlich nicht als Planet und Pluto war noch nicht bekannt. Diese Planeten wandern auf einer eigenen Umlaufbahn oder Sphäre um die unbewegliche Erde, wie auf dieser Abbildung des Kosmos schön zu sehen ist.

 

Für ihren Erdumlauf brauchen die Planeten unterschiedlich lange, da ihre Kreisbahn bei zunehmender Entfernung zur Erde natürlich größer wird. Hieraus – und natürlich durch ihre unterschiedliche Sichtbarkeit – lässt sich dann auch eine Reihenfolge der Planeten ableiten, die in Antike und Mittelalter aber nicht unumstritten war. Im Kern war vor allem die Position der Sonne in diesem System umstritten.

Beda hat sich zum Beispiel für folgende Variante entschieden, der auch die Abbildung inhaltlich folgt (was aber nicht bedeutet, dass die Abbildung auf Beda basiert):

 „The highest of the planets is the star of Saturn, freezing cold by nature, completing a circuit of the zodiac in thirty years. Next is the star of Jupiter, temperate, completing its circuit in twelve years. Third is the star of Mars, blazing hot, completing its circuit in two years. In the middle is the sun, completing its circuit in 365 days and a quarter. Beneath the sun is Venus, which is also called Lucifer and Vesper, completing its circuit in 348 days. It never recedes further from the sun than 46 degrees. Next to it is the star of Mercury, with a circuit swifter by nine days. Sometimes it shines before the rising of the sun, sometimes after its setting. It is never remoter from the sun than 22 degrees. Last is the moon, accomplishing its course in 27 and 1/3 days, thereafter lingering in company with the sun for two days.”[4]

Wilhelm von Conches folgt eher Platon, der eine andere Reihenfolge vertritt und wählt dabei eine Argumentation, die recht typisch für das hohe Mittelalter ist:

 „Hierauf ist zu erörtern, warum die Chaldäer meinen, die Sonne sei der vierte, Platon und die Ägypter, sie sei der sechste Planet. Die Wahrheit ist, daß die Sonne unterhalb von Merkur und Venus in der Nähe des Mondes ist. Da nämlich der Mond kalt und feucht ist, war es nötig, daß ihm die Sonne, die warm und trocken ist, benachbart sei, auf daß durch die Sonnenwärme die Mondkälte, durch ihre Trockenheit seine Feuchtigkeit gemildert würde, damit die Sonne nicht, wenn sie in Erdnähe steht und dann über sie dominiert, übermächtig einherkäme und die Erde aus dem Gleichmaß bringe.“[5]

Im späten Mittelalter entscheidet man sich dann unter dem Einfluss von Aristoteles endgültig dafür, die Sonne an die vierte Stelle zusetzen.

So viel zur Reihenfolge der Planeten – zurück zu deren bereits angesprochene Bewegung, die den modernen Menschen im ersten Moment wohl etwas irritieren dürfte. Klar, wir wissen heute, dass sich die Planeten inklusive Erde um die Sonne drehen. Von der Erde aus gesehen lässt sich der Lauf der Planeten aber durchaus als Kreisbahn um die Erde beschreiben (Unregelmäßigkeiten in dieser Kreisbahn wurden durchaus registriert und durch verschiedene Theorien in das geozentrische Weltbild integriert). Es ist wichtig zu verstehen, dass sich im Grunde zwei Bewegungen der Himmelskörper beobachten lassen, eine „natürliche“ und eine „erzwungene“:

 „It was almost a general opinion of all the philosophers that the sun, the moon, and the other planets move by natural motion from west to east […]. But although their movement is contrary to the firmament’s, still the firmament [gemeint ist die Sphäre der Fixsterne] draws them back with it daily to the west and east.”[6]

Einmal am Tag werden also alle Planeten ohne eigenes Zutun von Ost nach West getragen. Am augenscheinlichsten natürlich die Sonne, die damit den Sonnentag erleuchtet. Diese Bewegung entspringt aber eigentlich nicht den Planeten (sie entspricht nicht deren natürlicher Bewegung), sondern wird durch die Sphäre der Fixsterne ausgelöst – wem das jetzt nicht ganz klar ist, der sollte einfach den Beitrag zum Firmament abwarten. Die Planeten selbst bewegen sich in ihrer natürlichen Bewegung eigentlich von West nach Ost (natürlich gibt es auch hier unterschiedliche Positionen antiker und mittelalterlicher Gelehrter), und zwar durch den sogenannten Zodiak, den Tierkreis.

 

Himmelskarte mit Tierkreiszeichen und Sternbildern in Deckfarben auf grünem Untergrund aus BSB CLM 210, fol. 113v

Dieser Tierkreis ist eigentlich nichts anderes als ein Hintergrund, ein Maßstab, vor dem man den Lauf der Planeten messen kann. Dazu muss man wissen, dass die damals bekannten Planeten des Sonnensystems sich auf einer Fläche um die Sonne bewegen.

Bahn der Planeten um die Sonne (Quelle: Wikimedia Commons)

Betrachtet man von der Erde aus den Nachthimmel, werden die Planeten also immer vor dem Hintergrund der selben, wenn auch wechselnden, Sternzeichen zu sehen sein, bis sie ihre Kreisbahn vollendet haben. Diesen Kreis durch die Sternzeichen nannte man den Tierkreis, den Zodiacus. Wer sich die obige Karte genauer ansieht, kann diesen Zodiacus am Rand des letzten Kreises erkennen.

Da die einzelnen Planeten unterschiedlich große Bahnen besitzen, umwandern sie nicht nur die Erde, sondern auch den Tierkreis in unterschiedlicher Zeit. Der Mond braucht dazu etwa einen Monat, die Sonne ein Jahr. Die Bahnen mit ihren Umlaufzeiten sind ebenfalls auf der obigen Karte abgebildet.

Die Sonne durchwandert also jedes Sternzeichen in etwa in einem Monat, und zwar von West nach Ost. Das bedeutet, dass sie etwa jeden Monat vor (im Sinne von vor dem Hintergrund eines) bzw. mit einem anderen Sternzeichen des Tierkreises aufgeht. Gleiches gilt in anderen Zeitabständen für alle Planeten. Gerade der Lauf der Sonne und des Mondes hatte große Auswirkungen auf das Leben auf der Erde, sie bedingten zum Beispiel die unterschiedlichen Jahreszeiten.

Der Umlauf der Planeten – vor allem von Sonne und Mond ­ war für die Menschen im Mittelalter daher extrem wichtig. Außerdem ließ sich darüber die Zeit bestimmen, vor allem das äußerst wichtigen Osterdatum (der Ostertermin war jeweils der erste Sonntag nach dem Frühlingsvollmond). Durch ihre zyklischen Bewegungen erlaubten die Planeten nicht nur das bloße feststellen des Datums, man konnte diese Bewegungen sogar durch mathematische Prozesse vorhersagen und in ablesbare Tabellen umwandeln, so dass man die Sterne und Planeten selbst gar nicht mehr beobachten musste.

Thorney Computus, Oxford, Saint John’s College, MS 17, fol. 7v und 8r. Quelle: http://blog.metmuseum.org/

Die jeweilige Position der Planeten war aber auch aus anderen Gründen wichtig. Jedem Planeten schrieb man bestimmte Eigenschaften zu, die Auswirkungen auf den menschlichen Organismus hatten. Die Planeten konnten etwa Krankheiten verstärken, oder die Laune vermiesen, aber auch angenehme Seiten des Lebens waren von ihnen betroffen. So schreibt Wilhelm von Conches:

„Der vierte [Planet] ist, nach Anordnung der Platoniker, die Venus, ein warmer und feuchter Stern; darum ist sie heilsam. Sie umläuft den Tierkreis in ungefähr einem Jahre. Man lastet ihr an, sie habe mit Mars Ehebruch getrieben, weil sie im oberen Abschnitt ihres Umlaufkreises, wenn sie in die Nähe des Mars gerat, weniger heilsam ist. Göttin der Wollust wird sie genannt, weil sie Warme und Feuchte zuteilt und da ja in denen, die warm sind und feucht, die Wollust stark ausgeprägt ist (dies, worüber wir im Kapitel über den Menschen ausführlicher sprechen werden, wollen wir nur kurz antönen, um Venus [der Göttin der Gefälligkeit] gefällig zu sein: die Warm Trockenen verlangen arg nach der Wollust wegen ihrer Hitzigkeit, doch wegen ihrer Trockenheit vertragen sie die Wirkung nicht; und wenn sie Wollust genießen, so schadet sie ihnen sehr. Die Kalt-Feuchten dagegen verlangen kaum nach ihr, doch vertragen sie ihre Wirkung gut. Doch die Kalt-Trockenen verlangen nicht nach der Wollust und vertragen ihre Wirkung nur selten. Die Warm-Feuchten dagegen verlangen nach ihr und genießen auch ihre Lust, und ihrem Körper ist der Genuß sehr zuträglich).“[7]

In einer Handschrift des 13. Jahrhunderts aus dem Zisterzienserkloster Altzella (UB Leipzig MS 1306) hat man übrigens genau diesen Abschnitt geschwärzt – wohl um die Novizen nicht von ihren eigentlichen Aufgaben im Kloster abzulenken.

Gefährlich konnte es werden, wenn sich bestimmte Planeten in einem Sternzeichen zu einer sogenannten Konjunktion versammelten. Eine solche Versammlung war aus der Sicht der Zeit durchaus in der Lage schlimme Katastrophen auszulösen. Zum Glück erlaubte die zyklische Bewegung der Himmelskörper eine Vorhersage solcher Ereignisse. Als sogenannte Toledobriefe (angeblich erstellt von einem Astronomen aus Toledo, dem damaligen Eldorado der Astronomie), zirkulierten Prophetien, in denen vor einer solchen Versammlung und schwerem Sturm und Erdbeben gewarnt wurde.[8]

Noch im 16. Jahrhundert formulierte der Tübinger Professor Johannes Stöffler eine ähnliche Warnung, die, befeuert durch den Druck, zu der so genannten Sintflut Debatte führte:

„Im Monat Februar ereignen sich 20 Konjunktionen, von denen 16 in einem wäßrigen Sternzeichen passieren, die zweifellos auf so ziemlich dem ganzen Erdkreis bezüglich Wetter, Königreiche, Provinzen, Verfassung, Würden, Vieh, Meerestiere und alle Landbewohner Veränderung, Wechsel und Bewegung bedeuten, wie sie sicherlich seit Jahrhunderten von Geschichtsschreibern oder von den Massen kaum wahrgenommen wurden. Erhebet daher eure Häupter, ihr Christen!“[9]

Der scheinbare Umlauf der Planeten beruht nach heutigem Kenntnisstand natürlich auf falschen Annahmen. Trotzdem konnte er im Rahmen des geozentrischen Weltbildes genutzt werden und ermöglichte relativ präzise astronomische und chronologische Vorhersagen, die sich sogar mathematisch automatisieren ließen. Dass diese Vorhersagen mitunter Befürchtungen auslösten, die wir heute als Aberglauben verlachen würden, mag uns heute befremdlich vorkommen. Im Grunde basierten sie aber auf den wissenschaftlichen Vorstellungen ihrer Zeit.

 

[1] Wilhelm von Conches: Philosophia mundi (ed. und üb. von Maurach, Gregor). Pretoria 1980, S. 138.

[2] Beda: On the Nature of Things and On Times (üb. von Kendall, Calvin und Wallis, Faith). Liverpool 2010, S. 80.

[3] Macrobius: Commentary on the dream of Scipio (üb. von Stahl, William Harris). New York 1990, S. 148.

[4] Beda: On the Nature of Things (wie Anm. 2), S. 81 (Hervorhebungen von mir).

[5] Wilhelm von Conches: Philosophia (Wie Anm. 1), S. 149.

[6] Wilhelm von Conches: A dialogue on natural philosophy (üb. von Ronca, Italo). Notre Dame 1997. S. 68.

[7] Wilhelm von Conches: A dialogue on natural philosophy, S. 147.

[8] Vgl. etwa Grauert, Hermann von: Meister Johann von Toledo. In: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse (1901) S. 111-325 (https://archive.org/stream/sitzungsberichte1901bayeuoft#page/110/mode/2up); aktueller: Mentgen, Gerd: Astrologie und Öffentlichkeit im Mittelalter. Stuttgart 2005.

[9] Stuhlhofer, Franz: Humanismus zwischen Hof und Universität. Georg Tannstetter (Collimitius) und sein wissenschaftliches Umfeld im Wien des frühen 16. Jahrhunderts. Wien 1996, S. 136. Zur Sintflutdebatte im Allgemeinen vgl. Talkenberger, Heike: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528. Tübingen 1990; außerdem Mentgen (Wie Anm. 6).

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/167

Weiterlesen

Performances Staging Archive! Staging History! Wien 23.-25.1.2013

Spannende Performance an der Wiener Akademie der Bildenden Künste, angekündigt vom Salon 21:

Performances im Rahmen des “Rundgangs 2014″ der Akademie der Bildenden Künste Wien

Ort: Schillerplatz 3, 1010 Wien
Zeiten: Do, 23.01.2014, 19.00-20.30 Uhr; Fr, 24.01.2014, 17.30-19.00 Uhr; Sa, 25.01.2014, 19.00-20.30 Uhr

In diesem Semester arbeitet die Akademie der Bildenden Künste choreografisch sowie inhaltlich mit der Live-Performerin Anat Stainberg zusammen. “The thing that’s characteristic of my performance is that I literally do drag the whole studio onto the stage” (Laurie Anderson)

Das Performative ist in aller Munde und erfährt dadurch eine Überstrapazierung, eine Abnutzung – aber dieses MIS-used muss nicht zwangsläufig zu einer Verwerfung führen sondern kann auch Wiederbelebung von Performance-Kunst sein. Wie kann das Performative überhaupt erfasst werden? Dazu haben sie die Studierenden des Kurses in Archive wie die Sammlung Frauennachlässe begeben und sich auf die Suche nach unterschiedlichen Gesten des Archivierens gemacht. Wer archiviert was und wen? Wie konstituiert sich ein Archiv der ephemeren Kunst? Wie verhalten sich Dokumente und wie können sie zum Reden gebracht werden? Welche Rolle spielt dabei die Erinnerung und das Erzählen?
“I am just so DONE with ‘the performative’. It is overused and mostly MIS-used. From now on, I’m only going to use word ‘enactment’.” He replied, “You better hurry.” (according to A. Fraser).

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/615269535/

Weiterlesen